61992J0399

Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 15. Dezember 1994. - Stadt Lengerich gegen Angelika Helmig und Waltraud Schmidt gegen Deutsche Angestellten-Krankenkasse und Elke Herzog gegen Arbeiter-Samariter-Bund Landverband Hamburg eV und Dagmar Lange gegen Bundesknappschaft Bochum und Angelika Kussfeld gegen Firma Detlef Bogdol GmbH und Ursula Ludewig gegen Kreis Segeberg. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Landesarbeitsgericht Hamm, Arbeitsgericht Hamburg, Arbeitsgericht Bochum, Arbeitsgericht Elmshorn und Arbeitsgericht Neumünster - Deutschland. - Gleiches Entgelt - Vergütung der von Teilzeitarbeitskräften geleisteten Überstunden. - Verbundene Rechtssachen C-399/92, C-409/92, C-425/92, C-34/93, C-50/93 und C-78/93.

Sammlung der Rechtsprechung 1994 Seite I-05727


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


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1. Vorabentscheidungsverfahren ° Zuständigkeit des Gerichtshofes ° Verpflichtung zur Entscheidung ° Ablehnung einer Entscheidung mit der Begründung, es könnte eine Regelungslücke im nationalen Recht entstehen, wenn das nationale Gericht die Konsequenzen aus dem Gemeinschaftsrecht ziehe ° Ausschluß

(EWG-Vertrag, Artikel 177)

2. Sozialpolitik ° Männliche und weibliche Arbeitnehmer ° Gleiches Entgelt ° Nationale Vorschrift, die sowohl für Teilzeitbeschäftigte als auch für Vollzeitbeschäftigte die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur bei Überschreiten der für die letzteren festgelegten Regelarbeitszeiten vorsieht ° Zulässigkeit

(EWG-Vertrag. Artikel 119; Richtlinie 75/117 des Rates, Artikel 1)

Leitsätze


1. Wenn die Fragen, die das vorlegende Gericht ° das die besten Voraussetzungen besitzt, um unter Berücksichtigung der Besonderheiten der ihm vorliegenden Rechtssache zu entscheiden, ob für den Erlaß seines Urteils die Einholung einer Vorabentscheidung erforderlich ist ° dem Gerichtshof stellt, die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts betreffen, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden. Insbesondere kommt es für ihn nicht in Betracht, dem vorlegenden Gericht die von diesem benötigten gemeinschaftsrechtlichen Hinweise unter dem Vorwand zu verweigern, daß dieses Gericht aufgrund der Antwort des Gerichtshofes gewisse nationale Bestimmungen aufheben und dadurch eine Regelungslücke in der innerstaatlichen Rechtsordnung schaffen könnte.

2. Artikel 119 des Vertrages und Artikel 1 der Richtlinie 75/117 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen verbieten es nicht, daß ein Tarifvertrag die Zahlung von Überstundenzuschlägen sowohl für die Teilzeitbeschäftigten als auch für die Vollzeitbeschäftigten nur bei Überschreiten der tarifvertraglich festgelegten Regelarbeitszeit, nicht jedoch bei Überschreiten der in den Einzelarbeitsverträgen festgelegten Arbeitszeit vorsieht.

Diese Bestimmungen bewirken nämlich keine Ungleichbehandlung zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten, da die Teilzeitbeschäftigten für die gleiche Anzahl geleisteter Arbeitsstunden die gleiche Gesamtvergütung erhalten wie die Vollzeitbeschäftigten und zwar sowohl, wenn die Schwelle der tarifvertraglich festgesetzten Regelarbeitszeit nicht überschritten wird, als auch, wenn über diese hinausgehende Stunden geleistet werden, da die Überstundenzuschläge im letztgenannten Fall allen Gruppen von Arbeitnehmern zugute kommen.

Entscheidungsgründe


1 Das Landesarbeitsgericht Hamm, das Arbeitsgericht Hamburg, das Arbeitsgericht Elmshorn, das Arbeitsgericht Bochum und das Arbeitsgericht Neumünster haben mit sechs Beschlüssen vom 22. Oktober, 4. und 6. November, 18. Dezember 1992, 21. Januar und 1. Februar 1993 gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung des Artikels 119 EWG-Vertrag und der Richtlinie 75/117/EWG des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (ABl. L 45, S. 19, im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Fragen stellen sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und ihren Arbeitgebern. Diese Arbeitnehmerinnen verlangen für Überstunden, die sie über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus erbracht haben, die Zahlung von Gehaltszuschlägen in derselben Höhe, wie sie für Überstunden gezahlt werden, die von Vollzeitbeschäftigten über die Regelarbeitszeit hinaus geleistet werden. Die geltenden Tarifverträge verleihen jedoch Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigten einen Anspruch auf Zuschläge nur für Überstunden, die über die in diesen Tarifverträgen festgesetzte Regelarbeitszeit hinaus geleistet werden, ohne den Teilzeitbeschäftigten einen Anspruch auf Zuschläge für Überstunden zu gewähren, die über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus erbracht werden.

3 Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren sind der Auffassung, daß die fraglichen Bestimmungen der Tarifverträge eine gegen Artikel 119 EWG-Vertrag und gegen die Richtlinie verstossende Diskriminierung bewirkten, da sie Zuschläge nur für Überstunden vorsähen, die über die Regelarbeitszeit hinaus erbracht würden.

4 Die vorlegenden Gerichte sind der Meinung, daß diese Klagen Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwerfen, und haben deshalb dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

° In der Rechtssache C-399/92:

1) Kommt ein Verstoß gegen Artikel 119 EWG-Vertrag in der Form der "mittelbaren Diskriminierung" in Betracht, wenn ein Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur bei Überschreitung der tariflichen Regelarbeitszeit vorsieht und somit Angestellte, mit denen einzelvertraglich nicht die volle tarifliche Arbeitszeit vereinbart ist, von jeglicher Überstundenzuschlagszahlung ausnimmt und wenn von dieser Ausnahme unverhältnismässig mehr Frauen als Männer betroffen sind?

2) Falls die Frage zu 1 bejaht wird:

Ist der tarifliche Ausschluß der Teilzeitbeschäftigten von jeglicher Überstundenzuschlagszahlung schon deswegen sachlich gerechtfertigt, weil

a) einerseits auch mit tariflichen Überstundenzuschlägen eine erhöhte Belastung ausgeglichen und eine übermässige Inanspruchnahme des Arbeitnehmers verhindert werden soll, wobei dann von einem Erfahrungssatz dahin gehend auszugehen ist, daß diese Belastung durch Ableistung von Überstunden von vornherein bei einem tarifrechtlich Vollzeitbeschäftigten höher als bei einem Teilzeitbeschäftigten ist,

b) andererseits ohne Prüfung im Einzelfall anzunehmen ist, daß die Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit den tariflich vollbeschäftigten Angestellten, der über die regelmässige tarifliche Arbeitszeit hinaus Arbeit leisten muß, im höheren Masse als den teilzeitbeschäftigten Angestellten trifft?

3) Falls die Frage zu 2 verneint wird:

Gebietet Artikel 119 EWG-Vertrag, daß den Teilzeitbeschäftigten für jede Arbeitsstunde, die sie über ihre einzelvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus leisten, auch der volle tarifliche Überstundenzuschlag zu zahlen ist, wie dieser für die Erbringung von Überstunden durch tarifrechtlich Vollzeitbeschäftigte vorgesehen ist, oder steht den Teilzeitbeschäftigten nur ein Anteil an dem Prozentsatz des für Vollzeitbeschäftigte vorgesehenen Überstundenzuschlags im Verhältnis ihrer individuellen Arbeitszeit zur regelmässigen tariflichen Arbeitszeit zu?

° In der Rechtssache C-409/92:

Ist es mit Artikel 119 EWG-Vertrag und der Richtlinie des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (75/117/EWG) vereinbar, wenn eine tarifvertragliche Regelung vom Arbeitgeber zu zahlende Zuschläge nur für über die regelmässig tarifliche Arbeitszeit hinaus zu leistende Überstunden vorsieht, eine Zahlung von Zuschlägen für die innerhalb der tariflichen Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten über deren individuelle Arbeitszeit hinaus geleisteten Stunden aber nicht vorsieht, obwohl der Anteil der Frauen, die teilzeitbeschäftigt sind, wesentlich höher ist als der der Männer?

° In der Rechtssache C-425/92:

1) Ist eine tarifvertragliche Regelung (§ 34 BAT), die aufgrund einer betrieblichen Übung bzw. aufgrund echter Tarifbindung auf ein einzelnes Arbeitsverhältnis anzuwenden ist und die für nicht vollbeschäftigte Angestellte, die über die vertraglich vereinbarte Teilzeittätigkeit hinaus Arbeit leisten, lediglich eine Vergütung vorsieht, die anteilig der einer entsprechenden vollbeschäftigten Angestellten entspricht (ohne Überstundenzuschlag), mit dem Europäischen Recht (Artikel 119 EWG-Vertrag) vereinbar, wenn von dieser Regelung prozentual wesentlich mehr Frauen als Männer betroffen sind?

2) Ist diese unterschiedliche Behandlung dieser beiden Arbeitnehmerkategorien durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben?

Ist also ein die unterschiedliche Behandlung der Geschlechter rechtfertigender Grund gegeben, weil diese unterschiedliche Behandlung einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dient, für die Erreichung der unternehmerischen Ziele geeignet und nach den Grundsätzen der Verhältnismässigkeit erforderlich ist, wenn hierfür vorgebracht wird, daß der die unterschiedliche Behandlung rechtfertigende Grund der sei, daß mit den Überstundenzuschlägen eine erhöhte körperliche Belastung ausgeglichen und eine übermässige Inanspruchnahme des Arbeitnehmers verhindert werden soll, aber eine vergleichbare Belastung eines Teilzeitbeschäftigten nicht gegeben ist, wenn dieser lediglich die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit überschreitet, ohne die regelmässige Arbeitszeit (Vollzeittätigkeit) von durchschnittlich 38,5 Stunden wöchentlich zu erreichen (vgl. §§ 17 Absatz 1, 15 Absatz 1 BAT)?

° In der Rechtssache C-34/93:

1) Stehen Artikel 119 EWG-Vertrag und die Richtlinie 75/117 des Rates vom 10. Februar 1975 (ABl. vom 19.2.1975, L 45, S. 19), insbesondere deren Artikel 1 und 4, einer Regelung in einem Tarifvertrag für eine Körperschaft des öffentlichen Rechts (Bundesknappschaft) entgegen, die eine Zahlung von Lohnzuschlägen nur bei Überschreitung der tariflichen Regelarbeitszeit vorsieht und damit Angestellte, mit denen arbeitsvertraglich nicht die volle tarifliche Regelarbeitszeit vereinbart ist, bis zu dieser Grenze von jeglicher Zahlung von Überstundenzuschlägen ausnimmt, wenn von dieser Ausnahme wesentlich mehr Frauen als Männer betroffen sind, sofern diese Regelung nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben?

2) Falls Frage 1 bejaht wird:

Stellen folgende Erwägungen objektive Faktoren dar, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben und die in Frage 1 genannte Regelung rechtfertigen können:

a) Durch die Regelung solle eine erhöhte physische Belastung ausgeglichen und eine übermässige Inanspruchnahme der Arbeitnehmer verhindert werden, wobei die Mehrbelastung durch Überstunden bei Vollzeitbeschäftigten von vornherein höher als bei Teilzeitbeschäftigten sei;

b) regelmässig sei anzunehmen, daß die Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit die mit der tariflichen Regelarbeitszeit beschäftigten Angestellten in höherem Maß treffe als die teilzeitbeschäftigten Angestellten?

3) Falls die Frage zu 2 verneint wird:

Fordert Artikel 119 EWG-Vertrag, daß den Teilzeitbeschäftigten für jede über die einzelvertraglich vereinbarte Arbeitszeit hinaus geleistete Arbeitsstunde der volle tarifliche Überstundenzuschlag zu zahlen ist, der für Überstunden oberhalb der Grenze der regelmässigen tariflichen wöchentlichen Vollarbeitszeit vorgesehen ist?

° In der Rechtssache C-50/93:

Liegt ein Verstoß gegen Artikel 119 EWG-Vertrag und die Richtlinie des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (75/117/EWG) vor, wenn ein Tarifvertrag die Zahlung von Überstundenzuschlägen erst nach Überschreiten der tariflichen Regelarbeitszeit vorsieht und somit Teilzeitbeschäftigte in der Regel von der Überstundenzuschlagszahlung ausnimmt, obwohl der Anteil der Frauen, die von dieser Entgeltregelung betroffen sind, wesentlich höher ist als der Anteil der Männer?

° In der Rechtssache C-78/93:

1) Kommt ein Verstoß gegen Artikel 119 EWG-Vertrag in der Form der "mittelbaren Diskriminierung" in Betracht, wenn ein Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur bei Überschreitung der tariflichen Regelarbeitszeit vorsieht und somit Angestellte, mit denen einzelvertraglich nicht die volle tarifliche Arbeitszeit vereinbart ist, von jeglicher Überstundenzuschlagszahlung ausnimmt und wenn von dieser Ausnahme unverhältnismässig mehr Frauen als Männer betroffen sind?

2) Falls die Frage zu 1 bejaht wird:

Ist der tarifliche Ausschluß der Teilzeitbeschäftigten von jeglicher Überstundenzuschlagszahlung schon deswegen sachlich gerechtfertigt, weil

a) einerseits auch mit tariflichen Überstundenzuschlägen eine erhöhte Belastung ausgeglichen und eine übermässige Inanspruchnahme des Arbeitnehmers verhindert werden soll, wobei dann von einem Erfahrungssatz dahin gehend auszugehen ist, daß diese Belastung durch Ableistung von Überstunden von vornherein bei einem tarifrechtlich Vollzeitbeschäftigten höher als bei einem Teilzeitbeschäftigten ist,

b) andererseits ohne Prüfung im Einzelfall anzunehmen ist, daß die Einschränkung der Dispositionsmöglichkeit über die Freizeit den tariflich vollbeschäftigten Angestellten, der über die regelmässige tarifliche Arbeitszeit hinaus Arbeit leisten muß, im höheren Masse als den teilzeitbeschäftigten Angestellten trifft?

5 Der Gerichtshof hat mit zwei Beschlüssen vom 5. März und 15. Juli 1993 gemäß Artikel 43 der Verfahrensordnung die Rechtssachen C-399/92, C-409/92, C-425/92 und C-34/93 sowie die Rechtssachen C-50/93 und C-78/93 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes

6 Der Beklagte des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C-78/93 macht zunächst geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig. Seiner Auffassung nach hätte die Klägerin des Ausgangsverfahrens auch bei Verstoß der genannten Bestimmungen gegen Artikel 119 EWG-Vertrag keinen Anspruch auf Zahlung der verlangten Zuschläge. Bei Aufhebung der angefochtenen Bestimmungen durch das vorlegende Gericht würde eine Regelungslücke entstehen, die nicht geschlossen werden könne, da seitens des Gerichtshofes kein zielgerichteter Wille der Tarifvertragsparteien ermittelt werden könne, wie diese die Materie bei Kenntnis des behaupteten Verstosses gegen das Gemeinschaftsrecht geregelt hätten.

7 Nach Artikel 177 EWG-Vertrag kann ein Gericht eines Mitgliedstaats, dem eine Frage nach der Auslegung des Vertrages oder der von den Gemeinschaftsorganen erlassenen abgeleiteten Rechtsakte gestellt wird und das eine Entscheidung darüber zum Erlaß seines Urteils für erforderlich hält, diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

8 Im Rahmen dieses Vorabentscheidungsverfahrens besitzt das vorlegende Gericht, das allein über eine unmittelbar Kenntnis des Sachverhalts verfügt, die besten Voraussetzungen, um unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Rechtssache zu entscheiden, ob für den Erlaß seines Urteils die Einholung einer Vorabentscheidung erforderlich ist (vgl. Urteil vom 29. November 1978 in der Rechtssache 83/78, Pigs Marketing Board, Slg. 1978, 2347, und Urteil vom 28. November 1991 in der Rechtssache C-186/90, Durighello, Slg. 1991, I-5773).

9 Wenn die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts betreffen, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (siehe Urteil vom 8. November 1990 in der Rechtssache C-231/89, Gmurzynska, Slg. 1990, I-4003, Randnr. 20).

10 Im vorliegenden Fall lässt sich kaum bestreiten, daß die Fragen in der Rechtssache C-78/93 wie im übrigen auch in den Rechtssachen C-399/92, C-409/92, C-425/92, C-34/93 und C-50/93 im Rahmen der Rechtsstreitigkeiten, über die die deutschen Gerichte zu entscheiden haben, zweckdienlich sind.

11 Deshalb kommt es für den Gerichtshof nicht in Betracht, den vorlegenden Gerichten die von ihnen benötigten gemeinschaftsrechtlichen Hinweise unter dem Vorwand zu verweigern, daß bei einer Aufhebung der fraglichen Bestimmungen durch die nationalen Gerichte eine "Regelungslücke" entstehen könnte.

12 Was das Bestehen dieser "Regelungslücke" angeht, ist im übrigen darauf hinzuweisen, daß das Verbot der diskriminierenden Ungleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern aufgrund seines zwingenden Charakters nicht nur für Behörden verbindlich ist, sondern sich auch auf alle die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnden Tarifverträge und alle Verträge zwischen Privatpersonen erstreckt (vgl. Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75, Defrenne, Slg. 1976, 455). Ausserdem ist Artikel 119 so genau, daß sich ein Rechtsbürger vor einem nationalen Gericht auf ihn berufen kann, um dieses zu veranlassen, nationale Bestimmungen ° einschließlich Tarifverträge °, die mit diesem Artikel nicht vereinbar sind, unangewendet zu lassen (siehe Rechtssache Defrenne, a. a. O.).

13 Wie der Gerichtshof im Urteil vom 27. Juni 1990 in der Rechtssache C-33/89 (Kowalska, Slg. 1990, I-2591) ausgeführt hat, haben für den Fall, daß das nationale Gericht die Bestimmungen eines Tarifvertrags wegen Verstosses gegen Artikel 119 EWG-Vertrag unangewendet lässt, die Angehörigen der benachteiligten Gruppe entsprechend dem Umfang ihrer Beschäftigung Anspruch auf die gleiche Behandlung wie die übrigen Arbeitnehmer.

14 Entgegen dem Vorbringen des Beklagten des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C-78/93 würde somit bei Aufhebung dieser Bestimmungen durch die nationalen Gerichte keine Regelungslücke entstehen.

15 Aus diesen Erwägungen ergibt sich, daß die von den vorlegenden Gerichten gestellten Fragen zu beantworten sind.

Zum Vorliegen einer gegen Artikel 119 des Vertrages und die Richtlinie verstossenden Diskriminierung

16 Die vorlegenden Gerichte werfen zunächst die Frage auf, ob Bestimmungen von Tarifverträgen, die die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur für Überstunden vorsehen, die über die in diesen Tarifverträgen festgesetzte Regelarbeitszeit (die der Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten entspricht) hinaus geleistet werden, und die Zahlung von Zuschlägen für Überstunden ausschließen, die von Teilzeitbeschäftigten über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus geleistet werden, soweit mit diesen Stunden die in diesen Tarifverträgen festgesetzte Schwelle nicht überschritten wird, mit Artikel 119 EWG-Vertrag und der Richtlinie vereinbar sind.

17 Die Kommission und die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens sind der Auffassung, daß Tarifverträge ebenso wie Rechtsvorschriften den in Artikel 119 EWG-Vertrag verankerten Grundsatz der Nichtdiskriminierung beachten müssten, der es verbiete, einer Vorschrift Wirkung zu verleihen, die, auch wenn sie geschlechtsneutral formuliert sei und angewandt werde, tatsächlich eine mittelbare Diskriminierung enthalte, weil sie sehr viel mehr Frauen als Männer benachteilige, da die Frauen den grössten Teil der Teilzeitbeschäftigten bildeten.

18 Wie bereits im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit ausgeführt wurde, steht fest, daß Artikel 119 EWG-Vertrag wegen seines zwingenden Charakters nicht nur für Rechtsvorschriften, sondern auch für Tarifverträge und Arbeitsverträge gilt.

19 Artikel 119 EWG-Vertrag stellt den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit auf. Nach Artikel 1 der Richtlinie bedeutet dieser Grundsatz bei gleicher Arbeit oder bei einer Arbeit, die als gleichwertig anerkannt wird, die Beseitigung jeder Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in bezug auf sämtliche Entgeltsbestandteile und -bedingungen. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 31. März 1981 in der Rechtssache 96/80 (Jenkins, Slg. 1981, 911) ausgeführt hat, soll dieser Artikel im wesentlichen die konkrete Anwendung des in Artikel 119 des Vertrages genannten Grundsatzes des gleichen Entgelts erleichtern, berührt jedoch in keiner Weise den Inhalt oder die Tragweite dieses Grundsatzes, so wie er in dieser Vorschrift definiert ist.

20 Der Grundsatz des gleichen Entgelts steht nicht nur der Anwendung von Vorschriften entgegen, die unmittelbare Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts enthalten, sondern auch der Anwendung von Vorschriften, die Ungleichbehandlungen von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern aufgrund von Kriterien aufrechterhalten, die nicht auf dem Geschlecht beruhen, sofern sich diese Ungleichbehandlungen nicht mit objektiv gerechtfertigten Faktoren erklären lassen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

21 Die von der Kommission und den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens beanstandeten Bestimmungen enthalten unstreitig keine unmittelbar auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen.

22 Deshalb ist zu prüfen, ob diese Bestimmungen gegen Artikel 119 EWG-Vertrag verstossende mittelbare Diskriminierungen darstellen können.

23 Hierfür ist zu untersuchen, ob sie eine Ungleichbehandlung von Vollzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten vorsehen und ob diese Ungleichbehandlung erheblich mehr Frauen als Männer betrifft.

24 Diese Art der Prüfung entspricht dem bisherigen Vorgehen des Gerichtshofes in diesem Bereich (vgl. insbesondere Urteil Kowalska, a. a. O., und Urteil vom 13. Mai 1986 in der Rechtssache 170/84, Bilka, Slg. 1986, 1607).

25 Nur wenn diese beiden Fragen zu bejahen wären, würde sich die Frage stellen, ob objektive Faktoren vorliegen, die nichts mit einer Diskriminierung zu tun haben und geeignet sind, die festgestellte Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.

26 Eine Ungleichbehandlung liegt immer dann vor, wenn bei gleicher Anzahl Stunden, die aufgrund eines Arbeitsverhältnisses geleistet werden, die Vollzeitbeschäftigten gezahlte Gesamtvergütung höher ist als die Teilzeitbeschäftigten gezahlte.

27 Im vorliegenden Fall erhalten Teilzeitbeschäftigte jedoch für die gleiche Anzahl geleisteter Arbeitsstunden genau die gleiche Gesamtvergütung wie Vollzeitbeschäftigte.

28 So erhält ein Teilzeitbeschäftigter, dessen vertragliche Arbeitszeit 18 Stunden beträgt, wenn er eine 19. Stunde arbeitet, die gleiche Gesamtvergütung wie ein Vollzeitbeschäftigter für 19 Arbeitsstunden.

29 Der Teilzeitbeschäftigte erhält auch die gleiche Gesamtvergütung wie der Vollzeitbeschäftigte, wenn er die Schwelle der tarifvertraglich festgesetzten Regelarbeitszeit überschreitet, da er dann ebenfalls Überstundenzuschläge erhält.

30 Daraus folgt, daß die fraglichen Bestimmungen keine Ungleichbehandlung zwischen Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten bewirken und daß somit keine gegen Artikel 119 des Vertrages und Artikel 1 der Richtlinie verstossende Diskriminierung vorliegen kann.

31 Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, daß Artikel 119 EWG-Vertrag und Artikel 1 der Richtlinie 75/117/EWG vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen es nicht verbieten, daß ein Tarifvertrag die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur bei Überschreiten der tarifvertraglich für Vollzeitbeschäftigte festgelegten Regelarbeitszeit vorsieht.

Zu den anderen dem Gerichtshof gestellten Fragen

32 Angesichts der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich eine Beantwortung der Fragen, die dahin gehen, ob zum einen objektive Faktoren vorliegen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben und geeignet sind, eine eventuelle Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, und wie zum anderen der Zuschlag zu berechnen wäre, auf den der Teilzeitbeschäftigte Anspruch gehabt hätte.

Kostenentscheidung


Kosten

33 Die Auslagen der deutschen Regierung, der französischen Regierung, der griechischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Landesarbeitsgericht Hamm, vom Arbeitsgericht Hamburg, vom Arbeitsgericht Elmshorn, vom Arbeitsgericht Bochum und vom Arbeitsgericht Neumünster mit Beschlüssen vom 22. Oktober 1992 (Rechtssache C-399/92), vom 4. November 1992 (Rechtssache C-425/92), vom 6. November 1992 (Rechtssache C-409/92), vom 18. Dezember 1992 (Rechtssache C-50/93), vom 21. Januar 1993 (Rechtssache C-34/93) und vom 1. Februar 1993 (Rechtssache C-78/93) vorgelegten Fragen für Recht erkannt:

Artikel 119 EWG-Vertrag und Artikel 1 der Richtlinie 75/117/EWG vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen verbieten es nicht, daß ein Tarifvertrag die Zahlung von Überstundenzuschlägen nur bei Überschreiten der tarifvertraglich für Vollzeitbeschäftigte festgelegten Regelarbeitszeit vorsieht.