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Document 62019TJ0579

    Urteil des Gerichts (Dritte Kammer) vom 14. April 2021.
    The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR gegen Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum.
    Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Sammelanmeldung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern, die Turn- oder Sportgeräte und ‑artikel darstellen – Prioritätsrecht – Art. 41 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Anmeldung nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens – Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums – Prioritätsfrist.
    Rechtssache T-579/19.

    ECLI identifier: ECLI:EU:T:2021:186

     URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)

    14. April 2021 ( *1 )

    „Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Sammelanmeldung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern, die Turn- oder Sportgeräte und ‑artikel darstellen – Prioritätsrecht – Art. 41 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 – Anmeldung nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens – Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums – Prioritätsfrist“

    In der Rechtssache T‑579/19,

    The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR mit Sitz in München (Deutschland), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältin J. Hellmann-Cordner,

    Klägerin,

    gegen

    Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO), vertreten durch D. Walicka als Bevollmächtigte,

    Beklagter,

    betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des EUIPO vom 13. Juni 2019 (Sache R 573/2019‑3) über die Anmeldung von Turn- oder Sportgeräten und ‑artikeln als Gemeinschaftsgeschmacksmuster, für die das Prioritätsrecht einer internationalen Patentanmeldung nach dem Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens beansprucht wird,

    erlässt

    DAS GERICHT (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten A. M. Collins, des Richters G. De Baere und der Richterin G. Steinfatt (Berichterstatterin),

    Kanzler: E. Coulon,

    aufgrund der am 20. August 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,

    aufgrund der am 15. November 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung,

    aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien innerhalb von drei Wochen nach der Bekanntgabe des Abschlusses des schriftlichen Verfahrens die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und des darauf gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichts ergangenen Beschlusses, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    Rechtlicher Rahmen

    Völkerrecht

    1

    Die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums wurde am 20. März 1883 in Paris (Frankreich) unterzeichnet, zuletzt in Stockholm (Schweden) am 14. Juli 1967 revidiert und am 28. September 1979 geändert (United Nations Treaty Series, Bd. 828, Nr. 11851, S. 305, im Folgenden: Pariser Verbandsübereinkunft). Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsparteien dieser Übereinkunft.

    2

    Art. 4 Abschnitt A Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft bestimmt:

    „Wer in einem der [Vertragsstaaten der Pariser Verbandsübereinkunft] die Anmeldung für ein Erfindungspatent, ein Gebrauchsmuster, ein gewerbliches Muster oder Modell, eine Fabrik- oder Handelsmarke vorschriftsmäßig hinterlegt hat oder sein Rechtsnachfolger genießt für die Hinterlegung in den anderen Ländern während der unten bestimmten Fristen ein Prioritätsrecht.“

    3

    Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft lautet:

    „Die oben erwähnten Prioritätsfristen betragen zwölf Monate für die Erfindungspatente und die Gebrauchsmuster und sechs Monate für die gewerblichen Muster oder Modelle und für die Fabrik- oder Handelsmarken.“

    4

    Art. 4 Abschnitt E der Pariser Verbandsübereinkunft sieht vor:

    „(1)   Wird in einem Land ein gewerbliches Muster oder Modell unter Inanspruchnahme eines auf die Anmeldung eines Gebrauchsmusters gegründeten Prioritätsrechts hinterlegt, so ist nur die für gewerbliche Muster oder Modelle bestimmte Prioritätsfrist maßgebend.

    (2)   Im Übrigen ist es zulässig, in einem Land ein Gebrauchsmuster unter Inanspruchnahme eines auf die Hinterlegung einer Patentanmeldung gegründeten Prioritätsrechts zu hinterlegen und umgekehrt.“

    5

    Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) in Anhang 1 C des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) wurde am 15. April 1994 in Marrakesch (Marokko) unterzeichnet und durch den Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986‑1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche (ABl. 1994, L 336, S. 1, im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen) genehmigt. Vertragsparteien des TRIPS-Übereinkommens sind die Mitglieder der WTO, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie die Europäische Union selbst.

    6

    Art. 2 („Übereinkünfte über geistiges Eigentum“) des TRIPS-Übereinkommens bestimmt:

    „(1)   In Bezug auf die Teile II, III und IV dieses Übereinkommens befolgen die Mitglieder die Artikel 1 bis 12 sowie Artikel 19 der Pariser Verbandsübereinkunft [zum Schutz des gewerblichen Eigentums in ihrer in Stockholm am 14. Juli 1967 revidierten Fassung].

    (2)   Die in den Teilen I bis IV dieses Übereinkommens enthaltenen Bestimmungen setzen die nach der Pariser Verbandsübereinkunft … bestehenden Verpflichtungen der Mitglieder untereinander nicht außer Kraft.“

    7

    Der Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Patentwesens wurde am 19. Juni 1970 in Washington geschlossen und zuletzt am 3. Oktober 2001 geändert (United Nations Treaty Series, Bd. 1160, Nr. 18336, S. 231, im Folgenden: PCT). Alle Mitgliedstaaten der Union sind Vertragsparteien des PCT.

    8

    Art. 1 Abs. 2 des PCT sieht vor:

    „Keine Bestimmung dieses Vertrags ist so auszulegen, dass sie die Rechte aus der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums der Personen beeinträchtigt, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedlands dieser Übereinkunft besitzen oder in einem solchen Land ihren Sitz oder Wohnsitz haben.“

    9

    In Art. 2 Ziff. i und ii des PCT heißt es:

    „Im Sinne dieses Vertrags und der Ausführungsordnung und sofern nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt wird:

    i)

    bedeutet ‚Anmeldung‘ eine Anmeldung für den Schutz einer Erfindung; Bezugnahmen auf eine ‚Anmeldung‘ sind zu verstehen als Bezugnahme auf Anmeldungen für Erfindungspatente, für Erfinderscheine, für Gebrauchszertifikate, für Gebrauchsmuster, für Zusatzpatente oder ‑zertifikate, für Zusatzerfinderscheine und Zusatzgebrauchszertifikate;

    ii)

    sind Bezugnahmen auf ein ‚Patent‘ zu verstehen als Bezugnahmen auf Erfindungspatente, auf Erfinderscheine, auf Gebrauchszertifikate, auf Gebrauchsmuster, auf Zusatzpatente oder ‑zertifikate, auf Zusatzerfinderscheine und auf Zusatzgebrauchszertifikate …“

    10

    Art. 3 Abs. 1 des PCT lautet:

    „Anmeldungen zum Schutz von Erfindungen in jedem der Vertragsstaaten können als internationale Anmeldungen im Sinne dieses Vertrags eingereicht werden.“

    Unionsrecht

    11

    Art. 41 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) lautet:

    „Jedermann, der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft oder des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation ein Geschmacksmuster oder ein Gebrauchsmuster vorschriftsmäßig angemeldet hat, oder sein Rechtsnachfolger genießt hinsichtlich der Anmeldung als eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster für dieses Muster oder Gebrauchsmuster ein Prioritätsrecht von sechs Monaten nach Einreichung der ersten Anmeldung.“

    Vorgeschichte des Rechtsstreits

    12

    Am 24. Oktober 2018 beantragte die Klägerin, The KaiKai Company Jaeger Wichmann GbR, nach der Verordnung Nr. 6/2002 beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) als Sammelanmeldung die Eintragung von zwölf Gemeinschaftsgeschmacksmustern. Die Waren, in die diese Geschmacksmuster aufgenommen werden sollen, sind „Turn- oder Sportgeräte und ‑artikel“ in Klasse 21-02 des Abkommens von Locarno zur Errichtung einer Internationalen Klassifikation für gewerbliche Muster und Modelle vom 8. Oktober 1968 in geänderter Fassung. Die Klägerin beanspruchte für alle diese Geschmacksmuster eine Priorität, die sich auf die am 26. Oktober 2017 beim Europäischen Patentamt (EPA) eingereichte internationale Patentanmeldung PCT/EP2017/077469 stützte.

    13

    Mit Schreiben vom 31. Oktober 2018 informierte der Prüfer des EUIPO die Klägerin darüber, dass die Sammelanmeldung vollständig zur Eintragung frei gegeben worden sei, das beanspruchte Prioritätsrecht aber für alle Geschmacksmuster zurückgewiesen werde, weil der Anmeldetag der Voranmeldung mehr als sechs Monate vor dem Anmeldetag der Sammelanmeldung liege.

    14

    Da die Klägerin ihre Inanspruchnahme der Priorität aufrechterhielt und um eine beschwerdefähige Entscheidung bat, wies der Prüfer mit Entscheidung vom 16. Januar 2019 das Prioritätsrecht für alle Gemeinschaftsgeschmacksmuster zurück.

    15

    Zur Begründung seiner Entscheidung führte der Prüfer unter Berufung auf Punkt 6.2.1.1 der Prüfungsrichtlinien für eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster vom 1. Oktober 2018 (im Folgenden: Richtlinien des EUIPO) aus, dass eine Anmeldung nach dem PCT zwar grundsätzlich ein Prioritätsrecht nach Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002 begründen könne, da die weite Definition des Begriffs „Patent“ in Art. 2 des PCT auch Gebrauchsmuster umfasse; diese Anmeldung unterliege jedoch ebenfalls der Prioritätsfrist von sechs Monaten, die im vorliegenden Fall nicht gewahrt worden sei.

    16

    Am 14. März 2019 legte die Klägerin gegen die Entscheidung des Prüfers beim EUIPO eine Beschwerde nach den Art. 55 bis 60 der Verordnung Nr. 6/2002 ein.

    17

    Mit Entscheidung vom 13. Juni 2019 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung) wies die Dritte Beschwerdekammer des EUIPO die Beschwerde der Klägerin gegen die Entscheidung des Prüfers zurück. Sie war im Wesentlichen der Auffassung, dass der Prüfer Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002, der die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft inhaltsgleich wiedergebe, korrekt angewandt habe.

    18

    Insoweit stellte sie fest, dass nach Art. 4 Abschnitt A Abs. 1 und Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft die vorschriftsmäßige nationale Anmeldung eines Geschmacksmusters oder eines Gebrauchsmusters innerhalb bestimmter Fristen, die zwölf Monate für Patente und Gebrauchsmuster sowie sechs Monate für Geschmacksmuster und Marken betrügen, ein Prioritätsrecht begründe. Darüber hinaus ergebe sich aus Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 dieser Übereinkunft, dass die Priorität einer Gebrauchsmusteranmeldung für eine nachfolgende Geschmacksmusteranmeldung nur innerhalb der für Geschmacksmuster geltenden Prioritätsfrist von sechs Monaten in Anspruch genommen werden könne. Demgegenüber könne nach Art. 4 Abschnitt E Abs. 2 der Pariser Verbandsübereinkunft die Priorität einer Patentanmeldung für eine nachfolgende Gebrauchsmusteranmeldung innerhalb der für Gebrauchsmuster und Patente geltenden Prioritätsfrist von zwölf Monaten in Anspruch genommen werden und umgekehrt. Die Pariser Verbandsübereinkunft enthalte daher keine Regelung, wonach eine Patentanmeldung für eine Geschmacksmusteranmeldung prioritätsbegründend sein könne.

    19

    Für die Union, die Mitglied der WTO sei, gelte Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft gemäß Art. 2 Abs. 1 des TRIPS-Übereinkommens entsprechend. Es gebe allerdings keinen Vorrang der Pariser Verbandsübereinkunft vor den Bestimmungen der Verordnung Nr. 6/2002, da diese kein Sonderabkommen im Sinne von Art. 19 der Pariser Verbandsübereinkunft sei. Die Wirksamkeit eines Prioritätsrechts sei daher allein anhand der Verordnung Nr. 6/2002 zu beurteilen.

    20

    Die Beschwerdekammer war ferner der Auffassung, dass der Wortlaut des Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002 eindeutig sei; demnach betrage die Prioritätsfrist sechs Monate ab dem Anmeldetag der Voranmeldung, und allein die vorschriftsmäßige Hinterlegung einer Geschmacksmuster- oder Gebrauchsmusteranmeldung sei prioritätsbegründend, nicht aber die einer Patentanmeldung. In Anbetracht von Punkt 6.2.1.1 der Richtlinien des EUIPO räumte die Beschwerdekammer ein, dass der Begriff des Gebrauchsmusters weit auszulegen sei und internationale Patentanmeldungen nach dem PCT umfasse, weil Letztere nach der Begriffsbestimmung in Art. 2 Ziff. ii des PCT auch Gebrauchsmuster umfassten. Diese weite Auslegung könne sich jedoch nicht auf die Dauer der gesetzlichen Prioritätsfrist von sechs Monaten auswirken, so dass die Priorität einer Patentanmeldung nach dem PCT auch innerhalb dieser Frist in Anspruch genommen werden müsse.

    21

    Außerdem bestehe kein Widerspruch zwischen den zwei Beschlüssen des Bundespatentgerichts (Deutschland) vom 10. November 1967, auf die sich die Klägerin berufe, und Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002, da diese Beschlüsse die Inanspruchnahme von Prioritätsrechten für nachfolgende Gebrauchsmusteranmeldungen und nicht für Geschmacksmusteranmeldungen beträfen.

    22

    Daher habe die Klägerin die Priorität der am 26. Oktober 2017 eingereichten internationalen Patentanmeldung nach dem PCT nur innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab diesem Datum, d. h. bis zum 26. April 2018, geltend machen können.

    Anträge der Parteien

    23

    Die Klägerin beantragt,

    die angefochtene Entscheidung aufzuheben;

    die Entscheidung des Prüfers vom 16. Januar 2019 insoweit aufzuheben, als die Priorität für die Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nrn. 5807179‑0001 bis 0012 nicht anerkannt wurde, die beanspruchte Priorität vom 26. Oktober 2017 anzuerkennen und eine korrigierte Bekanntmachung der Gemeinschaftsgeschmacksmuster unter Angabe der Priorität vorzunehmen;

    das EUIPO zu verurteilen, der Klägerin die Beschwerdegebühr zu erstatten;

    dem EUIPO die Kosten aufzuerlegen;

    hilfsweise, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

    24

    Das EUIPO beantragt,

    die Klage abzuweisen;

    der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

    Rechtliche Würdigung

    Zur Zulässigkeit

    25

    Der zweite Antrag der Klägerin umfasst zwei Teile. Mit dem ersten Teil beantragt sie, die Entscheidung des Prüfers vom 16. Januar 2019 insoweit aufzuheben, als die Priorität der früheren internationalen Patentanmeldung für die in Rede stehenden Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht anerkannt wurde.

    26

    Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 61 Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 6/2002 die angefochtene Entscheidung und nicht die Entscheidung des Prüfers mit einer Klage beim Gericht anfechtbar ist, das die angefochtene Entscheidung aufheben oder abändern kann.

    27

    Überdies hat nach Art. 61 Abs. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 das EUIPO die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichts ergeben. Da Gegenstand der Beschwerde, die zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, die Entscheidung des Prüfers vom 16. Januar 2019 war, wird dessen Entscheidung im Fall einer Aufhebung der angefochtenen Entscheidung von der Beschwerdekammer im Licht des vorliegenden Urteils erneut zu prüfen sein.

    28

    Der erste Teil des zweiten Antrags ist daher als unzulässig zurückzuweisen.

    29

    Zum zweiten Teil des zweiten Antrags, mit dem die Klägerin beantragt, die beanspruchte Priorität anzuerkennen und eine korrigierte Bekanntmachung der in Rede stehenden Gemeinschaftsgeschmacksmuster unter Angabe der Priorität vorzunehmen, ist festzustellen, dass im Rahmen einer beim Unionsrichter gegen die Entscheidung einer Beschwerdekammer des EUIPO erhobenen Klage aus Art. 61 Abs. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 folgt, dass das Gericht dem EUIPO, das die Konsequenzen aus dem Tenor und den Gründen der Urteile des Gerichts zu ziehen hat, keine Anordnungen erteilen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2018, Gramberg/EUIPO – Mahdavi Sabet [Hülle für Mobiltelefone], T‑166/15, EU:T:2018:100, Rn. 96; vgl. auch in diesem Sinne und entsprechend Urteil vom 25. November 2015, Jaguar Land Rover/HABM [Form eines Autos], T‑629/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:878, Rn. 10).

    30

    Folglich ist der zweite Teil des zweiten Antrags der Klägerin unzulässig, so dass dieser Antrag insgesamt unzulässig ist.

    31

    Zum fünften, hilfsweise gestellten Antrag der Klägerin ist festzustellen, dass der in der Klageschrift gestellte Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die Bestimmungen der Verfahrensordnung des Gerichts verfrüht war. Aus der Rechtsprechung geht nämlich hervor, dass Anträge auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung und die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Durchführung einer solchen Verhandlung durch das Gericht erst dann erfolgen können, wenn den Parteien und dem Gericht nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens der gesamte Akteninhalt und das Vorbringen aller Parteien vorliegen, damit sie sich zur Zweckmäßigkeit äußern können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2017, Erdinger Weißbräu Werner Brombach/EUIPO [Form eines großen Glases], T‑857/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:754, Rn. 13; vgl. auch entsprechend Urteil vom 3. März 2015, Schmidt Spiele/HABM [Darstellung von Spielbrettern von Gesellschaftsspielen], T‑492/13 und T‑493/13, EU:T:2015:128, Rn. 10).

    32

    Mit Schreiben vom 18. November 2019, mit dem der Klägerin die Klagebeantwortung zugestellt und die Beendigung des schriftlichen Verfahrens mitgeteilt worden sind, hat die Kanzlei des Gerichts sie unter Bezugnahme auf Art. 106 der Verfahrensordnung darauf hingewiesen, dass die Frist für die Einreichung eines Antrags auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung nur einmal läuft, und zwar ab dieser Mitteilung. Innerhalb der in der genannten Bestimmung vorgesehenen Frist von drei Wochen hat die Klägerin jedoch keinen erneuten Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung gestellt.

    33

    Unter diesen Umständen hat das Gericht gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung beschlossen, ohne mündliches Verfahren zu entscheiden.

    Zur Begründetheit

    34

    Die Klägerin stützt ihre Klage auf zwei Gründe, mit denen sie erstens die Verletzung wesentlicher Formvorschriften und zweitens, gemäß Art. 61 Abs. 2 der Verordnung Nr. 6/2002, eine Verletzung dieser Verordnung in Verbindung mit einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm rügt.

    35

    Das Gericht hält es für zweckmäßig, zunächst den zweiten Klagegrund zu prüfen. Dieser ist dahin zu verstehen, dass mit ihm eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 geltend gemacht wird. Zwar ist Abschnitt II der Klagebegründung mit „Nichtanwendbarkeit des Artikels 41 [der Verordnung Nr. 6/2002]“ überschrieben, doch führt die Klägerin in den Rn. 12 und 21 der Klageschrift aus, dass sie ihre Klage „insbesondere auf die Verletzung … der Verordnung [Nr. 6/2002] in Verbindung mit einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm gemäß Artikel 61 (2) [der Verordnung Nr. 6/2002]“ stütze und dass es „im vorliegenden Fall insbesondere von Bedeutung [ist], bei der Auslegung [dieser Verordnung] die relevanten Regelungen der [Pariser Verbandsübereinkunft] als Ganzes zu betrachten“.

    36

    Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, die Beschwerdekammer sei zu Unrecht zu dem Ergebnis gelangt, dass die auf der internationalen Patentanmeldung vom 26. Oktober 2017 beruhende Inanspruchnahme der Priorität für die zwölf von der Sammelanmeldung vom 24. Oktober 2018 erfassten Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht fristgerecht erfolgt sei. Hierbei stützt sich die Klägerin auf die in der Pariser Verbandsübereinkunft vorgesehene Prioritätsfrist von zwölf Monaten für Patente und bringt vor, dass die in der Verordnung Nr. 6/2002 für Gebrauchsmuster vorgesehene Sechsmonatsfrist im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei.

    37

    Der zweite Klagegrund besteht aus zwei Teilen. Als Erstes wirft die Klägerin der Beschwerdekammer vor, einen Fehler begangen zu haben, indem sie angenommen habe, dass alle Anmeldungen nach dem PCT unter den Begriff „Gebrauchsmuster“ im Sinne von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 fielen.

    38

    Als Zweites macht die Klägerin geltend, die Beschwerdekammer hätte mangels einer eindeutigen Regelung in der Verordnung Nr. 6/2002 hinsichtlich der Priorität, die sich aus einer internationalen Patentanmeldung ergebe, die einschlägigen Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft, die die Grundlage dieser Verordnung bildeten, berücksichtigen müssen. Da Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 dieser Übereinkunft für Patente eine Prioritätsfrist von zwölf Monaten vorsehe und da die Übereinkunft auf dem Grundsatz beruhe, dass für die Prioritätsfrist, wenn die Priorität auf einem nicht gleichartigen Recht beruhe, unabhängig vom Charakter des von der späteren Anmeldung betroffenen Rechts die frühere Anmeldung maßgebend sei, habe die Beschwerdekammer nicht die Frist von sechs Monaten heranziehen dürfen.

    39

    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung anerkannt hat, dass sich das Prioritätsrecht aus einer internationalen Patentanmeldung nach dem PCT ergab. Sie stützte sich insoweit auf Punkt 6.2.1.1 der Richtlinien des EUIPO, wonach für die Prüfung eingetragener Gemeinschaftsgeschmacksmuster „[d]ie Priorität einer gemäß dem [PCT] eingereichten internationalen Anmeldung … in Anspruch genommen werden [kann], da der Begriff ‚Patent‘ in Artikel 2 des PCT so breit definiert wird, dass Gebrauchsmuster abgedeckt sind“.

    40

    Infolgedessen hat die Beschwerdekammer anerkannt, dass die von der Klägerin am 26. Oktober 2017 eingereichte internationale Patentanmeldung PCT/EP2017/077469 im Rahmen der späteren Anmeldung von Gemeinschaftsgeschmacksmustern ein Prioritätsrecht begründete. Diese Feststellung wird im vorliegenden Fall nicht in Frage gestellt.

    Zum ersten Teil des zweiten Klagegrundes: fehlerhafte Auslegung des Begriffs „Gebrauchsmuster“ in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002

    41

    Mit dem ersten Teil des zweiten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Beschwerdekammer habe den Begriff „Gebrauchsmuster“ in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 auf der Grundlage eines falschen Verständnisses von Art. 2 des PCT zu Unrecht weit ausgelegt.

    42

    Sie wendet sich gegen die Auslegung des EUIPO, wonach eine gemäß dem PCT eingereichte Anmeldung nur eine Gebrauchsmusteranmeldung sei oder einer solchen zumindest gleichzusetzen sei. Art. 2 Ziff. ii des PCT, auf den sich das EUIPO berufe, definiere den Begriff einer auf der Grundlage des PCT eingereichten Anmeldung als solchen nicht. Eine internationale Patentanmeldung stelle gleichzeitig sowohl eine Patentanmeldung als auch eine Gebrauchsmusteranmeldung dar.

    43

    Das EUIPO tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

    44

    Zunächst ist festzustellen, dass die Argumentation der Klägerin ambivalent ist. Sie wendet sich nämlich gegen die weite Auslegung des Begriffs „Gebrauchsmuster“ durch die Beschwerdekammer, obwohl, wie sich aus der vorstehenden Rn. 39 ergibt, erst diese Auslegung der Beschwerdekammer die Annahme ermöglicht hat, eine internationale Patentanmeldung könne ein Prioritätsrecht im Sinne von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 begründen. Wie die Beschwerdekammer in Rn. 16 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt hat, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht ausdrücklich, dass aus der Einreichung einer internationalen Patentanmeldung ein Prioritätsrecht folgt. Zu einer Prüfung des von der Klägerin im Rahmen ihrer späteren Anmeldung von Geschmacksmustern beanspruchten Prioritätsrechts kam es somit nur aufgrund der vom EUIPO vorgenommenen weiten Auslegung dieses Begriffs. Der Klägerin verschafft ihr Vorbringen daher, wie das EUIPO in seiner Klagebeantwortung ausführt, keinen Vorteil, so dass es zurückzuweisen ist.

    45

    Hervorzuheben ist jedenfalls, dass nach der Definition in Art. 2 Ziff. ii des PCT „Bezugnahmen auf ein ‚Patent‘ zu verstehen [sind] als Bezugnahmen auf Erfindungspatente, auf Erfinderscheine, auf Gebrauchszertifikate [oder] auf Gebrauchsmuster …“. Folglich umfassen die nach dem PCT eingereichten Patentanmeldungen Gebrauchsmuster, wie die Beschwerdekammer in Rn. 16 der angefochtenen Entscheidung ausgeführt hat.

    46

    Wie die Klägerin zu Recht geltend macht, impliziert diese Feststellung aber weder eine Identität der Begriffe „Patent“ und „Gebrauchsmuster“ noch impliziert sie, dass der Begriff „Gebrauchsmuster“ den Begriff „Patent“ umfasst.

    47

    Insoweit ist festzustellen, dass nach Art. 3 Abs. 1 des PCT Anmeldungen zum Schutz von Erfindungen in jedem der Vertragsstaaten als internationale Anmeldung im Sinne dieses Vertrags eingereicht werden können. Darüber hinaus sind gemäß Art. 2 Ziff. i des PCT „Bezugnahmen auf eine ‚Anmeldung‘ … zu verstehen als Bezugnahme auf Anmeldungen für Erfindungspatente, für Erfinderscheine, für Gebrauchszertifikate, für Gebrauchsmuster, für Zusatzpatente oder ‑zertifikate, für Zusatzerfinderscheine und Zusatzgebrauchszertifikate“. Der PCT unterscheidet somit nicht nach den verschiedenen Rechten, mit denen die diversen genannten Staaten der Erfindung Schutz gewähren.

    48

    Um nicht in ungerechtfertigter Weise einen Teil der Gebrauchsmusteranmeldungen auszuschließen, erlaubt es die weite Auslegung des EUIPO unter diesen Umständen, sämtliche nach dem PCT eingereichten internationalen Patentanmeldungen als Grundlage eines Prioritätsrechts anzuerkennen und so zu vermeiden, dass der im PCT vorgesehene rechtliche Schutz der gewerblichen Schutzrechte vereitelt wird. Zwar können internationale Patentanmeldungen somit ein Prioritätsrecht für Geschmacksmuster nach Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002 begründen, doch verwandeln sich dadurch weder die Patentanmeldungen in Gebrauchsmusteranmeldungen noch unterliegen sie damit automatisch den für Letztere gedachten Vorschriften.

    49

    Nach alledem ist festzustellen, dass die Beschwerdekammer, obwohl sich der Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 nicht ausdrücklich auf die Beanspruchung eines Prioritätsrechts aus einem Patent bezieht, zu Recht internationale Patentanmeldungen im Rahmen des genannten Artikels berücksichtigt hat. Die weite Auslegung dieser Bestimmung entspricht der Schutzrichtung des PCT, nach der bei einer internationalen Anmeldung Gebrauchsmustern und Patenten ein gleichwertiger Schutz zuteilwerden soll.

    50

    Hieraus folgt, dass die Beschwerdekammer keinen Fehler begangen hat, als sie die Beanspruchung des Prioritätsrechts aus der von der Klägerin nach dem PCT eingereichten internationalen Patentanmeldung hinsichtlich der Frage, ob auf eine solche internationale Patentanmeldung ein Prioritätsrecht gestützt werden kann, als von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 erfasst angesehen hat.

    Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes: Nichtberücksichtigung von Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft bei der Bestimmung der Prioritätsfrist

    51

    Mit dem zweiten Teil des zweiten Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Beschwerdekammer hätte, da die in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vorgesehene Frist von sechs Monaten im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, auf die Regeln der Pariser Verbandsübereinkunft zurückgreifen müssen, die in ihrem Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 für ein Prioritätsrecht aus einer Patentanmeldung eine Frist von zwölf Monaten vorsehe.

    – Zur Relevanz der Pariser Verbandsübereinkunft für die Auslegung von Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002

    52

    Die Klägerin tritt der Auslegung der Verordnung Nr. 6/2002 durch die Beschwerdekammer entgegen, wonach die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts in dieser Verordnung abschließend geregelt seien und die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft widerspiegelten, so dass kein Anlass bestehe, auf Letztere zurückzugreifen.

    53

    Nach Ansicht der Klägerin sind mangels einer eindeutigen Regelung in der Verordnung Nr. 6/2002 in Bezug auf die Voraussetzungen für die Geltendmachung eines Prioritätsanspruchs auf der Basis einer internationalen Patentanmeldung die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft im Eintragungsverfahren vor dem EUIPO zu beachten.

    54

    Das EUIPO tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Die Verordnung Nr. 6/2002 setze die einschlägigen Vorschriften der Pariser Verbandsübereinkunft für Geschmacksmuster korrekt um. Der eindeutige Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 bringe klar den Willen des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, für die Anmeldungen von Gemeinschaftsgeschmacksmustern die Frist zur Inanspruchnahme einer Priorität abschließend zu regeln. Daher sei es weder notwendig noch angezeigt, die Pariser Verbandsübereinkunft direkt oder entsprechend anzuwenden.

    55

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Die Entstehungsgeschichte einer Bestimmung des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (vgl. Urteil vom 11. November 2020, EUIPO/John Mills, C‑809/18 P, EU:C:2020:902, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    56

    Zum Wortlaut von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ist festzustellen, dass er den Fall der Anmeldung eines Geschmacksmusters unter Berufung auf ein Prioritätsrecht, das auf einer Patentanmeldung beruht, nicht regelt und daher auch keine Frist für die Inanspruchnahme der Priorität in dieser Situation vorsieht.

    57

    Anders als das EUIPO offenbar meint, regelt Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 daher nicht abschließend, innerhalb welcher Frist eine Priorität im Rahmen der späteren Anmeldung eines Geschmacksmusters in Anspruch genommen werden kann.

    58

    In Bezug auf die Entstehungsgeschichte von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 heißt es in den einschlägigen Passagen der Materialien, dass die Bestimmungen der Verordnung über das Prioritätsrecht mit den Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft zum Prioritätsrecht und seiner Frist im Einklang stehen sollen (vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster vom 3. Dezember 1993, KOM[93] 342 endg. – COD 463, Erläuterungen, 2. Teil, Titel IV, 2. Abschnitt).

    59

    Der Zusammenhang zwischen dem in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 vorgesehenen Prioritätsrecht und der Pariser Verbandsübereinkunft spiegelt sich auch im Wortlaut dieser Bestimmung wider; danach genießt jedermann, „der in einem oder mit Wirkung für einen Vertragsstaat der Pariser Verbandsübereinkunft oder des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation ein Geschmacksmuster … vorschriftsmäßig angemeldet hat“, ein Prioritätsrecht. Dieser Verweis lässt den Schluss zu, dass Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002 nach seinem Sinn und Zweck der durch die Pariser Verbandsübereinkunft begründeten und den WTO-Mitgliedern auferlegten Verpflichtung Rechnung tragen soll, die Prioritäten zu beachten, die sich aus der Stellung eines vorschriftsmäßigen Antrags auf Schutz in einem Vertragsstaat einer dieser Übereinkünfte ergeben.

    60

    Da die Union als WTO-Mitglied Vertragspartei des TRIPS-Übereinkommens ist, ist sie verpflichtet, ihre Rechtsvorschriften über geistiges Eigentum so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und des Zwecks dieses Übereinkommens auszulegen. Art. 2 Abs. 1 des TRIPS-Übereinkommens sieht wiederum vor, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf die Teile II, III und IV dieses Übereinkommens die Art. 1 bis 12 und 19 der Pariser Verbandsübereinkunft befolgen (vgl., zum Markenrecht, Urteile vom 16. November 2004, Anheuser-Busch, C‑245/02, EU:C:2004:717, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 11. November 2020, EUIPO/John Mills, C‑809/18 P, EU:C:2020:902, Rn. 64). Diese von der Rechtsprechung im Kontext des Markenrechts herausgearbeitete Feststellung ist auf das Geschmacksmusterrecht übertragbar, denn nach den Erläuterungen zum Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster vom 3. Dezember 1993, KOM(93) 342 endg. – COD 463, wurden die Vorschriften der Verordnung Nr. 6/2002 über das Prioritätsrecht insbesondere in Anlehnung an die quasi identischen Bestimmungen des Vorschlags für eine Verordnung über die Gemeinschaftsmarke formuliert.

    61

    Überdies ist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach die in einem Akt des sekundären Unionsrechts enthaltenen Begriffe, auch wenn die Union nicht Vertragspartei einer von ihren Mitgliedstaaten geschlossenen internationalen Übereinkunft ist, aber aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrags, dem sie beigetreten ist, die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dieser Übereinkunft nicht beeinträchtigen darf, so auszulegen sind, dass sie mit der betreffenden Übereinkunft und dem genannten Vertrag vereinbar bleiben, wobei auch der Kontext dieser Begriffe und die Zielsetzung der einschlägigen Bestimmungen der Übereinkünfte im Bereich des geistigen Eigentums zu berücksichtigen sind; diese Rechtsprechung gilt nicht nur für das Markenrecht, sondern auch für andere Bereiche des Rechts des geistigen Eigentums (vgl. in diesem Sinne und entsprechend Urteile vom 15. März 2012, SCF, C‑135/10, EU:C:2012:140, Rn. 50 und 56, und vom 15. November 2012, Bericap Záródástechnikai, C‑180/11, EU:C:2012:717, Rn. 69 und 70).

    62

    Zum Prioritätsrecht ist festzustellen, dass es auf Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft zurückgeht (vgl., hinsichtlich des in Art. 29 der Verordnung [EG] Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke [ABl. 1994, L 11, S. 1] vorgesehenen Prioritätsrechts, Urteil vom 15. November 2001, Signal Communications/HABM [TELEYE], T‑128/99, EU:T:2001:266, Rn. 37).

    63

    Hieraus folgt, dass bei der Auslegung von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 die Bestimmungen der Pariser Verbandsübereinkunft zu berücksichtigen sind.

    64

    Wie die Klägerin zu Recht geltend macht, ist daher, da die Prioritätsfrist, die sich aus einer früheren internationalen Patentanmeldung ergibt, in der Verordnung Nr. 6/2002 nicht vorgesehen ist, zur Auslegung und Ergänzung dieser Verordnung auf die ihr zugrunde liegende Regelung – die Pariser Verbandsübereinkunft – zurückzugreifen; insoweit sind deren Bestimmungen zur Ermittlung der Frist für die Inanspruchnahme der auf einer Patentanmeldung beruhenden Priorität im Rahmen einer späteren Geschmacksmusteranmeldung zu berücksichtigen.

    65

    Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdekammer zwar aus den gleichen Gründen wie die Klägerin anerkannt hat, dass die Pariser Verbandsübereinkunft mutatis mutandis für die Europäische Union gilt, aber in diesem Kontext die Auffassung vertreten hat, dass die Übereinkunft keinen Vorrang vor den Bestimmungen der Verordnung Nr. 6/2002 habe, weil diese kein Sonderabkommen im Sinne von Art. 19 der Übereinkunft darstelle, und dass die Wirksamkeit eines Prioritätsrechts allein anhand der Verordnung zu beurteilen sei.

    66

    Indes handelt es sich bei der Frage der Prioritätsfrist unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht um eine Frage des Vorrangs der Pariser Verbandsübereinkunft gegenüber der Verordnung Nr. 6/2002. Der Rückgriff auf die Übereinkunft dient vielmehr, wie sich aus den vorstehenden Rn. 56 und 57 ergibt, zur Schließung einer Lücke in der Verordnung, die die Prioritätsfrist, die sich aus einer internationalen Patentanmeldung ergibt, nicht regelt.

    – Zu der Prioritätsfrist, die sich aus einer internationalen Patentanmeldung im Einklang mit Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft ergibt

    67

    Die Klägerin beruft sich auf Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft, insbesondere auf Art. 4 Abschnitt C Abs. 1. Da es sich im vorliegenden Fall bei der Prioritätsanmeldung um eine gemäß dem PCT eingereichte Anmeldung handele und somit um eine Anmeldung für ein Erfindungspatent im Sinne von Art. 4 Abschnitt A Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft, betrage die für ihre Sammelanmeldung von Geschmacksmustern geltende Prioritätsfrist gemäß Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft zwölf Monate.

    68

    Das EUIPO hält dem im Wesentlichen entgegen, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass die Pariser Verbandsübereinkunft Regeln für die streitige Frist enthalte. Zum einen führe sie keine Bestimmung der Pariser Verbandsübereinkunft an, die speziell die Inanspruchnahme der Priorität aus einer früheren Patentanmeldung im Rahmen einer Geschmacksmusteranmeldung regele, und zum anderen enthalte die Übereinkunft keine allgemeine Regel für alle denkbaren Konstellationen späterer Anmeldungen.

    69

    Die Pariser Verbandsübereinkunft regele nur zwei Fälle, in denen die Priorität eines Schutzrechts im Rahmen der späteren Anmeldung eines anderen nicht gleichartigen Schutzrechts in Anspruch genommen werden könne. Beide seien in Art. 4 Abschnitt E der Übereinkunft geregelt, und bei beiden hänge die Frist von der Art der späteren Anmeldung ab.

    70

    Insoweit steht fest, dass die Klägerin im Rahmen der Anmeldung eines Geschmacksmusters ein Prioritätsrecht beansprucht, das auf einer früheren internationalen Patentanmeldung beruht.

    71

    Nach Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft hängen die anwendbaren Prioritätsfristen von der Art des betreffenden Rechts ab. Sofern die spätere Anmeldung und die Anmeldung, auf die sich die Inanspruchnahme des Prioritätsrechts stützt, denselben Gegenstand haben, beträgt die Prioritätsfrist nach dieser Bestimmung für das Patent und das Gebrauchsmuster zwölf Monate, für das Geschmacksmuster hingegen sechs Monate.

    72

    Wie das EUIPO zu Recht feststellt, enthält die Pariser Verbandsübereinkunft keine ausdrückliche Regel in Bezug auf die Prioritätsfrist in einem Fall, in dem die spätere Anmeldung ein Geschmacksmuster betrifft, während sich die Inanspruchnahme der Priorität auf eine frühere internationale Patentanmeldung stützt.

    73

    Das EUIPO weist auch zu Recht darauf hin, dass die Pariser Verbandsübereinkunft in ihrem Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 eine Regel enthält, wonach die für das spätere Recht bestimmte Prioritätsfrist maßgebend ist, wenn es sich bei dem späteren Recht um ein Geschmacksmuster und bei dem früheren Recht um ein Gebrauchsmuster handelt.

    74

    Dagegen ergibt sich aus Art. 4 Abschnitt E Abs. 2 der Pariser Verbandsübereinkunft, der bestimmt, dass auf die Hinterlegung einer Patentanmeldung die Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts für die spätere Hinterlegung eines Gebrauchsmusters gegründet werden kann und umgekehrt, anders als das EUIPO offenbar meint, kein Anhaltspunkt hinsichtlich der Prioritätsfrist.

    75

    Daher stellt sich die Frage, ob Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft als einzige ausdrückliche Regel für den Fall von zwei aufeinanderfolgenden Anträgen in Bezug auf Rechte, für die unterschiedliche Prioritätsfristen gelten, eine allgemeine Regel widerspiegelt, wonach die Prioritätsfrist maßgebend ist, die sich aus der Art des späteren Rechts ergibt, oder ob es sich im Gegenteil um eine Ausnahme von einer allgemeinen Regel handelt, wonach für die Dauer der Prioritätsfrist die Art des früheren Rechts maßgebend ist.

    76

    Die Klägerin macht unter Berufung auf zwei Beschlüsse des Bundespatentgerichts vom 10. November 1967 und auf deutsches Schrifttum geltend, dass in Bezug auf die Prioritätsfrist im Fall der Inanspruchnahme von Prioritäten für nicht gleichartige Schutzrechte auf das frühere Recht abzustellen sei. In den genannten Beschlüssen führt das Bundespatentgericht u. a. die Denkschrift zur Brüsseler Zusatzakte an, ein erläuterndes Dokument von 1903, das die Revision der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums von 1883 bei der Brüsseler Konferenz im Jahr 1900 betrifft. Aus ihr gehe hervor, dass die Systematik der internationalen Prioritäten es denjenigen, die den internationalen Schutz gewerblicher Rechte anstrebten, ermöglichen solle, die Anmeldung in anderen Staaten vom Erfolg der in der Regel inländischen Erstanmeldung abhängig zu machen. Nach dem genannten Dokument hätte unter diesem Gesichtspunkt die Frist für das auf ein Patent gestützte Prioritätsrecht von sechs auf zwölf Monate verlängert werden müssen, da insbesondere in Deutschland die erste Prüfungsphase der Möglichkeit eines Patentschutzes für sich genommen bereits sieben Monate gedauert habe.

    77

    Aus der dem Prioritätensystem innewohnenden Logik ergibt sich, dass die Dauer der Prioritätsfrist im Allgemeinen durch die Art des früheren Rechts bestimmt wird. Hierzu ist festzustellen, dass in Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft für Patente und Gebrauchsmuster deshalb eine längere Prioritätsfrist vorgesehen ist als für gewerbliche Muster oder Modelle und für Marken, weil Patente und Gebrauchsmuster komplexer sind. Da nach Art. 4 Abschnitt C Abs. 2 der Pariser Verbandsübereinkunft die Prioritätsfrist vom Zeitpunkt der Hinterlegung der ersten Anmeldung an läuft und das Eintragungsverfahren bei Patenten oder Gebrauchsmustern länger dauert als bei Geschmacksmustern oder Marken, bestünde nämlich die Gefahr, dass das Prioritätsrecht, das sich aus der Anmeldung eines Patents oder eines Gebrauchsmusters ergibt, verfallen würde, wenn dieselbe relativ kurze Frist von sechs Monaten auf alle Rechte angewandt würde, die zur Entstehung eines Prioritätsrechts führen können. Der Vorteil, den das Prioritätsrecht verschaffen soll, besteht aber darin, es dem Anmelder zu ermöglichen, auf der Grundlage der früheren Patentanmeldung in einem Staat die Chancen einzuschätzen, Schutz für die betreffende Erfindung zu erlangen, bevor er gegebenenfalls mit einer späteren Anmeldung versucht, Schutz in einem anderen Staat zu erlangen, wobei er die dafür notwendigen Schritte und Vorbereitungen durchführen und die damit verbundenen Kosten und Formalitäten übernehmen muss. Insoweit hat das Gericht in Bezug auf Marken bereits darauf hingewiesen, dass die Verfasser der Pariser Verbandsübereinkunft es ermöglichen wollten, dass einer Person, der das Recht eines der Vertragsstaaten dieser Übereinkunft zugutekommt, angesichts der Unmöglichkeit, eine Marke in allen diesen Staaten gleichzeitig anzumelden, ihre Eintragung in den einzelnen Staaten nacheinander beantragen und so dem in einem von ihnen erlangten Schutz eine internationale Dimension verleihen kann, ohne die zu beachtenden Formalitäten zu vervielfachen (Urteil vom 15. November 2001, TELEYE, T‑128/99, EU:T:2001:266, Rn. 38).

    78

    Außerdem erscheint es stimmig, dass die Art des früheren Rechts die Dauer der Prioritätsfrist bestimmt, denn dessen Anmeldung bewirkt, wie das Gericht im Kontext des Markenrechts festgestellt hat (Urteil vom 15. November 2001, TELEYE, T‑128/99, EU:T:2001:266, Rn. 42), die Entstehung des Prioritätsrechts. Überdies beginnt die Prioritätsfrist mit dem Tag dieser Anmeldung zu laufen. Wenn die Entstehung des Prioritätsrechts selbst sowie der Beginn der Prioritätsfrist von dem früheren Recht und dessen Anmeldung abhängen, ist es folgerichtig, dass auch die Dauer des Prioritätsrechts vom früheren Recht abhängt. Dagegen gibt es keinen Anhaltspunkt für die Annahme, dass die Dauer des Prioritätsrechts im Allgemeinen vom späteren Recht abhinge.

    79

    Dies wird durch die Materialien der ersten Revision der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums von 1883 im Jahr 1900 bestätigt. Aus den Materialien und Protokollen der Konferenz, die vom 1. bis 14. Dezember 1897 und vom 11. bis 14. Dezember 1900 in Brüssel stattfand, insbesondere aus einer Gesamtschau von Punkt 1 des von der deutschen Delegation in der vorbereitenden Sitzung vom 1. Dezember 1897 vorgelegten Memorandums, des Protokolls der vierten Sitzung vom 7. Dezember 1897 sowie des Protokolls der zweiten Sitzung vom 12. Dezember 1900 (vgl. Actes de la Conférence réunie à Bruxelles du 1er au 14 décembre 1897 et du 11 au 14 décembre 1900, Internationaler Verband zum Schutz des gewerblichen Eigentums, Bern, 1901, im Folgenden: Beiträge der Brüsseler Konferenz, S. 169, S. 209 bis 212 und S. 379 bis 382), geht nämlich hervor, dass die Prioritätsfrist für das auf einem Patent beruhende Prioritätsrecht von sechs auf zwölf Monate verlängert wurde, weil für die Vorprüfung, der Patentanmeldungen insbesondere nach deutschem, österreichischem und ungarischem Recht unterzogen wurden, mehr Zeit benötigt wurde. Aufgrund dessen sahen sich die betreffenden Staaten wegen der ihres Erachtens zu kurzen Prioritätsfrist für Patente am Beitritt zum Übereinkommen gehindert, da die Dauer der Vorprüfung die Prioritätsfrist fast immer überschritt (vgl. Beiträge der Brüsseler Konferenz, S. 37). Die Verlängerung der Prioritätsfrist für Patente war vom Internationalen Büro des Internationalen Verbands zum Schutz des gewerblichen Eigentums vorgeschlagen worden, um den speziellen Bedürfnissen der Länder Rechnung zu tragen, in denen eine solche Vorprüfung praktiziert wurde (vgl. Beiträge der Brüsseler Konferenz, S. 144), und wurde anschließend durch Art. 1 II der Zusatzakte vom 14. Dezember 1900 zur Änderung der Übereinkunft vom 20. März 1883 angenommen und umgesetzt (vgl. Beiträge der Brüsseler Konferenz, S. 410).

    80

    Alle diese Gesichtspunkte bestätigen, dass nach dem Konzept, das dem System der Prioritätsfristen zugrunde liegt, für die Dauer der Prioritätsfrist das frühere Recht maßgebend ist.

    81

    Außerdem ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft, dass er eine Sonderregel darstellt, und zwar eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass für die Festlegung der Dauer der Prioritätsfrist die Art des früheren Rechts ausschlaggebend ist. Die Worte „wird … hinterlegt“, die im Kontext dieser Bestimmung „sofern … hinterlegt wird“ bedeuten, weisen darauf hin, dass diese Regel nur für den ausdrücklich genannten Fall gilt. Desgleichen weist die negative Formulierung, die in dem Wort „nur“ zum Ausdruck kommt, auf den Ausnahmecharakter der Festlegung der Dauer der Prioritätsfrist, abweichend von der allgemeinen Regel, unter Bezugnahme auf das spätere Recht, d. h. die Geschmacksmuster, hin.

    82

    Der Ausnahmecharakter von Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft geht auch aus einer historischen Analyse hervor, die zeigt, dass Art. 4 Abschnitt E der Übereinkunft ausschließlich für Gebrauchsmuster gelten sollte. Er wurde 1925 angenommen. Die Einfügung dieser Regel für Gebrauchsmuster hatte sich als zweckmäßig erwiesen, nachdem 1911 der Anwendungsbereich der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums von 1883 durch die Einbeziehung der Gebrauchsmuster erweitert worden war, indem diese in die Aufzählung derjenigen gewerblichen Schutzrechte aufgenommen wurden, deren Schutz die Übereinkunft nach ihrem Art. 2 (nunmehr Art. 1 Abs. 2 der Pariser Verbandsübereinkunft) gewährleistete. Durch die Aufnahme von Abschnitt E in Art. 4 im Jahr 1925 konnte verhindert werden, dass ein seit Langem veröffentlichtes Gebrauchsmuster, für das die in Art. 4 Abschnitt C Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft vorgesehene Frist von zwölf Monaten gegolten hätte, erneut als Geschmacksmuster angemeldet wird.

    83

    Die Klägerin macht daher zu Recht geltend, dass die im Sonderfall des Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft vorgesehene unterschiedliche Behandlung von Patenten und Gebrauchsmustern insbesondere mit der unterschiedlichen Dauer ihrer jeweiligen Eintragungsverfahren zu erklären ist, da Gebrauchsmuster nach einer kurzen formalen Prüfung eingetragen und veröffentlicht werden, während Patentanmeldungen im Allgemeinen erst nach Ablauf der Prioritätsfrist von zwölf Monaten veröffentlicht werden. Somit sollte dieser Abschnitt – anders als das EUIPO offenbar meint, wenn es vorbringt, auf eine internationale Patentanmeldung sollte die in Art. 41 der Verordnung Nr. 6/2002 für die Anmeldung eines Gebrauchsmusters vorgesehene Frist von sechs Monaten angewandt werden, die Art. 4 Abschnitt E der Pariser Verbandsübereinkunft getreu widerspiegele – keine Wirkungen über die Fälle hinaus entfalten, in denen es um Gebrauchsmuster geht.

    84

    In Bezug auf die Konstellation, in der sich, wie im vorliegenden Fall, an die Erstanmeldung eines Patents die Anmeldung eines Geschmacksmusters anschließt, macht die Klägerin zu Recht geltend, dass der Art. 4 Abschnitt E Abs. 1 der Pariser Verbandsübereinkunft zugrunde liegende Zweck die Patentanmeldungen nicht betrifft. Es besteht nämlich so gut wie keine Gefahr, dass ein seit Langem veröffentlichtes Patent erneut als Geschmacksmuster angemeldet wird; dies wird durch die vorliegende Rechtssache bestätigt, in der die Klägerin die Patentanmeldung PCT/EP2017/077469 am 26. Oktober 2017 beim EPA eingereicht hatte, während Art. 93 Abs. 1 des Übereinkommens über die Erteilung europäischer Patente vom 5. Oktober 1973 eine Veröffentlichung erst nach Ablauf von 18 Monaten nach dem Anmeldetag vorsieht.

    85

    Das Vorbringen des EUIPO zur Stützung des gegenteiligen Standpunkts ist nicht geeignet, die Schlussfolgerung in Frage zu stellen, wonach die der Pariser Verbandsübereinkunft zugrunde liegende allgemeine Regel darin besteht, dass die Art des früheren Rechts für die Bestimmung der Dauer der Prioritätsfrist maßgebend ist. Insbesondere trägt das EUIPO kein Argument vor, das belegen könnte, dass die für Gebrauchsmuster geschaffene Sonderregel auch für Patente gelten sollte.

    86

    Folglich hat die Beschwerdekammer mit ihrer Annahme, dass die für die Inanspruchnahme der Priorität der internationalen Patentanmeldung PCT/EP2017/077469 durch die Klägerin geltende Frist bei allen zwölf von ihr angemeldeten Geschmacksmustern sechs Monate betragen habe, einen Fehler begangen.

    87

    Somit ist dem zweiten Klagegrund stattzugeben.

    88

    Nach alledem ist der Klage, ohne dass der erste Klagegrund geprüft zu werden braucht, stattzugeben, soweit sie auf die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung gerichtet ist; im Übrigen ist sie abzuweisen.

    Kosten

    89

    Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Die Aufwendungen der Parteien, die für das Verfahren vor der Beschwerdekammer notwendig waren, gelten gemäß Art. 190 Abs. 2 der Verfahrensordnung als erstattungsfähige Kosten. Da im vorliegenden Fall das EUIPO mit seinem Vorbringen im Wesentlichen unterlegen ist, sind ihm entsprechend dem Antrag der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

     

    Aus diesen Gründen hat

    DAS GERICHT (Dritte Kammer)

    für Recht erkannt und entschieden:

     

    1.

    Die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des Amtes der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) vom 13. Juni 2019 (Sache R 573/2019-3) wird aufgehoben.

     

    2.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

     

    3.

    Das EUIPO trägt die Kosten.

     

    Collins

    De Baere

    Steinfatt

    Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. April 2021.

    Der Kanzler

    E. Coulon

    Der Präsident

    M. van der Woude


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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