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Document 62009CC0307

Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 9. September 2010.
Vicoplus SC PUH (C-307/09), BAM Vermeer Contracting sp. zoo (C-308/09) und Olbek Industrial Services sp. zoo (C-309/09) gegen Minister van Sociale Zaken en Werkgelegenheid.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande.
Freier Dienstleistungsverkehr - Entsendung von Arbeitnehmern - Beitrittsakte von 2003 - Übergangsmaßnahmen - Zugang polnischer Staatsangehöriger zum Arbeitsmarkt der Staaten, die zum Zeitpunkt des Beitritts der Republik Polen bereits Mitgliedstaaten der Union waren - Erfordernis einer Beschäftigungserlaubnis für die Überlassung von Arbeitnehmern - Richtlinie 96/71/EG - Art. 1 Abs. 3.
Verbundene Rechtssachen C-307/09, C-308/09 und C-309/09.

European Court Reports 2011 I-00453

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:510

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 9. September 20101(1)

Verbundene Rechtssachen C‑307/09 bis C‑309/09

Vicoplus SC PUH (C‑307/09),

B.A.M. Vermeer Contracting sp. zoo (C‑308/09),

Olbek Industrial Services sp. zoo (C‑309/09)

gegen

Minister van Sociale Zaken en Werkgelegenheid

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Niederlande])

„Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Beitrittsakte von 2003 – Übergangsmaßnahmen betreffend den Zugang polnischer Staatsangehöriger zum Arbeitsmarkt der Staaten, die bereits Mitglied der Union waren – Richtlinie 96/71/EG – Art. 1 – Erfordernis einer Arbeitserlaubnis für die Überlassung von Arbeitnehmern“





1.        Die Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande) betreffen die Auslegung der Art. 49 EG und 50 EG sowie von Art. 1 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen(2).

2.        Diese Ersuchen ergingen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Vicoplus SC PUH (im Folgenden: Vicoplus), der B.A.M. Vermeer Contracting sp. zoo (im Folgenden: BAM Vermeer) und der Olbek Industrial Services sp. zoo (im Folgenden: Olbek) und dem Minister van Sociale Zaken en Werkgelegenheid (Minister für Soziales und Beschäftigung) über gegen diese Gesellschaften wegen der Entsendung von polnischen Arbeitnehmern ohne Arbeitserlaubnis in die Niederlande verhängte Geldbußen(3).

3.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, die Prüfung auf die Auslegung der Übergangsbestimmung des Anhangs XII Kapitel 2 Nr. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge(4) zu konzentrieren. Nach dieser Übergangsbestimmung war es dem Königreich der Niederlande zu dem in den Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt möglich, im Verhältnis zur Republik Polen von den Art. 1 bis 6 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft(5) abzuweichen.

4.        Ich werde die Auffassung vertreten, dass diese Überangsbestimmung im Hinblick auf ihr Ziel und zur Wahrung ihrer praktischen Wirksamkeit dahin auszulegen ist, dass die Überlassung von Arbeitskräften in ihren Anwendungsbereich fällt.

5.        Ich werde dann die Kriterien aufzeigen, anhand deren sich meines Erachtens im Zusammenhang mit der Anwendung der Übergangsbestimmung des Anhangs XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittsakte von 2003 eine Überlassung von Arbeitskräften feststellen lässt. So werde ich darlegen, dass eine Überlassung von Arbeitskräften gekennzeichnet ist erstens durch den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zwischen dem den Arbeitnehmer überlassenden Unternehmen und diesem Arbeitnehmer, zweitens dadurch, dass der dem verwendenden Unternehmen überlassene Arbeitnehmer seine Aufgaben unter der Aufsicht und Leitung dieses Unternehmens ausführt, und drittens dadurch, dass die Dienstleistung allein in der Abstellung von Arbeitnehmern besteht.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

6.        Art. 24 der Beitrittsakte von 2003 sieht für die Republik Polen die in deren Anhang XII aufgeführten Übergangsmaßnahmen vor.

7.        In Kapitel 2 („Freizügigkeit“) dieses Anhangs ist bestimmt:

„…

1.      Hinsichtlich der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und der Dienstleistungsfreiheit mit vorübergehender Entsendung von Arbeitskräften im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 96/71 … gelten Artikel 39 und Artikel 49 Absatz 1 des EG-Vertrags zwischen Polen einerseits und Belgien, der Tschechischen Republik, Dänemark, Deutschland, Estland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Ungarn, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Slowenien, der Slowakei, Finnland, Schweden und dem Vereinigten Königreich andererseits in vollem Umfang nur vorbehaltlich der Übergangsbestimmungen der Nummern 2 bis 14.

2.      Abweichend von den Artikeln 1 bis 6 der Verordnung … Nr. 1612/68 und bis zum Ende eines Zeitraums von zwei Jahren nach dem Tag des Beitritts werden die derzeitigen Mitgliedstaaten nationale oder sich aus bilateralen Abkommen ergebende Maßnahmen anwenden, um den Zugang polnischer Staatsangehöriger zu ihren Arbeitsmärkten zu regeln. Die derzeitigen Mitgliedstaaten können solche Maßnahmen bis zum Ende eines Zeitraums von fünf Jahren nach dem Tag des Beitritts weiter anwenden.

13.      Um tatsächlichen oder drohenden schwerwiegenden Störungen in bestimmten empfindlichen Dienstleistungssektoren auf ihren Arbeitsmärkten zu begegnen, die sich in bestimmten Gebieten aus der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 96/71 … ergeben könnten, können Deutschland und Österreich, solange sie gemäß den vorstehend festgelegten Übergangsbestimmungen nationale Maßnahmen oder Maßnahmen aufgrund von bilateralen Vereinbarungen über die Freizügigkeit polnischer Arbeitnehmer anwenden, nach Unterrichtung der Kommission von Artikel 49 Absatz 1 des EG-Vertrags abweichen, um im Bereich der Erbringung von Dienstleistungen durch in Polen niedergelassene Unternehmen die zeitweilige grenzüberschreitende Beschäftigung von Arbeitnehmern einzuschränken, deren Recht, in Deutschland oder Österreich eine Arbeit aufzunehmen, nationalen Maßnahmen unterliegt.

…“

8.        In Art. 1 („Anwendungsbereich“) Abs. 3 der Richtlinie 96/71 ist bestimmt:

„Diese Richtlinie findet Anwendung, soweit die in Absatz 1 genannten Unternehmen eine der folgenden länderübergreifenden Maßnahmen treffen:

a)      einen Arbeitnehmer in ihrem Namen und unter ihrer Leitung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertrags entsenden, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht, oder

c)      als Leiharbeitsunternehmen oder als einen Arbeitnehmer zur Verfügung stellendes Unternehmen einen Arbeitnehmer in ein verwendendes Unternehmen entsenden, das seinen Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat oder dort seine Tätigkeit ausübt, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitunternehmen oder dem einen Arbeitnehmer zur Verfügung stellenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht.“

B –    Nationales Recht

9.        Nach Art. 2 Abs. 1 der Wet arbeid vreemdelingen (Gesetz über die Arbeit von Ausländern)(6) ist es Arbeitgebern untersagt, eine Arbeit in den Niederlanden von einem Ausländer ohne Arbeitserlaubnis verrichten zu lassen.

10.      Art. 1e Abs. 1 des Besluit uitvoering Wav (Durchführungsverordnung zur Wav)(7) in der durch die Verordnung vom 10. November 2005(8) geänderten Fassung lautet:

„Das Verbot gemäß Art. 2 Abs. 1 der Wav gilt nicht für einen Ausländer, der im Rahmen einer länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen in den Niederlanden für einen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union als den Niederlanden ansässigen Arbeitgeber vorübergehend eine Arbeit verrichtet, sofern

a)      der Ausländer in dem Staat, in dem dieser Arbeitgeber ansässig ist, befugt ist, diese Arbeit als dessen Arbeitnehmer zu verrichten,

b)      der Arbeitgeber die Arbeit in den Niederlanden vorab der Centrale Organisatie voor werk en inkomen (zentrale Einrichtung für Arbeit und Einkommen) gemeldet hat und

c)      es sich nicht um eine Dienstleistung handelt, die in der Überlassung von Arbeitskräften besteht.“

II – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A –    Rechtssache C‑307/09

11.      Bei einer Kontrolle der für die Bekämpfung der Schwarzarbeit zuständigen Stellen wurde festgestellt, dass bei Maris, einer niederländischen Gesellschaft, deren Tätigkeit in der Durchführung der Revision von Pumpen für andere Unternehmen besteht, drei bei der Vicoplus SC PUH beschäftigte polnische Staatsangehörige arbeiteten. Nach einem Vertrag zwischen Maris und einer anderen Gesellschaft sollte ihre Arbeit vom 15. August bis zum 30. November 2005 verrichtet werden.

B –    Rechtssache C‑308/09

12.      Nach einem Bericht der für die Bekämpfung der Schwarzarbeit zuständigen Stellen vom 31. Juli 2006 arbeiteten zwei polnische Staatsangehörige seit dem 10. Januar 2006 als Monteure in der Werkstatt der Flevoservice en Flevowash BV. Sie waren bei der B.A.M. Vermeer Contracting sp. zoo beschäftigt, die mit dieser niederländischen Gesellschaft einen Vertrag über die Reparatur und Umrüstung von Lastwagen und Anhängern geschlossen hatte.

C –    Rechtssache C‑309/09

13.      Am 15. November 2005 schloss die Rechtsvorgängerin von Olbek mit der HTG Nederveen BV einen Vertrag über die Bereitstellung von Personal für Tätigkeiten der Abfallentsorgung für mehrere Monate. Bei einer Kontrolle der Geschäftsräume der HTG Nederveen BV stellte sich heraus, dass 20 polnische Staatangehörige zugegen waren, die diese Arbeit verrichteten. Nach den polnischen Registern war die Rechtsvorgängerin von Olbek sowohl im Metallbau als auch als Zeitarbeitsvermittlerin tätig.

14.      Nach der Entdeckung der genannten polnischen Staatsangehörigen wurden gegen die drei Klägerinnen des Ausgangsverfahrens Geldbußen wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 der Wav verhängt, weil sie in den Niederlanden Arbeit von polnischen Staatsangehörigen hatten verrichten lassen, ohne im Besitz einer Arbeitserlaubnis gewesen zu sein.

15.      Der Minister van Sociale Zaken en Werkgelegenheid (bzw. in der Rechtssache C‑307/09 der Staatsecretaris van Sociale Zaken en Werkgelegenheid [Staatssekretär für Soziales und Beschäftigungsfragen]) wies die gegen diese Geldbußen eingelegten Beschwerden zurück; er vertrat die Auffassung, dass es sich bei der von Vicoplus, BAM Vermeer bzw. Olbek erbrachten Dienstleistung um eine Überlassung von Arbeitskräften im Sinne von Art. 1e Abs. 1 Buchst. c der Durchführungsverordnung gehandelt habe. Er begründete dies u. a. damit, dass die Arbeit dieser Staatsbürger unter der Kontrolle und Verantwortung der betreffenden niederländischen Gesellschaft verrichtet worden sei, wobei deren Arbeitsmittel und Werkstoffe verwendet worden seien, und dass diese Arbeit nicht zu den Haupttätigkeiten dieser polnischen Unternehmen gehört habe.

16.      Nachdem die Rechtbank’s-Gravenhage die von den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens gegen diese Entscheidungen erhobenen Klagen zurückgewiesen hatte, legten die Klägerinnen beim vorlegenden Gericht Berufung ein.

17.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus den Urteilen vom 27. März 1990, Rush Portuguesa(9), vom 9. August 1994, Vander Elst(10), vom 21. Oktober 2004, Kommission/Luxemburg(11), vom 19. Januar 2006, Kommission/Deutschland(12), und vom 21. September 2006, Kommission/Österreich(13), dass eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs wie diejenige, die Gegenstand der Ausgangsverfahren ist, u. a. durch das im Schutz des nationalen Arbeitsmarkts bestehende Ziel des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann, wenn eine Entsendung dazu dient, den betreffenden Arbeitnehmer dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats zuzuführen, und zwar mehr als für die vorübergehende Entsendung nötig oder um Beschränkungen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu umgehen. Das sei im Allgemeinen nicht der Fall, wenn der entsandte Arbeitnehmer beim Erbringer der Dienstleistung beschäftigt sei, seine Haupttätigkeit im Ursprungsmitgliedstaat aussübe und nach der Erbringung der Dienstleistungen in diesen Staat zurückkehre.

18.      Das vorlegende Gericht weist allerdings darauf hin, dass der Gerichtshof die Randnr. 16 des Urteils Rush Portuguesa in den späteren der genannten Urteile nicht bestätigt habe. Es sei also fraglich, ob es gegenwärtig unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren mit dem Unionsrecht vereinbar sei, dass die Überlassung von Arbeitskräften von der Erlangung einer Arbeitserlaubnis abhängig gemacht werde, wobei zu beachten sei, dass in den letztgenannten Urteilen die Art der betreffenden Dienstleistungen nicht näher bezeichnet sei und es dort nicht um Staatsangehörige eines neuen Mitgliedstaats in der Übergangszeit gehe, sondern um Staatsangehörige eines Drittstaats. Im Übrigen sei die Tragweite des in dem Urteil Rush Portuguesa verwendeten Begriffs der „Überlassung“ nicht klar.

19.      Das vorlegende Gericht möchte deshalb wissen, ob die gemäß Art. 2 Abs. 1 der Wav für die Erbringung einer in der Überlassung von Arbeitskräften bestehenden Dienstleistung erforderliche Arbeitserlaubnis im Hinblick auf die Art. 49 EG und 50 EG eine verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz des nationalen Arbeitsmarkts darstellt, auch im Hinblick auf den in Anhang XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittsakte von 2003 gemachten Vorbehalt.

20.      Wenn dies der Fall sein sollte, ist aus der Sicht des vorlegenden Gerichts weiter fraglich, welche Tragweite der Begriff der Überlassung von Arbeitskräften hat und insbesondere welche Bedeutung der Art der Haupttätigkeit, die der betreffende Dienstleistungserbringer in seinem Niederlassungsstaat ausübt, beizumessen ist.

21.      Der Raad van State hat die Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende, in den drei Rechtssachen C‑307/09 bis C‑309/09 gleichlautenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind die Art. 49 EG und 50 EG dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der in Art. 2 der Wav in Verbindung mit Art. 1e Abs. 1 Buchst. c der Durchführungsverordnung, wonach für die Entsendung von Arbeitnehmern im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 96/71 eine Beschäftigungserlaubnis erforderlich ist, entgegenstehen?

2.      Anhand welcher Kriterien ist zu bestimmen, ob eine Entsendung von Arbeitnehmern im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 96/71 vorliegt?

22.      Schriftliche Erklärungen sind eingereicht worden von Vicoplus, BAM Vermeer und Olbek, von der tschechischen, der deutschen, der niederländischen, der österreichischen und der polnischen Regierung sowie von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Außer Vicoplus haben alle diese Verfahrensbeteiligten sowie die dänische Regierung in der mündlichen Verhandlung vom 8. Juli 2010 mündliche Erklärungen abgegeben.

III – Würdigung

23.      In den vorliegenden Rechtssachen besteht das Hauptproblem darin, zu bestimmen, unter welchen Umständen die Tätigkeit der Überlassung von Arbeitskräften, obwohl sie eine Dienstleistung im Sinne der Art. 49 EG und 50 EG darstellt, im Rahmen der Übergangsbestimmungen der Beitrittsakte von 2003 auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffen könnte.

24.      Die Besonderheit der vorliegenden Rechtssachen besteht darin, dass zu dem in den Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt die Übergangsbestimmungen der Beitrittsakte von 2003 anwendbar waren, die für die polnischen Arbeitnehmer eine Abweichung von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer enthielten, aber, was die Niederlande betrifft, nicht von der die vorübergehende Entsendung von Arbeitskräften im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 96/71 umfassenden Dienstleistungsfreiheit.

25.      Deshalb ist die erste Vorlagefrage meines Erachtens umzuformulieren, um die Auslegung auf die Übergangsbestimmungen der Beitrittsakte von 2003 zu konzentrieren. Meines Erachtens sollte der Gerichtshof also prüfen, ob die Überlassung von Arbeitskräften in den Anwendungsbereich der Abweichung gemäß Anhang XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittsakte von 2003 fällt. Nur wenn diese Frage zu verneinen sein sollte, wäre zu prüfen, ob die im niederländischen Recht vorgesehenen Maßnahmen eine – möglicherweise gerechtfertigte – Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellen.

26.      Zur Beantwortung der ersten Frage, wie ich sie soeben umformuliert habe, werde ich darlegen, dass die Überlassung von Arbeitskräften zwar eine Dienstleistung im Sinne der Art. 49 EG und 50 EG darstellt, dass es wegen des besonderen Charakters dieser Dienstleistung aber notwendigerweise zu Wechselwirkungen mit den Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer kommt.

A –    Die Überlassung von Arbeitskräften als Dienstleistung im Sinne der Art. 49 EG und 50 EG

27.      Nach Art. 50 Abs. 1 EG sind Dienstleistungen Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. In Art. 50 Abs. 2 EG sind beipielhaft bestimmte Tätigkeiten aufgezählt, die unter den Begriff der Dienstleistungen fallen.

28.      Hierzu hat der Gerichtshof im Urteil Webb(14) festgestellt, dass eine Tätigkeit, die darin besteht, dass ein Unternehmen anderen entgeltlich Arbeitnehmer, die im Dienst dieses Unternehmens bleiben, zur Verfügung stellt, ohne dass ein Arbeitsvertrag mit dem Entleihunternehmen geschlossen wird, eine Berufstätigkeit darstellt, die die in Art. 50 Abs. 1 EG niedergelegten Voraussetzungen erfüllt. Sie ist also als Dienstleistung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen(15).

29.      Daraus erhellt z. B., warum eine Bestimmung des deutschen Rechts, nach der in anderen Mitgliedstaaten ansässige Zeitarbeitsunternehmen nicht nur Beginn und Dauer der Überlassung eines Arbeitnehmers an ein verwendendes Unternehmen in Deutschland bei den zuständigen deutschen Behörden schriftlich anmelden mussten, sondern auch den Einsatzort und jede Änderung dieses Ortes, während für in Deutschland ansässige Zeitarbeitsunternehmen diese zusätzliche Pflicht – die stets den verwendenden Unternehmen oblag – nicht bestand, für unvereinbar mit den Vertragsbestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit erklärt worden ist(16).

30.      Der Gerichtshof hat allerdings mehrmals den besonderen Charakter einer solchen Dienstleistung betont.

B –    Die Überlassung von Arbeitskräften als Dienstleistung mit besonderem Charakter

31.      Wie wir gesehen haben, hat der Gerichtshof die Überlassung von Arbeitskräften im Urteil Webb dem Anwendungsbereich der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr unterstellt. Er hat in diesem Urteil aber zweimal die Besonderheit einer solchen Dienstleistung anerkannt.

32.      Als Erstes stellt der Gerichtshof fest, dass auch auf Arbeitnehmer, die von Arbeitnehmerüberlassungsunternehmen beschäftigt werden, eventuell die Vertragsbestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die zu deren Durchführung erlassenen Verordnungen anwendbar sein könnten(17).

33.      Als Zweites stellt der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung einer nationalen Maßnahme, mit der ein Mitgliedstaat von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen eine Genehmigung für die Überlassung von Arbeitskräften in seinem Hoheitsgebiet verlangt, fest, dass die Überlassung von Arbeitnehmern einen aus beruflicher und sozialer Sicht besonders sensiblen Bereich darstelle. Wegen der Besonderheiten der mit dieser Art von Tätigkeit verbundenen Arbeitsbeziehungen wirke sich die Ausübung dieser Tätigkeit unmittelbar sowohl auf die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt als auch auf die berechtigten Interessen der betroffenen Arbeitnehmer aus(18).

34.      Auch im Urteil Rush Portuguesa hat der Gerichtshof auf den besonderen Charakter der Überlassung von Arbeitskräften abgestellt. In dieser Rechtssache ging es um das Verhältnis zwischen dem durch die Art. 49 EG und 50 EG gewährleisteten freien Dienstleistungsverkehr und den Ausnahmen von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß den Art. 215 ff. der Akte über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und die Anpassung der Verträge(19), und zwar im Zusammenhang mit der Entsendung portugiesischer Arbeitnehmer im Rahmen einer von einem in Portugal ansässigen Unternehmen in Frankreich erbrachten Dienstleistung, nämlich der Ausführung von Arbeiten für den Bau einer Eisenbahnlinie in Westfrankreich.

35.      In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Art. 49 EG und 50 EG einen Mitgliedstaat daran hindern, es einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Erbringer von Dienstleistungen zu verbieten, mit seinem gesamten Personal frei in das Gebiet des erstgenannten Staates einzureisen, oder die Einreise des betroffenen Personals von einschränkenden Bedingungen wie der Bedingung der Einstellung von Personal an Ort und Stelle oder der Pflicht zur Einholung einer Arbeitserlaubnis abhängig zu machen.

36.      Da Art. 216 der Beitrittsakte von 1985 die Anwendung der Art. 1 bis 6 der Verordnung Nr. 1612/68 bis zum 1. Januar 1993 ausschloss, hatte sich der Gerichtshof in dieser Rechtssache mit den Auswirkungen dieser Übergangsbestimmung zu befassen. Er stellt hierzu fest, dass Art. 216 der Beitrittsakte von 1985 verhindern wolle, dass nach dem Beitritt Portugals in Portugal wie auch in den anderen Mitgliedstaaten infolge einer sofortigen beträchtlichen Zu- oder Abwanderung von Arbeitnehmern Störungen auf dem Arbeitsmarkt aufträten, und zu diesem Zweck eine Ausnahme von dem in Art. 39 EG niedergelegten Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer vorsehe. Diese Ausnahme sei im Licht der genannten Zielsetzung auszulegen(20).

37.      Diese Ausnahmeregelung finde Anwendung, wenn es um den Zugang portugiesischer Arbeitnehmer zum Arbeitsmarkt anderer Mitgliedstaaten sowie um die Regelung der Einreise und des Aufenthalts der einen derartigen Zugang anstrebenden portugiesischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen gehe. Diese Anwendung sei deshalb gerechtfertigt, weil in solchen Fällen die Gefahr einer Störung des Arbeitsmarkts des Aufnahmemitgliedstaats bestehe(21).

38.      Anders verhalte es sich dagegen bei einem vorübergehenden Ortswechsel von Arbeitnehmern, die in einen anderen Mitgliedstaat entsandt würden, um dort im Rahmen von Dienstleistungen ihres Arbeitgebers Bauarbeiten auszuführen. Solche Arbeitnehmer kehrten nämlich nach Erfüllung ihrer Aufgabe in ihr Herkunftsland zurück, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats aufzutreten(22).

39.      In diesem Stadium seiner Erwägungen macht der Gerichtshof einen Vorbehalt im Hinblick auf die Besonderheit der Tätigkeit der Überlassung von Arbeitskräften.

40.      Er stellt nämlich fest, dass, da der Begriff der Dienstleistungen, wie ihn Art. 50 EG näher bestimme, Tätigkeiten höchst unterschiedlicher Natur umfasse, das Ergebnis nicht in allen Fällen das gleiche zu sein brauche. Insbesondere sei anzuerkennen, dass ein Unternehmen, das Dritten Arbeitskräfte überlasse, zwar Erbringer von Dienstleistungen im Sinne des Vertrags sei, jedoch Tätigkeiten ausübe, die gerade darin bestünden, dem Arbeitsmarkt des Aufnahmenmitgliedstaats Arbeitnehmer zuzuführen. In einem derartigen Fall stehe Art. 216 der Beitrittsakte von 1985 der Überlassung von Arbeitnehmern aus Portugal an Dritte durch ein Dienstleistungen erbringendes Unternehmen entgegen(23).

41.      Der Gerichtshof unterscheidet also danach, ob die Abstellung von Arbeitnehmern mit der Erbringung einer Dienstleistung einhergeht oder ob die Dienstleistung gerade darin besteht, dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats Arbeitnehmer zuzuführen. Nur in letzterem Fall kann sich der Betreffende auf die Übergangsbestimmung berufen, mit der die Anwendung der Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ausgesetzt wird.

42.      Ganz allgemein, also auch, wenn es nicht um eine Übergangsbestimmung geht, behandelt der Gerichtshof die Überlassung von Arbeitnehmern gegenüber den anderen Dienstleistungen weiter als Sonderfall. So hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Mitgliedstaat unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit kontrollieren darf, ob ein Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und von dort Arbeitnehmer aus einem Drittstaat entsendet, den freien Dienstleistungsverkehr nicht zu einem anderen Zweck als dem der Erbringung der betreffenden Dienstleistung nutzt, beispielsweise dazu, sein Personal kommen zu lassen, um Arbeitnehmer zu vermitteln oder Dritten zu überlassen(24).

43.      Aus dieser Rechtsprechung lässt sich ableiten, dass die Überlassung von Arbeitskräften eine Dienstleistung mit besonderem Charakter darstellt, da sie sich durch ihren Gegenstand auszeichnet, der darin besteht, dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats Arbeitnehmer zuzuführen. So gesehen kann die Überlassung von Arbeitskräften, auch wenn sie eine wirtschaftliche Tätigkeit darstellt, die in erster Linie in den Anwendungsbereich der Bestimmungen des Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr fällt, nicht völlig losgelöst von den mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union zusammenhängenden Problemen betrachtet werden(25).

44.      Es ist nun zu prüfen, ob die Überlassung von Arbeitskräften wegen ihres besonderen Charakters und entsprechend dem vom Gerichtshof in Randnr. 16 des Urteils Rush Portugesa gemachten Vorbehalt in den Anwendungsbereich von Anhang XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittakte von 2003 fällt.

45.      Meines Erachtens sprechen die Berücksichtigung des Ziels dieser Übergangsbestimmung und die Notwendigkeit, deren praktische Wirksamkeit zu wahren, für eine Bejahung dieser Frage.

C –    Die Berücksichtigung des Ziels der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Übergangsbestimmung und die Notwendigkeit, deren praktische Wirksamkeit zu wahren

46.      Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Übergangsbestimmung als Abweichung von der sofortigen vollständigen Anwendung des Unionsrechts eng und im Hinblick auf eine leichtere Verwirklichung der Ziele des Vertrags und eine vollständige Anwendung seiner Vorschriften auszulegen(26).

47.      Bei einer Übergangsbestimmung, die die Anwendung der Art. 1 bis 6 der Verordnung Nr. 1612/68 für einen bestimmten Zeitraum aussetzt und es den Mitgliedstaaten vorübergehend gestattet, den Zugang der polnischen Staatsangehörigen zu ihren Arbeitsmärkten zu regeln, ist zur Bestimmung ihres Anwendungsbereichs meines Erachtens aber unbedingt zu prüfen, welches Ziel mit ihr verfolgt wird.

48.      Insofern geht aus dem Urteil Rush Portuguesa hervor, dass eine Übergangsbestimmung, die die Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aussetzt, verhindern soll, dass nach dem Beitritt eines neuen Mitgliedstaats in diesem neuen Mitgliedstaat wie auch in den anderen Mitgliedstaaten infolge einer sofortigen beträchtlichen Zu- oder Abwanderung von Arbeitnehmern Störungen auf dem Arbeitsmarkt auftreten.

49.      Nach Auffassung des Gerichtshofs ist eine solche Abweichung im Licht der genannten Zielsetzung auszulegen(27).

50.      Da mit der Überlassung von Arbeitskräften, wie der Gerichtshof festgestellt hat, dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats Arbeitnehmer zugeführt werden sollen, führt eine teleologische Auslegung von Anhang XII Kapitel 2 Abs. 2 der Beitrittsakte von 2003 notwendig zur Einbeziehung dieser Tätigkeit in den Anwendungsbereich dieser Übergangsbestimmung.

51.      Im Hinblick auf deren Zweck wäre es meines Erachtens gekünstelt, danach zu unterscheiden, ob ein Arbeitnehmer unmittelbar und eigenverantwortlich auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats auftritt oder mit Hilfe eines Unternehmens, dessen Tätigkeit in der Überlassung von Arbeitskräften besteht. In beiden Fällen geht es nämlich um eine möglicherweise beträchtliche Zu- und Abwanderung von Arbeitnehmern, die nach neuen Beitritten zu Störungen auf den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten führen kann. Die Überlassung von Arbeitskräften vom Anwendungsbereich von Anhang XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittakte von 2003 auszuschließen, liefe also dem mit dieser Übergangsbestimmung verfolgten Ziel zuwider und würde dazu führen, dass dieser zu einem großen Teil ihre praktische Wirksamkeit genommen würde.

52.      Ich schlage dem Gerichtshof also vor, Anhang XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittsakte von 2003 so auszulegen, dass dem Ziel dieser Bestimmung Rechnung getragen wird und ihre praktische Wirksamkeit gewahrt wird, nämlich dahin gehend, dass die Überlassung von Arbeitskräften in den Anwendungsbereich dieser Übergangsbestimmung fällt.

53.      Die Bedenken, die vom vorlegenden Gericht im Hinblick auf die Frage geäußert werden, ob die Erwägung des Gerichtshofs in Randnr. 16 des Urteils Rush Portugesa in den späteren Urteilen Kommission/Luxemburg, Kommission/Deutschland (vom 19. Januar 2006) und Kommission/Österreich bestätigt worden ist, vermag ich nicht zu teilen; das Fehlen eines ausdrücklichen Verweises auf diese Randnummer ist auf die besonderen Umstände dieser Vertragsverletzungsklagen zurückzuführen, nämlich darauf, dass es sich um Drittstaatsangehörige handelte und dass es in diesen Rechtssachen nicht um eine die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffende Übergangsmaßnahme ging. Somit liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung, nach der die Tätigkeit eines Unternehmens, das Dritten Arbeitskräfte überlässt, darin besteht, dem Arbeitsmarkt des Aufnahmenmitgliedstaats Arbeitnehmer zuzuführen, aufgegeben hätte.

54.      Im Übrigen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber, indem er die Richtlinie 96/71, insbesondere deren Art. 1, erlassen hat, meines Erachtens nicht für die Staaten, die bereits Mitgliedstaaten der Union waren, die Möglichkeit einschränken wollen, den Zugang von Arbeitnehmern aus den neuen Mitgliedstaaten auf ihre Arbeitsmärkte zu kontrollieren oder zu beschränken, um Störungen auf diesen durch eine sofortige beträchtliche Zu- oder Abwanderung von Arbeitnehmern zu verhindern.

55.      Die Richtlinie 96/71, die nach dem Urteil Rush Portugesa erlassen worden ist und deren Rechtsgrundlage die Bestimmungen des Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr sind, scheint in ihrem Art. 1 Abs. 3 Buchst. c zwar auf diese besondere Form der Entsendung, wie sie die Überlassung von Arbeitskräften darstellt, abzuzielen. Meines Erachtens steht es aber im Einklang mit einem der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele, nämlich dem Schutz der Arbeitnehmer, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie eine möglichst große Bandbreite von typischen Fällen einer Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung einer Dienstleistung einschließen wollte, um so viele Arbeitnehmer wie möglich in den Genuss der Bestimmungen der Richtlinie 96/71 kommen zu lassen. Dass die Überlassung von Arbeitskräften in den Anwendungsbereich dieser Richtline fällt, heißt meines Erachtens also nicht, dass eine solche Tätigkeit nicht auch in den Anwendungsbereich der Übergangsbestimmung von Anhang XII Kapitel 2 Nr. 2 fallen könnte, werden mit diesen beiden Rechtsakten doch unterschiedliche Ziele verfolgt.

56.      Mehrere Verfahrensbeteiligte machen auch geltend, dass Anhang XII der Beitrittsakte von 2003 auf Art. 1 der Richtlinie 96/71 verweise und im Hinblick auf die dort genannten Dienstleistungen eine ausdrückliche Abweichung nur für die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich vorsehe. Wenn in Anhang XII Kapitel 2 Nr. 13 der Beitrittsakte von 2003, einer Bestimmung, die nur die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich betreffe, also auf Art. 1 dieser Richtlinie in seiner Gesamtheit abgezielt werde, bedeute dies, dass die Überlassung von Arbeitnehmern im Sinne von Art. 1 Abs. 3 Buchst. c dieser Richtlinie nicht in den Anwendungsbereich des die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Anhangs XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittsakte von 2003 fallen könne.

57.      Ich teile diese Auffassung nicht. Mit dem Verweis auf Art. 1 der Richtlinie 96/71 in der Übergangsbestimmung des Anhangs XII Kapitel 2 Nr. 13 der Beitrittsakte von 2003 soll meines Erachtens klargestellt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich nicht nur über die Aussetzung der Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verhandelt haben, sondern auch über die Aussetzung der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr in bestimmten empfindlichen Sektoren für alle Arten von Dienstleistungen, mit denen eine Zu- und Abwanderung von Arbeitnehmern einhergeht. Mit einem solchen Verweis soll meines Erachtens den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit genommen werden, die Überlassung von Arbeitskräften in ihrem Hoheitsgebiet während einer Übergangszeit von einer Genehmigung abhängig zu machen, es sei denn, in Anhang XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittsakte von 2003 ist ausdrücklich eine Ausnahme vorgesehen.

58.      Da die Überlassung von Arbeitskräften meines Erachtens also durchaus in den Anwendungsbereich der Übergangsbestimmung des Anhangs XII Kapitel 2 Nr. 2 der Beitrittsakte von 2003 fällt, ist nun, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten zu geben, zu ermitteln, anhand welcher Hauptkriterien sich diese besondere Dienstleistungskategorie identifizieren lässt.

D –    Hauptkriterien, anhand deren sich eine Überlassung von Arbeitskräften feststellen lässt

59.      Dem abgeleiteten Recht lassen sich Hinweise für die Definition der Überlassung von Arbeitskräften entnehmen.

60.      Es war oben bereits von Art. 1 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 96/71 die Rede, der den Fall betrifft, dass Unternehmen „als Leiharbeitsunternehmen oder als einen Arbeitnehmer zur Verfügung stellendes Unternehmen einen Arbeitnehmer in ein verwendendes Unternehmen entsenden, das seinen Sitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat oder dort seine Tätigkeit ausübt, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Leiharbeitunternehmen oder dem einen Arbeitnehmer zur Verfügung stellenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht“.

61.      Als erstes Kriterium ergibt sich aus dieser Begriffsbestimmung, dass bei einer Überlassung von Arbeitskräften das Arbeitsverhältnis zwischen dem den Arbeitnehmer überlassenden Unternehmen und diesem Arbeitnehmer fortbesteht. Das heißt, die Überlassung von Arbeitskräften an ein verwendendes Unternehmen führt nicht dazu, dass zwischen diesem und dem überlassenen Arbeitnehmer ein Arbeitsvertrag geschlossen wird.

62.      Das Fehlen des in Art. 1 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 96/71 genannten Merkmals, dass die Entsendung des Arbeitnehmers im Namen und unter Leitung des diesen entsendenen Unternehmens erfolgt, deutet aber darauf hin, dass das Unternehmen, das einen Arbeitnehmer überlässt, keinen Einfluss auf die Art und Weise ausübt, wie der Arbeitnehmer die ihm übertragenen Aufgaben ausführt.

63.      Das ist das zweite Kriterium, anhand dessen sich die Überlassung von Arbeitskräften feststellen lässt, und zwar die tatsächliche Unterordnung des Arbeitnehmers gegenüber dem verwendenden Unternehmen hinsichtlich der Organisation, der Ausführung und der Bedingungen der Arbeit. Meines Erachtens ist eine Überlassung von Arbeitskräften also dadurch gekennzeichnet, dass ein Arbeitgeber mit einem verwendenden Unternehmen einen Vertrag schließt, nach dem er diesem das ihm als Arbeitgeber hinsichtlich der Ausführung der dem Arbeitnehmer übertragenen Aufgaben zustehende Weisungsrecht überträgt.

64.      Diese Auffassung findet eine Stütze in der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit(28). Nach Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie gilt diese nämlich „für Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten“(29). Anhand dieses letzten Kriteriums lässt sich die Überlassung von Arbeitskräften von der Tätigkeit als Subunternehmer unterscheiden. Bei einer Tätigkeit als Subunternehmer behalten die beiden Unternehmen nämlich die Herrschaft über ihr Personal, es kommt nicht zu einer Übertragung von Weisungsrechten hinsichtlich der Ausführung der den Arbeitnehmern übertragenen Aufgaben.

65.      Ein drittes Kriterium ist der Gegenstand der Dienstleistung. Zur Feststellung einer Überlassung von Arbeitskräften ist nämlich zu prüfen, ob die Dienstleistung ausschließlich darin besteht, einem verwendenden Unternehmen Arbeitnehmer zu überlassen, oder ob die Abstellung der Arbeitnehmer mit einer Dienstleistung einhergeht, zu deren Erbringung für ein in einem Staat B ansässiges Unternehmen sich ein in einem Staat A ansässiges Unternehmen verpflichtet hat. Zum Beispiel stellt der Fall, dass ein auf die Installation von Software spezialisiertes Unternehmen sich vertraglich verpflichtet, seine Ingenieure zu einem Unternehmen zu senden, um dessen EDV-System aufzubauen, meines Erachtens keine schlichte Überlassung von Arbeitskräften dar. Hauptbestandteil ist hier die Erbringung von Dienstleistungen der Informationstechnologie durch die Arbeitnehmer eines auf dieses Gebiet spezialisierten Unternehmens, unter dessen Aufsicht diese Arbeitnehmer ihre Leistungen erbringen. In einem solchen Fall stellt die Abstellung der Arbeitnehmer nur die logische Folge des Einsatzes von Know-how dar, über das speziell das die Dienstleistung erbringende Unternehmen verfügt.

66.      Nach alledem ist im Zusammenhang mit der Anwendung der Übergangsbestimmung des Anhangs XII Kapitel 2 Nr. 2 eine Überlassung von Arbeitskräften meines Erachtens also erstens gekennzeichnet durch den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zwischen dem den Arbeitnehmer überlassenden Unternehmen und diesem Arbeitnehmer, zweitens dadurch, dass der dem verwendenden Unternehmen überlassene Arbeitnehmer seine Aufgaben unter der Aufsicht und Leitung dieses Unternehmens ausführt, und drittens dadurch, dass die Dienstleistung allein in der Abstellung der Arbeitnehmer besteht. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Rahmen der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten jeweils zu prüfen, ob diese Kritierien erfüllt sind.

67.      Hingegen scheinen mir andere Merkmale keine zuverlässigen Kriterien für eine Überlassung von Arbeitskräften zu sein.

68.      Was die Bedeutung angeht, die der Art der Haupttätigkeit beizumessen ist, die der Dienstleistungserbringer in seinem Niederlassungsmitgliedstaat ausübt, so stellt diese meines Erachtens nur ein Indiz für die Beantwortung der Frage dar, ob das dritte Kriterium erfüllt ist, d. h., ob die Dienstleistung ausschließlich darin besteht, einem verwendenden Unternehmen Arbeitskräfte zu überlassen, oder ob das Abstellen der Arbeitnehmer mit einer Dienstleistung anderer Art einhergeht, die z. B. dem Tätigkeitsbereich des die Arbeitnehmer entsendenden Unternehmens entspricht.

69.      Auch der Umstand, dass die Arbeitnehmer nach Erfüllung ihrer Aufgaben in ihren Ursprungsmitgliedstaat zurückkehren, ist meines Erachtens nicht kennzeichnend für die Überlassung von Arbeitskräften. Es kommt meines Erachtens darauf an, dass ihnen, wenn auch nur vorübergehend, von einem im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Unternehmen tatsächlich angebotene Arbeitsplätze zugeteilt worden sind, sie also während eines bestimmten Zeitraums auf dem Arbeitsmarkt dieses Staats aufgetreten sind.

70.      In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission ausgeführt, dass ein überlassener Arbeitnehmer ihrer Auffassung nach nicht auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats auftrete, da zwischen diesem Arbeitnehmer und dem verwendenden Unternehmen kein Arbeitsvertrag geschlossen werde. Ich vermag dieser Auffassung nicht zu folgen, da sie weder dem besonderen Charakter der Überlassung von Arbeitskräften noch deren möglichen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats Rechnung trägt.

71.      Eine Überlassung von Arbeitskräften führt zu einer Aufspaltung des Arbeitsverhältnisses. Wie bereits ausgeführt bleibt der Arbeitnehmer an seinen ursprünglichen Arbeitgeber gebunden; aber gleichzeitig wird der tatsächliche Arbeitsplatz von dem im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Arbeitgeber für die Zwecke von dessen Unternehmen zur Verfügung gestellt, und die Arbeit wird unter dessen Aufsicht und Leitung verrichtet. Der überlassene Arbeitnehmer wird eingestellt, wie ein örtlicher Arbeitnehmer eingestellt würde, und tritt somit unmittelbar in Wettbewerb mit den örtlichen Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats, auf den er sich also notwendigerweise auswirkt. Ein plötzlicher Ansturm von überlassenen Arbeitnehmern, der mit dem Beitritt eines neuen Mitgliedstaats einhergehen kann, birgt also zwangsläufig die Gefahr einer Destabilisierung des Arbeitsmarkts des Aufnahmemitgliedstaats in sich, die mit Übergangsbestimmungen wie denjenigen, die im Zentrum der vorliegenden Rechtssachen steht, gerade verhindert werden soll.

IV – Ergebnis

72.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Raad van State zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Anhang XII Kapitel 2 Nr. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge ist dahin auszulegen, dass die Überlassung von Arbeitskräften in den Anwendungsbereich dieser Übergangsbestimmung fällt.

2.      Im Zusammenhang mit der Anwendung dieser Übergangsbestimmung ist eine Überlassung von Arbeitskräften erstens gekennzeichnet durch den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zwischen dem den Arbeitnehmer überlassenden Unternehmen und diesem Arbeitnehmer, zweitens dadurch, dass der dem verwendenden Unternehmen überlassene Arbeitnehmer seine Aufgaben unter der Aufsicht und Leitung dieses Unternehmens ausführt, und drittens dadurch, dass die Dienstleistung allein in der Abstellung der Arbeitnehmer besteht.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Rahmen der bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten jeweils zu prüfen, ob diese Kritierien erfüllt sind.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. 1997, L 18, S. 1.


3 – Derzeit sind beim Gerichtshof zwei weitere Rechtssachen anhängig, die bis zum Erlass des Urteils in den vorliegenden Rechtssachen ausgesetzt worden sind: Johan van Leendert Holding (C‑158/10) sowie Jung und Hellweger (C‑241/10).


4 – ABl. 2003, L 236, S. 33, im Folgenden: Beitrittsakte von 2003.


5 – ABl. L 257, S. 2.


6 – Stb. 1994, Nr. 959, im Folgenden: Wav.


7 – Stb. 1995, Nr. 406.


8 – Stb. 2005, Nr. 577, im Folgenden: Durchführungsverordnung.


9 –      C‑113/89, Slg. 1990, I‑1417.


10 –      C‑43/93, Slg. 1994, I‑3803.


11 –      C‑445/03, Slg. 2004, I‑10191.


12 –      C‑244/04, Slg. 2006, I‑885.


13 –      C‑168/04, Slg. 2006, I‑9041.


14 – Urteil vom 17. Dezember 1981, Webb (279/80, Slg. 1981, 3305).


15 – Vgl. zur Tätigkeit der Vermittlung von Arbeitskräften auch Urteile des Gerichtshofs vom 18. Januar 1979, van Wesemael u. a. (110/78 und 111/78, Slg. 1979, 35, Randnr. 7), und vom 11. Januar 2007, ITC (C‑208/05, Slg. 2007, I‑181, Randnr. 54).


16 – Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland (C‑490/04, Slg. 2007, I‑6095, Randnrn. 83 bis 89).


17 – Urteil Webb (Randnr. 10).


18 – Ebd. (Randnr. 18).


19 – ABl. 1985, L 302, S. 23, im Folgenden: Beitrittsakte von 1985.


20 – Urteil Rush Portuguesa (Randnr. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21 – Ebd. (Randnr. 14).


22 – Ebd. (Randnr. 15).


23 – Ebd. (Randnr. 16).


24 – Vgl. u. a. Urteil Kommission/Österreich (Randnr. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25 – Vgl. für ein anderes Beispiel der Wechselwirkung zwischen dem freien Dienstleistungsverkehr und der Freizügigkeit der Arbeitnehmer Urteil ITC, in dem der Gerichtshof die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung über die Vermittlung von Arbeitskräften mit diesen beiden Freiheiten prüft.


26 – Vgl. u. a. Urteil des Gerichtshofs vom 3. Dezember 1998, KappAhl (C‑233/97, Slg. 1998, I‑8069, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).


27 – Urteil Rush Portuguesa (Randnr. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).


28 – ABl. L 327, S. 9.


29 – Ebenso ließe sich die Richtlinie 91/383/EWG des Rates vom 25. Juni 1991 zur Ergänzung der Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmern mit befristetem Arbeitsverhältnis oder Leiharbeitsverhältnis (ABl. L 206, S. 19) in der durch die Richtlinie 2007/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 (ABl. L 165, S. 21) geänderten Fassung anführen, in deren Art. 1 Nr. 2 bestimmt ist, dass sie für „Leiharbeitsverhältnisse zwischen einem Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber einerseits und einem Arbeitnehmer andererseits [gilt], wobei Letzterer zur Verfügung gestellt wird, um für und unter der Kontrolle eines entleihenden Unternehmens und/oder einer entleihenden Einrichtung zu arbeiten“.

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