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Document 62016CJ0116

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 26. Februar 2019.
    Skatteministeriet gegen T Danmark und Y Denmark Aps.
    Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435/EWG – Befreiung der von Gesellschaften eines Mitgliedstaats an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten ausgeschütteten Gewinne von der Steuer – Nutzungsberechtigter der ausgeschütteten Gewinne – Rechtsmissbrauch – In einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die an ein verbundenes Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, Dividenden zahlt, die dann in vollem oder nahezu vollem Umfang in ein Gebiet außerhalb der Europäischen Union fließen – Zum Quellensteuerabzug verpflichtete Tochtergesellschaft.
    Verbundene Rechtssachen C-116/16 und C-117/16.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:135

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    26. Februar 2019 ( *1 )

    Inhaltsverzeichnis

     

    Rechtlicher Rahmen

     

    OECD-Musterabkommen

     

    Richtlinie 90/435

     

    Doppelbesteuerungsabkommen

     

    Dänisches Recht

     

    Besteuerung von Dividenden

     

    Quellensteuerabzug

     

    Regelung von Betrug und Missbrauch

     

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

     

    1) Rechtssache C‑116/16 (T Danmark)

     

    2) Rechtssache C‑117/16 (Y Denmark)

     

    Verfahren vor dem Gerichtshof

     

    Zu den Vorlagefragen

     

    Zu den Fragen 1, 2 und 3 und den Fragen 4 a, b und c

     

    Zu den Fragen 4 d und e, Frage 5 und Frage 8

     

    Tatbestandsmerkmale und Nachweis eines Rechtsmissbrauchs

     

    Zur Beweislast

     

    Zu denFragen 6, 7, 9 und 10

     

    Kosten

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 90/435/EWG – Befreiung der von Gesellschaften eines Mitgliedstaats an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten ausgeschütteten Gewinne von der Steuer – Nutzungsberechtigter der ausgeschütteten Gewinne – Rechtsmissbrauch – In einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die an ein verbundenes Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, Dividenden zahlt, die dann in vollem oder nahezu vollem Umfang in ein Gebiet außerhalb der Europäischen Union fließen – Zum Quellensteuerabzug verpflichtete Tochtergesellschaft“

    In den verbundenen Rechtssachen C‑116/16 und C‑117/16

    betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Østre Landsret (Oberlandesgericht Ost, Dänemark) mit Entscheidungen vom 19. Februar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 2016, in den Verfahren

    Skatteministeriet

    gegen

    T Danmark (C‑116/16),

    Y Denmark Aps (C‑117/16)

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader und des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter), M. Ilešič, L. Bay Larsen, M. Safjan, C. G. Fernlund, C. Vajda und S. Rodin,

    Generalanwältin: J. Kokott,

    Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Oktober 2017,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von T Danmark, vertreten durch A. M. Ottosen und S. Andersen, advokater,

    der Y Denmark Aps, vertreten durch L. E. Christensen und H. S. Hansen, advokater,

    der dänischen Regierung, vertreten durch C. Thorning, J. Nymann-Lindegren und M. S. Wolff als Bevollmächtigte im Beistand von J. S. Horsbøl Jensen, advokat,

    der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

    der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Socio, avvocato dello Stato,

    der luxemburgischen Regierung, vertreten durch D. Holderer als Bevollmächtigte im Beistand von P.‑E. Partsch und T. Lesage, avocats,

    der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

    der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, U. Persson, N. Otte Widgren und F. Bergius als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels, R. Lyal und L. Grønfeldt als Bevollmächtigte im Beistand von H. Peytz, avocat,

    nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 1. März 2018

    folgendes

    Urteil

    1

    Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6) in der durch die Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 (ABl. 2003, L 7, S. 41) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 90/435) sowie der Art. 49, 54 und 63 AEUV.

    2

    Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Skatteministeriet (Steuerministerium, Dänemark) einerseits und T Danmark und Y Denmark Aps andererseits wegen der Verpflichtung dieser Gesellschaften auf Dividenden, die sie an gebietsfremde Gesellschaften gezahlt haben, die nach Auffassung der Steuerverwaltung nicht Nutzungsberechtigte der Dividenden sind und daher nicht in den Genuss der Befreiung von der Quellensteuer gemäß der Richtlinie 90/435 kommen können, Quellensteuer abzuführen.

    Rechtlicher Rahmen

    OECD-Musterabkommen

    3

    Der Rat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Co-operation and Development, OECD) nahm am 30. Juli 1963 eine „Recommendation concerning the Avoidance of Double Taxation“ (Empfehlung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung) an. Er empfahl den Regierungen der Mitgliedstaaten, sich bei dem Abschluss oder der Überarbeitung bilateraler Übereinkünfte an einer vom Steuerausschuss der OECD erarbeiteten „Draft Convention for the Avoidance of Double Taxation with respect to Taxes on Income and Capital“ („Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen“) im Anhang der Empfehlung (im Folgenden: OECD-Musterabkommen) zu orientieren. Das OECD-Musterabkommen wird regelmäßig überprüft und überarbeitet. Es gibt zu ihm einen vom Rat der OECD genehmigten Kommentar.

    4

    Im Kommentar wird in den Abschnitten 7 bis 10 der Erläuterungen zu Art. 1 des OECD-Musterabkommens in der Fassung nach der Änderung im Jahr 1977 (im Folgenden: OECD-Musterabkommen von 1977), nach dem das Abkommen für Personen gilt, die in einem Vertragsstaat oder in beiden Vertragsstaaten ansässig sind, darauf hingewiesen, dass das Musterabkommen durch künstliche Steuergestaltungen zum Zweck der Steuerumgehung missbraucht werden könne. Ferner wird dort hervorgehoben, dass dem insbesondere in Art. 10 (Besteuerung der Dividenden) und Art. 11 (Besteuerung der Zinsen) des Musterabkommens eingeführten Begriff „beneficial owner“ (Nutzungsberechtigter) besondere Bedeutung zukomme und dass Steuerhinterziehung bekämpft werden müsse.

    5

    In Art. 10 des OECD-Musterabkommens von 1977 ist in den Abs. 1 und 2 bestimmt:

    „(1)   Dividenden, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Gesellschaft an eine im anderen Vertragsstaat ansässige Person zahlt, können im anderen Staat besteuert werden.

    (2)   Diese Dividenden können jedoch auch in dem Vertragsstaat, in dem die die Dividenden zahlende Gesellschaft ansässig ist, nach dem Recht dieses Staates besteuert werden; die Steuer darf aber, wenn der Nutzungsberechtigte der Dividenden eine in dem anderen Vertragsstaat ansässige Person ist, nicht übersteigen:

    a)

    5 vom Hundert des Bruttobetrages der Dividenden, wenn der Nutzungsberechtigte eine Gesellschaft (jedoch keine Personengesellschaft) ist, die unmittelbar über mindestens 25 vom Hundert des Kapitals der die Dividenden zahlenden Gesellschaft verfügt;

    b)

    15 vom Hundert des Bruttobetrags der Dividenden in allen anderen Fällen.“

    6

    Der Kommentar zum OECD-Musterabkommen wurde im Zuge einer Überarbeitung im Jahr 2003 durch Anmerkungen zu den „Durchleitungsgesellschaften“ ergänzt. Dabei handelt es sich um Gesellschaften, denen Einkünfte zwar formal zustehen, deren Befugnisse in Wirklichkeit aber sehr beschränkt sind. Sie agieren als bloße Treuhänder oder bloße Verwalter für Rechnung der betreffenden Personen, so dass sie nicht als Nutzungsberechtigte der Einkünfte angesehen werden können. In Abschnitt 12 der Erläuterungen zu Art. 10 in der Fassung nach der Überarbeitung im Jahr 2003 heißt es: „The term ‚beneficial owner‘ is not used in a narrow technical sense, rather, it should be understood in its context and in light of the object and purposes of the Convention, including avoiding double taxation and the prevention of fiscal evasion and avoidance.“ (Der Ausdruck „Nutzungsberechtigter“ wird nicht im engen technischen Sinne verwendet. Vielmehr ist er in seinem Kontext und im Hinblick auf den Zweck und die Ziele des Abkommens zu verstehen, u. a. die Ziele der Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Verhinderung von Steuerumgehung und ‑vermeidung). In Abschnitt 12.1 der Erläuterungen zu Art. 10 in der Fassung nach der Überarbeitung im Jahr 2003 heißt es weiter: „It would be … inconsistent with the object and purpose of the Convention for the State of source to grant relief or exemption where a resident of a Contracting State, otherwise than through an agency or nominee relationship, simply acts as a conduit for another person who in fact receives the benefit of the income concerned. … a conduit company cannot normally be regarded as the beneficial owner if, though the formal owner, it has, as a practical matter, very narrow powers which render it, in relation to the income concerned, a mere fiduciary or administrator acting on account of the interested parties.“ (Es wäre … nicht mit dem Zweck und den Zielen des Abkommens zu vereinbaren, wenn der Quellenstaat in Fällen, in denen ein in einem Vertragsstaat Ansässiger lediglich als Durchleitungsstelle für eine andere Person, die tatsächlich Nutznießer der betreffenden Einkünfte ist, fungiert, ohne im Namen dieser Person zu handeln, eine Ermäßigung oder Erstattung gewähren würde. … Eine Durchleitungsgesellschaft kann in der Regel nicht als Nutzungsberechtigte angesehen werden, wenn sie, obwohl sie formal Eigentümerin ist, in Wirklichkeit nur sehr geringe Befugnisse hat, so dass sie, was die betreffenden Einkünfte angeht, eher ein Treuhänder oder Verwalter ist, der für Rechnung der betreffenden Parteien handelt).

    7

    Bei einer erneuten Überarbeitung des Kommentars zum OECD-Musterabkommen im Jahr 2014 wurden die Ausführungen zu den Begriffen „Nutzungsberechtigter“ und „Durchleitungsgesellschaft“ ergänzt. In Abschnitt 10.3 der Erläuterungen zu Art. 11 in der Fassung von 2014 heißt es: „[T]here are many ways of addressing conduit company and, more generally, treaty shopping situations. These include specific anti-abuse provisions in treaties, general anti-abuse rules and substance-over-form or economic substance approaches“ (Es gibt viele Möglichkeiten, Durchleitungsgesellschaften und ganz allgemein Fälle von Treaty-Shopping in den Griff zu bekommen: spezielle Vorschriften zur Verhinderung von Missbrauch in Abkommen, allgemeine Missbrauchsregeln und die wirtschaftliche Betrachtungsweise).

    Richtlinie 90/435

    8

    In den Erwägungsgründen 1 und 3 der Richtlinie 90/435 heißt es:

    „Zusammenschlüsse von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten können notwendig sein, um binnenmarktähnliche Verhältnisse in der Gemeinschaft zu schaffen und damit die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten. Sie dürfen nicht durch besondere Beschränkungen, Benachteiligungen oder Verfälschungen aufgrund von steuerlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten behindert werden. Demzufolge müssen wettbewerbsneutrale steuerliche Regelungen für diese Zusammenschlüsse geschaffen werden, um die Anpassung von Unternehmen an die Erfordernisse des Gemeinsamen Marktes, eine Erhöhung ihrer Produktivität und eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu ermöglichen.

    Die für die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden Steuerbestimmungen weisen von einem Staat zum anderen erhebliche Unterschiede auf und sind im allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wird auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung ist durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, wodurch Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene erleichtert werden.“

    9

    Art. 1 der Richtlinie 90/435 bestimmt:

    „(1)   Jeder Mitgliedstaat wendet diese Richtlinie an

    auf Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften dieses Staates an Gesellschaften anderer Mitgliedstaaten;

    (2)   Die vorliegende Richtlinie steht der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen nicht entgegen.“

    10

    Art. 2 der Richtlinie 90/435 bestimmt, welche Voraussetzungen hinsichtlich der Rechtsform, des steuerlichen Wohnsitzes und der Steuerpflicht erfüllt sein müssen, um in den Genuss der Richtlinie zu gelangen.

    11

    Art. 3 der Richtlinie 90/435 lautet:

    „(1)   Im Sinne dieser Richtlinie gilt als:

    a)

    ‚Muttergesellschaft‘ wenigstens jede Gesellschaft eines Mitgliedstaats, die die Bedingungen des Artikels 2 erfüllt und die einen Anteil von wenigstens 20 % am Kapital einer Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats hält, die die gleichen Bedingungen erfüllt.

    Unter denselben Bedingungen gilt als Muttergesellschaft ebenfalls eine Gesellschaft eines Mitgliedstaats, die einen Anteil von wenigstens 20 % am Kapital einer Gesellschaft desselben Mitgliedstaats hält, der ganz oder teilweise von einer in einem anderen Mitgliedstaat gelegenen Betriebstätte der erstgenannten Gesellschaft gehalten wird.

    Ab 1. Januar 2007 beträgt der Mindestanteil 15 %.

    Ab 1. Januar 2009 beträgt der Mindestanteil 10 %.

    b)

    ‚Tochtergesellschaft‘ die Gesellschaft, an deren Kapital eine andere Gesellschaft den unter Buchstabe a) genannten Anteil hält.

    (2)   Abweichend von Absatz 1 haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit,

    durch bilaterale Vereinbarung als Kriterium die Stimmrechte statt des Kapitalanteils vorzusehen;

    von dieser Richtlinie ihre Gesellschaften auszunehmen, die nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren im Besitz einer Beteiligung bleiben, aufgrund deren sie als Muttergesellschaften gelten, oder an denen eine Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren eine solche Beteiligung hält.“

    12

    Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 lässt den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen zwei Systemen, nämlich dem System der Nichtbesteuerung und dem System der Anrechnung.

    13

    Art. 5 der Richtlinie 90/435 lautet:

    „Die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne sind vom Steuerabzug an der Quelle befreit.“

    Doppelbesteuerungsabkommen

    14

    Mit Art. 10 Abs. 1 und 2 des am 17. November 1980 in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Regierung des Großherzogtums Luxemburg und der Regierung des Königreichs Dänemark zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und über gegenseitige Amtshilfe auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (im Folgenden: DBA Luxemburg/Dänemark) wird zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten die Befugnis zur Besteuerung von Dividenden aufgeteilt. Die Bestimmung lautet:

    „1.   Dividenden, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Gesellschaft an eine im anderen Vertragsstaat ansässige Person zahlt, können im anderen Staat besteuert werden.

    2.   Diese Dividenden können jedoch auch in dem Vertragsstaat, in dem die die Dividenden zahlende Gesellschaft ansässig ist, nach dem Recht dieses Staates besteuert werden; die Steuer darf aber, wenn der Empfänger Nutzungsberechtigter der Dividenden ist, nicht übersteigen:

    a)

    5 vom Hundert des Bruttobetrags der Dividenden, wenn der Nutzungsberechtigte eine Gesellschaft (jedoch keine Personengesellschaft) ist, die unmittelbar mindestens 25 vom Hundert des Kapitals der die Dividenden zahlenden Gesellschaft hält;

    b)

    15 vom Hundert des Bruttobetrags der Dividenden in allen anderen Fällen.“

    15

    Mit Art. 10 Abs. 1 und 2 des am 26. Mai 1981 unterzeichneten Abkommens zwischen der Regierung des Königreichs Dänemark und der Regierung der Republik Zypern zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Kapital wurde die Befugnis zur Besteuerung von Dividenden aufgeteilt. Die Bestimmung lautete:

    „1.   Dividenden, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Gesellschaft an eine im anderen Vertragsstaat ansässige Person zahlt, können im anderen Staat besteuert werden.

    2.   Diese Dividenden können jedoch auch in dem Vertragsstaat, in dem die die Dividenden zahlende Gesellschaft ansässig ist, nach dem Recht dieses Staates besteuert werden; die Steuer darf aber, wenn der Empfänger Nutzungsberechtigter der Dividenden ist, nicht übersteigen:

    a)

    10 vom Hundert des Bruttobetrags der Dividenden, wenn der Nutzungsberechtigte eine Gesellschaft (jedoch keine Personengesellschaft) ist, die unmittelbar mindestens 25 vom Hundert des Kapitals der die Dividenden zahlenden Gesellschaft hält;

    d)

    15 vom Hundert des Bruttobetrags der Dividenden in allen anderen Fällen.“

    16

    Nach Art. 10 Abs. 2 des am 19. August 1999 in Washington unterzeichneten Abkommens zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika und der Regierung des Königreichs Dänemark zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerumgehung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen kann der Vertragsstaat, in dem die Gesellschaft, die die Dividenden ausschüttet, ansässig ist, Dividenden, die an eine in dem anderen Staat ansässige Gesellschaft gezahlt werden, die „Nutzungsberechtigte“ der Dividenden ist, in Höhe von 5 % des Bruttobetrags der Dividenden besteuern.

    17

    Zwischen dem Königreich Dänemark und den Bermudas besteht kein Steuerabkommen.

    18

    Nach den genannten bilateralen Übereinkünften kann der Quellenstaat – in den Ausgangsverfahren das Königreich Dänemark – Dividenden, die an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft gezahlt werden, wenn diese nicht die Nutzungsberechtigte der Dividenden ist, zu einem höheren Satz besteuern, als es in den Übereinkünften vorgesehen ist. Der Begriff des Nutzungsberechtigten ist in den Übereinkünften allerdings nicht definiert.

    Dänisches Recht

    Besteuerung von Dividenden

    19

    § 2 Abs. 1 Buchst. c des Selskabsskattelov (Körperschaftsteuergesetz) bestimmt:

    „Körperschaften, die im Ausland ansässig sind, insbesondere die in § 1 Abs. 1 genannten, sind nach diesem Gesetz steuerpflichtig, wenn

    c)

    sie Dividenden erhalten, die unter § 16 A Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die Feststellung der Einkommensteuer fallen … Dividenden auf Aktien von Tochtergesellschaften (siehe § 4 A des Gesetzes über die Kapitalertragsteuer) unterliegen nicht der Steuer, wenn für die von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden gemäß der Richtlinie [90/435] oder gemäß einem mit den Färöer, Grönland oder dem Mitgliedstaat, in dem die Muttergesellschaft ansässig ist, geschlossenen Steuerabkommen eine Steuerbefreiung oder ‑ermäßigung gilt. Nicht der Steuer unterliegen ferner Dividenden auf Aktien von verwandten Gesellschaften (siehe Art. 4 B des Gesetzes über die Kapitalertragsteuer), die nicht Aktien von Tochtergesellschaften sind, sofern die zu einem Konzern gehörende Gesellschaft, an die die Dividenden gezahlt werden, in einem Mitgliedstaat [der Union/des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR)] ansässig ist und für die Dividenden, wenn es sich um Aktien einer Tochtergesellschaft gehandelt hätte, eine Steuerbefreiung oder ‑ermäßigung gemäß der Richtlinie [90/435] oder gemäß dem mit dem betreffenden Staat geschlossenen Steuerabkommen gegolten hätte. Ebenso unterliegen nicht der Steuer Dividenden, die an Einheiten gezahlt werden, die an Muttergesellschaften beteiligt sind, die in der Liste der Gesellschaften im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie [90/435] aufgeführt sind, aber für die Zwecke der Besteuerung in Dänemark als transparente Einheiten angesehen werden. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt voraus, dass die Einheit, die an der Gesellschaft beteiligt ist, nicht in Dänemark ansässig ist.“

    Quellensteuerabzug

    20

    Bei Dividenden aus Dänemark, die gemäß § 2 Abs. 1 Buchst. c des Körperschaftsteuergesetzes beschränkt steuerpflichtig sind, ist die ausschüttende dänische Gesellschaft nach § 65 des Kildeskattelov (Quellensteuergesetz) verpflichtet, Quellensteuer in Höhe von 28 % einzubehalten.

    21

    § 65 Abs. 1 und 5 des Quellensteuergesetzes lautete in der hier maßgeblichen Fassung:

    „(1)   Bei Dividenden auf Aktien oder Anteile an Gesellschaften, Vereinen usw. im Sinne von § 1 Abs. 1 Nrn. 1, 2, 2e und 4 des Körperschaftsteuergesetzes haben die betreffenden Gesellschaften, Vereine usw. bei einem Beschluss über die Ausschüttung einer Dividende oder deren Auszahlung oder Gutschrift vom ausgeschütteten Gesamtbetrag 28 vom Hundert einzubehalten, es sei denn, etwas anderes ergibt sich aus Abs. 4 oder den Abs. 5 bis 8. … Der einbehaltene Betrag ist die ‚Dividendensteuer‘.

    (5)   Von Dividenden, die eine in Dänemark ansässige Gesellschaft an eine im Ausland ansässige Gesellschaft ausschüttet, wird keine Dividendensteuer einbehalten, wenn sie nicht der Steuer unterliegen (siehe § 2 Abs. 1 Buchst. c des Körperschaftsteuergesetzes).“

    22

    Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Körperschaftsteuergesetzes wird der steuerlichen Verpflichtung aus § 2 Abs. 1 Buchst. c dieses Gesetzes durch den Quellensteuerabzug gemäß § 65 des Quellensteuergesetzes endgültig nachgekommen. Der Satz der Gewinnsteuer betrug im relevanten Zeitraum 28 %.

    23

    Dividenden, die dänische Muttergesellschaften von dänischen Tochtergesellschaften erhalten, sind nach § 13 Abs. 1 Nr. 2 des Körperschaftsteuergesetzes von der Dividendensteuer befreit. Nach § 31 Abs. 1 Nr. 2 der Kildeskattebekendtgørelsen (Verordnung über den Quellensteuerabzug) muss bei der Ausschüttung solcher Dividenden von der ausschüttenden dänischen Gesellschaft keine Quellensteuer einbehalten werden.

    24

    Sofern eine dänische Gesellschaft hinsichtlich der von einer anderen dänischen Gesellschaft ausgeschütteten Dividenden der Steuer unterliegt, hat sie gemäß § 65 Abs. 1 des Quellensteuergesetzes aber Quellensteuer einzubehalten.

    25

    Das dänische Steuerministerium hat vor dem nationalen Gericht insbesondere im Ausgangsverfahren in der Rechtssache C‑116/16 eingeräumt, dass es gegen die Vorschriften des AEU-Vertrags verstoßen habe, dass das Königreich Dänemark 2011 auf Dividenden, die an eine Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats gezahlt worden seien, Steuern zu einem höheren Satz erhoben habe, als er seinerzeit bei der Körperschaftsteuer gegolten habe. Es hat den geforderten Betrag daher auf 25 % herabgesetzt, was dem seinerzeit geltenden Körperschaftsteuersatz entspricht.

    26

    Die Fälligkeit der Quellensteuer ist in § 66 Abs. 1 Satz 2 des Quellensteuergesetzes geregelt. Die Bestimmung lautet:

    „Die Quellensteuer ist fällig, sobald eine Dividende oder deren Auszahlung oder Gutschrift beschlossen wird. Sie ist spätestens im Folgemonat zu zahlen, wenn die betreffende Gesellschaft die einbehaltenen Quellensteuern [sogenannte ‚A skat‘] und den einbehaltenen Sonderbeitrag der Arbeitnehmer abzuführen hat.“

    27

    Die Einheit, die die Dividenden ausschüttet, haftet gegenüber dem Staat für die einbehaltenen Beträge.

    28

    Bei Verzug mit der Zahlung der Quellensteuer sind viel höhere Verzugszinsen zu zahlen als beim Verzug einer dänischen Gesellschaft mit der Zahlung der Körperschaftsteuer. Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass nach einer Gesetzesänderung, die am 1. August 2013 wirksam geworden ist, für die Quellensteuern und für die Körperschaftsteuer nunmehr derselbe Verzugszinssatz gilt.

    29

    Schuldner der Verzugszinsen ist, wer die Quellensteuer einzubehalten hat. Für eine Gesellschaft, die in Dänemark unbeschränkt steuerpflichtig ist, gehören der Steuer unterliegende Dividenden zu ihrem zu versteuernden Einkommen. Die Quellensteuer ist von der Gesellschaft, die die Dividenden ausschüttet, einzubehalten und abzuführen. Dasselbe gilt bei Verzug für die Verzugszinsen.

    30

    Nach § 65 Buchst. C Abs. 1 des Quellensteuergesetzes ist derjenige, der Lizenzgebühren zahlt, die ihren Ursprung in Dänemark haben, grundsätzlich zum Quellensteuerabzug verpflichtet, unabhängig davon, ob der Empfänger der Lizenzgebühren in Dänemark ansässig ist oder nicht.

    Regelung von Betrug und Missbrauch

    31

    Bis zum Erlass des Gesetzes Nr. 540 vom 29. April 2015 gab es in Dänemark keine allgemeine Rechtsvorschrift zur Bekämpfung von Missbrauch. Jedoch wurde in der Rechtsprechung die sogenannte Realitätsdoktrin entwickelt, nach der die Besteuerung auf der Grundlage einer konkreten Würdigung der Verhältnisse zu ermitteln ist. Das bedeutet u. a., dass künstliche Steuergestaltungen unter bestimmten Umständen außer Acht gelassen werden können, damit die Besteuerung der Realität Rechnung trägt (wirtschaftliche Betrachtungsweise, „substance-over-form“).

    32

    Nach den Vorlageentscheidungen ist in allen Ausgangsverfahren zwischen den Parteien unstreitig, dass die Realitätsdoktrin keine Grundlage dafür bietet, die betreffenden Steuergestaltungen außer Acht zu lassen.

    33

    Aus den Vorlageentscheidungen geht hervor, dass in der Rechtsprechung ferner der Grundsatz des sogenannten „eigentlichen Beziehers der Einkünfte“ („rette indkomstmodtager“) entwickelt wurde. Dieser Grundsatz basiert auf der allgemeinen Bestimmung über die Besteuerung der Einkünfte in § 4 des Statsskattelov (Abgabenordnung). Danach sind die Steuerbehörden nicht verpflichtet, eine künstliche Trennung zwischen dem Betrieb oder der Tätigkeit, die die Einkünfte generiert, und der Zuweisung der Einkünfte zu akzeptieren. Mit diesem Grundsatz soll ohne Rücksicht auf die formale Gestaltung bestimmt werden, bei wem bestimmte Einkünfte tatsächlich anfallen und wen somit die Steuerpflicht trifft.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    34

    In den beiden Ausgangsverfahren hat das dänische Steuerministerium die Entscheidung angefochten, mit denen der Landsskatteret (Oberste Steuerbeschwerdeausschuss, Dänemark) festgestellt hat, dass T Danmark (Rechtssache C‑116/16) und Y Denmark (Rechtssache C‑117/16) gemäß der Richtlinie 90/435 von der Quellensteuer auf die Dividenden, die sie an in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Einheiten gezahlt hätten, befreit seien.

    35

    Um in den Genuss der durch die Richtlinie 90/435 vorgesehenen Vorteile zu gelangen, muss die Einheit, die die Dividenden erhält, die in der Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllen. Wie die dänische Regierung in ihren Erklärungen ausgeführt hat, kommt es aber vor, dass Konzerne, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, zwischen die Gesellschaft, die die Dividenden zahlt, und die Gesellschaft, der die Dividenden letztlich zugutekommen sollen, eine oder mehrere künstliche Gesellschaften schalten, die die Voraussetzungen der Richtlinie formal erfüllen. Die Vorlagefragen zum Rechtsmissbrauch und zum Begriff des Nutzungsberechtigten betreffen solche Gestaltungen.

    36

    Die Sachverhalte, die in den Vorlageentscheidungen in allen Einzelheiten beschrieben und mit mehreren Schaubildern zur Struktur der betreffenden Konzerne veranschaulicht werden, sind überaus komplex. Hier werden nur die Gesichtspunkte dargestellt, die für die Antworten auf die Vorlagefragen erforderlich sind.

    1)   Rechtssache C‑116/16 (T Danmark)

    37

    Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts schufen fünf Investmentfonds 2005 im Hinblick auf die Übernahme von T Danmark, einem bedeutenden dänischen Dienstleistungsanbieter, einen aus mehreren Gesellschaften bestehenden Konzern. Von den Investmentfonds ist keiner in einem Mitgliedstaat oder einem Staat, mit dem das Königreich Dänemark ein Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen hat, ansässig.

    38

    Die dänische Regierung hat in ihren Erklärungen darauf hingewiesen, dass die Rechtssache C‑116/16 denselben Konzern betrifft wie die Rechtssache C‑115/16, die die Besteuerung von Zinsen betrifft und in der heute das Urteil N Luxembourg 1 u. a. (C‑115/16, C‑118/16, C‑119/16 und C‑299/16) ergeht.

    39

    Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts gründeten die Investmentfonds Gesellschaften in Luxemburg. Eine dieser Gesellschaften, N Luxembourg 2, erwarb im Laufe des Jahres 2010 in beachtlichem Umfang Anteile an T Danmark. Im relevanten Zeitraum war N Luxembourg 2 zu mehr als 50 % an T Danmark beteiligt. Die übrigen Anteile an T Danmark befanden sich in Streubesitz.

    40

    Die luxemburgische Steuerverwaltung stellte im Frühjahr 2011 auf Ersuchen der dänischen Behörden ein „Certificate of Residence“ aus, mit dem u. a. bescheinigt wurde, dass N Luxembourg 2 körperschaftsteuerpflichtig und Nutzungsberechtigte aller auf Anteile an T Danmark gezahlten Dividenden und anderer aus dieser Beteiligung stammender Einkünfte sei. In ihren Erklärungen hat die dänische Regierung darauf hingewiesen, dass in der Bescheinigung nicht angegeben sei, welche tatsächlichen Informationen zugrunde gelegt worden seien.

    41

    Gemäß ihrer Dividendenpolitik schüttete T Danmark im Sommer 2011 Dividenden von insgesamt 1,8 Mrd. dänischen Kronen (DKK) (etwa 241,4 Mio. Euro) aus. Auch im Frühjahr 2012 wurden Dividenden ausgeschüttet.

    42

    2011 beantragte T Danmark bei der SKAT (Steuerverwaltung, Dänemark) eine verbindliche Auskunft. Sie wollte wissen, ob die von ihr an N Luxembourg 2 ausgeschütteten Dividenden gemäß § 2 Abs. 1 Buchst. c Satz 3 des Körperschaftsteuergesetzes von der Steuer befreit seien und deshalb nicht der Quellensteuer unterlägen.

    43

    In dem Antrag auf Erteilung einer verbindlichen Auskunft war angegeben, dass in Betracht gezogen werde, im dritten Quartal des Jahres 2011 Dividenden in Höhe von etwa 6 Mrd. DKK (etwa 805 Mio. Euro) an N Luxembourg 2 auszuschütten. Bei N Luxembourg 2 handele es sich um eine selbständige Einheit mit eigener Geschäftsleitung, die in ihren Entscheidungen autonom sei, so dass naturgemäß nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden könne, ob und wie die Geschäftsleitung von N Luxembourg 2 über die Verwendung der Dividenden bestimmen werde. Die Endanleger seien zu einem großen Teil in den Vereinigten Staaten ansässig.

    44

    Das dänische Steuerministerium wies darauf hin, dass der Antrag nicht beschieden werden könne, da nicht feststehe, wie N Luxembourg 2 die von T Danmark ausgeschütteten Dividenden verwenden werde.

    45

    T Danmark antwortete, dass bei der verbindlichen Auskunft von folgendem Sachverhalt ausgegangen werden solle: Sie werde die Dividenden an N Luxembourg 2 auszahlen, die ihrerseits wiederum Dividenden an ihre eigene Muttergesellschaft ausschütten werde. Diese werde die Beträge (als Dividenden und/oder Zinsen und/oder Tilgung von Darlehen) zu einem Teil an Gesellschaften weiterleiten, die von den verschiedenen Investmentfonds oder ihren Gläubigern kontrolliert würden. Beträge, die die Muttergesellschaft von N Luxembourg 2 an von den verschiedenen Investmentfonds kontrollierte Gesellschaften zahle, würden an die Endanleger der Investmentfonds weitergeleitet. Wie diese Weiterleitungen vonstatten gingen oder wie sie steuerlich behandelt würden, sei ihr aber nicht bekannt.

    46

    Der Skatterådet (Steuerfestsetzungsrat, Dänemark) wies den Antrag auf Erteilung einer verbindlichen Auskunft ab.

    47

    T Danmark legte beim Obersten Steuerbeschwerdeausschuss Einspruch gegen diesen Bescheid ein. Dieser gelangte zu dem Ergebnis, dass die von T Danmark an N Luxembourg 2 ausgeschütteten Dividenden von der Steuer befreit seien. Nach der Richtlinie 90/435 sei eine beschränkte Steuerpflicht ausgeschlossen, da das Königreich Dänemark nicht gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen erlassen habe und die Dividenden daher nicht gemäß § 2 Abs. 1 Buchst. c des Körperschaftsteuergesetzes besteuern könne. Das dänische Steuerministerium erhob gegen die Entscheidung des Obersten Steuerbeschwerdeausschusses Klage.

    48

    Der Østre Landsret (Oberlandesgericht Ost, Dänemark) hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    a)

    Kann sich ein Mitgliedstaat nur dann auf Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435, der die Anwendung einzelstaatlicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen betrifft, berufen, wenn er eine spezifische einzelstaatliche Bestimmung zur Umsetzung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie erlassen hat oder wenn das nationale Recht allgemeine Bestimmungen oder Grundsätze zu Steuerhinterziehungen und Missbräuchen enthält, die im Einklang mit Art. 1 Abs. 2 ausgelegt werden können?

    b)

    Falls Frage 1 a zu bejahen ist: Kann § 2 Abs. 1 Buchst. c des Körperschaftsteuergesetzes, wonach „es eine Vorbedingung ist, dass nach den Bestimmungen der Richtlinie [90/435] über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten keine … Steuer auf die Dividenden erhoben wird“, als eine solche spezifische einzelstaatliche Bestimmung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie angesehen werden?

    2.

    Ist eine Bestimmung in einem dem OECD-Musterabkommen nachgebildeten Doppelbesteuerungsabkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten, nach der die Besteuerung der ausgeschütteten Dividenden davon abhängt, ob der Bezieher Nutzungsberechtigter dieser Dividenden ist, eine solche vertragliche Bestimmung zur Missbrauchsbekämpfung, die unter Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie fällt?

    3.

    Wenn der Gerichtshof Frage 2 bejaht: Ist es dann Sache der nationalen Gerichte, den Inhalt des Begriffs „Nutzungsberechtigter“ festzulegen, oder ist der Begriff für die Anwendung der Richtlinie 90/435 unter Zugrundelegung eines spezifischen unionsrechtlichen Verständnisses auszulegen, das der Überprüfung durch den Gerichtshof unterliegt?

    4.

    a)

    Wenn der Gerichtshof Frage 2 bejaht und Frage 3 dahin beantwortet, dass es nicht Sache der nationalen Gerichte ist, den Inhalt des Begriffs „Nutzungsberechtigter“ festzulegen: Ist dieser Begriff dann dahin auszulegen, dass eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die – unter Umständen wie den hier vorliegenden – Dividenden von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft bezieht, „Nutzungsberechtigte“ dieser Dividenden im Sinne der unionsrechtlichen Auslegung dieses Begriffs ist?

    b)

    Ist der Begriff „Nutzungsberechtigter“ wie der entsprechende Begriff in Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2003/49/EG des Rates vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 157, S. 49) auszulegen?

    c)

    Ist der Begriff allein unter Heranziehung der Erläuterungen zu Art. 10 des OECD-Musterabkommens von 1977 (Abschnitt 12) auszulegen, oder können auch spätere Erläuterungen wie die Ergänzungen, die 2003 zu den Durchleitungsstellen oder 2014 zu den vertraglichen oder rechtlichen Verpflichtungen vorgenommen wurden, herangezogen werden?

    d)

    Inwieweit ist für die Beurteilung der Frage, ob der Dividendenempfänger als „Nutzungsberechtigter“ anzusehen ist, von Bedeutung, ob er eine vertragliche oder rechtliche Verpflichtung hatte, die Dividenden an eine andere Person weiterzuleiten?

    e)

    Welche Bedeutung hat es für die Beurteilung der Frage, ob der Dividendenempfänger als „Nutzungsberechtigter“ anzusehen ist, dass das vorlegende Gericht nach einer Würdigung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens befindet, dass der Empfänger – ohne dass er durch eine vertragliche oder rechtliche Verpflichtung gebunden gewesen wäre, die vereinnahmten Dividenden an eine andere Person weiterzuleiten – im Wesentlichen nicht berechtigt war, über die Dividenden zu verfügen („use and enjoy“), wie es in den Erläuterungen von 2014 zum OECD-Musterabkommen von 1977 heißt?

    5.

    Wenn hier davon auszugehen ist,

    dass „einzelstaatliche oder vertragliche Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie vorliegen,

    dass Dividenden von einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (A) an eine Muttergesellschaft (B) in einem anderen Mitgliedstaat ausgeschüttet und von dort an deren Muttergesellschaft (C) weitergeleitet worden sind, die außerhalb der EU/des EWR ansässig ist und die Mittel wiederum an ihre Muttergesellschaft (D) weitergeleitet hat, die ebenfalls außerhalb der EU/des EWR ansässig ist,

    dass zwischen ersterem Mitgliedstaat und dem Staat, in dem C ansässig ist, kein Doppelbesteuerungsabkommen besteht,

    dass zwischen ersterem Mitgliedstaat und dem Staat, in dem D ansässig ist, ein Doppelbesteuerungsabkommen besteht und

    dass ersterer Mitgliedstaat daher nach seinem Recht dann keinen Anspruch auf Quellensteuer auf die von A an D ausgeschütteten Dividenden gehabt hätte, wenn D direkte Eigentümerin von A gewesen wäre,

    handelt es sich dann um einen Missbrauch im Sinne der Richtlinie, der bewirkt, dass B keinen Richtlinienschutz genießt?

    6.

    Wird eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) im konkreten Fall nicht gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf Dividenden, die sie von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) erhalten hat, befreit angesehen, steht dann Art. 49 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV Rechtsvorschriften entgegen, nach denen letzterer Mitgliedstaat die Dividenden der in dem anderen Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft besteuert, wenn er solche Dividenden bei inländischen Muttergesellschaften unter im Übrigen gleichen Umständen nicht besteuert?

    7.

    Wird eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) im konkreten Fall nicht gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf Dividenden, die sie von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) erhalten hat, befreit angesehen und von letzterem Mitgliedstaat als dort beschränkt steuerpflichtig für diese Dividenden angesehen, steht dann Art. 49 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV Rechtsvorschriften entgegen, nach denen die Steuerabzugspflichtige (die Tochtergesellschaft) in letzterem Mitgliedstaat bei verspäteter Abführung der Quellensteuer Verzugszinsen mit einem höheren Zinssatz als dem zahlen muss, der dort für Verzugszinsen auf die Körperschaftsteuerschuld einer gebietsansässigen Gesellschaft gilt?

    8.

    Wenn der Gerichtshof Frage 2 bejaht und Frage 3 dahin beantwortet, dass es nicht Sache der nationalen Gerichte ist, den Inhalt des Begriffs „Nutzungsberechtigter“ festzulegen, und eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) auf dieser Grundlage im konkreten Fall nicht gemäß der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf Dividenden, die sie von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) erhalten hat, befreit angesehen wird, ist letzterer Mitgliedstaat dann nach der Richtlinie 90/435 oder Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet, anzugeben, wen er in diesem Fall als Nutzungsberechtigten ansieht?

    9.

    Wird eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) im konkreten Fall nicht gemäß der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf Dividenden, die sie von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) erhalten hat, befreit angesehen, steht dann Art. 49 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV (oder Art. 63 AEUV) – einzeln oder zusammen betrachtet – Rechtsvorschriften entgegen,

    nach denen die Tochtergesellschaft in letzterem Mitgliedstaat die Quellensteuer auf die Dividenden einbehalten muss und dem Staat gegenüber für die nicht einbehaltene Quellensteuer haftet, eine solche Einbehaltungspflicht aber nicht gilt, wenn die Muttergesellschaft in diesem Mitgliedstaat ansässig ist;

    nach denen letzterer Mitgliedstaat Verzugszinsen auf eine Quellensteuerschuld berechnet?

    Der Gerichtshof wird ersucht, bei der Antwort auf Frage 9 die Antworten auf die Fragen 6 und 7 zu berücksichtigen.

    10.

    In einem Fall, in dem

    eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) die in der Richtlinie 90/435 festgelegte Bedingung, (2011) mindestens 10 % des Aktienkapitals einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) zu halten, erfüllt,

    die Muttergesellschaft im konkreten Fall nicht gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf von der Tochtergesellschaft ausgeschüttete Dividenden befreit angesehen wird,

    der oder die in einem Drittstaat ansässige(n) (direkte[n] oder indirekte[n]) Anteilseigner als „Nutzungsberechtigte(r)“ der fraglichen Dividenden angesehen wird bzw. werden,

    diese(r) (direkte[n] oder indirekte[n]) Anteilseigner ebenfalls das genannte Kapitalerfordernis erfüllt bzw. erfüllen,

    steht Art. 63 AEUV dann Rechtsvorschriften, nach denen der Mitgliedstaat, in dem die Tochtergesellschaft ansässig ist, die fraglichen Dividenden besteuert, entgegen, wenn er solche Dividenden bei inländischen Gesellschaften, die das Kapitalerfordernis der Richtlinie 90/435 erfüllen, d. h. im Steuerjahr 2011 mindestens 10 % des Aktienkapitals der ausschüttenden Gesellschaft halten, nicht besteuert?

    2)   Rechtssache C‑117/16 (Y Denmark)

    49

    Der Vorlageentscheidung zufolge ist die in den Vereinigten Staaten ansässige Y Inc. (im Folgenden: Y USA), die Gesellschaft an der Spitze des Y‑Konzerns, eine börsennotierte Gesellschaft. Die Anteile an den im Ausland ansässigen Tochtergesellschaften werden über die auf den Bermudas ansässige Y Global Ltd (im Folgenden: Y Bermudas) gehalten, deren einzige Tätigkeit neben dem Halten der Anteile an den Tochtergesellschaften darin besteht, dass sie Inhaberin von Rechten des geistigen Eigentums an den Produkten des Konzerns ist. Ihre Geschäfte werden von einer unabhängigen Verwaltungsgesellschaft geführt.

    50

    Y Denmark, eine von Y USA im Jahr 2000 in Dänemark gegründete Gesellschaft mit stets etwa 20 Beschäftigten, ist im Bereich Verkauf und Unterstützung tätig. Sie berichtet an die Y BV, eine in den Niederlanden ansässige Gesellschaft (im Folgenden: Y Niederlande), die für das operative Geschäft des Vertriebs außerhalb der USA, von Kanada und von Mexiko verantwortlich ist. Y Denmark fungiert außerdem als Muttergesellschaft des europäischen Teils des Y‑Konzerns.

    51

    Nach Erlass des American Jobs Creation Act of 2004 (Gesetz von 2004 über die Schaffung von Arbeitsplätzen in Amerika) in den Vereinigten Staaten hatten dort ansässige Gesellschaften vorübergehend die Möglichkeit, Dividenden von ausländischen Tochtergesellschaften zu steuerlich besonders günstigen Bedingungen in die Vereinigten Staaten zurückzuführen, wenn sie sich im Gegenzug verpflichteten, die entsprechenden Erträge in den Vereinigten Staaten für bestimmte Zwecke, insbesondere Forschung und Entwicklung, zu verwenden. Y USA beschloss daher, in dem Veranlagungszeitraum vom 1. Mai 2005 bis zum 30. April 2006 so viele Dividenden wie möglich von Y Bermudas in die Vereinigten Staaten zurückzuführen. Der Gesamtbetrag des zurückzuführenden Kapitals, das insbesondere aus von den Tochtergesellschaften von Y Bermudas ausgeschütteten Dividenden bestand, wurde mit 550 Mio. US-Dollar (USD) (etwa 450,82 Mio. Euro) veranschlagt.

    52

    Vor Ausschüttung der Dividenden wurde der europäische Teil des Y‑Konzerns umstrukturiert. So gründete Y Bermudas am 9. Mai 2005 auf Zypern die Gesellschaft Y Cyprus mit einem Grundkapital von 20000 USD (etwa 16400 Euro), wovon bei Gründung 2000 USD (etwa 1640 Euro) eingezahlt wurden. Mit Vertrag vom 16. September 2005 verkaufte Y Bermudas ihre Anteile an Y Denmark für 90 Mio. Euro an Y Cyprus. Der Kaufpreis wurde mit einer Schuldverschreibung gezahlt.

    53

    Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts fungiert Y Cyprus als Holdinggesellschaft mit bestimmten Treasury-Aktivitäten wie etwa der Vergabe von Darlehen an Tochtergesellschaften. Aus den Lageberichten in den Jahresabschlüssen für 2005/2006 und 2006/2007 ergibt sich, dass die Tätigkeit der Gesellschaft im Wesentlichen darin bestand, Beteiligungen zu verwalten. Die den Verwaltungsratsmitgliedern gezahlte Vergütung belief sich auf 571 USD (etwa 468 Euro) bzw. 915 USD (etwa 750 Euro). Nach den Jahresabschlüssen wurde die Gesellschaft mangels Gewinn vor Steuern nicht besteuert.

    54

    Am 26. September 2005 beschloss Y Niederlande, für das Steuerjahr 2004/2005 eine Dividende in Höhe von 76 Mio. Euro an Y Denmark auszuschütten. Die Dividende wurde am 25. Oktober 2005 an Y Denmark gezahlt. Am 28. September 2005 beschloss die Hauptversammlung von Y Denmark, für das Steuerjahr 2004/2005 an Y Cyprus eine Dividende in Höhe von ebenfalls 76 Mio. Euro auszuschütten. Das Geld wurde am 27. Oktober 2005 an Y Cyprus gezahlt, die es am 28. Oktober 2005 an Y Bermuda weiterleitete, um das im Zusammenhang mit dem Erwerb von Y Denmark aufgenommene Darlehen teilweise zu tilgen.

    55

    Am 21. Oktober 2005 gründete Y Cyprus in den Niederlanden die Gesellschaft Y Holding BV. Mit Vertrag vom 25. Oktober 2005 verkaufte Y Denmark ihre Anteile an Y Niederlande für 14 Mio. Euro an die Y Holding BV.

    56

    Am 3. April 2006 schüttete Y Bermudas eine Dividende in Höhe von 550 Mio. USD (etwa 450,82 Mio. Euro) an Y USA aus. Die Ausschüttung der Dividende wurde teilweise mit Eigenmitteln, teilweise mit einem Bankdarlehen finanziert.

    57

    Am 13. Oktober 2006 beschloss die Hauptversammlung von Y Denmark, für das Steuerjahr 2005/2006 an Y Cyprus eine Dividende in Höhe von 92012000 DKK (etwa 12,3 Mio. Euro) auszuschütten. Y Denmark gab an, dass dieser Betrag (als Dividendenforderung) in der am 3. April 2006 von Y Bermuda an Y USA ausgeschütteten Dividende von 550 Mio. USD (etwa 450,82 Mio. Euro) enthalten gewesen sei. Das dänische Steuerministerium ließ dies mangels Belegen nicht gelten. Y Denmark leitete 2010 92 012 000 DKK (12,3 Mio. Euro) an Y Cyprus weiter.

    58

    Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts stellt sich in erster Linie die Frage, ob Y Cyprus in Dänemark hinsichtlich der betreffenden Dividenden beschränkt steuerpflichtig ist. Nach dänischem Recht ist eine ausländische Muttergesellschaft für Dividenden grundsätzlich nicht beschränkt steuerpflichtig. Eine Befreiung der Dividenden von der Steuer oder eine Ermäßigung der Steuer setzt jedoch die Anwendung der Richtlinie 90/435 oder eines Doppelbesteuerungsabkommens voraus. Nach den meisten Steuerabkommen des Königreichs Dänemark setzt eine Steuerbefreiung oder ‑ermäßigung allerdings voraus, dass die Einheit, die Dividenden erhält, „Nutzungsberechtigter“ („retmæssig ejer“) der Dividenden ist. Die Richtlinie 90/435 enthält keine solche Voraussetzung.

    59

    Die dänische Steuerverwaltung vertritt die Auffassung, dass Y Cyprus in Dänemark hinsichtlich der Dividenden, um die es in dem betreffenden Ausgangsverfahren geht, beschränkt steuerpflichtig sei. Die Gesellschaft sei nicht Nutzungsberechtigte der Dividenden im Sinne des zwischen dem Königreich Dänemark und der Republik Zypern geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens. Sie falle auch nicht unter die Vorschriften der Richtlinie 90/435 über die Befreiung von der Quellensteuer.

    60

    Mit Bescheid vom 17. September 2010 stellte die dänische Steuerverwaltung fest, dass Y Denmark bei den beiden Dividenden, die sie 2005 und 2006 an ihre Muttergesellschaft, Y Cyprus, ausgeschüttet habe, hätte Quellensteuer einbehalten müssen und dass Y Denmark für die entsprechenden Beträge hafte.

    61

    Der Bescheid der dänischen Steuerverwaltung wurde beim Obersten Steuerbeschwerdeausschuss angefochten. Dieser bestätigte am 16. Dezember 2011, dass Y Cyprus nicht Nutzungsberechtigte der Dividenden im Sinne des zwischen dem Königreich Dänemark und der Republik Zypern geschlossenen Doppelbesteuerungsabkommens sei. Dem Vorbringen von Y Denmark wurde jedoch insoweit gefolgt, als geltend gemacht wurde, dass keine Quellensteuer einzubehalten gewesen sei, da für Y Cyprus die Vorschriften der Richtlinie 90/435 über die Befreiung gälten.

    62

    Gegen die Entscheidung des Obersten Steuerbeschwerdeausschusses erhob das dänische Steuerministerium beim vorlegenden Gericht Klage.

    63

    Das vorlegende Gericht weist in der Vorlageentscheidung darauf hin, dass zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig sei, dass die betreffenden Steuergestaltungen nicht nach der sogenannten „Realitätsdoktrin“ unberücksichtigt gelassen werden können und dass die Gesellschaft, die die Dividenden erhalten habe (Y Cyprus), rechtmäßige Empfängerin der Einkünfte im Sinne des dänischen Rechts ist.

    64

    Der Østre Landsret (Oberlandesgericht Ost) hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    a)

    Kann sich ein Mitgliedstaat nur dann auf Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435, der die Anwendung einzelstaatlicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen betrifft, berufen, wenn er eine spezifische einzelstaatliche Bestimmung zur Umsetzung von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie erlassen hat oder wenn das nationale Recht allgemeine Bestimmungen oder Grundsätze zu Steuerhinterziehungen und Missbräuchen enthält, die im Einklang mit Art. 1 Abs. 2 ausgelegt werden können?

    b)

    Falls Frage 1 a zu bejahen ist: Kann § 2 Abs. 1 Buchst. c des Körperschaftsteuergesetzes, wonach „es eine Vorbedingung ist, dass nach den Bestimmungen der Richtlinie [90/435] keine … Steuer auf die Dividenden erhoben wird“, als eine solche spezifische einzelstaatliche Bestimmung im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie angesehen werden?

    2.

    a)

    Ist eine Bestimmung in einem dem OECD-Musterabkommen nachgebildeten Doppelbesteuerungsabkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten, nach der die Besteuerung der ausgeschütteten Dividenden davon abhängt, ob der Bezieher Nutzungsberechtigter dieser Dividenden ist, eine solche vertragliche Bestimmung zur Missbrauchsbekämpfung, die unter Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie fällt?

    b)

    Wenn ja, ist der Begriff „vertragliche Bestimmungen“ in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie dann dahin auszulegen, dass sich der Mitgliedstaat nach seinem internen Recht dem Steuerpflichtigen gegenüber auf das Doppelbesteuerungsabkommen berufen können muss?

    3.

    Wenn der Gerichtshof Frage 2 a bejaht: Ist es dann Sache der nationalen Gerichte, den Inhalt des Begriffs „Nutzungsberechtigter“ festzulegen, oder ist der Begriff für die Anwendung der Richtlinie 90/435 unter Zugrundelegung eines spezifischen unionsrechtlichen Verständnisses auszulegen, das der Überprüfung durch den Gerichtshof unterliegt?

    4.

    a)

    Wenn der Gerichtshof Frage 2 a bejaht und Frage 3 dahin beantwortet, dass es nicht Sache der nationalen Gerichte ist, den Inhalt des Begriffs „Nutzungsberechtigter“ festzulegen: Ist dieser Begriff dann dahin auszulegen, dass eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die – unter Umständen wie den hier vorliegenden – Dividenden von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft bezieht, „Nutzungsberechtigte“ dieser Dividenden im Sinne der unionsrechtlichen Auslegung dieses Begriffs ist?

    b)

    Ist der Begriff „Nutzungsberechtigter“ wie der entsprechende Begriff in Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie 2003/49 auszulegen?

    c)

    Ist der Begriff allein unter Heranziehung der Erläuterungen zu Art. 10 des OECD-Musterabkommens von 1977 (Abschnitt 12) auszulegen, oder können auch spätere Erläuterungen wie die Ergänzungen, die 2003 zu den Durchleitungsstellen oder 2014 zu den vertraglichen oder rechtlichen Verpflichtungen vorgenommen wurden, herangezogen werden?

    d)

    Inwieweit ist für die Beurteilung der Frage, ob der Dividendenempfänger als „Nutzungsberechtigter“ anzusehen ist, von Bedeutung, ob er eine vertragliche oder rechtliche Verpflichtung hatte, die Dividenden an eine andere Person weiterzuleiten?

    e)

    Welche Bedeutung hat es für die Beurteilung der Frage, ob der Dividendenempfänger als „Nutzungsberechtigter“ anzusehen ist, dass das vorlegende Gericht nach einer Würdigung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens befindet, dass der Empfänger – ohne dass er durch eine vertragliche oder rechtliche Verpflichtung gebunden gewesen wäre, die vereinnahmten Dividenden an eine andere Person weiterzuleiten – im Wesentlichen nicht berechtigt war, über die Dividenden zu verfügen („use and enjoy“), wie es in den Erläuterungen von 2014 zum OECD-Musterabkommen von 1977 heißt?

    5.

    Wenn hier davon auszugehen ist,

    dass „einzelstaatliche oder vertragliche Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie vorliegen,

    dass Dividenden von einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (A) an eine Muttergesellschaft (B) in einem anderen Mitgliedstaat ausgeschüttet und von dort an deren Muttergesellschaft (C) weitergeleitet worden sind, die außerhalb der EU/des EWR ansässig ist und die Mittel wiederum an ihre Muttergesellschaft (D) weitergeleitet hat, die ebenfalls außerhalb der EU/des EWR ansässig ist,

    dass zwischen ersterem Mitgliedstaat und dem Staat, in dem C ansässig ist, kein Doppelbesteuerungsabkommen besteht,

    dass zwischen ersterem Mitgliedstaat und dem Staat, in dem D ansässig ist, ein Doppelbesteuerungsabkommen besteht und

    dass ersterer Mitgliedstaat daher nach seinem Recht dann keinen Anspruch auf Quellensteuer auf die von A an D ausgeschütteten Dividenden gehabt hätte, wenn D direkte Eigentümerin von A gewesen wäre,

    handelt es sich dann um einen Missbrauch im Sinne der Richtlinie, der bewirkt, dass B keinen Richtlinienschutz genießt?

    6.

    Wird eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) im konkreten Fall nicht gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf Dividenden, die sie von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) erhalten hat, befreit angesehen, steht dann Art. 43 EG in Verbindung mit Art. 48 EG (und/oder Art. 56 EG) Rechtsvorschriften entgegen, nach denen letzterer Mitgliedstaat die Dividenden der in dem anderen Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft besteuert, wenn er solche Dividenden bei inländischen Muttergesellschaften unter im Übrigen gleichen Umständen nicht besteuert?

    7.

    Wird eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) im konkreten Fall nicht gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf Dividenden, die sie von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) erhalten hat, befreit angesehen und von letzterem Mitgliedstaat als dort beschränkt steuerpflichtig für diese Dividenden angesehen, steht dann Art. 43 EG in Verbindung mit Art. 48 EG (und/oder Art. 56 EG) Rechtsvorschriften entgegen, nach denen die Steuerabzugspflichtige (die Tochtergesellschaft) in letzterem Mitgliedstaat bei verspäteter Abführung der Quellensteuer Verzugszinsen mit einem höheren Zinssatz als dem zahlen muss, der dort für Verzugszinsen auf die Körperschaftsteuerschuld einer gebietsansässigen Gesellschaft gilt?

    8.

    Wenn der Gerichtshof Frage 2 bejaht und Frage 3 dahin beantwortet, dass es nicht Sache der nationalen Gerichte ist, den Inhalt des Begriffs „Nutzungsberechtigter“ festzulegen, und eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) auf dieser Grundlage im konkreten Fall nicht gemäß der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf Dividenden, die sie von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) erhalten hat, befreit angesehen wird, ist letzterer Mitgliedstaat dann nach der Richtlinie 90/435 oder Art. 10 EG verpflichtet, anzugeben, wen er in diesem Fall als Nutzungsberechtigten ansieht?

    9.

    Wird eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) im konkreten Fall nicht gemäß der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf Dividenden, die sie von einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) erhalten hat, befreit angesehen, steht dann Art. 43 EG in Verbindung mit Art. 48 EG (oder Art. 56 EG) – einzeln oder zusammen betrachtet – Rechtsvorschriften entgegen,

    nach denen die Tochtergesellschaft in letzterem Mitgliedstaat die Quellensteuer auf die Dividenden einbehalten muss und dem Staat gegenüber für die nicht einbehaltene Quellensteuer haftet, eine solche Einbehaltungspflicht aber nicht gilt, wenn die Muttergesellschaft in diesem Mitgliedstaat ansässig ist;

    nach denen letzterer Mitgliedstaat Verzugszinsen auf eine Quellensteuerschuld berechnet?

    Der Gerichtshof wird ersucht, bei der Antwort auf Frage 9 die Antworten auf die Fragen 6 und 7 zu berücksichtigen.

    10.

    In einem Fall, in dem

    eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft (Muttergesellschaft) die in der Richtlinie 90/435 festgelegte Bedingung, (2005 und 2006) mindestens 20 % des Aktienkapitals einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft (Tochtergesellschaft) zu halten, erfüllt,

    die Muttergesellschaft im konkreten Fall nicht gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 als von der Quellensteuer auf von der Tochtergesellschaft ausgeschüttete Dividenden befreit angesehen wird,

    der oder die in einem Drittstaat ansässige(n) (direkte[n] oder indirekte[n]) Anteilseigner als „Nutzungsberechtigte(r)“ der fraglichen Dividenden angesehen wird bzw. werden,

    diese(r) (direkte[n] oder indirekte[n]) Anteilseigner ebenfalls das genannte Kapitalerfordernis erfüllt bzw. erfüllen,

    steht Art. 56 EG dann Rechtsvorschriften, nach denen der Mitgliedstaat, in dem die Tochtergesellschaft ansässig ist, die fraglichen Dividenden besteuert, entgegen, wenn er solche Dividenden bei inländischen Gesellschaften, die das Kapitalerfordernis der Richtlinie 90/435 erfüllen, d. h. in den Steuerjahren 2005 und 2006 mindestens 20 % des Aktienkapitals der ausschüttenden Gesellschaft halten (in den Jahren 2007 und 2008 15 % und danach 10 %), nicht besteuert?

    Verfahren vor dem Gerichtshof

    65

    Die Rechtssachen C‑116/16 und C‑117/16, die beide die Auslegung der Richtlinie 90/435 und der in den Verträgen garantierten Grundfreiheiten betreffen, sind wegen des Zusammenhangs, der zwischen ihnen besteht, zu gemeinsamem Urteil zu verbinden.

    66

    Mit Schreiben vom 2. März 2017 hat die dänische Regierung gemäß Art. 16 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union beantragt, dass die Große Kammer über die Rechtssachen C‑116/16 und C‑117/16 entscheidet. Sie hat ferner beantragt, für diese Rechtssachen und die Rechtssachen C‑115/16, C‑118/16, C‑119/16 und C‑299/16, in denen heute das Urteil N Luxembourg 1 u. a. (C‑115/16, C‑118/16, C‑119/16 und C‑299/16) ergeht, wegen der zwischen ihnen bestehenden Gemeinsamkeiten gemäß Art. 77 der Verfahrensordnung eine gemeinsame mündliche Verhandlung durchzuführen. Der Gerichtshof gibt den Anträgen der dänischen Regierung statt.

    Zu den Vorlagefragen

    67

    Die Vorlagefragen betreffen drei Themen. Zunächst geht es um die Frage, ob es für einen Mitgliedstaat eine Rechtsgrundlage dafür gibt, einer Gesellschaft, die an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft Dividenden gezahlt hat, die Befreiung gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435 wegen Rechtsmissbrauchs zu verwehren (erstes Thema). Für den Fall, dass diese Frage zu bejahen sein sollte, möchte das vorlegende Gericht zum einen wissen, was die Tatbestandsmerkmale eines Rechtsmissbrauchs sind und wie diese nachzuweisen sind (zweites Thema), zum anderen, wie die Vorschriften des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit und den freien Kapitalverkehr auszulegen sind, um überprüfen zu können, ob die dänischen Rechtsvorschriften diese Freiheiten verletzen (drittes Thema).

    Zu den Fragen 1, 2 und 3 und den Fragen 4 a, b und c

    68

    Mit den Fragen 1, 2 und 3 und den Fragen 4 a, b und c möchte das vorlegende Gericht in beiden Rechtssachen als Erstes wissen, ob die durch Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 zugelassene Bekämpfung von Betrug und Missbrauch eine entsprechende einzelstaatliche oder vertragliche Bestimmung im Sinne dieser Vorschrift voraussetzt, als Zweites, ob ein Abkommen nach dem Muster des OECD-Musterabkommens, in dem der Ausdruck „Nutzungsberechtigter“ verwendet wird, eine vertragliche Bestimmung zur Verhinderung von Missbrauch im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 darstellen kann, als Drittes, ob es sich bei dem Ausdruck „Nutzungsberechtigter“ um einen Begriff des Unionsrechts handelt, der dieselbe Bedeutung hat wie der Ausdruck „Nutzungsberechtigter“ in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49, und ob bei der Auslegung dieser Bestimmung Art. 10 des OECD-Musterabkommens von 1977 herangezogen werden kann, insbesondere, ob eine Bestimmung, die den Ausdruck „Nutzungsberechtigter“ enthält, als Rechtsgrundlage für die Bekämpfung von Rechtsmissbrauch angesehen werden kann.

    69

    Zunächst ist Frage 1 zu prüfen, mit der das vorlegende Gericht in beiden Rechtssachen wissen will, ob ein Mitgliedstaat, wenn er im Rahmen der Anwendung der Richtlinie 90/435 Rechtsmissbrauch bekämpfen will, eine spezielle nationale Vorschrift zur Umsetzung dieser Richtlinie erlassen haben muss oder ob er sich auf einzelstaatliche oder vertragliche Grundsätze oder Bestimmungen, mit denen Rechtsmissbrauch verhindert werden soll, stützen kann.

    70

    Nach ständiger Rechtsprechung gilt im Unionsrecht der allgemeine Grundsatz, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen kann (Urteile vom 9. März 1999, Centros, C‑212/97, EU:C:1999:126, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung, vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 68, vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 35, vom 22. November 2017, Cussens u. a., C‑251/16, EU:C:2017:881, Rn. 27, und vom 11. Juli 2018, Kommission/Belgien, C‑356/15, EU:C:2018:555, Rn. 99).

    71

    Dieser allgemeine Grundsatz ist zwingend. Die Anwendung der Unionsvorschriften kann nicht so weit reichen, dass Vorgänge geschützt werden, die zu dem Zweck durchgeführt werden, betrügerisch oder missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 2007, Kofoed, C‑321/05, EU:C:2007:408, Rn. 38, vom 22. November 2017, Cussens u. a., C‑251/16, EU:C:2017:881, Rn. 27, und vom 11. Juli 2018, Kommission/Belgien, C‑356/15, EU:C:2018:555, Rn. 99).

    72

    Aus dem allgemeinen Grundsatz, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen kann, folgt, dass ein Mitgliedstaat die Anwendung von Vorschriften des Unionsrechts verweigern muss, wenn diese nicht geltend gemacht werden, um die Ziele der Vorschriften zu verwirklichen, sondern um in den Genuss eines im Unionsrecht vorgesehenen Vorteils zu gelangen, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen lediglich formal erfüllt sind.

    73

    Das ist etwa der Fall, wenn die Erfüllung von Zollförmlichkeiten nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte erfolgt, sondern lediglich pro forma, um missbräuchlich Ausgleichsbeträge (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Oktober 1981, Schumacher u. a., 250/80, EU:C:1981:246, Rn. 16, und vom 3. März 1993, General Milk Products, C‑8/92, EU:C:1993:82, Rn. 21) oder Ausfuhrerstattungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 59) zu erlangen.

    74

    Der Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs findet in vielerlei Rechtsgebieten Anwendung: freier Warenverkehr (Urteil vom 10. Januar 1985, Association des Centres distributeurs Leclerc und Thouars Distribution, 229/83, EU:C:1985:1, Rn. 27), freier Dienstleistungsverkehr (Urteil vom 3. Februar 1993, Veronica Omroep Organisatie, C‑148/91, EU:C:1993:45, Rn. 13), öffentliche Aufträge (Urteil vom 11. Dezember 2014, Azienda sanitaria locale n. 5 Spezzino u. a., C‑113/13, EU:C:2014:2440, Rn. 62), Niederlassungsfreiheit (Urteil vom 9. März 1999, Centros, C‑212/97, EU:C:1999:126, Rn. 24), Gesellschaftsrecht (Urteil vom 23. März 2000, Diamantis, C‑373/97, EU:C:2000:150, Rn. 33), soziale Sicherheit (Urteile vom 2. Mai 1996, Paletta, C‑206/94, EU:C:1996:182, Rn. 24, vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C‑359/16, EU:C:2018:63, Rn. 48, und vom 11. Juli 2018, Kommission/Belgien, C‑356/15, EU:C:2018:555, Rn. 99), Verkehr (Urteil vom 6. April 2006, Agip Petroli, C‑456/04, EU:C:2006:241, Rn. 19 bis 25), Sozialpolitik (Urteil vom 28. Juli 2016, Kratzer, C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 37 bis 41), restriktive Maßnahmen (Urteil vom 21. Dezember 2011, Afrasiabi u. a., C‑72/11, EU:C:2011:874, Rn. 62) oder Mehrwertsteuer (Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 74).

    75

    Im Bereich der Mehrwertsteuer hat der Gerichtshof mehrfach klargestellt, dass, auch wenn die Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Missbrauch ein von der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) anerkanntes und gefördertes Ziel ist, der Grundsatz des Missbrauchsverbots einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, der unabhängig davon gilt, ob die betreffenden Rechte und Vorteile ihre Grundlage in den Verträgen, in einer Verordnung oder in einer Richtlinie haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2017, Cussens u. a., C‑251/16, EU:C:2017:881, Rn. 30 und 31).

    76

    Bei Vorschriften des Unionsrechts, die einen Vorteil vorsehen, kommt der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots also zum Tragen, wenn sie auf eine Weise geltend gemacht werden, die nicht mit ihrem Zweck in Einklang steht. So hat der Gerichtshof entschieden, dass der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots einem Steuerpflichtigen entgegengehalten werden kann, um ihm das Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen, auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a., C‑131/13, C‑163/13 und C‑164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 62, und vom 22. November 2017, Cussens u. a., C‑251/16, EU:C:2017:881, Rn. 33).

    77

    Zwar sieht Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 vor, dass diese der Anwendung einzelstaatlicher oder vertraglicher Bestimmungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen nicht entgegensteht. Diese Bestimmung kann aber nicht dahin verstanden werden, dass sie die Anwendung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes des Missbrauchsverbots (siehe oben, Rn. 70 bis 72) ausschlösse. Die Transaktionen, die nach Ansicht der dänischen Steuerverwaltung einen Rechtsmissbrauch darstellen, fallen in den Anwendungsbereich des Unionsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Weald Leasing, C‑103/09, EU:C:2010:804, Rn. 42). Sie könnten mit dem Ziel der Richtlinie unvereinbar sein.

    78

    Wie ihren Erwägungsgründen 1 und 3 zu entnehmen ist, ist Ziel der Richtlinie 90/435, Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Unionsebene zu erleichtern, indem wettbewerbsneutrale steuerliche Regelungen geschaffen werden, um die Anpassung von Unternehmen an die Erfordernisse des Gemeinsamen Marktes, eine Erhöhung ihrer Produktivität und eine Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu ermöglichen.

    79

    Mit diesen Zielen wäre es nicht vereinbar, Steuergestaltungen zuzulassen, deren einziger Zweck darin besteht, in den Genuss der Steuervorteile gemäß der Richtlinie 90/435 zu gelangen. Dadurch würden die Wettbewerbsbedingungen verfälscht und somit das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigt. Wie die Generalanwältin in Nr. 51 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache C‑116/16 ausgeführt hat, gilt dies auch dann, wenn mit den betreffenden Transaktionen nicht ausschließlich ein solches Ziel verfolgt wird. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der Grundsatz des Missbrauchsverbots in Steuersachen Anwendung findet, wenn die Erlangung eines Steuervorteils Hauptzweck der betreffenden Transaktionen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2008, Part Service, C‑425/06, EU:C:2008:108, Rn. 45, und vom 22. November 2017, Cussens u. a., C‑251/16, EU:C:2017:881, Rn. 53).

    80

    Der Anwendung des allgemeinen Grundsatzes des Missbrauchsverbots steht auch nicht das Recht der Steuerpflichtigen entgegen, von dem Wettbewerb zu profitieren, der mangels einer Harmonisierung der Einkommensteuer zwischen den Mitgliedstaaten stattfindet. Mit der Richtlinie 90/435 wurde nämlich eine Harmonisierung im Bereich der direkten Steuern durch wettbewerbsneutrale steuerliche Regelungen bezweckt. Es sollte den Mitgliedstaaten aber unbenommen bleiben, geeignete Maßnahmen zur Bekämpfung von Betrug und Missbrauch zu ergreifen.

    81

    Dass der Steuerpflichtige bestrebt ist, das Steuersystem zu finden, das für ihn am vorteilhaftesten ist, kann nicht bereits generell die Vermutung eines Betrugs oder Missbrauchs begründen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 50, vom 29. November 2011, National Grid Indus, C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 84, und vom 24. November 2016, SECIL, C‑464/14, EU:C:2016:896, Rn. 60). Sofern die betreffende Transaktion wirtschaftlich betrachtet aber eine rein künstliche Gestaltung darstellt und darauf ausgerichtet ist, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu entgehen, hat der Steuerpflichtige keinen Anspruch auf das Recht oder den Vorteil aus dem Unionsrecht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 51, vom 7. November 2013, K, C‑322/11, EU:C:2013:716, Rn. 61, und vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 61 bis 63).

    82

    Demnach haben die nationalen Behörden und Gerichte die Rechte aus der Richtlinie 90/435 zu verwehren, wenn sie betrügerisch oder missbräuchlich geltend gemacht werden.

    83

    Da das Verbot des Rechtsmissbrauchs einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt und es erforderlich ist, diesen Grundsatz bei der Anwendung des Unionsrechts durchzusetzen, ändert das Fehlen von einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen zur Verhinderung von Betrug nichts an der Verpflichtung der nationalen Behörden, die Rechte aus der Richtlinie 90/435 bei betrügerischer oder missbräuchlicher Geltendmachung zu verwehren.

    84

    Unter Berufung auf das Urteil vom 5. Juli 2007, Kofoed (C‑321/05, EU:C:2007:408), in dem es um eine Befreiung gemäß der Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen (ABl. 1990, L 225, S. 1), ging, machen die Beklagten der Ausgangsverfahren geltend, dass der betreffende Mitgliedstaat die in der Richtlinie 90/435 vorgesehenen Vorteile wegen deren Art. 1 Abs. 2 nur dann verwehren dürfe, wenn es hierfür in der nationalen Rechtsordnung eine gesonderte, spezifische Rechtsgrundlage gebe.

    85

    Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

    86

    Zwar hat der Gerichtshof in Rn. 42 des Urteils vom 5. Juli 2007, Kofoed (C‑321/05, EU:C:2007:408), festgestellt, dass es der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet, dass Richtlinien selbst Verpflichtungen für Einzelne begründen können und dass sich ein Mitgliedstaat Einzelnen gegenüber auf sie als solche berufen kann.

    87

    Der Gerichtshof hat aber klargestellt, dass dies nichts daran ändert, dass sämtliche Stellen eines Mitgliedstaats bei der Anwendung des nationalen Rechts dazu angehalten sind, dieses so weit wie möglich im Licht des Wortlauts und der Zielsetzung der Richtlinien auszulegen, um das mit diesen verfolgte Ziel zu erreichen, und dass der Staat deshalb grundsätzlich Einzelnen eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts entgegenhalten kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2007, Kofoed, C‑321/05, EU:C:2007:408, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    88

    Vor diesem Hintergrund stellte der Gerichtshof dem betreffenden vorlegenden Gericht anheim, zu prüfen, ob das dänische Recht eine Bestimmung oder einen allgemeinen Grundsatz kennt, wonach Rechtsmissbrauch verboten ist, oder andere Vorschriften über Steuerhinterziehung oder ‑umgehung, die im Einklang mit der Bestimmung der Richtlinie 90/434, nach der ein Mitgliedstaat das in der Richtlinie vorgesehene Recht auf Anrechnung bei einer Transaktion, die als hauptsächlichen Beweggrund eine solche Steuerhinterziehung oder ‑umgehung hat, versagen kann, ausgelegt werden könnten, und zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung dieser innerstaatlichen Rechtsvorschriften in dem betreffenden Ausgangsverfahren erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juli 2007, Kofoed, C‑321/05, EU:C:2007:408, Rn. 46 und 47).

    89

    Sollte sich jedoch herausstellen, dass das nationale Recht in den Ausgangsverfahren keine solchen konform mit Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 auslegbaren Regeln enthält, könnte daraus trotz der Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil vom 5. Juli 2007, Kofoed (C‑321/05, EU:C:2007:408), nicht der Schluss gezogen werden, dass die nationalen Behörden und Gerichte daran gehindert wären, im Fall einer Steuerhinterziehung oder eines Rechtsmissbrauchs den Vorteil aus dem Recht auf Befreiung gemäß Art. 5 der Richtlinie zu versagen (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a., C‑131/13, C‑163/13 und C‑164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 54).

    90

    Unter solchen Voraussetzungen liegt nicht der oben in Rn. 86 angesprochene Fall vor. Die Versagung des Rechts entspricht dann nämlich dem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf Vorschriften des Unionsrechts berufen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a., C‑131/13, C‑163/13 und C‑164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 55 und 56 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    91

    Da betrügerische oder missbräuchliche Tätigkeiten kein in der Unionsrechtsordnung vorgesehenes Recht begründen können (siehe oben, Rn. 70), bedeutet die Versagung eines sich aus einer Richtlinie wie der Richtlinie 90/435 ergebenden Vorteils nicht, dass dem Einzelnen nach der Richtlinie eine Verpflichtung auferlegt wird, sondern ist die schlichte Folge der Feststellung, dass die objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des angestrebten Vorteils, die in der Richtlinie in Bezug auf dieses Recht vorgeschrieben sind, nur formal erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 18. Dezember 2014, Schoenimport Italmoda Mariano Previti u. a., C‑131/13, C‑163/13 und C‑164/13, EU:C:2014:2455, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    92

    Unter solchen Umständen müssen die Mitgliedstaaten die Vorteile aus der Richtlinie 90/435 nach dem allgemeinen Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs, nach dem das Unionsrecht nicht für missbräuchliche Verhaltensweisen von Wirtschaftsteilnehmern gelten kann, versagen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2018, Kommission/Belgien, C‑356/15, EU:C:2018:555, Rn. 99 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    93

    Frage 2, mit der das vorlegende Gericht in beiden Rechtssachen wissen will, ob eine Bestimmung eines Doppelbesteuerungsabkommens, in der auf den Begriff des Nutzungsberechtigten abgestellt wird, eine Rechtsgrundlage für die Bekämpfung betrügerischer und missbräuchliche Verhaltensweisen im Rahmen der Richtlinie 90/435 sein kann, ist in Anbetracht des Ergebnisses, zu dem der Gerichtshof oben in Rn. 72 gelangt ist, nicht zu beantworten.

    94

    Unter diesen Umständen sind in beiden Rechtssachen auch Frage 3 und die Fragen 4 a, b und c, die die Auslegung des Begriffs des Nutzungsberechtigten betreffen, nicht zu beantworten. Sie sind nur für den Fall gestellt worden, dass Frage 2 zu bejahen ist.

    95

    Somit ist in beiden Rechtssachen auf Frage 1 zu antworten, dass der allgemeine Grundsatz des Unionsrechts, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf die Vorschriften des Unionsrechts berufen kann, dahin auszulegen ist, dass die nationalen Behörden und Gerichte einem Steuerpflichtigen die Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435 bei Betrug oder Missbrauch auch dann zu verwehren haben, wenn dies nicht in einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen vorgesehen ist.

    Zu den Fragen 4 d und e, Frage 5 und Frage 8

    96

    Mit den Fragen 4 d und e und Frage 5 möchte das vorlegende Gericht in beiden Rechtssachen wissen, was die Tatbestandsmerkmale eines Rechtsmissbrauchs sind und wie diese nachzuweisen sind, insbesondere, ob bei einer Gesellschaft, die vertraglich oder gesetzlich verpflichtet ist, Dividenden, die sie von ihrer Tochtergesellschaft erhalten hat, an einen Dritten weiterzuleiten, oder, wenn eine solche Verpflichtung nicht besteht, nach den Umständen des Falles „im Wesentlichen“ nicht befugt ist, „über die Dividende zu verfügen“, wie es in den Erläuterungen von 2014 zum OECD-Musterabkommen von 1977 heißt, davon ausgegangen werden kann, dass sie die Dividenden tatsächlich erhalten hat. Das vorlegende Gericht möchte weiter wissen, ob ein Rechtsmissbrauch in Betracht kommt, wenn Nutzungsberechtigte von Dividenden, die von Durchleitungsgesellschaften weitergeleitet worden sind, eine Gesellschaft ist, die in einem Drittstaat ansässig ist, mit dem der betreffende Mitgliedstaat ein Steuerabkommen geschlossen hat. Mit Frage 8 möchte das vorlegende Gericht in beiden Rechtssachen schließlich wissen, ob ein Mitgliedstaat, der es ablehnt, eine Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats als Nutzungsberechtigte der Dividenden anzuerkennen, angeben muss, wer seiner Auffassung nach Nutzungsberechtigter der Dividenden ist.

    Tatbestandsmerkmale und Nachweis eines Rechtsmissbrauchs

    97

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt die Feststellung eines Missbrauchs zum einen eine Gesamtheit objektiver Umstände voraus, aus denen sich ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden (Urteile vom 14. Dezember 2000, Emsland-Stärke, C‑110/99, EU:C:2000:695, Rn. 52 und 53, und vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 58).

    98

    Ob die Tatbestandsmerkmale eines Missbrauchs vorliegen, insbesondere, ob Transaktionen vorliegen, die jeder wirtschaftlichen und geschäftlichen Rechtfertigung entbehren, die nur pro forma oder künstlich durchgeführt worden sind und deren Hauptzweck die Erlangung eines ungerechtfertigten Vorteils ist, ist daher im Wege einer Analyse des gesamten Sachverhalts zu ermitteln (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. Juni 2013, Newey, C‑653/11, EU:C:2013:409, Rn. 47 bis 49, vom 13. März 2014, SICES u. a., C‑155/13, EU:C:2014:145, Rn. 33, und vom 14. April 2016, Cervati und Malvi, C‑131/14, EU:C:2016:255, Rn. 47).

    99

    Für die Würdigung der Tatsachen des Ausgangsverfahrens ist der Gerichtshof nicht zuständig. Sofern es geboten erscheint, kann er im Vorabentscheidungsverfahren aber aufzeigen, welche Indizien für die Beurteilung der Fälle, über die das nationale Gericht zu entscheiden hat, bedeutsam sein könnten. Auch wenn in den Ausgangsverfahren eine Reihe solcher Indizien für einen Rechtsmissbrauch sprechen sollte, wird das vorlegende Gericht dennoch zu prüfen haben, ob die Indizien objektiv sind und übereinstimmen und ob die Beklagten der Ausgangsverfahren die Möglichkeit hatten, sie zu widerlegen.

    100

    Ein Konzern, der nicht aus Gründen geschaffen wird, die durch die wirtschaftliche Realität bedingt sind, der eine Pro-forma-Struktur hat und dessen Hauptzweck oder einer seiner Hauptzwecke die Erlangung eines Steuervorteils ist, der dem Ziel oder Zeck der anwendbaren Steuervorschriften zuwiderläuft, kann als künstliches Gebilde angesehen werden. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn bei Dividenden die Zahlung von Steuern dadurch vermieden wird, dass im Konzern zwischen die Gesellschaft, die die Dividenden zahlt, und die Einheit, die Nutzungsberechtigte der Dividenden ist, eine Durchleitungseinheit geschaltet wird.

    101

    Dass Dividenden kurz nach ihrem Erhalt von der Gesellschaft, die sie erhält, in vollem oder nahezu vollem Umfang an Einheiten weitergeleitet werden, die die Voraussetzungen der Richtlinie 90/435 nicht erfüllen – weil sie nicht in einem Mitgliedstaat ansässig sind, weil sie keine der in der Richtlinie aufgeführten Rechtsformen aufweisen, weil sie keiner der in Art. 2 Buchst. c der Richtlinie aufgeführten Steuern unterliegen oder weil sie keine Muttergesellschaft sind und die Voraussetzungen des Art. 3 der Richtlinie nicht erfüllen – ist also ein Indiz für eine künstliche Gestaltung, mit der die Befreiung gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435 zu Unrecht erlangt werden soll.

    102

    Einheiten, die steuerlich außerhalb der Union ansässig sind – wie offenbar die Gesellschaften, um die es in der Rechtssache C‑117/16 geht, oder die Investmentfonds, um die es in der Rechtssache C‑116/16 geht –, erfüllen aber nicht die Voraussetzungen der Richtlinie 90/435. Wären die Dividenden in diesen Rechtssachen von der dänischen Gesellschaft, die die Dividenden schuldete, unmittelbar an die Einheiten gezahlt worden, die nach Auffassung des dänischen Steuerministeriums die Nutzungsberechtigten der Dividenden waren, hätte das Königreich Dänemark die Quellensteuer einbehalten können.

    103

    Für eine künstliche Gestaltung spricht auch, dass der betreffende Konzern derart strukturiert ist, dass die Gesellschaft, die die Dividenden von der Gesellschaft, die die Dividenden schuldet, erhält, die Dividenden an eine dritte Gesellschaft weiterleiten muss, die die Voraussetzungen der Richtlinie 90/435 nicht erfüllt, so dass sie lediglich einen unerheblichen zu versteuernden Gewinn erzielt, wenn sie als Durchleitungsgesellschaft fungiert, um den Zahlungsfluss von der Gesellschaft, die die Dividenden schuldet, zu der Einheit, die Nutzungsberechtigte der gezahlten Beträge ist, zu ermöglichen.

    104

    Dass eine Gesellschaft als Durchleitungsgesellschaft fungiert, ist nachgewiesen, wenn ihre einzige Tätigkeit in der Entgegennahme der Dividenden und deren Weiterleitung an den Nutzungsberechtigten oder andere Durchleitungsgesellschaften besteht. Ob eine reale wirtschaftliche Tätigkeit fehlt, ist anhand der charakteristischen Merkmale der betreffenden Tätigkeit zu ermitteln. Dabei sind sämtliche relevanten Umstände zu berücksichtigen, insbesondere die Geschäftsführung, die Bilanz, die Kostenstruktur, die tatsächlichen Ausgaben, die Beschäftigten, die Geschäftsräume und die Ausstattung der betreffenden Gesellschaft.

    105

    Indizien für eine künstliche Gestaltung können auch die verschiedenen Verträge zwischen den an den betreffenden Finanztransaktionen beteiligten Gesellschaften sein, die zu konzerninternen Geldtransfers führen, sowie die Modalitäten der Finanzierung der Transaktionen, die Bewertung des Eigenkapitals der Zwischengesellschaften und die fehlende Befugnis der Durchleitungsgesellschaften, wirtschaftlich über die erhaltenen Dividenden zu verfügen. Relevant ist insoweit nicht nur die vertragliche oder gesetzliche Verpflichtung der Muttergesellschaft, die die Dividenden erhält, diese an einen Dritten weiterzuleiten, sondern auch, dass die Gesellschaft, auch wenn keine solche Verpflichtung besteht, „im Wesentlichen“, wie es in den Vorlageentscheidungen heißt, nicht berechtigt ist, über die Dividenden zu verfügen.

    106

    Solche Indizien können bekräftigt werden durch das zeitliche Zusammentreffen oder die zeitlichen Nähe des Inkrafttretens bedeutender neuer Steuervorschriften wie der dänischen Steuervorschriften, um die es in den Ausgangsverfahren geht, oder der oben in Rn. 51 erwähnten Regelung der Vereinigten Staaten einerseits und komplexer Finanztransaktionen und der Gewährung von Darlehen innerhalb eines Konzerns andererseits.

    107

    Das vorlegende Gericht möchte auch wissen, ob ein Rechtsmissbrauch auch dann in Betracht kommt, wenn Nutzungsberechtigte von Dividenden, die von Durchleitungsgesellschaften weitergeleitet werden, eine Gesellschaft ist, die in einem Drittstaat ansässig ist, mit dem der Ursprungsmitgliedstaat ein Steuerabkommen geschlossen hat, nach dem bei den Dividenden, wenn sie unmittelbar an die in diesem Drittstaat ansässige Gesellschaft gezahlt worden wären, kein Steuerabzug vorgenommen worden wäre.

    108

    Hierzu ist festzustellen, dass es bei der Prüfung der Konzernstruktur nicht von Belang ist, dass bestimmte Nutzungsberechtigte der von der Durchleitungsgesellschaft gezahlten Dividenden steuerlich in einem Drittstaat ansässig sind, der mit dem Quellenmitgliedstaat ein Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen hat. Ein solches Abkommen schließt für sich genommen einen Rechtsmissbrauch nicht aus. Wird im Wege einer Analyse des gesamten Sachverhalts, die ergibt, dass ohne wirtschaftliche oder geschäftliche Rechtfertigung pro forma oder künstlich Transaktionen durchgeführt worden sind, deren Hauptzweck darin bestand, zu Unrecht in den Genuss der Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435 zu gelangen, rechtmäßig festgestellt, dass ein Rechtsmissbrauch vorliegt, kann dies durch ein Doppelbesteuerungsabkommen nicht entkräftet werden.

    109

    Außerdem muss sich eine Besteuerung auf einen realen wirtschaftlichen Vorgang beziehen. Dass es ein Doppelbesteuerungsabkommen gibt, beweist aber nicht bereits, dass tatsächlich eine Zahlung an in dem betreffenden Drittstaat ansässige Empfänger erfolgt ist. Will die Gesellschaft, die die Dividenden schuldet, von den Vorteilen des Abkommens profitieren, steht es ihr frei, die Dividenden unmittelbar an die Einheiten zu zahlen, die steuerlich in einem Staat ansässig sind, der mit dem Ursprungsstaat ein Doppelbesteuerungsabkommen geschlossen hat.

    110

    Es ist aber durchaus denkbar, dass in Fällen, in denen die Dividenden bei einer unmittelbaren Zahlung an die in dem Drittstaat ansässige Gesellschaft befreit gewesen wären, der Zweck der Struktur des Konzerns in keiner Weise rechtsmissbräuchlich ist. In einem solchen Fall kann dem Konzern nicht vorgeworfen werden, sich für eine solche Struktur entschieden zu haben, anstatt die Dividenden direkt an die in dem Drittstaat ansässige Gesellschaft zu zahlen.

    111

    Ist der Nutzungsberechtigte von Dividenden steuerlich in einem Drittstaat ansässig, setzt die Verwehrung der Befreiung gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435 im Übrigen nicht die Feststellung eines Betrugs oder eines Rechtsmissbrauchs voraus.

    112

    Wie sich insbesondere aus ihrem dritten Erwägungsgrund ergibt, bezweckt die Richtlinie 90/435, durch die Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems jede Benachteiligung der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats zu beseitigen und so den Zusammenschluss von Gesellschaften auf Unionsebene zu erleichtern (Urteil vom 8. März 2017, Wereldhave Belgium u. a., C‑448/15, EU:C:2017:180, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 78), soll mit der Richtlinie, die nach ihrem Art. 1 Gewinnausschüttungen betrifft, die Gesellschaften eines Mitgliedstaats von Tochtergesellschaften eines anderen Mitgliedstaats zufließen, gewährleistet werden, dass die Ausschüttung von Gewinnen durch eine in einem Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral ist (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Juni 2009, KBC Bank und Beleggen, Risicokapitaal, Beheer, C‑439/07 und C‑499/07, EU:C:2009:339, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    113

    Die Mechanismen der Richtlinie 90/435, insbesondere ihr Art. 5, sind also auf Fallgestaltungen zugeschnitten, in denen es, wenn sie nicht angewandt werden, dadurch, dass die Mitgliedstaaten ihre Besteuerungsbefugnisse ausüben, zu einer Doppelbesteuerung der von der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne kommen könnte (Urteil vom 8. März 2017, Wereldhave Belgium u. a., C‑448/15, EU:C:2017:180, Rn. 39). Sie kommen nicht zum Tragen, wenn Nutzungsberechtigte der Dividenden eine Gesellschaft ist, die steuerlich außerhalb der Union ansässig ist. Die Befreiung der Dividenden vom Steuerabzug an der Quelle im Quellenmitgliedstaat könnte in solchen Fällen letztlich dazu führen, dass die Dividenden in der Union nicht wirksam besteuert werden.

    114

    Somit ist in beiden Rechtssachen auf die Fragen 4 d und e zu antworten, dass der Nachweis eines Rechtsmissbrauchs zum einen eine Gesamtheit objektiver Umstände voraussetzt, aus denen sich ergibt, dass das Ziel der Unionsregelung, obwohl deren Voraussetzungen formal erfüllt sind, nicht erreicht worden ist, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, aus der Unionsregelung, indem künstlich die erforderlichen Voraussetzungen geschaffen werden, einen Vorteil zu erlangen. Aus dem Zusammentreffen einer Reihe von Indizien kann, sofern diese objektiv und übereinstimmend sind, geschlossen werden, dass ein Missbrauch vorliegt. Als solche Indizien kommen insbesondere die Existenz von Durchleitungsgesellschaften, für die es keine wirtschaftliche Rechtfertigung gibt, und der Pro-forma-Charakter der Konzernstruktur, der Steuergestaltung und der Darlehen in Betracht.

    Zur Beweislast

    115

    Wer für einen Rechtsmissbrauch die Beweislast trägt, ist in der Richtlinie 90/435 nicht geregelt.

    116

    Wie die dänische und die deutsche Regierung geltend machen, obliegt es grundsätzlich den Gesellschaften, die in den Genuss der Befreiung der Dividenden vom Steuerabzug an der Quelle gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435 kommen wollen, nachzuweisen, dass die objektiven Voraussetzungen gemäß der Richtlinie erfüllt sind. Die zuständigen Steuerbehörden sind nämlich durch nichts daran gehindert, von den Steuerpflichtigen die Nachweise zu verlangen, die sie für die zutreffende Festsetzung der betreffenden Steuern und Abgaben als erforderlich ansehen, und die beantragte Steuerbefreiung bei Nichtvorlage dieser Nachweise gegebenenfalls zu verweigern (Urteil vom 28. Februar 2013, Petersen und Petersen, C‑544/11, EU:C:2013:124, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    117

    Will die Steuerbehörde des Quellenmitgliedstaats einer Gesellschaft, die Dividenden an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft gezahlt hat, die Befreiung gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435 aber wegen Rechtsmissbrauchs verwehren, hat sie nachzuweisen, dass die Tatbestandsmerkmale des Rechtsmissbrauchs erfüllt sind, wobei sie sämtliche relevanten Umstände zu berücksichtigen hat, insbesondere den Umstand, dass die Gesellschaft, an die die Dividenden gezahlt worden sind, nicht Nutzungsberechtigte der Dividenden ist.

    118

    Die Steuerbehörde hat dabei nicht zu ermitteln, wer Nutzungsberechtigte der Dividenden ist, sondern muss nachweisen, dass es sich bei der Gesellschaft, die die Nutzungsberechtigte der Dividenden sein soll, lediglich um eine Durchleitungsgesellschaft handelt, über die ein Rechtsmissbrauch begangen worden ist. Die Ermittlung des Nutzungsberechtigten kann nämlich unmöglich sein, insbesondere, weil unbekannt ist, welche Einheiten als Nutzungsberechtigte in Betracht kommen. Da Steuergestaltungen mitunter komplex sind und die beteiligten Zwischengesellschaften außerhalb der Union ansässig sein können, verfügt die nationale Steuerbehörde nicht unbedingt über die für die Ermittlung der Nutzungsberechtigten erforderlichen Informationen. Von ihr kann aber nicht verlangt werden, dass sie Beweise erbringt, die sie überhaupt nicht erbringen kann.

    119

    Selbst wenn feststeht, welche Einheiten als Nutzungsberechtigte in Frage kommen, steht noch nicht unbedingt fest, wer tatsächlich Nutzungsberechtigter ist. So ist hier in der Rechtssache C‑117/16 nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts Muttergesellschaft von Y Cyprus Y Bermudas mit Sitz auf den Bermudas, deren Muttergesellschaft Y USA mit Sitz in den Vereinigten Staaten ist. Wenn das vorlegende Gericht zu dem Schluss gelangen sollte, dass Y Cyprus nicht Nutzungsberechtigte der Dividenden ist, dürfte es für die Steuerbehörden und die Gerichte des Quellenmitgliedstaats aller Wahrscheinlichkeit nach unmöglich sein, herauszufinden, wer von den beiden Muttergesellschaften die Nutzungsberechtigte der Dividenden ist. Im Übrigen kann die Zuweisung der Dividenden nach den Feststellungen der Steuerbehörde zur Durchleitungsgesellschaft erfolgen.

    120

    Somit ist in beiden Rechtssachen auf Frage 8 zu antworten, dass eine nationale Behörde, wenn sie eine Gesellschaft nicht als Nutzungsberechtigte von Dividenden anerkennen oder einen Rechtsmissbrauch nachweisen will, nicht bestimmen muss, wer ihrer Auffassung nach Nutzungsberechtigter der Dividenden ist.

    Zu denFragen 6, 7, 9 und 10

    121

    Mit den Fragen 6, 7, 9 und 10 möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass die Regelung des Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 90/435 über die Quellensteuerbefreiung von Dividenden, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft gezahlt hat, nicht anwendbar sein sollte, in beiden Rechtssachen wissen, ob die Art. 49 und 54 AEUV oder Art. 63 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie verschiedenen Aspekten einer Regelung des Quellenmitgliedstaats über die Besteuerung der Dividenden wie der, um die es in den Ausgangsverfahren geht, entgegenstehen.

    122

    Diese Fragen beruhen auf der Annahme, dass die Unanwendbarkeit der Regelung über die Befreiung von der Quellensteuer auf der Feststellung einer Steuerhinterziehung oder eines Missbrauchs im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 90/435 beruht. Nach der oben in Rn. 70 dargestellten Rechtsprechung kann sich eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft dann aber nicht auf die im AEU-Vertrag verankerten Freiheiten berufen, um die nationale Regelung über die Besteuerung der an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft gezahlten Dividenden anzugreifen.

    123

    Somit ist in beiden Rechtssachen auf die Fragen 6, 7, 9 und 10 zu antworten, dass in einem Fall, in dem die Regelung der Quellensteuerbefreiung der Richtlinie 90/435 bei Dividenden, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft zahlt, wegen der Feststellung eines Betrugs oder Missbrauchs im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie nicht anwendbar ist, sich die betreffende Gesellschaft nicht auf die vom AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten berufen kann, um die im Quellenmitgliedstaat geltende Regelung über die Besteuerung der Dividenden anzugreifen.

    Kosten

    124

    Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Die Rechtssachen C‑116/16 und C‑117/16 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

     

    2.

    Der allgemeine Grundsatz des Unionsrechts, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf die Vorschriften des Unionsrechts berufen kann, ist dahin auszulegen, dass die nationalen Behörden und Gerichte einem Steuerpflichtigen die Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne gemäß Art. 5 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten in der durch die Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 geänderten Fassung bei Betrug oder Missbrauch auch dann zu verwehren haben, wenn dies nicht in einzelstaatlichen oder vertraglichen Bestimmungen vorgesehen ist.

     

    3.

    Der Nachweis eines Rechtsmissbrauchs setzt zum einen eine Gesamtheit objektiver Umstände voraus, aus denen sich ergibt, dass das Ziel der Unionsregelung, obwohl deren Voraussetzungen formal erfüllt sind, nicht erreicht worden ist, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, aus der Unionsregelung, indem künstlich die erforderlichen Voraussetzungen geschaffen werden, einen Vorteil zu erlangen. Aus dem Zusammentreffen einer Reihe von Indizien kann, sofern diese objektiv und übereinstimmend sind, geschlossen werden, dass ein Missbrauch vorliegt. Als solche Indizien kommen insbesondere die Existenz von Durchleitungsgesellschaften, für die es keine wirtschaftliche Rechtfertigung gibt, und der Pro-forma -Charakter der Konzernstruktur, der Steuergestaltung und der Darlehen in Betracht.

     

    4.

    Eine nationale Behörde muss, wenn sie eine Gesellschaft nicht als Nutzungsberechtigte von Dividenden anerkennen oder einen Rechtsmissbrauch nachweisen will, nicht bestimmen, wer ihrer Auffassung nach Nutzungsberechtigter der Dividenden ist.

     

    5.

    In einem Fall, in dem die Regelung der Quellensteuerbefreiung der Richtlinie 90/435 in der durch die Richtlinie 2003/123 geänderten Fassung bei Dividenden, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft zahlt, wegen der Feststellung eines Betrugs oder Missbrauchs im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie nicht anwendbar ist, kann sich die betreffende Gesellschaft nicht auf die vom AEU‑Vertrag garantierten Grundfreiheiten berufen, um die im Quellenmitgliedstaat geltende Regelung über die Besteuerung der Dividenden anzugreifen.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Dänisch.

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