SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN-PIERRE WARNER

VOM 8. MÄRZ 1979 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Die vorliegende Rechtssache gelangt im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens des Crown Court Bristol vor den Gerichtshof. Sie wirft Fragen nach der Tragweite des Gemeinschaftsrechts, insbesondere des Artikels 48 EWG-Vertrag, im Hinblick auf eine Befugnis auf, die das common law von England und Wales dem Crown Court einräumt und die darin besteht, die Verurteilung eines überführten Straftäters auszusetzen und ihn stau dessen zu' verpflichten, sich bei gleichzeitiger Erfüllung bestimmter Auflagen zur Verfügung des Gerichts zu halten („bind him over on conditions“).

Diese Befugnis muß von einer Anzahl ähnlicher, den englischen Strafgerichten durch Gesetz eingeräumter Befugnisse unterschieden werden (z. B. von den Befugnissen, „to grant a conditional discharge“, „to pass a suspended sentence“, „to defer sentence“ und „to make a probation order“). Sie muß ebenfalls von der Befugnis zur Empfehlung einer Ausweisung unterschieden werden, mit der der Gerichtshof in der Rechtssache 30/77 (Bouchereau Slg. 1977, 1999) befaßt war.

Die hier streitige Befugnis geht, wie ich gesagt habe, auf das common law zurück, obwohl sie in zwei neueren Gesetzen erwähnt ist. Eines davon ist der Courts Act 1971, mit dem neben anderen Reformen der Crown Court zur Ersetzung der alten Assizes und Quarter Sessions eingeführt wurde. Section 6 (4) dieses Act übertrug die Befugnis von diesen abgeschafften Gerichten auf den Crown Court. Das andere Gesetz ist der Powers of Criminal Courts Act 1973, mit dessen section 1 die gesetzliche Befugnis zur Aufschiebung der Verurteilung („defer sentence“) geschaffen wurde, in der es aber gleichzeitig heißt, daß die Befugnis nach common law davon unberührt bleibe.

Die Ausübung der Befugnis bedeutet im wesentlichen die Freilassung einer überführten Person unter der Voraussetzung, daß diese eine Verpflichtung eingeht, vor Gericht zur Verurteilung zu erscheinen, falls sie zu oder nach einem vorgeschriebenen zukünftigen Zeitpunkt dazu aufgefordert wird, sowie sich in der Zwischenzeit gut zu führen und vom Gericht möglicherweise angeordneten anderen Auflagen nachzukommen. Das Schriftstück, das die Verpflichtung enthält, heißt „recognizance“ und umfaßt ein Anerkenntnis der überführten Person, der Krone eine bestimmte Summe Geldes zu schulden, welche zahlbar wird, falls die Person auf die Aufforderung hin nicht erscheint. Die recognizance muß von der überführten Person unterzeichnet werden. Verweigert die Person die Mitwirkung, muß mit ihr in anderer Weise verfahren werden.

Zu den Auflagen, die das Gericht in Ausübung der binding-over-Befugnis anordnen kann, zählen auch Aufenthaltsauflagen. Die Verhängung einer solchen Auflage ist normalerweise auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Die Regierung des Vereinigten Königreichs führt in ihren schriftlichen Erklärungen zwei Situationen an, in denen, wie sie sagt, „der binding-over-Beschluß in der Strafrechtspflege einem wichtigen und nützlichen Zweck dienen kann“. Im Falle eines Ausländers, der sich normalerweise im Ausland aufhalte, sei es, falls die Straftat nicht schwerwiegend sei, möglicherweise vorzuziehen, daß das Gericht ihm die Wahl der Rückkehr in sein Heimatland lasse, anstatt ihn dazu zu zwingen, in England eine Freiheitsstrafe abzusitzen. Der zweite Fall sei der eines — insbesonderen jugendlichen — Ersttäters, der aus seiner häuslichen Umgebung an einen Ort gezogen sei, an dem er unter unerwünschte Einflüsse geraten sei. Auch hier sei den Zielen der Strafrechtspflege möglicherweise besser gedient, wenn man den Betroffenen in seine häusliche Umgebung zurückführe, anstatt ihn zu bestrafen. Die Regierung des Vereinigten Königreichs betont die diesbezügliche Bedeutung der Befugnis für Fälle, in denen die häusliche Umgebung des Straftäters geschützt und ländlich sei. Mir scheint jedoch, daß zumindest in einigen Fällen die Rückführung eines jungen Straftäters in seine häusliche Umgebung selbst dann nützlich sein könnte, wenn diese städtisch ist.

In der mündlichen Verhandlung sagte der Bevollmächtigte der Regierung des Vereinigten Königreichs, in der Praxis ordneten die englischen Strafgerichte Aufenthaltsauflagen in den meisten Fällen im Wege der Strafaussetzung zur Bewährung („probation order“) an. Wie er erklärte, handelte es sich bei der probation order um einen strafrechtlichen Kunstgriff, bei dem auf die Bestrafung vorläufig verzichtet wird, wenn der Täter damit einverstanden ist, unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers („probation officer“) gestellt zu werden. Die Befugnis zum Erlaß eines solchen Beschlusses ist jetzt in section 2 des Powers of Criminal Courts Act 1973 enthalten. Subsection (1) dieser section lautet:

„Hält ein Gericht, von dem oder vor dem eine mindestens 17 Jahre alte Person einer Straftat überführt wird, für die kein festes gesetzliches Strafmaß vorgesehen ist, es unter Berücksichtigung der Umstände einschließlich der Art der Straftat und des Charakters des Täters für zweckmäßig, so kann es, anstatt den Täter zu verurteilen, eine probation order, d.h. einen Beschluß erlassen, mit dem der Täter für die Dauer eines in dem Beschluß festzusetzenden Zeitraums zwischen einem und drei Jahren unter die Aufsicht eines probation officer gestellt wird.“

In subsection (2) ist vorgesehen, daß in der probation order das Gebiet genannt wird, in dem sich der Straftäter aufhält oder aufhalten wird, und daß der Straftäter unter die Aufsicht eines probation officer gestellt wird, der für dieses Gebiet ernannt oder eingeteilt ist. (Dies gilt vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang 1 zu dem Act bezüglich probationers, die ihren Aufenthaltsort wechseln.) Aufgrund von subsection (3) kann der Straftäter in einer probation order dazu verpflichtet werden, „Anforderungen nachzukommen, die das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Falls für notwendig erachtet, um die gute Führung des Straftäters zu sichern oder zu verhindern, daß er die gleiche Straftat wiederholt oder andere Straftaten begeht“. Subsection (5) (in der geänderten Fassung) ermöglicht es dem Gericht, nach einer Prüfung der häuslichen Umgebung des Straftäters eine Bedingung in die probation order aufzunehmen, daß sich der Täter in einem anerkannten Bewährungsheim („probation hostel“) oder in einer anderen Anstalt aufhalten wird. Subsection (6) lautet:

„Vor Erlaß einer probation order hat das Gericht dem Straftäter die Auswirkung des Beschlusses (einschließlich möglicher zusätzlicher in ihn aufzunehmender Bedingungen…) zu erläutern und ihn darauf hinzuweisen, daß er im Falle eines Verstoßes gegen den Beschluß oder des Begehens einer weiteren Straftat wegen der ursprünglichen Tat verurteilt werden kann. Das Gericht darf den Beschluß nur erlassen, wenn der Täter seine Bereitschaft erklärt, den Bedingungen nachzukommen.“

Der probation officer gehört zu dem Probation and After-Care Service, der in ganz England und Wales tätig ist, so daß es einem Strafgericht überall in England und Wales möglich ist, eine probation order zu erlassen, die zum Aufenthalt in irgendeinem Teil dieser beiden Länder verpflichtet. Einen ähnlichen Bewährungsund Betreuungsdienst gibt es in Schottland, und aufgrund bestehender gegenseitiger Vereinbarungen kann einer in England oder Wales erlassenen probation order in Schottland Wirksamkeit verschafft werden und umgekehrt. Derartige gegenseitige Vereinbarungen bestehen jedoch nicht mit Nordirland, so daß es den dortigen Behörden nicht möglich ist, sich offiziell einer überführten und von einem englischen Gericht der Probation unterstellten Person anzunehmen. Demgemäß kann der Crown Court in einem Fall, in dem der Erlaß einer probation order erwünscht ist, die den Straftäter zum Aufenthalt in Nordirland verpflichtet, nur auf seine binding-over-Befugnis nach common law zurückgreifen.

Gleichwohl gibt es in der Rechtsprechung Beispiele, die zeigen, daß ein binding-over-Beschluß unter bestimmten Umständen Zwecken dient, die eher denen eines Ausweisungsbeschlusses als einer probation order ähneln. So entschied der Court of Criminal Appeal (inzwischen Court of Appeal, Criminal Division, genannt) in Regina v. Ayu [1958] 1 WLR 1264, daß ein solcher Beschluß erlassen werden kann, um die Rückkehr eines Nigerianers, der seit 1939 in England gewesen war, nach Nigeria zu gewährleisten, und zwar aus dem einfachen Grund, daß der Betroffene seit 1948 keiner regelmäßigen Arbeit nachgegangen und sechzehnmal vorbestraft war. Es ist bedeutsam, daß Lord Parker L.C.J., der das Urteil des Gerichts vortrug, mit den Worten schloß: „Ich sollte hinzufügen, daß dieser Fall die — soviel ich weiß — an anderer Stelle bereits erörterte Notwendigkeit einer Befugnis, einen Mann wie diesen auszuweisen, sehr deutlich zeigt.“ Das, freilich, war zu Zeiten, als die englischen Strafgerichte noch nicht die Befugnis besaßen, ausländische Straftäter für die Ausweisung zu empfehlen. Ich möchte auch auf die von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen zitierte Passage aus Archbold's „Pleading, Evidence and Practice in Criminal Cases“ hinweisen. Von der binding-over-Befugnis heißt es dort: „in der Vergangenheit wurde von der Befugnis gelegentlich Gebrauch gemacht, wenn das Gericht sicherstellen wollte, daß der Straftäter England verließ.“

Ein Fall, der mir die Verwandtschaft, die zwischen einem binding-over-Beschluß mit der Aufenthaltsauflage und einem Ausweisungsbeschluß bestehen kann, in besonders deutlicher Weise zu illustrieren scheint, ist Regina v. Secchi [1975] 1 CMLR 383. Er betraf einen jungen Sarden, der vor einem Metropolitan Stipendiary Magistrate bestimmter, in London begangener Straftaten überführt wurde. Das Gericht empfahl den Sarden für die Ausweisung mit der Begründung, daß er kein „Arbeitnehmer“, sondern ein „umherziehender Landstreicher“ sei und deshalb keinen Anspruch auf den Schutz des Artikels 48 des Vertrages habe. Zu den Feststellungen des Gerichts gehörte aber, daß Herr Secchi kein Geld, keine Befähigungen, keine Kontakte in England, keine Englischkenntnisse und auch keine rechtmäßige Unterkunft besaß. Der Richter fügte hinzu: „Es ist die Uberzeugung des probation officer, mit der ich völlig einiggehe, daß es angesichts des Fehlens jeglicher Wurzeln in diesem Land und der Schwierigkeiten, auf die der Angeklagte bei einer Seßhaftmachung stoßen würde, den Interessen aller Betroffenen einschließlich des Angeklagten am besten entspräche, wenn dieser nach Sardinien zurückkehrte, wo seine Mutter und die anderen Mitglieder seiner Familie noch ansässig sind.“ Bei diesen Feststellungen hätte — wäre Herr Secchi anstatt vor einem Magistrate (für den die Befugnis nach common law nicht gilt) vor dem Crown Court überführt worden — gemäß den Erklärungen der Regierung des Vereinigten Königreichs ein klassischer Fall dafür vorgelegen, daß dieses Gericht einen binding-over-Beschluß mit einer Auflage erließ, daß Herr Secchi nach Sardinien zurückkehren sollte.

Ich möchte nunmehr auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles eingehen.

Fräulein Vera Ann Saunders wurde am 16. April 1957 geboren und ist Bürgerin des Vereinigten Königreichs. Aus Äußerungen in der mündlichen Verhandlung geht hervor, daß sie möglicherweise aus Nordirland stammt. Am 21. Dezember 1977 bekannte sie sich vor dem Crown Court Bristol schuldig, ein Sparbuch der National Savings Bank gestohlen zu haben. Für diese Tat hätte eine Freiheitsstrafe gegen sie ausgesprochen werden können. Fräulein Saunders war zu dieser Zeit in England ansässig, äußerte jedoch gegenüber dem Gericht den Wunsch, nach Nordirland zu ziehen, und die Bereitschaft, einen binding-over-Beschluß mit einer dementsprechenden Auflage zu akzeptieren. Das Gericht faßte einen solchen Beschluß, der in einer für Fräulein Saunders bestimmten recognizance über £ 50 enthalten war, „am oder nach dem 16. Januar 1978 zur Verurteilung zu erscheinen, es sei denn, sie begibt sich vor diesem Zeitpunkt nach Nordirland und reist während eines Zeitraums von drei Jahren nicht nach England oder Wales ein.“ Fräulein Saunders unterzeichnete eine recognizance dieses Wortlauts. Ich darf darauf hinweisen, daß die Betroffene dadurch nicht verpflichtet wurde, nach ihrer Ankunft in Nordirland zu verbleiben. Es stand ihr danach frei, nach Schottland oder an einen beliebigen anderen Ort außerhalb von England oder Wales zu reisen. Die einzige Bedingung von bleibender Wirkung war, daß sie drei Jahre lang nicht nach England oder Wales kommen sollte.

Seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs wurde betont, da gegenseitige Vereinbarungen mit den Behörden in Nordirland fehlten, habe der Crown Court nicht die Möglichkeit gehabt, eine gegen Fräulein Saunders in Nordirland durchsetzbare probation order zu erlassen. Wir wurden auf einen Vermerk auf der Rückseite der Anklageschrift hingewiesen, aus dem hervorgeht, daß gegen die Betroffene unter dem 29. November 1977 eine frühere probation order wegen einer anderen Straftat ergangen war. Der Vermerk lautet: „Probation Order vom 29. 11. 1977 bleibt in Kraft; irische Behörden werden gebeten werden, auf nicht offizieller Grundlage zu beaufsichtigen.“ Damit, so wurde vorgetragen, sei alles getan worden, um Fräulein Saunders möglichst weitgehend so zu stellen, wie sie gestanden hätten, wenn es möglich gewesen wäre, sie in Nordirland einer probation order zu unterwerfen.

Fräulein Saunders ist den Bestimmungen des Beschlusses nicht nachgekommen. Sie wurde am 1. Juni 1978 in Wales verhaftet und am 13. Juni wieder vor den Crown Court gebracht. Nach englischem Recht hätte das Gericht dann sofort zu einer Verurteilung aufgrund der ursprünglichen Straftat schreiten oder die Zahlungsverpflichtung aus der recognizance geltend machen oder beides tun können. In diesem Stadium warf der Vertreter der Strafverfolgungsbehörde jedoch ein, daß Fräulein Saunders möglicherweise als „Arbeitnehmer“ im Sinne des Vertrages anzusehen sei und daß der Beschluß vom 21. Dezember 1977 ihre Rechte nach Artikel 48 verletzt haben könnte. Dem Crown Court wurden die Entscheidungen des Gerichtshofes in den Rechtssachen 41 /74 (Van Duyn/Home Office, Slg. 1974, 1337), 67/74 (Bonsignore/Stadt Köln, Slg. 1975, 297), 36/75 (Rutili/Ministre de l'Intérieur, Slg. 1975, 1219) und Bouchereau (bereits zitiert) sowie die Entscheidung des Metropolitan Magistrate in Regina v. Secchi (bereits zitiert) genannt.

Der Crown Court kam zu dem Schluß, daß (1) Fräulein Saunders als Arbeitnehmerin im Sinne des Vertrages zu behandeln sei und daß (2) sein Beschluß vom 21. Dezember 1977 nicht unter eine der in Artikel 48 „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ gestatteten Beschränkungen falle. Die Frage, die er dem Gerichtshof vorgelegt hat, lautet wie folgt:

„Kann der Beschluß des Gerichts in dem Strafverfahren gegen Vera Ann Saunders vom 21. Dezember 1977 insbesondere im Hinblick auf das in Artikel 48 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft genannte Recht und den Umstand, daß die Angeklagte nach Sachlage englische Staatsangehörige ist, einen Verstoß gegen die einem Arbeitnehmer in Artikel 48 des Vertrages gewährten Rechte darstellen?“

Wie die Regierung des Vereinigten Königreichs bemerkte, ist der Gebrauch des Ausdrucks „englische“ Staatsangehörige unpassend, da ein solcher Status rechtlich nicht existiert. Streng genommen hätte von „einer Bürgerin des Vereinigten Königreichs und der Kolonien mit Aufenthaltsberechtigung im Vereinigten Königreich“ die Rede sein müssen, was ich zuvor mit „Bürgerin des Vereinigten Königreichs“ abgekürzt habe.

Die Frage ist auch insofern unpassend formuliert, als sie den Gerichtshof dazu auffordert, unmittelbar über die Wirksamkeit des Beschlusses des Crown Court zu entscheiden. Das würde die Zuständigkeit des Gerichtshofes nach Artikel 177 des Vertrages überschreiten. Aus der vorliegenden Formulierung der Frage lassen sich jedoch die Fragen, über die der Gerichtshof in dieser Rechtssache entscheiden soll, leicht herausfiltern. Es handelt sich dabei um Fragen von einiger Bedeutung.

Die Kommission trägt vor, die vorliegende Rechtssache falle außerhalb des Anwendungsbereichs des Artikels 48, ja sogar des Vertrages in seiner Gesamtheit, da dem Sachverhalt jegliches Element der Anknüpfung an einen anderen Mitgliedstaat fehle, das es verbieten würde, ihn ausschließlich unter einzelstaatlichen Gesichtspunkten zu behandeln. Nach Ansicht der Kommission steht eine von einem Mitgliedstaat zur Beschränkung des Aufenthaltsrechts eines eigenen Staatsangehörigen auf einen Teil seines eigenen Staatsgebiets getroffene Maßnahme jedenfalls dann außerhalb des Anwendungsbereichs des Vertrages, „wenn die Gründe für eine solche Beschränkung nicht mit einem in einem anderen Mitgliedstaat lokalisierten Ereignis verbunden sind oder dazu in Bezug stehen“.

Für diese Ansicht beruft sich die Kommission auf eine Passage in Randnummer 24 der Entscheidungsgründe des unlängst ergangenen Urteils des Gerichtshofes in der Rechtssache 115/78 (Knoors, vom 7. Februar 1979, noch nicht veröffentlicht). Diese Passage — lediglich ein obiter dictum — geht dahin, daß die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr nicht auf rein interne Verhältnisse eines Mitgliedstaats anwendbar sind. Das wurde in einem sehr konkreten Zusammenhang gesagt: Das Urteil des Gerichtshofes befaßte sich an jener Stelle mit einem von der niederländischen Regierung vorgetragenen Argument, daß es einem Bürger nicht erlaubt sein sollte, die Anforderungen der Rechtsvorschriften seines Mitgliedstaats über die Qualifikationen für die Ausübung eines bestimmten Berufs zu umgehen, indem er sich mit Bedacht um die Erlangung der in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten weniger strengen Nachweise bemüht. Ich hege für meinen Teil einigen Zweifel daran, ob der Entscheidungssatz in der Weise wörtlich verstanden werden kann, daß er in den Bereichen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs allgemein anwendbar ist. Die Entscheidung darüber muß von einer genaueren Prüfung der diesbezüglichen Artikel des Vertrages abhängen, als sie der Gerichtshof in der Rechtssache Knoors vorzunehmen hatte, wo es im wesentlichen um die Auslegung der einschlägigen Allgemeinen Programme und bestimmter Ratsrichtlinien ging. Aber ich habe keinen Zweifel, daß die erwähnte Passage nicht so aufgefaßt werden darf, als stelle sie einen allgemeinen Grundsatz des Inhalts auf, daß auf „rein interne Verhältnisse eines Mitgliedstaats“ keine Bestimmungen des Vertrages beziehungsweise keine von dessen Bestimmungen über die Freizügigkeit Anwendung finden können.

Bei der vorliegenden Rechtssache geht es um Artikel 48 des Vertrages, und ob der entsprechende Sachverhalt außerhalb des Anwendungsbereichs des Vertrages steht, hängt allein von einer zutreffenden Auslegung dieses Artikels ab. Bei der Untersuchung dieser Frage ist zu bedenken, daß — erstens — der Vertrag für die Bürger jedes Mitgliedstaats in vieler Hinsicht Rechte begründet, die gegen die Behörden dieses Staats durchsetzbar sind, und daß — zweitens — Artikel 7 des Vertrages die Diskriminierung der eigenen Staatsangehörigen durch einen Mitgliedstaat ebenso untersagt, wie er die Diskriminierung der Staatsangehörigen anderen Mitgliedstaaten durch einen Mitgliedstaat verbietet.

Wenn der Crown Court Fräulein Saunders drei Jahre lang aus England und Wales fernhalten und sie damit, soweit das Staatsgebiet des Vereinigten Königreichs betroffen war, auf Nordirland und Schottland beschränken durfte, so folgt daraus notwendig, daß entweder (1) dieses Gericht den gleichen Beschluß im Falle eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats erlassen darf — eine These, von der zumindest zu sagen ist, daß ihr nicht ohne sorgfältige Prüfung zugestimmt werden kann —, oder daß (2) — falls der gleiche Beschluß im Falle eines Staatsangehörgen eines anderen Mitgliedstaats nicht erlassen werden kann — das Ergebnis zumindest prima facie eine Verletzung des Grundsatzes darstellt, nach dem die Staatsangehörigen sämtlicher Mitgliedstaaten einen Anspruch auf die gleiche Behandlung haben. Ich sage nicht, daß aus diesem offensichtlichen Dilemma kein Ausweg möglich ist. Was ich hier herausstellen möchte, ist, daß man diesen Fall nicht von vornherein mit der einfachen Begründung abtun kann, daß es nichts gebe, was ihn mit einem anderen Mitgliedstaat verbände. Die wirkliche Frage ist hier nicht, ob der Fall irgendeine Verbindung mit einem anderen Mitgliedstaat aufweist, sondern ob — und wenn ja, in welchem Umfang — das Gemeinschaftsrecht für einen Bürger in Fräulein Saunders' Situation Rechte begründet.

Seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs wurde vorgetragen, daß Artikel 48 lediglich die Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbiete und es einem Mitgliedstaat unbenommen lasse, die Freizügigkeit von Arbeitnehmern innerhalb seines Hoheitsgebiets aus jedem beliebigen anderen Grund zu beschränken. Für die Wirksamkeit des Beschlusses des Crown Court vom 21. Dezember 1977 reiche es hier deshalb aus, daß dieser Beschluß nach englischem Recht gegenüber einer Person jedweder Staatsangehörigkeit hätte ergehen können.

Zur Stützung dieser These hat die Regierung des Vereinigten Königreichs die Rechtssache Rutiii zitiert, in der der Gerichtshof entschied :

„Insbesondere können für einen Teil des Staatsgebiets geltende Beschränkungen des Aufenthaltsrechts von einem Mitgliedstaat gegenüber Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten, für die die Bestimmungen des Vertrages gelten, nur in den Fällen und unter den Voraussetzungen ausgesprochen werden, in denen solche Maßnahmen gegenüber den eigenen Staatsangehörigen des betreffenden Staates angewendet werden können.“

(Slg. 1975, 1236)

Diese Entscheidung ist jedoch sowohl der Form als auch der Wirkung nach lediglich negativ zu verstehen. Sie bedeutet, daß es einem Mitgliedstaat verboten ist, eine Beschränkung der fraglichen Art gegenüber einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats unter Voraussetzungen auszusprechen, unter denen er die Beschränkung gegen einen seiner eigenen Staatsangehörigen nicht aussprechen dürfte. Sie bedeutet nicht, daß ein Mitgliedstaat gegenüber der Freizügigkeit von Arbeitnehmern innerhalb seines Hoheitsgebiets jegliche Beschränkung nach seiner Wahl verhängen darf, wenn nur die Staatsangehörigen sämtlicher Mitgliedstaaten gleichbehandelt werden. Für meine Begriffe findet sich die für den vorliegenden Fall einschlägige Passage des Urteils in der Rechtssache Rutili unter Randnummer 27 der Entscheidungsgründe, wo der Gerichtshof klarstellt, daß Artikel 48 zwei wesentliche Grundsätze einschließt, nämlich den der Gleichbehandlung und den der Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

Letzteres scheint mir die einzige mit dem Wortlaut des Artikels 48 selbst vereinbare Ansicht zu sein. Von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit ist nur in den Absätzen 2 und 3 Buchstabe c, vielleicht auch (stillschweigend) in den Absätzen 3 Buchstabe d und 4 dieser Bestimung die Rede. Die in der vorliegenden Rechtssache bedeutendste Bestimmung (Artikel 3 Buchstabe b) begründet für einen Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, das Recht, „sich … im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen“, um sich um angebotene Stellen zu bewerben. Dieses Recht ist einzig und allein unter den Vorbehalt der „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen“ gestellt.

Ich sollte vielleicht betonen, daß es in der Bestimmung heißt: „sich … im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen“ und nicht „sich frei von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu bewegen“. Das Recht ist deshalb prima facie auf Zugang zu jedem Teil des Hoheitsgebiets jedes Mitgliedstaats gerichtet. Genau das würde man auch erwarten, da es das Ziel der Freizügigkeit ist, zu der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes, in dem die Staatsangehörigen sämtlicher Mitgliedstaaten überall im Gebiet der Gemeinschaft am Wirtschaftsleben teilnehmen können, beizutragen (s. Randnummer 18 der Entscheidungsgründe des Urteils des Gerichtshofes in der Rechtssache 136/78, Ministère Public/Auer,7. Februar 1979, noch nicht veröffentlicht).

Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat weiter vorgetragen, ein Beschluß der hier fraglichen Art könne gegen keine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts verstoßen, da er auf Einwilligung gegründet sei. Hierzu wurden Analogien angeführt wie etwa die im Rahmen eines Arbeitsvertrages eingegangene Verpflichtung, an einem bestimmten Ort zu wohnen, oder die Annahme eines Vermächtnisses, mit dem die Verpflichtung verbunden ist, in einem besonderen Haus zu wohnen. Meiner Ansicht nach ist es jedoch unrealistisch, von einer Einwilligung zu sprechen, wenn eine mit der möglichen Alternative der Inhaftierung konfrontierte Person einer Aufenthaltsbeschränkung zustimmt.

Ich komme somit zu dem, wie mir scheint, wirklichen Problem dieser Rechtssache. Wie seitens der Regierung des Vereinigten Königreichs dargelegt wurde, verfügen Strafgerichte überall in der Gemeinschaft — und dies ist eine Notwendigkeit — über eine Vielzahl von Befugnissen zur Freiheitsbeschränkung, von denen die offensichtlichste die Befugnis zur Inhaftierung ist. Es ist nicht anzunehmen, daß die Verfasser des Vertrages ihnen diese Befugnisse entziehen wollten. Ich persönlich glaube nicht, daß diese Befugnisse lediglich aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahme auf „öffentliche Ordnung und Sicherheit“ in Artikel 48 Absatz 3 erhalten geblieben sind, da diese Begriffe sehr eng sind. Meines Erachtens gebietet es die praktische Vernunft, Artikel 48 so auszulegen, daß er eindeutig nicht beabsichtigt, die Befugnisse von Strafgerichten zu beseitigen. Das wirkliche Problem liegt in dem Ausmaß, in dem das Gemeinschaftsrecht diese Befugnisse möglicherweise beschränkt. Ich überhöre nicht die seitens der Kommission geäußerte Warnung, der Gerichtshof müsse sich davor hüten, „die Art und Weise der Bestrafung in den einzelnen Mitgliedstaaten selbst zu bestimmen“. Gleichwohl kann der Gerichtshof, wie die Sache ßouchereau zeigt, das Problem nicht völlig ignorieren.

Meiner Ansicht nach liegt die Lösung in einer Unterscheidung zwischen Beschränkungen der Freizügigkeit der einzelnen, die von Strafgerichten im gewöhnlichen Gang der Rechtspflege ausgesprochen werden, einerseits und einem Beschluß, der von einem Strafgericht zur Gewährleistung der Ausweisung einer Person oder ihrer Verbannung aus einem wesentlichen Teil des Hoheitsgebiets des betreffenden Mitgliedstaats erlassen wird, andererseits.

Zu der zuerst genannten Kategorie würde ich Inhaftierung, probation orders, Beschlüsse zur Verschonung von der Untersuchungshaft gegen Sicherheitsleistung („orders granting bail“) mit einer Aufenthaltsauflage sowie einen binding-over-Beschluß zählen, der mit einer Aufenthaltsauflage versehen ist, die dazu bestimmt ist, die Rückkehr des Straftäters in seine häusliche Umgebung zu gewährleisten oder ihm die Inhaftierung in einem fremden Land zu ersparen. Im Falle von Beschlüssen die in diese Kategorie fallen, würde ich meinen, daß das Gemeinschaftsrecht die Befugnisse der einzelstaatlichen Gerichte nicht einschränkt.

Im Falle von Ausweisungs- oder Verbannungsbeschlüssen glaube ich jedoch, daß diese nur dann gerechtfertigt werden können, wenn sie in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes in einer Reihe von Fällen, zu denen Bouchereau gehört, aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergehen; und ich würde natürlich sagen, daß das unabhängig von der Staatsangehörigkeit des betreffenden Straftäters gilt, vorausgesetzt, es handelt sich dabei um die Staatsangehörigkeit eines der Mitgliedstaaten.

Falls Sie, meine Herren Richter, diese Lösung übernehmen, wird es Sache des Crown Court in Bristol sein, selbst darüber zu entscheiden, in welche Kategorie sein Beschluß vom 21. Dezember 1977 fällt. Er scheint bereits entschieden zu haben, daß der Beschluß, falls er in die zweite Kategorie fällt, nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt werden kann.

Im Ergebnis bin ich der Ansicht, daß Sie, meine Herren Richter, in Beantwortung der dem Gerichtshof vom Crown Court vorgelegten Frage entscheiden sollten, daß ein Beschluß, der im Falle eines Arbeitnehmers ergeht, welcher Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der EWG ist und einer Straftat überführt wurde, und der diesem Arbeitnehmer als Alternative zu einer Bestrafung auferlegt, während einer bestimmten Zeit sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten oder von einem bestimmten Ort fernzubleiben, mit Artikel 48 des Vertrages unter der Voraussetzung nicht unvereinbar ist, daß der Zweck des Beschlusses nicht in der bloßen Entfernung der betreffenden Person aus dem Hoheitsgebiet oder einem wesentlichen Teil des Hoheitsgebiets desjenigen Mitgliedstaats liegt, zu dem das Gericht gehört. Wird der zuletzt genannte Zweck verfolgt, so ist der Beschluß mit Artikel 48 nur insoweit vereinbar, als er aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt werden kann.


( 1 ) Aus dem Englischen übersetzt.