61997J0071

Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 1. Oktober 1998. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich Spanien. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Nichtumsetzung einer Richtlinie. - Rechtssache C-71/97.

Sammlung der Rechtsprechung 1998 Seite I-05991


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


1 Vertragsverletzungsverfahren - Objektiver Charakter - Anlaß der Vertragsverletzung - Unerheblich

(EG-Vertrag, Artikel 169)

2 Handlungen der Organe - Richtlinien - Durchführungsfristen - Verlängerung einer Frist, die sich als unzureichend erwiesen hat - Verfahren

(EG-Vertrag, Artikel 189 Absatz 3)

3 Mitgliedstaaten - Verpflichtungen - Durchführung der Richtlinien - Verstoß - Rechtfertigung - Unzulässigkeit

(EG-Vertrag, Artikel 169)

4 Vertragsverletzungsverfahren - Vorschriften, die vom betreffenden Mitgliedstaat nach Klageerhebung erlassen wurden - Unerheblich

(EG-Vertrag, Artikel 169)

Leitsätze


1 Das Verfahren nach Artikel 169 des Vertrages hängt von der objektiven Feststellung des Verstosses gegen die Verflichtungen ab, die einem Mitgliedstaat nach dem Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt obliegen. Wurde eine solche Feststellung getroffen, ist es unerheblich, ob der betreffende Mitgliedstaat den Verstoß mit Absicht oder fahrlässig begangen hat oder ob der Verstoß auf technischen Schwierigkeiten des Mitgliedstaats beruht.

2 Wenn sich die Frist, in der eine Richtlinie von einem Mitgliedstaat durchzuführen ist, als zu kurz erweist, besteht nach dem Gemeinschaftsrecht für den betroffenen Mitgliedstaat nur die Möglichkeit, die geeigneten Schritte auf Gemeinschaftsebene zu unternehmen, um das zuständige Organ zu einer eventuellen Verlängerung der Frist zu bewegen.

3 Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen.

4 Bei einer Vertragsverletzungsklage können die Bestimmungen eines Mitgliedstaats, die von diesem nach Klageerhebung zur Erfuellung seiner Verpflichtungen erlassen worden sind, vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden.

Entscheidungsgründe


1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 19. Februar 1997 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie 91/676/EWG des Rates vom 12. Dezember 1991 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen (ABl. L 375, S. 1; im folgenden: Richtlinie) verstossen hat, daß es zum einen nicht die als gefährdet angesehenen Gebiete ausgewiesen und die Kommission davon unterrichtet hat und zum anderen keine Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft aufgestellt und der Kommission mitgeteilt hat.

2 Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie bestimmt, daß die Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Jahren nach deren Bekanntgabe alle in ihrem Gebiet bekannten Flächen, die in nach Artikel 3 Absatz 1 bestimmte Gewässer entwässern und die zur Verunreinigung beitragen, als gefährdete Gebiete ausweisen und die Kommission hiervon innerhalb von sechs Monaten nach erster Ausweisung unterrichten.

3 Gemäß Artikel 4 Absätze 1 Buchstabe a und 2 der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten binnen zwei Jahren nach deren Bekanntgabe Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft aufzustellen und die Einzelheiten hierzu der Kommission zu übermitteln.

4 Artikel 12 der Richtlinie bestimmt zum einen, daß die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, um der Richtlinie binnen zwei Jahren nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen, und zum anderen die Kommission unverzueglich davon in Kenntnis setzen.

5 Da die Kommission vom Königreich Spanien keine Mitteilung über zur Umsetzung der Richtlinie getroffene Maßnahmen erhalten hatte und ausserdem nicht über Informationen verfügte, anhand deren sie hätte überprüfen können, ob das Königreich Spanien tatsächlich die erforderlichen Vorschriften erlassen hatte, forderte sie die spanische Regierung am 10. Mai 1995 gemäß dem Verfahren des Artikels 169 des Vertrages auf, sich binnen zwei Monaten zu äussern. In diesem Mahnschreiben wies die Kommission das Königreich Spanien darauf hin, daß es nicht nur keine nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie mitgeteilt habe, sondern auch gegen Artikel 3 Absatz 2 und Artikel 4 der Richtlinie verstossen habe.

6 Die spanischen Behörden übermittelten der Kommission mit Schreiben vom 26. Juni 1995 einen Bericht über den Sachstand und den Entwurf eines Real Decreto, durch das die Richtlinie in innerstaatliches Recht umgesetzt werden sollte. Später sandten sie der Kommission mit Schreiben vom 14. März 1996 das zur Umsetzung der Richtlinie bestimmte Real Decreto Nr. 261/1996 vom 16. Februar 1996 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen. Dieses Real Decreto wurde im Boletín Oficial del Estado Nr. 61 vom 11. März 1996 veröffentlicht.

7 Nachdem die Kommission vom Königreich Spanien noch immer keine Mitteilung über die in Artikel 3 der Richtlinie vorgesehenen Ausweisungen und über die in Artikel 4 vorgesehenen Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft erhalten hatte, übermittelte sie ihm am 26. September 1996 eine mit Gründen versehene Stellungnahme und forderte es auf, seinen Verpflichtungen binnen zwei Monaten nachzukommen.

8 Die spanischen Behörden teilten der Kommission mit Schreiben vom 26. November 1996 mit, daß sie die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme geforderten Maßnahmen in Kürze ergreifen würden.

9 Da sie keine Mitteilung über derartige Maßnahmen erhalten hat, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

10 Die Kommission hat in ihrer Erwiderung eingeräumt, für sechs von insgesamt siebzehn Autonomen Gemeinschaften Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft erhalten zu haben, so daß sich der Gerichtshof für die Autonomen Gemeinschaften Madrid, Navarra, Andalucía, Murcia, Valencia und Cantabria nicht zu dem Klagegrund zu äussern brauche, daß die Verpflichtung zur Aufstellung von Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft nicht eingehalten worden sei.

11 Das Königreich Spanien trägt in seiner Klagebeantwortung erstens vor, daß eine Vertragsverletzung nicht vorliege. Diese setze nämlich die Absicht voraus, die Verpflichtungen nicht zu erfuellen; eine solche Absicht liege hier aber nicht vor. Die verspätete Umsetzung der Richtlinie sei zum einen auf mit der Umsetzung zusammenhängende technische Schwierigkeiten und zum anderen auf konkurrierende Zuständigkeiten des Staates und der Autonomen Gemeinschaften auf dem von der Richtlinie erfassten Gebiet zurückzuführen.

12 Zweitens hätten die acht Autonomen Gemeinschaften (Castilla-León, Galicia, País Vasco, La Rioja, Aragón, Estremadura, Asturias und Baleares), in bezug auf die der Klagegrund nach Artikel 4 der Richtlinie aufrechterhalten worden sei, Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft erlassen, und diese Regeln seien der Kommission mitgeteilt worden. Ausserdem hätten sieben Autonome Gemeinschaften (Aragón, Baleares, Canarias, Castilla-León, Navarra, Valencia und Castilla-La Mancha) die gefährdeten Gebiete gemäß Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie ausgewiesen, während fünf weitere (Asturias, Galicia, Madrid, Murcia und Cantabria) erklärt hätten, es gebe in ihrem Hoheitsgebiet keine Gebiete dieser Art. Schließlich habe auch die Autonome Gemeinschaft Andalucía die gefährdeten Gebiete ausgewiesen, jedoch noch keine Angaben hierzu mitgeteilt.

13 Das Königreich Spanien ist deshalb der Auffassung, daß sich der Gerichtshof nicht zu einem Verstoß gegen die Verpflichtung zu äussern brauche, Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft aufzustellen und die gefährdeten Gebiete in den Autonomen Gemeinschaften, die ihre Aufgaben erfuellt hätten, auszuweisen.

14 Was das Fehlen einer Absicht des Königreichs Spanien angeht, seinen Verpflichtungen aus den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie nicht nachzukommen, ist festzustellen, daß das Verfahren nach Artikel 169 EG-Vertrag von der objektiven Feststellung des Verstosses gegen die Verflichtungen abhängt, die einem Mitgliedstaat nach dem EG-Vertrag oder einem sekundären Rechtsakt obliegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. März 1983 in der Rechtssache 301/81, Kommission/Belgien, Slg. 1983, 467, Randnr. 8).

15 Da im vorliegenden Fall eine solche Feststellung getroffen wurde, ist es unerheblich, ob der betreffende Mitgliedstaat den Verstoß mit Absicht oder fahrlässig begangen hat oder ob der Verstoß auf technischen Schwierigkeiten des Mitgliedstaats beruht.

16 Der Gerichtshof hat festgestellt, daß für den betreffenden Mitgliedstaat, wenn sich die Frist, in der eine Richtlinie durchzuführen ist, als zu kurz erweist, nach dem Gemeinschaftsrecht nur die Möglichkeit besteht, die geeigneten Schritte auf Gemeinschaftsebene zu unternehmen, um das zuständige Organ zu einer eventuellen Verlängerung der Frist zu bewegen (vgl. Urteil Kommission/Belgien, Randnr. 11).

17 Was das Vorbringen angeht, daß die fragliche Verspätung insbesondere auf konkurrierende Zuständigkeiten des Staates und der Autonomen Gemeinschaften zurückzuführen sei, ist auf die ständige Rechtsprechung zu verweisen, wonach sich ein Mitgliedstaat nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung der in einer Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen (Urteil vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C-259/94, Kommission/Griechenland, Slg. 1995, I-1947, Randnr. 5).

18 Zu dem Vorbringen des Königreichs Spanien, der Gerichtshof brauche sich nicht zu den Verstössen gegen die Verpflichtungen zu äussern, Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft zu erlassen und die gefährdeten Gebiete auszuweisen, soweit es die erstmals in der Gegenerwiderung des Königreichs Spanien erwähnten Autonomen Gemeinschaften angehe, ist darauf hinzuweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung diejenigen Bestimmungen eines Mitgliedstaats, die von diesem nach Klageerhebung zur Erfuellung seiner Verpflichtungen erlassen worden sind, vom Gerichtshof nicht berücksichtigt werden können (Urteil vom 17. September 1987 in der Rechtssache 291/84, Kommission/Niederlande, Slg. 1987, 3483, Randnr. 15).

19 Aus all diesen Gründen hat das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie verstossen, daß es zum einen nicht die als gefährdet angesehenen Gebiete ausgewiesen und die Kommission davon unterrichtet hat und zum anderen - ausser für die Autonomen Gemeinschaften Andalucía, Cantabria, Madrid, Murcia, Navarra und Valencia - keine Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft aufgestellt und der Kommission mitgeteilt hat.

Kostenentscheidung


Kosten

Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Königreich Spanien mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

(Sechste Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1. Das Königreich Spanien hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 3 und 4 der Richtlinie 91/676/EWG des Rates vom 12. Dezember 1991 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen verstossen, daß es zum einen nicht die als gefährdet angesehenen Gebiete ausgewiesen und die Kommission davon unterrichtet hat und zum anderen - ausser für die Autonomen Gemeinschaften Andalucía, Cantabria, Madrid, Murcia, Navarra und Valencia - keine Regeln der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft aufgestellt und der Kommission mitgeteilt hat.

2. Das Königreich Spanien trägt die Kosten des Verfahrens.