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Document 62021CC0587

    Schlussanträge des Generalanwalts P. Pikamäe vom 7. Dezember 2023.


    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:964

    Vorläufige Fassung

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PRIIT PIKAMÄE

    vom 7. Dezember 2023(1)

    Rechtssache C587/21 P

    DD

    gegen

    Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA)

    „Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Bedienstete auf Zeit – Disziplinarverfahren – Umsetzung der Urteile des Gerichts für den öffentlichen Dienst und des Gerichts der Europäischen Union – Art. 3 des Anhangs IX des Statuts der Beamten der Europäischen Union – Aufhebung des Verweises – Immaterieller Schaden – Nicht durch eine Vorschrift des Unionsrechts festgelegte Verjährungsfrist – Begriff der ‚angemessenen Frist‘ – Beginn der angemessenen Frist – Verpflichtung des Unionsrichters, die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen – Art. 32 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 45/2001 – Fürsorgepflicht – Widersprüchliche Begründung“






    I.      Einleitung

    1.        Mit seinem Rechtsmittel beantragt DD, der Rechtsmittelführer, die Aufhebung des Urteils des Gerichts vom 14. Juli 2021, DD/FRA (T‑632/19, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2021:434), mit dem das Gericht seine auf Art. 270 AEUV gestützte Klage auf Ersatz des immateriellen Schadens, der ihm entstanden sein soll, und auf Aufhebung der Entscheidung des Direktors der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (im Folgenden: FRA) vom 19. November 2018, mit der sein Schadensersatzantrag zurückgewiesen wurde, abgewiesen hat.

    2.        Dieses Rechtsmittel, das in den Bereich des Rechts des öffentlichen Dienstes der Europäischen Union fällt, umfasst acht Rechtsmittelgründe, mit denen der Rechtsmittelführer dem Gericht vorwirft, mehrere Rechtsfehler begangen zu haben. Entsprechend der Vorgabe des Gerichtshofs konzentrieren sich die vorliegenden Schlussanträge auf den zweiten Rechtsmittelgrund, der im Wesentlichen die Grenzen des Ermessensspielraums der Unionsverwaltung bei der Umsetzung eines Urteils nach Art. 266 AEUV betrifft, das eine von ihr im Rahmen eines Disziplinarverfahrens erlassene Entscheidung aufhebt. Dieser Fall wirft zwangsläufig die Frage auf, inwieweit die Verwaltung verpflichtet ist, die Verfahrensrechte des betroffenen Beamten oder Bediensteten, insbesondere den Anspruch auf rechtliches Gehör, zu beachten.

    3.        Der vorliegende Fall bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, seine diesbezügliche Rechtsprechung zur guten Verwaltung, insbesondere zum Anspruch auf rechtliches Gehör, im Interesse der Rechtssicherheit und eines wirksamen Schutzes der in Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Rechte klarzustellen. Dabei wird der Gerichtshof über die Anwendbarkeit einiger Bestimmungen des Statuts der Beamten der Europäischen Union in seiner auf den Rechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Statut) zu entscheiden haben, die entscheidende Aspekte des Disziplinarverfahrens regeln.

    II.    Rechtlicher Rahmen

    Statut der Beamten der Europäischen Union

    4.        Art. 86 im Titel VI („Disziplinarordnung“) des Statuts lautet wie folgt:

    „(1)      Gegen Beamte oder ehemalige Beamte, die vorsätzlich oder fahrlässig die ihnen durch das Statut auferlegten Pflichten verletzen, kann eine Disziplinarstrafe verhängt werden.

    (2)      Werden der Anstellungsbehörde oder dem Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung [(im Folgenden: OLAF)] Tatsachen zur Kenntnis gebracht, die auf eine Verletzung der Dienstpflichten im Sinne von Absatz 1 schließen lassen, so können diese eine Verwaltungsuntersuchung einleiten, um zu prüfen, ob eine solche Dienstpflichtverletzung vorliegt.

    (3)      Die Disziplinarvorschriften und ‑verfahren sowie die für Verwaltungsuntersuchungen geltenden Vorschriften und Verfahren sind in Anhang IX des Statuts geregelt.“

    5.        Art. 3 des Anhangs IX des Statuts lautet:

    „Auf der Grundlage des Untersuchungsberichts kann die Anstellungsbehörde nach Unterrichtung des betreffenden Beamten über alle in den Akten enthaltenen Beweismittel nach Anhörung des Beamten

    a)      feststellen, dass keine belastende Tatsache gegen den Beamten vorliegt, wobei der Beamte darüber schriftlich unterrichtet wird, oder

    b)      beschließen, obwohl eine Dienstpflichtverletzung vorliegt oder offensichtlich vorgelegen hat, gegen den Beamten keine Strafe zu verhängen und gegebenenfalls eine Ermahnung aussprechen, oder

    c)      bei einer Dienstpflichtverletzung im Sinne von Artikel 86 des Statuts

    i)      beschließen, das in Abschnitt 4 dieses Anhangs vorgesehene Disziplinarverfahren einzuleiten, oder

    ii)      beschließen, ein Verfahren vor dem Disziplinarrat einzuleiten.“

    6.        Art. 22 des Anhangs IX des Statuts bestimmt:

    „(1)      Innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Stellungnahme des Disziplinarrates erlässt die Anstellungsbehörde nach Anhörung des Beamten eine Verfügung gemäß den Artikeln 9 und 10 dieses Anhangs. Die Verfügung ist zu begründen.

    (2)      Beschließt die Anstellungsbehörde, den Fall abzuschließen, ohne eine Disziplinarstrafe zu verhängen, so ist der betreffende Beamte unverzüglich schriftlich darüber zu unterrichten. Der Beamte kann beantragen, dass die Entscheidung in seine Personalakte aufgenommen wird.“

    7.        Art. 27 des Anhangs IX des Statuts bestimmt:

    „Ein Beamter, gegen den eine andere Disziplinarstrafe verhängt worden ist als die Entfernung aus dem Dienst, kann, wenn es sich um eine schriftliche Verwarnung oder einen Verweis handelt, nach drei Jahren, bei anderen Strafen nach sechs Jahren, den Antrag stellen, dass sämtliche die Strafe betreffenden Vorgänge aus seiner Personalakte entfernt werden. Die Anstellungsbehörde entscheidet darüber, ob diesem Antrag stattzugeben ist.“


    8.        Art. 29 des Anhangs IX des Statuts lautet:

    „Konnte gemäß Artikel 1 Absatz 3 und Artikel 22 Absatz 2 dieses Anhangs keiner der Vorwürfe gegen den Beamten aufrecht erhalten werden, so kann dieser verlangen, durch eine angemessene Bekanntgabe der Entscheidung der Anstellungsbehörde einen Ausgleich für den entstandenen Schaden zu erlangen.“

    III. Vorgeschichte des Rechtsstreits, Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

    A.      Vorgeschichte des Rechtsstreits

    9.        Der Rechtsmittelführer DD wurde am 1. August 2000 von einer Stelle der Union, der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC), inzwischen FRA, als Bediensteter auf Zeit im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: BSB) eingestellt. Er wurde zunächst befristet eingestellt und erhielt ab dem 16. Dezember 2006 einen unbefristeten Vertrag.

    10.      Im Lauf des Jahres 2009 und sodann im Rahmen der Beurteilung für das Jahr 2011, insbesondere bei der Einlegung eines Rechtsbehelfs nach den internen Vorschriften der FRA gegen den Entwurf des Beurteilungsberichts (im Folgenden: interne Beschwerde), behauptete der Rechtsmittelführer, aufgrund seiner Rasse oder ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert worden zu sein.

    11.      In Anbetracht der Wortwahl und des Tonfalls des internen Einspruchs leitete der Direktor der FRA am 9. November 2012 eine Verwaltungsuntersuchung ein.

    12.      Nach einer Anhörung am 20. Februar 2013, bei der der Rechtsmittelführer gemäß der Art. 2 und 11 des Anhangs IX des für Vertragsbedienstete entsprechend anwendbaren Statuts angehört wurde, erteilte der Direktor der FRA dem Rechtsmittelführer einen Verweis.

    13.      Schließlich informierte der Direktor der FRA den Rechtsmittelführer mit Schreiben vom 13. Juni 2013 über seine Entscheidung, seinen unbefristeten Vertrag zu kündigen (im Folgenden: Kündigungsentscheidung).

    14.      Mit Urteil vom 8. Oktober 2015, DD/FRA (F‑106/13 und F‑25/14, im Folgenden: Aufhebungsurteil, EU:F:2015:118), hob das Gericht für den öffentlichen Dienst den Verweis auf. Diese Aufhebung wurde damit begründet, dass das Recht des Rechtsmittelführers auf Anhörung insoweit verletzt worden sei, als der Direktor der FRA ihm die Ergebnisse der Verwaltungsuntersuchung vor der Anhörung am 20. Februar 2013 nicht mitgeteilt habe und es ihm daher nicht möglich gewesen sei, seine Verteidigung angemessen vorzubereiten (Aufhebungsurteil, Rn. 63).

    15.      Mit diesem Urteil hob das Gericht für den öffentlichen Dienst auch die Kündigungsentscheidung mit der Begründung auf, dass der Direktor der FRA den Rechtsmittelführer vor ihrem Erlass nicht ausdrücklich davon in Kenntnis gesetzt habe, dass er aufgrund verschiedener Vorfälle die Kündigung seines Vertrags in Erwägung ziehe, und ihn nicht aufgefordert habe, dazu eine Stellungnahme abzugeben (Aufhebungsurteil, Rn. 90).

    16.      Das Gericht für den öffentlichen Dienst wies hingegen den Schadensersatzantrag des Rechtsmittelführers auf Ersatz des durch die Verwaltungsuntersuchung verursachten immateriellen Schadens aus drei Gründen zurück: erstens, weil der Rechtsmittelführer nicht glaubhaft habe darlegen können, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht hinreichend bestimmt gewesen seien, um die besagte Untersuchung einzuleiten (Aufhebungsurteil, Rn. 74), zweitens, weil der Umstand, dass die Verwaltungsuntersuchung durchgeführt worden sei, ohne dass die FRA zuvor die allgemeinen Durchführungsbestimmungen zu Art. 2 des Anhangs IX des Statuts erlassen habe, um den verfahrensrechtlichen Rahmen der Untersuchung festzulegen, dieser Untersuchung nicht die Rechtmäßigkeit nehmen könne (Aufhebungsurteil, Rn. 75), und drittens, weil die Anhörung des Rechtsmittelführers zwar erfolgt sei, ohne dass er seine Verteidigung angemessen habe vorbereiten können, er sich aber in seiner Klageschrift darauf beschränkt habe, auf das Vorliegen von Stress und Angst während der Verwaltungsuntersuchung hinzuweisen, ohne seine Behauptungen weiter zu substantiieren (Aufhebungsurteil, Rn. 76).

    17.      Das Gericht für den öffentlichen Dienst wies außerdem den Schadensersatzantrag des Rechtsmittelführers auf Ersatz des immateriellen Schadens zurück, der sich daraus ergeben habe, dass der Verweis seine Integrität, seine Würde und seinen Ruf innerhalb der FRA ungerechtfertigt geschädigt habe. Das Gericht für den öffentlichen Dienst führte in diesem Zusammenhang insbesondere aus, dass die Aufhebung des Verweises auf einer Verletzung des Rechts auf Anhörung des Rechtsmittelführers beruhe und es daher nicht ausgeschlossen sei, dass eine andere Entscheidung getroffen worden wäre, wenn er angehört worden wäre. Folglich entschied das Gericht für den öffentlichen Dienst, dass die genannten Schadensersatzanträge verfrüht seien, da sonst der Umsetzung des Aufhebungsurteils durch die FRA vorgegriffen würde (Aufhebungsurteil, Rn. 78 bis 82).

    18.      Das Gericht für den öffentlichen Dienst wies auch den Schadensersatzantrag des Rechtsmittelführers auf Ersatz des materiellen und immateriellen Schadens zurück, der sich aus der Rechtswidrigkeit der Kündigungsentscheidung ergeben habe. In Bezug auf den immateriellen Schaden stellte das Gericht für den öffentlichen Dienst fest, dass der Rechtsmittelführer lediglich angegeben habe, dass diese Entscheidung bei ihm ein psychisches Trauma verursacht und seinen Ruf und seine Würde verletzt habe, ohne nachzuweisen, dass dieser Schaden durch das Aufhebungsurteil nicht vollständig wiedergutgemacht werden könne (Rn. 107).

    19.      Der Rechtsmittelführer legte gegen das Aufhebungsurteil ein Rechtsmittel ein, das vom Gericht mit Urteil vom 19. Juli 2017, DD/FRA (T‑742/15 P, im Folgenden: Rechtsmittelurteil, EU:T:2017:528), zurückgewiesen worden ist.

    20.      Unterdessen stellte die FRA den Rechtsmittelführer ab dem 1. März 2016 wieder an seinem Arbeitsplatz ein und zahlte ihm ausstehende Gehälter aus.

    21.      Darüber hinaus hatte der Rechtsmittelführer am 12. April 2013 eine Beschwerde beim Europäischen Datenschutzbeauftragten (im Folgenden: EDSB) eingereicht, weil die Verwaltungsuntersuchung unter Verstoß gegen die Verordnung (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (ABl. 2001, L 8, S. 1) durchgeführt worden sei. Der EDSB setzte die Prüfung dieser Beschwerde bis zum Vorliegen des Aufhebungsurteils und anschließend des Rechtsmittelurteils aus.

    22.      Am 18. Dezember 2017 stellte der EDSB fest, dass die Untersuchung bezüglich des Rechtsmittelführers aufgrund dessen, dass kein ausreichender Rechtsrahmen für die Einleitung und Durchführung der Verwaltungsuntersuchung geschaffen worden sei, gegen Art. 4, Art. 5 Buchst. a sowie die Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 45/2001 verstoßen habe. Diese Feststellung wurde am 16. März 2018 endgültig, nachdem der EDSB Überprüfungsanträge des Betroffenen und der FRA zurückgewiesen hatte.

    23.      Am 19. Juli 2018 stellte der Rechtsmittelführer auf Grundlage von Art. 90 Abs. 1 des Statuts einen Antrag auf Zahlung von 100 000 Euro als finanzielle Entschädigung für eine Reihe von durch die FRA begangenen Rechtsverstößen (im Folgenden: Schadensersatzantrag). Darin machte der Rechtsmittelführer erstens geltend, dass die Verwaltungsuntersuchung ohne einen ausreichend ernsthaften und durch Beweise untermauerten Verdacht, dass er seinen Vorgesetzten der Rassendiskriminierung beschuldigt habe, eingeleitet worden sei und dass die Untersuchung stattdessen auf Übertreibung und Manipulation beruht habe. Zweitens stellten die Verwaltungsuntersuchung, das Disziplinarverfahren, der Verweis und die Kündigungsentscheidung eine Diskriminierung aufgrund seiner ethnischen Herkunft dar. Drittens habe die Einleitung und Durchführung der Verwaltungsuntersuchung gegen Art. 4, Art. 5 Buchst. a sowie die Art. 11 und 12 der Verordnung Nr. 45/2001 verstoßen. Viertens stützten sich der Verweis und die Kündigungsentscheidung auf eine rechtswidrige Verwaltungsuntersuchung, die beleidigende und diffamierende Äußerungen enthalte. Fünftens habe die FRA beleidigende und diffamierende Äußerungen getätigt, sein Recht auf die Unschuldsvermutung missachtet und während der Verwaltungsuntersuchung, des Disziplinarverfahrens, im Verweis und in der Kündigungsentscheidung, während der Verfahren vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst, dem Gericht und dem Haushaltskontrollausschuss des Europäischen Parlaments sowie aufgrund der Veröffentlichung von Artikeln über das Aufhebungsurteil in der Presse sein Recht auf Privatsphäre und auf Schutz seiner personenbezogenen Daten verletzt. Nach Ansicht des Rechtsmittelführers stellten diese Verhaltensweisen in ihrer Gesamtheit Mobbing dar. Sechstens habe die FRA auf diese Weise ihre Fürsorgepflicht verletzt, indem sie nicht alle Faktoren berücksichtigt habe, die ihre Entscheidungen und ihr Verhalten hätten beeinflussen können, und ihn insbesondere nicht unverzüglich über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe informiert habe. Schließlich hätten all diese Rechtsverstöße bei ihm Stress, Angst, Unsicherheit und ein Gefühl der Verlassenheit und des Desinteresses hervorgerufen. Er habe sich gedemütigt gefühlt und auch unter der Herablassung und Geringschätzung gelitten, mit der er behandelt worden sei.

    24.      Am 19. November 2018 lehnte die zum Abschluss von Dienstverträgen ermächtigte Behörde (im Folgenden: Einstellungsbehörde) den Antrag des Rechtsmittelführers auf Entschädigung ab und begründete dies insbesondere damit, dass das Aufhebungsurteil umgesetzt worden sei, da er wieder eingesetzt worden und der Verweis aus seiner Personalakte entfernt worden sei.

    25.      Am 14. Februar 2019 legte der Rechtsmittelführer eine Beschwerde ein, die die Einstellungsbehörde am 12. Juni zurückwies. In ihrer Zurückweisung führte die Einstellungsbehörde unter anderem aus, dass die FRA entschieden habe, das Verfahren nicht erneut aufzunehmen, und dass alle Unterlagen mit Bezug zur Verwaltungsuntersuchung aus der Akte des Rechtsmittelführers gelöscht worden seien.

    B.      Verfahren vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

    26.      Mit einer am 23. September 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift erhob der Rechtsmittelführer eine auf Art. 270 AEUV gestützte Klage erstens auf Ersatz des immateriellen Schadens, der ihm entstanden sein soll, zweitens auf Aufhebung der Entscheidung des Direktors der FRA vom 19. November 2018, mit der sein Schadensersatzantrag zurückgewiesen wurde, und drittens erforderlichenfalls auf Aufhebung der Entscheidung vom 12. Juni 2019, mit der die gegen die genannte Entscheidung vom 19. November 2018 gerichtete Beschwerde zurückgewiesen wurde.

    27.      Der Rechtsmittelführer stützte seine Klage auf sechs Rechtswidrigkeitsgründe hinsichtlich des der FRA vorgeworfenen Verhaltens (angefochtenes Urteil, Rn. 39, 51, 69, 80, 100 und 125):

    –        Erstens habe die FRA nach dem Aufhebungsurteil den Rechtsmittelführer nicht angehört und keine Entscheidung nach Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts erlassen,

    –        zweitens seien die Verwaltungsuntersuchung und das ursprüngliche Disziplinarverfahren rechtswidrig eingeleitet worden,

    –        drittens habe die FRA den immateriellen Schaden, der aus dem durch das Aufhebungsurteil aufgehobenen Verweis resultiere, nicht ersetzt,

    –        viertens habe die FRA das Aufhebungsurteil nicht umgesetzt und das Disziplinarverfahren nicht innerhalb einer angemessenen Frist und mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt,

    –        fünftens habe die Einleitung und Durchführung der Verwaltungsuntersuchung gegen die Verordnung Nr. 45/2001, das Statut und das in Art. 7 der Charta garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens verstoßen, und

    –        sechstens habe die FRA den Schaden nicht ersetzt, der sich aus unbegründeten, diffamierenden und beleidigenden Äußerungen ergeben habe, wodurch sie gegen die Rechtskraft des Aufhebungsurteils, gegen die Unschuldsvermutung und die Fürsorgepflicht sowie gegen die Verpflichtung, Mobbing zu unterlassen, verstoßen habe.

    28.      Da der Rechtsmittelführer außerdem den Ersatz des immateriellen Schadens verlangte, den er aufgrund dieser vermeintlich rechtswidrigen Verhaltensweisen der FRA erlitten haben soll, berief er sich hierzu auf mehrere Argumente hinsichtlich des tatsächlich eingetretenen Schadens sowie des Kausalzusammenhangs.

    29.      Im angefochtenen Urteil hat das Gericht die Ansicht vertreten, dass die Voraussetzungen für die Haftung eines Organs nicht erfüllt seien. Zum einen hat es keinen der vom Rechtsmittelführer vorgebrachten Rechtswidrigkeitsgründe als begründet angesehen. Zum anderen hat das Gericht festgestellt, dass das Vorliegen eines immateriellen Schadens sowie eines Kausalzusammenhangs zwischen diesem und den regelwidrigen Verhaltensweisen nicht nachgewiesen worden sei.

    IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

    A.      Verfahren vor dem Gerichtshof

    30.      Der Gerichtshof hat nach Art. 76 Abs. 2 der Verfahrensordnung beschlossen, von einer mündlichen Verhandlung abzusehen.

    B.      Anträge der Parteien

    31.      Der Rechtsmittelführer beantragt,

    –        das angefochtene Urteil aufzuheben,

    –        folglich die Entscheidung des Direktors der FRA vom 19. November 2018 aufzuheben, mit der der Antrag des Rechtsmittelführers nach Art. 90 Abs. 1 des Statuts abgelehnt wurde, erforderlichenfalls die Entscheidung des Direktors der FRA vom 12. Juni 2019, eingegangen am 13. Juni 2019, aufzuheben, mit der die Beschwerde des Rechtsmittelführers nach Art. 90 Abs. 2 des Statuts gegen die genannte Entscheidung vom 19. November 2018 zurückgewiesen wurde, und dem Rechtsmittelführer den Ersatz des ihm entstandenen immateriellen Schadens zuzusprechen, der nach billigem Ermessen auf 100 000 Euro geschätzt wird, sowie

    –        der FRA sämtliche Kosten aufzuerlegen.

    32.      Die FRA beantragt,

    –        das Rechtsmittel zurückzuweisen und

    –        dem Rechtsmittelführer sämtliche Kosten aufzuerlegen.

    V.      Rechtliche Würdigung

    A.      Vorbemerkungen

    33.      Wie bereits in der Einleitung erwähnt, behandeln die vorliegenden Schlussanträge nur den zweiten Rechtsmittelgrund. Die vorliegende Rechtssache zeichnet sich durch eine gewisse Komplexität aus, da der Sachverhalt, der diesem Rechtsstreit zugrunde liegt, Gegenstand von Urteilen mehrerer Unionsgerichte war. Im Interesse eines besseren Verständnisses der den Kern dieses Falls ausmachenden Rechtsfragen halte ich es für sinnvoll, diese kurz zusammenzufassen, bevor die eigentliche rechtliche Analyse erfolgt.

    34.      Bei den betreffenden Rechtsfragen geht es im Wesentlichen darum, ob das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es davon ausgegangen ist, dass die FRA im Einklang mit dem Unionsrecht handelte, als sie beschlossen hat, von der Verwaltungsuntersuchung gegen den Rechtsmittelführer Abstand zu nehmen, um dem Aufhebungsurteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst nachzukommen, ohne den Rechtsmittelführer anzuhören, wie es nach Art. 3 des Anhangs IX des Statuts vorgeschrieben gewesen wäre. Das Gericht ist von der Annahme ausgegangen, dass das in dieser Bestimmung genannte Verfahren nicht zwingend sei und es eine andere Lösung gebe, die eine ordnungsgemäße Umsetzung des Aufhebungsurteils ermögliche und die darin bestehe, auf das Disziplinarverfahren zu verzichten.

    35.      Ich werde in meiner Analyse zeigen, dass diese Auffassung aus rechtlicher Sicht problematisch ist, da sie der Verwaltung im Rahmen des Disziplinarverfahrens einen alternativen Weg eröffnet, der im Statut nicht ausdrücklich vorgesehen ist und folglich keine Beteiligung des betroffenen Beamten(2) vorsieht. Daher kann das Risiko, dass dessen Verfahrensrechte verletzt werden, nicht ausgeschlossen werden. Das Gericht ist hingegen der Ansicht, dass die Verteidigungsrechte nicht eingehalten werden müssten, da die FRA von jeglicher Ermittlung gegen den Rechtsmittelführer Abstand genommen habe. Es stützt seine Überlegung auf die Feststellung, dass die FRA keine Maßnahme ergriffen habe, durch die der Rechtsmittelführer im Sinne von Art. 41 der Charta nachteilig betroffen sei.

    B.      Zum zweiten Rechtsmittelgrund

    1.      Vorbringen der Parteien

    36.      Der zweite Rechtsmittelgrund besteht im Wesentlichen aus vier Teilen.

    37.      Mit dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes rügt der Rechtsmittelführer im Wesentlichen, dass das Gericht das Urteil vom 5. September 2014, Éditions Odile Jacob/Kommission (T‑471/11, EU:T:2014:739), falsch ausgelegt habe, indem es aus diesem Urteil abgeleitet habe, dass es nach der Aufhebung einer Handlung möglich sei, das Verfahren genau an dem Punkt wieder aufzunehmen, an dem die Rechtswidrigkeit eingetreten sei. Nach richtiger Auslegung des genannten Urteils jedoch müsse das Verfahren zur Ersetzung einer für nichtig erklärten Handlung genau an dem Punkt wieder aufgenommen werden, an dem die Rechtswidrigkeit eingetreten sei, da die Nichtigerklärung einer Entscheidung die vorbereitenden Handlungen nicht notwendigerweise berühre.

    38.      Die FRA ist der Ansicht, dass dieser Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes nicht durchgreife. Hierzu führt sie aus, dass die in Rn. 45 des angefochtenen Urteils zitierte Rechtsprechung entgegen der Auffassung des Rechtsmittelführers nicht bedeute, dass die Anstellungsbehörde verpflichtet sei, ein Disziplinarverfahren, das sich als verfahrensfehlerhaft erwiesen habe, wieder aufzunehmen. Zudem habe der Rechtsmittelführer jedenfalls kein berechtigtes Interesse, sich darauf zu berufen, dass die FRA verpflichtet gewesen sei, das Disziplinarverfahren wieder aufzunehmen, anstatt von ihm Abstand zu nehmen.

    39.      Mit dem zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes rügt der Rechtsmittelführer, dass das Gericht Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts falsch angewendet habe, indem es entschieden habe, dass dieser Artikel nicht anwendbar sei, wenn eine Verwaltungsuntersuchung zurückgenommen oder von ihr Abstand genommen werde, und in Fällen wie dem vorliegenden, in dem die FRA beschlossen habe, das streitige Verfahren nicht in dem Stadium wieder aufzunehmen, in dem der Verweis rechtswidrig geworden sei. Nach Ansicht des Rechtsmittelführers enthält Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts eine erschöpfende Auflistung der Optionen, die der anderen Partei des Verfahrens nach der Vorlage eines Berichts über eine Verwaltungsuntersuchung zur Verfügung stünden. Darüber hinaus sei der Zweck dieses Artikels in Verbindung mit Art. 29 des Anhangs IX des Statuts zu lesen, um die Interessen des betroffenen Beamten berücksichtigen zu können, so dass die Rücknahme eines Berichts über eine Verwaltungsuntersuchung ohne jede Begründung und ohne jede Bekanntmachung einen Verstoß gegen diese Artikel darstelle. Das Gericht habe eine gekünstelte Unterscheidung zwischen dem Abschluss einer Verwaltungsuntersuchung und ihrer Rücknahme oder der Abstandnahme von ihr geschaffen, was die Art. 3 und 29 des Anhangs IX des Statuts weitgehend ihrer Wirkung beraube.

    40.      Die FRA entgegnet, dass weder Art. 266 AEUV über die Umsetzung von Urteilen noch Art. 3 des Anhangs IX des Statuts sie daran hinderten, von der Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens abzusehen und alle früheren Urkunden in Bezug auf die Verwaltungsuntersuchung aus der Akte des Rechtsmittelführers zu entfernen. Daher sei Art. 3 des Anhangs IX des Statuts nicht anwendbar.

    41.      Mit dem dritten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes macht der Rechtsmittelführer geltend, dass das angefochtene Urteil rechtsfehlerhaft sei und gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoße, da das Gericht in Rn. 49 des angefochtenen Urteils davon ausgehe, dass im vorliegenden Fall die Verteidigungsrechte nicht zu beachten gewesen seien, „da die FRA von jeder Ermittlung gegen den Rechtsmittelführer Abstand genommen … und somit keine für ihn nachteilige Handlung im Sinne von Art. 41 der Charta vorgenommen hat“.

    42.      Die FRA ist der Ansicht, dass sie keine den Rechtsmittelführer beschwerende Entscheidung getroffen habe, weshalb sie nicht verpflichtet gewesen sei, ihn zuvor anzuhören. Der Rechtsmittelführer lasse daher den Kontext der Umsetzung des Urteils des Gerichts für den öffentlichen Dienst, das zur Wiedereinsetzung des Rechtsmittelführers geführt habe, außer Acht. Darüber hinaus führt die FRA aus, sie habe nicht „[festgestellt], dass keine belastende Tatsache … vorliegt“, wie es Art. 3 des Anhangs IX des Statuts verlange, sondern habe vom Disziplinarverfahren Abstand genommen, ohne eine solche Entscheidung zu treffen.

    43.      Mit dem vierten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes macht der Rechtsmittelführer geltend, dass die Begründung des angefochtenen Urteils insofern widersprüchlich sei, als das Gericht zum einen in Rn. 49 des Urteils ausgeführt habe, Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts sei nicht anwendbar, und zum anderen in Rn. 76 desselben Urteils das Gegenteil behauptet habe.

    44.      Die FRA ist der Ansicht, dass zwischen Rn. 49 und Rn. 76 des angefochtenen Urteils kein Widerspruch bestehe, da im vorliegenden Fall die zuständige Anstellungsbehörde davon abgesehen habe, das Disziplinarverfahren wieder aufzunehmen, und alle früheren Urkunden in Bezug auf die Verwaltungsuntersuchung aus der Personalakte des Rechtsmittelführers entfernt habe.

    2.      Würdigung

    45.      Da die vier Teile des zweiten Rechtsmittelgrundes untrennbar miteinander verknüpft sind, sind sie gemeinsam systematisch und in thematischer Reihenfolge zu prüfen.

    a)      Zur Umsetzung des Aufhebungsurteils des Gerichts für den öffentlichen Dienst

    46.      Zunächst ist zu klären, welche Anforderungen an die Umsetzung eines Aufhebungsurteils im vorliegenden Fall zu stellen sind. Wie aus den Ausführungen der Parteien hervorgeht, bestehen unterschiedliche Auffassungen zu der in Rn. 46 des angefochtenen Urteils enthaltenen Beurteilung des Gerichts, wonach das Aufhebungsurteil, das auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Rechtsmittelführers am Ende des Verwaltungsverfahrens gestützt wurde, der FRA lediglich auferlege, den Verweis aus der Personalakte des Rechtsmittelführers zu entfernen, ohne dass sie verpflichtet gewesen sei, ihn zu den Vorwürfen, die zur Einleitung der Verwaltungsuntersuchung geführt hätten, anzuhören oder ihm förmlich die Entscheidung mitzuteilen, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe fallengelassen würden.

    47.      Nach Art. 266 AEUV „[haben] die Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen, denen das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt … die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ergebenden Maßnahmen zu ergreifen“ (Hervorhebung nur hier). Diese Bestimmung schafft Verpflichtungen für die Organe und – ausdrücklich seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – für die Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, deren Handlungen durch Urteil für nichtig erklärt wurden. Die Bestimmung ergänzt die Art. 263 bis 265 AEUV, nach denen die Unionsgerichte in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen eine Handlung lediglich für nichtig erklären können. Art. 266 AEUV verleiht ihnen hingegen nicht die Befugnis, den verurteilten Organen bestimmte Handlungspflichten aufzuerlegen oder sie anzuweisen, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Vielmehr muss das verurteilte Organ die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen selbst ergreifen(3).

    48.      Unter diesem Gesichtspunkt weist das Gericht in Rn. 45 des angefochtenen Urteils zu Recht darauf hin, dass die Organe und Einrichtungen der Union über ein Ermessen bei der Wahl der einzusetzenden Mittel verfügen, um die Konsequenzen aus einem Aufhebungsurteil zu ziehen. Jedoch bedeutet dies nicht, dass der Ermessensspielraum unbegrenzt wäre, denn sonst wäre die Verwaltung befugt, die Folgen eines solchen Urteils außer Acht zu lassen. In einem solchen Fall wäre die gerichtliche Kontrolle durch die Gerichte der Union eine Illusion, was deren Eigenschaft als „Rechtsunion“(4) in Frage stellen würde. Denn wie ich nachstehend erläutern werde, gibt es mehrere Gründe, die mich zu der Annahme veranlassen, dass das Gericht die Grenzen, die das Unionsrecht der FRA im vorliegenden Fall setzt, verkannt hat.

    49.      Erstens hat das Gericht meines Erachtens den Umfang der Verpflichtung aus Art. 266 AEUV verkannt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die von den Unionsgerichten erlassenen Nichtigkeits- bzw. Aufhebungsurteile absolute Rechtskraft erlangen, sobald sie unanfechtbar geworden sind. Diese umfasst nicht nur den Tenor des Nichtigkeits- bzw. Aufhebungsurteils, sondern auch die Gründe, die den Tenor tragen und daher von diesem nicht zu trennen sind(5). Für das Organ, das den für nichtig erklärten Rechtsakt erlassen hat, bedeutet das Nichtigkeitsurteil daher, dass es einen neuen Rechtsakt zu erlassen hat, der nicht nur den Tenor des Urteils beachtet, sondern auch die Gründe, die zu diesem geführt haben und die ihn tragen, und dass es deshalb darauf achten muss, dass dieser neue Rechtsakt nicht die gleichen Fehler aufweist, die in dem Nichtigkeitsurteil festgestellt wurden(6).

    50.      Im Übrigen ist für die Zwecke der Prüfung des vorliegenden Rechtsmittelgrundes darauf hinzuweisen, dass das Verfahren zur Ersetzung einer für nichtig erklärten Handlung genau an dem Punkt wieder aufzunehmen ist, an dem die Rechtswidrigkeit eingetreten ist, da die Nichtigerklärung einer Entscheidung die vorbereitenden Handlungen nicht notwendigerweise berührt(7). Die Nichtigerklärung einer Handlung, die ein Verwaltungsverfahren abschließt, das mehrere Phasen umfasst, hat nicht notwendig und unabhängig von den materiellen oder formellen Gründen des Nichtigkeitsurteils die Nichtigkeit des gesamten Verfahrens zur Folge, auf dem die angefochtene Handlung beruht. Bei dem Erlass des ersetzenden Rechtsakts hat das Organ daher auf den Zeitpunkt abzustellen, an dem es den für nichtig erklärten Rechtsakt erlassen hatte. In seiner erneuten Entscheidung kann es jedoch andere Gründe anführen als die, auf die es die erste Entscheidung gestützt hatte. Auch braucht es sich nicht erneut zu Aspekten seiner ursprünglichen Entscheidung zu äußern, die im Nichtigkeitsurteil nicht in Frage gestellt wurden.

    51.      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass entgegen den Ausführungen des Gerichts in Rn. 45 des angefochtenen Urteils die Aufhebung einer Handlung es der Verwaltung nicht „anheimstellt“, das Verfahren genau an dem Punkt wieder aufzunehmen, an dem die Rechtswidrigkeit eingetreten ist. Es handelt sich dabei vielmehr um eine bindende Verpflichtung, wie aus der vom Gericht selbst zitierten Rechtsprechung klar hervorgeht. Soweit das Gericht diese Rechtsprechung offenbar dahin auslegt, dass sie der Verwaltung generell die Befugnis einräumt, bei der Umsetzung eines Aufhebungsurteils nach Art. 266 AEUV selbst zu bestimmen, in welchem Stadium sie ein mit Fehlern behaftetes Verfahren wieder aufzunehmen gedenkt, ist daher festzustellen, dass dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist.

    52.      Zweitens bin ich der Ansicht, dass die vom Gericht in Rn. 45 des angefochtenen Urteils vorgenommene Auslegung, nach der der Verwaltung ein „weiter Ermessensspielraum“ einzuräumen sei, eine Missachtung des wesentlichen Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit als eines der in Art. 2 EUV verankerten Werte der Union bedeuten würde, wonach die Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen dem Gesetz unterliegen(8) (Hervorhebung nur hier). In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Union gemäß dem in Art. 5 Abs. 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nur innerhalb der Grenzen der ihr durch die Verträge, einschließlich des Sekundärrechts, übertragenen Befugnisse tätig wird. Im besonderen Bereich des öffentlichen Dienstes bedeutet das, dass die Verwaltung verpflichtet ist, gemäß den Bestimmungen des Statuts zu handeln.

    53.      Daraus ergibt sich folgerichtig, dass der Ermessensspielraum der Verwaltung durch die Bestimmungen des Statuts, die den betreffenden Fall regeln sollen, begrenzt wird. In diesem Zusammenhang ist Art. 86, aber auch Anhang IX des Statuts zu nennen, da dieser Anhang neben anderen Bestimmungen der Disziplinarordnung auch die Vorschriften und Verfahren für Verwaltungsuntersuchungen enthält. Das Disziplinarverfahren als solches umfasst zwei unterschiedliche Phasen, von denen die erste mit der Entscheidung zur Einleitung beginnt und mit einer weiteren Entscheidung nach Anhörung des Betroffenen auf der Grundlage des Untersuchungsberichts abgeschlossen wird(9).

    54.      Wie in meinen einleitenden Bemerkungen erwähnt, wirft der vorliegende Fall die Frage nach der Anwendbarkeit von Art. 3 des Anhangs IX des Statuts auf, der das Handeln der Verwaltung nach der Untersuchungsphase regeln soll. Diese Bestimmung enthält eine Reihe der Verwaltung offenstehender Optionen und gibt ihr die Möglichkeit, nach der Erstellung des Untersuchungsberichts das Disziplinarverfahren einzuleiten oder darauf zu verzichten, vorausgesetzt, die in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen sind erfüllt.

    55.      Meines Erachtens besteht kein Zweifel daran, dass sich die FRA genau in dieser Phase des Verfahrens befand, als das Aufhebungsurteil erlassen wurde, das sich auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Rechtsmittelführers am Ende des Verwaltungsabschnitts des Verfahrens stützte, wie aus Rn. 46 des angefochtenen Urteils hervorgeht. Folglich war es Aufgabe der FRA, in Anwendung von Art. 3 des Anhangs IX des Statuts die ihr unter den gegebenen Umständen einschlägig erscheinende Option zu wählen.

    56.      Mit anderen Worten war die FRA entgegen den Ausführungen des Gerichts verpflichtet, das Verfahren genau an dem Punkt wieder aufzunehmen, an dem die Rechtswidrigkeit eingetreten war, d. h. zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eine Entscheidung über die Fortsetzung des Disziplinarverfahrens treffen musste. Ich werde im Folgenden die genauen Konsequenzen untersuchen, die sich daraus für die FRA aufgrund der Anforderungen von Art. 3 des Anhangs IX des Statuts ergeben. Jedenfalls ist in diesem Stadium der Analyse festzuhalten, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es fälschlicherweise annahm, die FRA sei nicht verpflichtet gewesen, diese Bestimmung auf die Umstände des vorliegenden Falls anzuwenden.

    b)      Zur Anwendbarkeit von Art. 3 des Anhangs IX des Statuts auf den vorliegenden Fall

    57.      Dies gilt umso mehr, wenn man die Funktion von Art. 3 des Anhangs IX des Statuts unter Berücksichtigung des allgemeinen Kontexts eines Disziplinarverfahrens betrachtet. Wie bereits ausgeführt, besteht dieses aus zwei Phasen. In der ersten Phase wird eine Verwaltungsuntersuchung eingeleitet, die es der Anstellungsbehörde ermöglichen soll, zu prüfen, ob ein Verstoß gegen die Pflichten vorliegt, denen die Beamten unterliegen. Die allgemeinen Bestimmungen des Anhangs IX des Statuts, die vier Artikel umfassen und in Abschnitt 1 zusammengefasst sind, betreffen Verwaltungsuntersuchungen und legen die Modalitäten für die Umsetzung von Art. 86 Abs. 2 des Statuts fest. Auch wenn die Verwaltung bei der Durchführung von Verwaltungsuntersuchungen über einen großen Ermessensspielraum verfügt, muss sie dennoch bestimmte Verfahrenserfordernisse einhalten, u. a. die Erstellung des abschließenden Untersuchungsberichts, der in Art. 3 des Anhangs IX des Statuts erwähnt wird.

    58.      Der Bericht legt den Sachverhalt und die Umstände des Falls dar, stellt fest, ob die auf die Situation anzuwendenden Vorschriften und Verfahren beachtet wurden, führt erschwerende oder mildernde Umstände an, gibt das Ausmaß des dem Organ entstandenen Schadens an und gibt eine Empfehlung für das weitere Vorgehen ab(10). Auf der Grundlage des genannten Berichts kann die Anstellungsbehörde erstens feststellen, dass keine belastende Tatsache gegen den Beamten vorliegt; in diesem Fall muss sie den Beamten darüber schriftlich unterrichten. Zweitens kann die Anstellungsbehörde, obwohl eine Dienstpflichtverletzung vorliegt oder offensichtlich vorgelegen hat, beschließen, gegen den Beamten keine Strafe zu verhängen, und gegenüber dem Betroffenen gegebenenfalls nur eine Ermahnung aussprechen. Drittens kann sie bei einer Dienstpflichtverletzung ein Disziplinarverfahren entweder ohne Konsultation des Disziplinarrats oder vor diesem Rat einleiten.

    59.      Es ist offensichtlich, dass der Gesetzgeber im Statut die Befugnisse der Verwaltung gegenüber dem Beamten im Rahmen dieses Verfahrens so genau wie möglich festlegen wollte. Dieser Ansatz ist nicht nur im Hinblick auf die unter Nr. 52 dieser Schlussanträge genannten Grundsätze geboten, sondern auch aufgrund der Notwendigkeit, die Verfahrensrechte des betroffenen Beamten zu beachten. Vor diesem Hintergrund ist die Argumentation des Gerichts, dass die FRA über einen „weiten Ermessensspielraum“ verfüge, um das Aufhebungsurteil umzusetzen, meines Erachtens unzutreffend. Aus diesem Grund bin ich der Ansicht, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat.

    60.      Das Gleiche gilt für die Feststellung des Gerichts in Rn. 48 des angefochtenen Urteils, dass die FRA nicht verpflichtet gewesen sei, das beanstandete Verfahren in dem Stadium wieder aufzunehmen, in dem der Verweis rechtswidrig geworden ist, sondern dass sie vielmehr berechtigt gewesen sei, „eine andere Lösung“ zu wählen, nämlich auf dieses Verfahren zu verzichten und darüber hinaus alle früheren Urkunden in Bezug auf die Verwaltungsuntersuchung aus der Personalakte des Rechtsmittelführers zu entfernen. Der Wortlaut, der Aufbau und der Zweck von Art. 3 des Anhangs IX des Statuts weisen eindeutig darauf hin, dass er eine erschöpfende Liste von der Verwaltung zur Verfügung stehenden Optionen enthält. Aus der Formulierung dieser Bestimmung geht hervor, dass sie eine Reihe von genau umschriebenen Optionen aufzählt, die sich gegenseitig ausschließen.

    61.      Daraus folgt, dass die Verwaltung verpflichtet ist, eine Entscheidung auf der Grundlage einer dieser Optionen zu treffen, die dann als Rechtsgrundlage dient. Aus alledem ergibt sich zwangsläufig, dass der Gesetzgeber im Statut jede andere Option ausschließen wollte. Daher beruht die vom Gericht vertretene Auffassung, dass die Verwaltung nach einer Verwaltungsuntersuchung die Möglichkeit habe, eine andere Option zu wählen, auf einer falschen Auslegung von Art. 3 des Anhangs IX des Statuts.

    62.      Dieser Rechtsfehler erscheint mir besonders schwerwiegend, zumal das Gericht die Wortwahl der FRA zur Beschreibung ihrer Vorgehensweise im Disziplinarverfahren nicht hinterfragt. Insbesondere aus den Rn. 43 und 48 des angefochtenen Urteils geht hervor, dass die FRA die Untersuchung der Vorwürfe gegen den Rechtsmittelführer „fallengelassen“ und somit auf das beanstandete Verfahren „verzichtet“ habe. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass diese Begriffe in Art. 3 des Anhangs IX des Statuts nicht verwendet werden, was die Frage aufwirft, ob es sich wirklich um eine andere Option handelt, die in dieser Bestimmung nicht vorgesehen ist, wie das Gericht anzunehmen scheint („eine andere Lösung“), oder ob es sich vielmehr um eine bedeutungsgleiche Alternativformulierung handelt, die lediglich den in Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts genannten Fall beschreiben soll.

    63.      Ich bin der Ansicht, dass die „Abstandnahme“ vom Verfahren gegen einen Beamten oder der „Verzicht“ auf es im Wesentlichen nur den oben genannten Fall umschreibt. Denn wie der Rechtsmittelführer überzeugend darlegt, bedeutet ein Verzicht der Verwaltung auf ein Disziplinarverfahren grundsätzlich, dass gegen den betreffenden Beamten keine belastende Tatsache vorliegt. Die verwendeten Begrifflichkeiten sind daher so zu verstehen, dass es sich lediglich um zwei verschiedene Arten handelt, das Gleiche auszudrücken. Diese Auffassung entspricht dem gesunden Menschenverstand. Wenn sich diese Einschätzung als richtig erweisen sollte, wäre nun zu prüfen, warum die FRA von den Vorschriften in Anhang IX des Statuts abgewichen ist. Obwohl die schriftlichen Stellungnahmen keine eindeutige Antwort darauf zulassen, ist ein solcher Ansatz jedenfalls mitnichten mit den in Nr. 52 der vorliegenden Schlussanträge genannten Grundsätzen vereinbar, an die die Verwaltung gebunden ist.

    64.      Darüber hinaus kann ein solcher Ansatz meines Erachtens die Verfahrensrechte des betroffenen Beamten verletzen, wie ich noch näher erläutern werde. Folglich hat das Gericht insofern einen Rechtsfehler begangen, als es angenommen hat, dass die FRA im Einklang mit dem Unionsrecht gehandelt habe, als sie von jedwedem Verfahren gegen den Rechtsmittelführer Abstand genommen habe, ohne Art. 3 des Anhangs IX des Statuts anzuwenden.

    c)      Zur Verletzung der Verfahrensrechte des Beamten oder Bediensteten

    65.      Ungeachtet des Ermessensspielraums, über den jede Verwaltungsbehörde verfügt, ist sie verpflichtet, die Grundprinzipien des Verfahrensrechts zu beachten. Diese Verpflichtung ergibt sich aus Art. 41 der Charta, in dem das Recht auf eine gute Verwaltung in seinen verschiedenen Formen verankert ist(11). Die Einhaltung von Verfahrensgarantien ist besonders in Disziplinarangelegenheiten geboten, da der Beamte Strafen unterschiedlicher Härte zu befürchten hat. Die in Anhang IX des Statuts vorgesehenen Garantien, die das Recht auf eine gute Verwaltung umsetzen, verfolgen ein zweifaches Ziel, nämlich zum einen, es dem beschuldigten Beamten zu ermöglichen, sich angemessen zu verteidigen, und zum anderen, ein mögliches willkürliches Vorgehen der Verwaltung bei Disziplinarverfahren zu verhindern(12).

    66.      Zu diesen Garantien gehört das Recht auf Anhörung, das von größter Bedeutung ist(13), wie der Umstand zeigt, dass dieses Recht in mehreren Bestimmungen, einschließlich Art. 3 des Anhangs IX des Statuts, genannt wird. Diese Bestimmung enthält die Verpflichtung, den betroffenen Beamten anzuhören, bevor eine Entscheidung über die Fortsetzung des Disziplinarverfahrens auf der Grundlage des Untersuchungsberichts getroffen wird, nachdem ihm alle Unterlagen aus der Akte übermittelt worden sind. Hierzu ist anzumerken, dass ausdrücklich keine Ausnahmen vorgesehen sind. Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung führt daher folgerichtig zu einer Verletzung der Verfahrensrechte des Beamten. Gerade dies scheint im vorliegenden Fall gegeben zu sein, da die FRA Art. 3 des Anhangs IX des Statuts nicht angewendet hat.

    67.      Da das Recht auf Anhörung von keiner Voraussetzung abhängt, hat das Gericht einen Rechtsfehler begangen, als es in Rn. 49 des angefochtenen Urteils ausführte, dass „die Einhaltung der Verteidigungsrechte nicht länger erforderlich war“. Wie ich bereits ausgeführt habe, beruht dieser Rechtsfehler zum einen auf der fehlerhaften Erwägung, dass Art. 3 des Anhangs IX des Statuts auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, und zum anderen auf dem Argument, die FRA habe keinen dem Rechtsmittelführer im Sinne von Art. 41 der Charta nachteiligen Rechtsakt erlassen. Dieses letztere Argument gibt Anlass zu einigen allgemeinen Überlegungen.

    68.      Nach Art. 41 Abs. 2 der Charta umfasst das Recht auf eine gute Verwaltung das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird. Das Gericht übersieht indessen, dass Art. 3 des Anhangs IX des Statuts in Bezug auf das Anhörungsrecht nicht danach unterscheidet, ob die von der Verwaltung zu treffende Entscheidung für den Beamten vorteilhaft oder nachteilig ist. Dieses Recht wird also in jedwedem Fall gewährleistet, was sich aus der Natur des Disziplinarverfahrens erklärt. Art. 3 des Anhangs IX des Statuts ist somit eine lex specialis, die den Besonderheiten der Disziplinarordnung Rechnung trägt.

    69.      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Einleitung eines Disziplinarverfahrens der Ehrbarkeit und dem beruflichen Leumund des betreffenden Beamten sehr schweren Schaden zufügen kann(14). Daher ist die Verwaltung verpflichtet, den Wahrheitsgehalt und die Schwere der ihm vorgeworfenen Tatsachen zu überprüfen, bevor sie eine Entscheidung über die Einleitung trifft. Ebenso ist bei einer überlangen Dauer des Disziplinarverfahrens davon auszugehen, dass der Beamte einen immateriellen Schaden erlitten hat(15). Die Disziplinarbehörden sind daher verpflichtet, dieses Verfahren mit Umsicht zu betreiben und jede Verfahrenshandlung innerhalb einer angemessenen Frist ab der vorhergehenden Maßnahme vorzunehmen. Fehlt es an dieser Angemessenheit, die nur anhand des jeweiligen Einzelfalls beurteilt werden kann, kann dies zur Folge haben, dass die Maßnahme aufzuheben ist(16). Aus diesem Grund legt Art. 22 Abs. 1 des Anhangs IX des Statuts für eine Verfügung der Anstellungsbehörde eine Frist von zwei Monaten ab der Stellungnahme des Disziplinarrats fest, wenn die Anstellungsbehörde Strafen zu verhängen beabsichtigt. Sowohl im Interesse des Beamten als auch der Verwaltung darf die Entscheidung, mit der das Disziplinarverfahren beendet wird, nicht ungerechtfertigt verzögert werden(17).

    70.      In dem Bewusstsein, dass sich die ungerechtfertigte Einleitung eines Disziplinarverfahrens negativ auf den Ruf eines Beamten auswirken kann, hat der Gesetzgeber in Art. 22 Abs. 2 des Anhangs IX des Statuts festgelegt, dass die Anstellungsbehörde, wenn sie beschließt, den Fall ohne Verhängung einer Disziplinarstrafe abzuschließen, den Beamten unverzüglich schriftlich davon unterrichtet. Der Beamte kann beantragen, dass diese Entscheidung in seine Personalakte aufgenommen wird. Darüber hinaus ergibt sich aus Art. 29 dieses Anhangs, dass der Beamte, wenn gemäß der genannten Bestimmung keiner der Vorwürfe gegen ihn aufrecht erhalten werden konnte, verlangen kann, durch eine angemessene Bekanntgabe der Entscheidung der Anstellungsbehörde einen Ausgleich für den entstandenen Schaden zu erlangen. All dies zeigt, dass der Gesetzgeber des Statuts eine Reihe von Maßnahmen für erforderlich gehalten hat, um die negativen Auswirkungen auszugleichen, die sich aus ungerechtfertigten Verfahren ergeben.

    71.      Schließlich darf nicht übersehen werden, dass gemäß Art. 27 des Anhangs IX des Statuts selbst ein Beamter, gegen den eine Disziplinarstrafe verhängt worden ist, den Antrag stellen kann, dass sämtliche die Strafe betreffenden Vorgänge aus seiner Personalakte entfernt werden. Die Anstellungsbehörde entscheidet darüber, ob diesem Antrag stattzugeben ist. Meines Erachtens versinnbildlicht dieser Mechanismus das Recht auf Vergessen und folgt dem Grundsatz, dass eine Disziplinarstrafe nicht auf unbestimmte Zeit den Lebenslauf einer Person belasten oder ihr den Fortgang der Karriere verwehren darf(18). Es handelt sich hierbei offenkundig um einen Mechanismus, der ersonnen wurde, um sicherzustellen, dass Ehrbarkeit und beruflicher Leumund des Beamten nach Ablauf einer angemessenen Frist wiederhergestellt werden, nämlich nach drei Jahren bei einer schriftlichen Verwarnung oder einem Verweis bzw. nach sechs Jahren bei anderen Strafen.

    72.      Aus diesen Überlegungen lässt sich jedoch nicht ableiten, dass nur die Einleitung eines ungerechtfertigten Disziplinarverfahrens negative Auswirkungen für den Beamten haben kann. Wie der Rechtsmittelführer zu Recht anführt, ist zu berücksichtigen, dass in einer Situation wie der vorliegenden, in der eine Verwaltungsuntersuchung stattgefunden hat, die Verwaltung noch über den Untersuchungsbericht verfügt. Der Bericht selbst ist keine Entscheidung, die zurückgenommen werden kann, sondern eine Tatsache, die berücksichtigt werden muss. Da weder das Aufhebungsurteil noch die Entscheidung, von dem Verfahren gegen den Beamten „Abstand zu nehmen“, dazu führen, dass dieser Bericht verschwindet, hätte die Verwaltung theoretisch die Möglichkeit, das Disziplinarverfahren zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen. Es ist hervorzuheben, dass auch Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts es nicht erlaubt, den Untersuchungsbericht zurückzuziehen oder zu verwerfen.

    73.      Unter diesem Blickwinkel betrachtet, besteht meines Erachtens der angemessene Weg, um unter diesen Umständen die Ehrbarkeit und den beruflichen Leumund des betroffenen Beamten wiederherzustellen, darin, eine Anhörung durchzuführen und eine Entscheidung gemäß Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts zu treffen, wobei die gemäß Art. 29 dieses Anhangs geforderte Bekanntgabe gewährleistet sein muss. Ebenso sollte sichergestellt werden, dass der Beamte gemäß Art. 22 Abs. 2 des genannten Anhangs beantragen kann, dass diese Entscheidung in seine Personalakte aufgenommen wird. Eine solche Vorgehensweise lässt keinen Zweifel an den Absichten der Verwaltung aufkommen und würde dem Bedürfnis des Beamten nach Rechtssicherheit am ehesten gerecht werden.

    74.      Eine solche Vorgehensweise ist meines Erachtens besonders dann erforderlich, wenn die Disziplinarstrafe wie im vorliegenden Fall vom Gericht für den öffentlichen Dienst aufgrund eines Verfahrensfehlers aufgehoben wurde. Entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs kommt, wenn die Entscheidung aus formalen Gründen ohne materielle Beurteilung des zur Last gelegten Sachverhalts aufgehoben wurde, die Aufhebung keinem „Freispruch“ im strafrechtlichen Sinne gleich(19). Meines Erachtens bedeutet dies, dass die FRA nach dem Aufhebungsurteil verpflichtet war, eine Entscheidung zu erlassen, die die Rechtslage des Rechtsmittelführers klarstellt, da das gegen ihn eingeleitete Disziplinarverfahren genau an dem Punkt wieder aufzunehmen ist, an dem die Rechtswidrigkeit eingetreten ist. Wie die FRA jedoch selbst einräumt, hat sie vorliegend nicht festgestellt, dass keine belastende Tatsache vorliege, wie es Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts verlangt, sondern sie hat vom Disziplinarverfahren einfach „Abstand genommen“, ohne eine solche Entscheidung zu treffen.

    75.      Wie der Rechtsmittelführer bin auch ich der Ansicht, dass die Vorgehensweise der FRA, nach Erstellung des Untersuchungsberichts ohne Begründung, Anhörung oder Bekanntgabe auf das Disziplinarverfahren zu „verzichten“, die in den genannten Bestimmungen vorgesehenen Verfahrensgarantien umgeht. Daher ist davon auszugehen, dass das Gericht insofern einen Rechtsfehler begangen hat, als es zu Unrecht entschieden hat, dass die durch die Bestimmungen des Anhangs IX des Statuts garantierten Verteidigungsrechte durch die Vorgehensweise der FRA nicht beeinträchtigt worden seien. Dieser Rechtsfehler ist auf eine restriktive Auslegung von Art. 41 der Charta zurückzuführen, die zudem die Besonderheiten der Disziplinarordnung nicht berücksichtigt.

    76.      Die Entscheidung der FRA, vom Verfahren gegen den Rechtsmittelführer „Abstand zu nehmen“, ohne ihn anzuhören, stellt einen Verfahrensfehler dar. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs führt eine Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Rechts auf Anhörung, nur dann zur Aufhebung der Entscheidung, die am Ende des fraglichen Verwaltungsverfahrens erlassen wird, wenn das Verfahren ohne diese Regelwidrigkeit zu einem anderen Ergebnis hätte führen können(20). Der Gerichtshof hat jedoch darauf hingewiesen, dass von einem Rechtsmittelführer, der eine Verletzung seiner Verteidigungsrechte rügt, nicht der Nachweis verlangt werden darf, dass die angefochtene Entscheidung des betreffenden Unionsorgans inhaltlich anders ausgefallen wäre, sondern lediglich, dass dies nicht völlig ausgeschlossen ist(21). Diese Frage ist zudem anhand der speziellen tatsächlichen und rechtlichen Umstände des konkreten Falls zu beurteilen(22). Meines Erachtens sollte das Gericht diese Rechtsprechung berücksichtigen, wenn der Fall zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurückverwiesen werden sollte.

    d)      Zur Widersprüchlichkeit der Argumentation im angefochtenen Urteil

    77.      Wie aus den Rn. 48 und 49 des angefochtenen Urteils hervorgeht, stützt sich die Begründung des Gerichts dafür, dass die Verteidigungsrechte des Rechtsmittelführers nicht verletzt worden seien, im Wesentlichen auf das Argument, dass Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts nicht anwendbar gewesen sei, da die FRA sich für „eine andere Lösung“, nämlich die „Abstandnahme“ vom Verfahren gegen den Rechtsmittelführer, entschieden habe. In den vorliegenden Schlussanträgen habe ich im Einzelnen dargelegt, dass die diesbezügliche Argumentation des Gerichts mit mehreren Rechtsfehlern behaftet ist.

    78.      Diese Argumentation ist jedoch zudem widersprüchlich, da das Gericht in Rn. 76 des angefochtenen Urteils genau das Gegenteil ausführt. Konkret meint das Gericht, dass im vorliegenden Fall „die FRA beschlossen [hat], vom Verfahren gegen den Rechtsmittelführer in Anwendung von Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts Abstand zu nehmen“ (Hervorhebung nur hier). Diese Aussage halte ich in diesem Zusammenhang für besonders problematisch, da der Passus einen Verweis auf Rn. 48 des angefochtenen Urteils enthält, in dem das Gericht mit einem vermeintlich alternativen Ansatz der FRA argumentiert, der eben darin bestehe, die Bestimmungen des Anhangs IX des Statuts nicht anzuwenden. Die oben genannten Randnummern sind kristallklar formuliert, so dass redaktionelle Fehler ausgeschlossen werden können und davon auszugehen ist, dass sie tatsächlich die Überlegungen des Gerichts widerspiegeln.

    79.      Es ist offensichtlich, dass diese beiden Aussagen in der Begründung des angefochtenen Urteils nicht nebeneinander bestehen können, ohne die der Argumentation des Gerichts zugrunde liegende Logik ernsthaft in Frage zu stellen. An diesem Ergebnis ändert sich auch dadurch nichts, dass das Gericht in Rn. 76 des angefochtenen Urteils letztlich einen rechtlich korrekten Standpunkt einnimmt. Denn wie ich in meiner Analyse dargelegt habe, ist die „Abstandnahme“ vom Verfahren gegen den betreffenden Beamten letztlich nur eine andere Art, zu erklären, dass die Verwaltungsuntersuchung mit der Begründung, dass keine belastende Tatsache vorliege, und somit in Anwendung von Art. 3 Buchst. a des Anhangs IX des Statuts eingestellt wurde(23). Das Gericht scheint sich bewusst geworden zu sein, dass die Verwaltung nicht von den Bestimmungen dieses Anhangs abweichen kann. Diese Schlussfolgerung ist allerdings mit seinen ursprünglichen Erwägungen nicht vereinbar.

    80.      Es stellt sich mithin die Frage, wie ein solcher wesentlicher Widerspruch im Verfahrensrecht zu behandeln ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die Frage, ob die Begründung eines Urteils des Gerichts widersprüchlich ist, eine Rechtsfrage darstellt, die im Rahmen eines Rechtsmittels aufgeworfen werden kann(24). Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat. Meines Erachtens ist dieser Fehler nicht nur wegen seiner Offensichtlichkeit besonders schwerwiegend, sondern auch, weil er die gesamte Argumentation des Gerichts, unabhängig von den anderen in meiner Analyse aufgezeigten Rechtsfehlern, in Frage stellt. Daher reichte es meiner Ansicht nach grundsätzlich aus, den vierten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes für begründet zu erklären, um den gesamten Rechtsmittelgrund als begründet zu betrachten.

    3.      Zwischenergebnis

    81.      Die vom Gericht begangenen und in den vorliegenden Schlussanträgen festgestellten Rechtsfehler lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens hat das Gericht das Ausmaß des Ermessens, das der FRA bei der Umsetzung des Aufhebungsurteils zustand, verkannt, indem es sich auf eine unzutreffende Auslegung von Art. 266 AEUV und der einschlägigen Rechtsprechung gestützt hat. Zweitens hat das Gericht verkannt, dass Art. 3 des Anhangs IX des Statuts auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar und die FRA verpflichtet war, eine Entscheidung nach dieser Vorschrift zu erlassen. Drittens hat das Gericht verkannt, dass die Nichtanwendung von Art. 3 des Anhangs IX des Statuts zu einer Verletzung der in diesem Anhang vorgesehenen Verfahrensgarantien führt. Der Rechtsfehler ist auf eine restriktive Auslegung von Art. 41 der Charta zurückzuführen, die zudem die Besonderheiten der Disziplinarordnung nicht berücksichtigt. Viertens hat das Gericht zur Frage der Anwendbarkeit der oben genannten Bestimmung eine widersprüchliche Begründung angeführt.

    VI.    Ergebnis

    82.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, den zweiten Rechtsmittelgrund für begründet zu erklären.


    1      Originalsprache: Französisch.


    2      Der Begriff „Beamter“ umfasst nicht nur Beamte und ehemalige Beamte im engeren Sinne, sondern auch Bedienstete auf Zeit und Vertragsbedienstete, da die Art. 50a und 119 der BSB auf die Disziplinarordnung in Art. 86 und im Anhang IX des Statuts verweisen.


    3      Vgl. Cremer, W., in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV Kommentar, 6. Aufl., München, 2022, Art. 266 AEUV, Rn. 1.


    4      Urteil vom 20. November 2018, Kommission/Rat (Meeresschutzgebiet Antarktis) (C‑626/15 und C‑659/16, EU:C:2018:925, Rn. 61).


    5      Urteile vom 26. April 1988, Asteris u. a./Kommission (97/86, 99/86, 193/86 und 215/86, EU:C:1988:199, Rn. 27 bis 30), und vom 3. Oktober 2000, Industrie des poudres sphériques/Rat (C‑458/98 P, EU:C:2000:531, Rn. 81).


    6      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2003, Interporc/Kommission (C‑41/00 P, EU:C:2003:125, Rn. 29 und 30).


    7      Urteil vom 13. November 1990, Fédesa u. a. (C‑331/88, EU:C:1990:391, Rn. 34).


    8      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón in der Rechtssache Polen/Kommission (C‑336/09 P, EU:C:2011:860, Nr. 20).


    9      Urteil vom 14. Oktober 2021, Bernaldo de Quirós/Kommission (C‑583/19 P, EU:C:2021:844, Rn. 56).


    10      Tomac, J., „Régime disciplinaire“, in Giacobbo, V., Perillo, E., und Picod, F., Statut de la fonction publique de l’Union européenne: commentaire article par article, Bruylant, Namur, 2017, S. 316.


    11      Vgl. für eine ausführlichere Darstellung des Rechts auf eine gute Verwaltung nach Art. 41 der Charta meine Schlussanträge in der Rechtssache Parlament/UZ (C‑894/19 P, EU:C:2021:497, Nrn. 66 ff.).


    12      Tomac, J., „Régime disciplinaire“, in Giacobbo, V., Perillo, E., und Picod, F., Statut de la fonction publique de l’Union européenne: commentaire article par article, Bruylant, Namur, 2017, S. 331.


    13      Urteil vom 14. Oktober 2021, Bernaldo de Quirós/Kommission (C‑583/19 P, EU:C:2021:844, Rn. 60).


    14      Urteil vom 12. Juli 2012, Kommission/Nanopoulos (T‑308/10 P, EU:T:2012:370, Rn. 167 und 168).


    15      Urteil vom 11. April 2016, FU/Kommission (F‑49/15, EU:F:2016:72, Rn. 136).


    16      Urteil vom 13. Oktober 2021, IB/EUIPO (T‑22/20, EU:T:2021:689, Rn. 85).


    17      Urteile vom 27. November 2001, Z/Parlament (C‑270/99 P, EU:C:2001:639, Rn. 21), und vom 5. Dezember 2002, Stevens/Kommission (T‑277/01, EU:T:2002:302, Rn. 41).


    18      Pilorge-Vrancken, J., Le droit de la fonction publique de l’Union européenne, Bruylant, Namur, 2017, S. 243 und 244.


    19      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission (C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 62), und Beschluss vom 22. Januar 2019, Kerstens/Kommission (C‑577/18 P, EU:C:2019:129, Rn. 39).


    20      Urteile vom 3. Juli 2014, Kamino International Logistics und Datema Hellmann Worldwide Logistics (C‑129/13 und C‑130/13, EU:C:2014:2041, Rn. 79), sowie vom 14. Juni 2018, Makhlouf/Rat (C‑458/17 P, EU:C:2018:441, Rn. 42).


    21      Vgl. Urteile vom 1. Oktober 2009, Foshan Shunde Yongjian Housewares & Hardware/Rat (C‑141/08 P, EU:C:2009:598, Rn. 94), und vom 18. Juni 2020, Kommission/RQ (C‑831/18 P, EU:C:2020:481, Rn. 106).


    22      Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/RQ (C‑831/18 P, EU:C:2020:481, Rn. 107).


    23      Siehe Nr. 63 der vorliegenden Schlussanträge.


    24      Urteile vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission (C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 71), und vom 29. Juli 2010, Griechenland/Kommission (C‑54/09 P, EU:C:2010:451, Rn. 87).

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