URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)
23. Januar 2019 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Gleichbehandlung – Einkommensteuer – Sozialversicherungsbeiträge – Arbeitnehmer, der während des Kalenderjahrs den Beschäftigungsmitgliedstaat verlassen hat – Anwendung der Regel der zeitanteiligen Berechnung auf die Beitragsermäßigung“
In der Rechtssache C‑272/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 12. Mai 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Mai 2017, in dem Verfahren
K. M. Zyla
gegen
Staatssecretaris van Financiën
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Zehnten Kammer sowie der Richter F. Biltgen und E. Levits (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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von Frau Zyla, vertreten durch Professor S. C. W. Douma, |
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der niederländischen Regierung, vertreten durch M. L. Noort und M. K. Bulterman als Bevollmächtigte, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2018
folgendes
Urteil
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Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV. |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau K. M. Zyla und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande) über die Bestimmung der Höhe der zeitanteiligen Ermäßigung der von Frau Zyla geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
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Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, und Berichtigung ABl. 2004, L 200, S. 1) bestimmt: „Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
…“ |
4 |
In Art. 4 dieser Verordnung heißt es: „Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates.“ |
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Art. 5 Buchst. a der Verordnung lautet: „Sofern in dieser Verordnung nicht[s] anderes bestimmt ist, gilt unter Berücksichtigung der besonderen Durchführungsbestimmungen Folgendes:
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6 |
Art. 11 in Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor: „(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel. … (3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
…
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Niederländisches Recht
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Nach Art. 8.1 der Wet op de inkomstenbelasting 2001 (Gesetz über die Einkommensteuer von 2001) werden die Einkommensteuer und die Sozialversicherungsbeiträge von den Finanzbehörden zusammengefasst erhoben, was in diesem Artikel als kombinierte Besteuerung bezeichnet wird. Der von einer Person geschuldete Gesamtbetrag der „kombinierten Besteuerung“ ergibt sich, indem die auf Arbeitseinkommen und sonstige Einkünfte (etwa aus Vermietung oder Kapitalvermögen) geschuldete Einkommensteuer und die geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge addiert werden. Gemäß diesem Artikel ergibt sich der Satz der „kombinierten Besteuerung“ aus der Summe des Steuersatzes für die erste Tranche und der anzuwendenden Beitragssätze. Ferner kann der Betrag dieser „kombinierten Besteuerung“ nach diesem Gesetz ermäßigt werden, wobei unter der „Ermäßigung der kombinierten Besteuerung“ im Sinne von Art. 8.1 der Gesamtbetrag aus der auf die Einkommensteuer entfallenden und der auf die Sozialversicherungsbeiträge entfallenden Ermäßigung zu verstehen ist. |
8 |
Nach Art. 8.10 des Gesetzes von 2001 über die Einkommensteuer gilt die „allgemeine Ermäßigung“ für alle Steuer- und Beitragspflichtigen. Für das Jahr 2013 belief sie sich auf 2001 Euro. |
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Die Sozialversicherungsbeiträge richten sich nach der Algemene Ouderdomswet (Allgemeines Gesetz über die Altersversorgung), der Algemene Nabestaandenwet (Allgemeines Gesetz über die Hinterbliebenenversorgung) und der Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten (Allgemeines Gesetz über besondere Krankheitskosten). In diesen drei Systemen versichert sind in den Niederlanden wohnhafte sowie dort aufgrund einer nichtselbständigen Arbeit einkommensteuerpflichtige gebietsfremde Personen. |
10 |
Art. 9 der Wet financiering sociale verzekeringen (Gesetz über die Finanzierung der Sozialversicherung; im Folgenden: WFSV) bestimmt: „Als Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten sind die von der beitragspflichtigen Person geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge, abzüglich der auf diese anzuwendenden Beitragsermäßigung.“ |
11 |
Art. 12 Abs. 1 Buchst. a bis c WFSV regelt, wie die „allgemeine Ermäßigung“ der Sozialversicherungsbeiträge vorzunehmen ist. Nach Abs. 3 dieses Artikels hat jede Person, die während des gesamten Kalenderjahrs Beiträge gezahlt hat, einen Anspruch auf diese Ermäßigung. |
12 |
Art. 2.6a der Regeling Wet financiering sociale verzekeringen (Erlass zur Durchführung des Gesetzes über die Finanzierung der Sozialversicherung, im Folgenden: Durchführungserlass) sieht vor: „Für Personen, die während eines Teils des Kalenderjahrs aus anderen Gründen als durch Tod nicht beitragspflichtig waren, wird die in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a, b und c WFSV vorgesehene Ermäßigung zeitanteilig entsprechend des Zeitraums der Beitragspflicht im Kalenderjahr berechnet.“ |
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
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Frau Zyla, eine polnische Staatsangehörige, arbeitete vom 1. Januar bis zum 21. Juni 2013 in den Niederlanden und war während dieser Zeit im allgemeinen niederländischen Sozialversicherungssystem versichert und beitragspflichtig. Danach begab sie sich nach Polen, begründete dort ihren Wohnsitz und war im Jahr 2013 nicht mehr erwerbstätig. |
14 |
Mit ihrer Erwerbstätigkeit in den Niederlanden im Jahr 2013 erzielte Frau Zyla Einkünfte in Höhe von 9401 Euro. Hiervon wurde Einkommensteuer in Höhe von 1399 Euro einbehalten. Es wurden außerdem Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 2928 Euro erhoben. Bei ihrer Steuerveranlagung für das Jahr 2013 wurde Frau Zyla, weil sie in den Niederlanden gewohnt hatte, nach nationalem Recht eine allgemeine Steuerermäßigung auf die Einkommensteuer und die Sozialversicherungsbeiträge gewährt. So verringerten sich die Einkommensteuer und die Sozialversicherungsbeiträge durch die allgemeine Ermäßigung um 1254 Euro und durch die Ermäßigung für Arbeitnehmer um weitere 840 Euro. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Finanzverwaltung, da Frau Zyla ab dem 22. Juni 2013 nicht mehr beitrags- und steuerpflichtig gewesen sei, gemäß Art. 2.6a des Durchführungserlasses die auf diese Beiträge entfallende allgemeine Ermäßigung entsprechend der Dauer der Beitragspflicht im Jahr 2013 zeitanteilig gekürzt habe. |
15 |
Die bei der Rechtbank Zeeland-West-Brabant (Gericht erster Instanz Zeeland-West-Brabant, Niederlande) gegen diesen Steuerbescheid erhobene Klage, mit der Frau Zyla geltend machte, Art. 2.6a des Durchführungserlasses führe zu einer Ungleichbehandlung von Gebietsansässigen und Gebietsfremden, die ein Hindernis für die durch Art. 45 AEUV gewährleistete Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstelle, wurde abgewiesen. Daraufhin legte sie Berufung gegen das Urteil beim Gerechtshof ’s‑Hertogenbosch (Berufungsgericht Herzogenbusch, Niederlande) ein. Das Berufungsgericht wies das Vorbringen der Klägerin des Ausgangsverfahrens ebenfalls zurück und begründete dies damit, dass diese, da sie in den Niederlanden nur während einer bestimmten Zeit als Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 45 AEUV beschäftigt gewesen sei, nicht die volle Höhe des auf die Sozialversicherungsbeiträge entfallenden Teils der allgemeinen Ermäßigung verlangen könne. Das nationale Recht, das diese Begrenzung des Betrags der allgemeinen Ermäßigung vorsehe, begründe keine Ungleichbehandlung, weil es die Höhe der gewährten Ermäßigung an die Beitragspflicht zum nationalen Sozialversicherungssystem und die Dauer der Beitragszahlung knüpfe. |
16 |
Dem Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), bei dem die von Frau Zyla eingelegte Kassationsbeschwerde anhängig ist, stellt sich die Frage, ob es mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar ist, dass Frau Zyla nur ein Teil der Ermäßigung gewährt wird. |
17 |
Seiner Auffassung nach könnte Art. 45 AEUV dahin ausgelegt werden, dass er einer zeitanteiligen, der Versicherungsdauer des Beitragspflichtigen entsprechenden Beitragsermäßigung nicht entgegenstehe. Es sei jedoch fraglich, ob ein Arbeitnehmer, der sein gesamtes Jahreseinkommen in einem Mitgliedstaat erzielt habe, in dem er nicht oder nicht mehr wohne, nicht doch einen Anspruch auf die Ermäßigung für die Sozialversicherungsbeiträge in voller Höhe haben sollte, auch wenn er nicht während des gesamten Jahres an das Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats angeschlossen gewesen sei. |
18 |
Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 45 AEUV dahin auszulegen, dass er der Vorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein Arbeitnehmer, der gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung oder gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 nur während eines Teils des Kalenderjahrs an die Einheitssozialversicherung dieses Mitgliedstaats angeschlossen ist, bei Erhebung der entsprechenden Versicherungsbeiträge nur einen zeitlich proportional zum Versicherungszeitraum bemessenen Teil des Beitragsanteils der allgemeinen Steuerermäßigung in Anspruch nehmen kann, wenn dieser Arbeitnehmer während des verbleibenden Teils des Kalenderjahrs in diesem Mitgliedstaat nicht an die Einheitssozialversicherung angeschlossen ist, in diesem Zeitraum in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und (nahezu) seine gesamten Jahreseinkünfte im erstgenannten Mitgliedstaat erzielt hat? |
Zur Vorlagefrage
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Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die im Hinblick auf die Bestimmung der Höhe der von einem Arbeitnehmer geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge vorsieht, dass sich die diese Beiträge betreffende Ermäßigung, auf die ein Arbeitnehmer für ein Kalenderjahr Anspruch hat, nach dem Zeitraum bemisst, in dem dieser Arbeitnehmer im Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats versichert war, und somit von der jährlichen Ermäßigung den Teil ausschließt, der dem Zeitraum entspricht, in dem dieser Arbeitnehmer nicht in diesem System versichert war und in einem anderen Mitgliedstaat wohnte, ohne dort berufstätig zu sein. |
20 |
Nach ständiger Rechtsprechung fällt ein Unionsbürger, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch macht und in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV (Urteil vom 7. März 2018, DW, C‑651/16, EU:C:2018:162, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
21 |
Folglich ist die Situation von Frau Zyla, einer polnischen Staatsangehörigen, die sich in die Niederlande begeben hat, um dort vom 1. Januar bis zum 21. Juni 2013 einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen, nach Art. 45 AEUV zu beurteilen. |
22 |
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ferner, dass sämtliche Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit den Unionsbürgern die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Unionsbürger benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen (Urteil vom 7. März 2018, DW, C‑651/16, EU:C:2018:162, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
23 |
Daher stellen Vorschriften, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran hindern oder davon abhalten, seinen Herkunftsstaat zu verlassen, um von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen, eine Beschränkung dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden (Urteile vom 16. Februar 2006, Rockler, C‑137/04, EU:C:2006:106, Rn. 18, und vom 16. Februar 2006, Öberg, C‑185/04, EU:C:2006:107, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
24 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass – wie die niederländische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat – der in Art. 45 AEUV verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungskriterien de facto zum gleichen Ergebnis führen. Sofern eine Vorschrift des nationalen Rechts nicht objektiv gerechtfertigt ist und in angemessenem Verhältnis zum verfolgten Ziel steht, ist sie, auch wenn sie ungeachtet der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, als mittelbar diskriminierend anzusehen, falls sie sich ihrem Wesen nach stärker auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt (Urteil vom 5. Dezember 2013, Zentralbetriebsrat der gemeinnützigen Salzburger Landeskliniken, C‑514/12, EU:C:2013:799, Rn. 25 und 26). |
25 |
Im vorliegenden Fall berührt Art. 2.6a des Durchführungserlasses ohne Unterscheidung nach der Staatsangehörigkeit alle Personen, die während eines Teils des Kalenderjahrs nicht zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen verpflichtet waren, in gleicher Weise. Wie der Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge festgestellt hat, führt diese Bestimmung daher nicht zu einer unmittelbaren Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit. |
26 |
Um eine Maßnahme als mittelbar diskriminierend qualifizieren zu können, muss sie jedoch nicht bewirken, dass alle Inländer begünstigt werden oder dass unter Ausschluss der Inländer nur die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten benachteiligt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, Larcher, C‑523/13, EU:C:2014:2458, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem ergibt sich aus der in den Rn. 22 und 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, dass selbst nichtdiskriminierende Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV grundsätzlich verboten sind. |
27 |
Um im vorliegenden Fall zu bestimmen, ob Art. 2.6a des Durchführungserlasses eine mittelbare Diskriminierung oder eine Behinderung der Arbeitnehmerfreizügigkeit darstellt, ist erstens zu prüfen, ob es sich dabei um eine steuer- oder um eine sozialrechtliche Bestimmung handelt, weil nämlich jeweils unterschiedliche unionsrechtliche Vorschriften einschlägig sind. |
28 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die auf die Sozialversicherungsbeiträge entfallende Ermäßigung, wie in den Rn. 7 und 14 des vorliegenden Urteils ausgeführt, in einer die Festsetzung der Einkommensteuer betreffenden Rechtsvorschrift geregelt ist, die den Einzug der Einkommensteuer von entsprechend steuerpflichtigen natürlichen Personen mit dem Einzug der Sozialabgaben kombiniert. |
29 |
Doch obwohl Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zusammen erhoben werden, fließt das Steueraufkommen in den allgemeinen Staatshaushalt, während das Beitragsaufkommen den Kassen der spezifischen Sozialversicherungen zugeführt wird, für die die Beiträge erhoben werden. Das vorlegende Gericht führt aus, dass nach der Systematik der Ermäßigung zwischen dem die Steuer und dem die Sozialversicherungsbeiträge betreffenden Teil der Ermäßigung unterschieden werde. Ferner bestehe nach Art. 12 Abs. 1 WFSV nur dann ein Anspruch auf den Beitragsanteil der Ermäßigung, wenn der Betreffende beitragspflichtig sei. |
30 |
Folglich betrifft die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung Beiträge, die speziell und unmittelbar der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit dienen. Diese Regelung weist also einen unmittelbaren und hinreichend relevanten Zusammenhang mit den Gesetzen zur Regelung der in Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 aufgeführten Zweige der sozialen Sicherheit auf und fällt somit in den Anwendungsbereich dieser Verordnung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2015, de Ruyter, C‑623/13, EU:C:2015:123‚ Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Ausgangsverfahren geht es also um eine mögliche Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch eine sozialrechtliche Maßnahme, die Bestandteil des nationalen Systems der sozialen Sicherheit ist. |
31 |
Daher sind die in der Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der Besteuerung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit entwickelten Grundsätze, wie sie sich insbesondere aus den von Frau Zyla in ihren Erklärungen angeführten Urteilen vom 14. Februar 1995, Schumacker (C‑279/93, EU:C:1995:31), und vom 16. Oktober 2008, Renneberg (C‑527/06, EU:C:2008:566), ergeben, nicht auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anwendbar. |
32 |
Dies wird durch den vom vorlegenden Gericht hervorgehobenen Umstand, dass, wenn der Betrag der zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge niedriger ist als die darauf anzuwendende Ermäßigung, anhand eines Verrechnungsmechanismus ein Teil der Beitragsermäßigung auf die Einkommensteuerlast angerechnet werden kann, wodurch diese geringer wird, nicht in Frage gestellt. |
33 |
Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass den im niederländischen System der sozialen Sicherheit versicherten Personen nur ausnahmsweise Steuerermäßigungen für Sozialversicherungen zugutekommen, da ein Versicherter solche Steuerermäßigungen nur dann beanspruchen kann, wenn er die Beitragsermäßigungen nicht mit den geschuldeten Beiträgen verrechnen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. September 2005, Blanckaert, C‑512/03, EU:C:2005:516‚ Rn. 47). Folglich hat das Bestehen des in Rn. 32 des vorliegenden Urteils erwähnten Verrechnungsmechanismus keinen Einfluss auf die Rechtsnatur der im niederländischen Recht vorgesehenen Ermäßigung der Sozialversicherungsbeiträge, die, wie vom Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge ausgeführt, speziell darauf abzielt, die finanzielle Belastung abzumildern, die diese Beiträge für den Arbeitnehmer mit sich bringen. |
34 |
Nach ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten zwar grundsätzlich weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig, müssen dabei jedoch das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beachten (vgl. u. a. Urteil vom 13. Juli 2016, Pöpperl, C‑187/15, EU:C:2016:550, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
35 |
Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Vorschrift zum niederländischen System der sozialen Sicherheit gehört, ist zweitens zu prüfen, ob sie als solche eine mittelbar diskriminierende Maßnahme oder eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit darstellt. |
36 |
Wie bereits in Rn. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt, fällt die Situation von Frau Zyla in den Anwendungsbereich der sich aus der Verordnung Nr. 883/2004 ergebenden Regeln zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. |
37 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass zur Gewährleistung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Selbständigen in der Union unter Beachtung des Grundsatzes ihrer Gleichbehandlung nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften in der Verordnung Nr. 1408/71 und später in der Verordnung Nr. 883/2004 eine Koordinierungsregelung geschaffen wurde, die sich u. a. mit der Bestimmung der auf Arbeitnehmer, die unter verschiedenen Umständen von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, anzuwendenden Rechtsvorschriften befasst (Urteil vom 26. Februar 2015, de Ruyter, C‑623/13, EU:C:2015:123‚ Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
38 |
Diese Regelung bildet ein geschlossenes System von Kollisionsnormen, das den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten die Befugnis nimmt, den Geltungsbereich und die Anwendungsvoraussetzungen ihrer nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf nach ihrem Belieben zu bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet die nationalen Bestimmungen ihre Wirkung entfalten sollen (Urteil vom 26. Februar 2015, de Ruyter, C‑623/13, EU:C:2015:123‚ Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
39 |
Im Ausgangsverfahren unterlag Frau Zyla gemäß Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 während ihrer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit in den Niederlanden dem Recht dieses Mitgliedstaats und war im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert. Aufgrund dieser Versicherung wurde ihr für diesen Zeitraum die auf die entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge entfallende Ermäßigung gewährt. Da Frau Zyla aber, nachdem sie die Niederlande verlassen hatte und in ihren Herkunftsmitgliedstaat zurückgekehrt war, nicht mehr im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert und damit auch nicht mehr beitragspflichtig war, wurde ihr gemäß Art. 2.6a des Durchführungserlasses der die Sozialversicherungsbeiträge betreffende Anteil der Ermäßigung nicht in voller Höhe gewährt. |
40 |
Daher hat die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung nur in Bezug auf den zweiten Teil des Jahres 2013 zu einer Ungleichbehandlung zwischen Frau Zyla und einer während des gesamten Jahres im niederländischen Sozialversicherungssystem versicherten Person geführt. Eine solche Person hätte nämlich, selbst wenn sie wie Frau Zyla im zweiten Teil des Jahres kein Einkommen erzielen würde, Anspruch auf die Beitragsermäßigung in voller Höhe, die vorrangig mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen und nachrangig mit ihren Steuern verrechnet würde. Dies bedeutet, dass – bei gleichen Einkünften – die Gewährung der auf die Sozialversicherungsbeiträge entfallenden Ermäßigung in voller Höhe bei einer Person, die während des gesamten Jahres im niederländischen Sozialversicherungssystem versichert ist, zu einer geringeren Beitrags- oder sogar Steuerlast führt als bei einer Person, deren Versicherung in diesem System während desselben Jahres endet. |
41 |
In Anbetracht der in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 verankerten Regel, dass nur das Recht eines Mitgliedstaats anwendbar sein kann, und der in Art. 11 Abs. 3 Buchst. e dieser Verordnung verankerten Regel, dass eine Person, die keine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, nur dem Sozialrecht ihres Wohnmitgliedstaats unterliegt, konnte eine Person in der Situation von Frau Zyla nach Beendigung ihrer Berufstätigkeit in den Niederlanden und ihrem Wegzug nicht mehr dem niederländischen Sozialversicherungssystem angehören. |
42 |
Folglich besteht, wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge zutreffend ausgeführt hat, angesichts der Art der in Rede stehenden Regelung ein objektiver Unterschied zwischen der Situation einer Person, deren Versicherung im niederländischen Sozialversicherungssystem – wie bei Frau Zyla – im Lauf eines bestimmten Jahres endet, und der Situation eines Arbeitnehmers, der während des gesamten Jahres in diesem Sozialversicherungssystem versichert bleibt. |
43 |
Der Gerichtshof hat im Übrigen entschieden, dass es der inneren Logik eines nationalen Sozialversicherungssystems entspricht, dass Beitragsermäßigungen allein den zur Beitragszahlung Verpflichteten, d. h. den in diesem System Versicherten, zugutekommen (Urteil vom 8. September 2005, Blanckaert, C‑512/03, EU:C:2005:516‚ Rn. 49). |
44 |
Außerdem sollen, wie in Rn. 22 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sämtliche die Freizügigkeit betreffenden Bestimmungen des Vertrags den Unionsbürgern die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern und stehen Maßnahmen entgegen, die die Unionsbürger benachteiligen könnten, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als ihres Herkunftsmitgliedstaats eine Tätigkeit ausüben wollen. In diesem Zusammenhang haben die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten insbesondere das unmittelbar aus dem AEU-Vertrag abgeleitete Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um sich zur Ausübung einer Tätigkeit in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben und sich dort aufzuhalten (Urteil vom 18. Juli 2017, Erzberger, C‑566/15, EU:C:2017:562, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
45 |
Das Primärrecht der Union kann einem Arbeitnehmer jedoch nicht garantieren, dass ein Umzug in einen anderen Mitgliedstaat in sozialer Hinsicht neutral ist, da ein solcher Umzug aufgrund der Unterschiede, die zwischen den Systemen und Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestehen, für die betreffende Person je nach Einzelfall Vorteile oder Nachteile in diesem Bereich haben kann (Urteil vom 18. Juli 2017, Erzberger, C‑566/15, EU:C:2017:562, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). Das Unionsrecht garantiert lediglich, dass Arbeitnehmer, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als ihres Herkunftsmitgliedstaats eine Tätigkeit ausüben, denselben Bedingungen unterliegen wie die Arbeitnehmer in diesem anderen Staat. |
46 |
Nach alledem kann Art. 2.6a des Durchführungserlasses weder als eine mittelbar diskriminierende Vorschrift noch als eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die nach Art. 45 AEUV verboten sind, angesehen werden. |
47 |
Schließlich wird diese Beurteilung entgegen dem Vorbringen der Europäischen Kommission nicht durch das Urteil vom 26. Januar 1999, Terhoeve (C‑18/95, EU:C:1999:22), oder das Urteil vom 8. Mai 1990, Biehl (C‑175/88, EU:C:1990:186), in Frage gestellt. |
48 |
Im ersten dieser beiden Urteile ging es nämlich um Sozialversicherungsbeiträge, die ein lediglich aus seinem Herkunftsmitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer zu entrichten hatte, der gemäß den Koordinierungsregeln der Verordnung Nr. 1408/71 trotz seiner Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat während des gesamten maßgeblichen Zeitraums im Sozialversicherungssystem des Herkunftsmitgliedstaats versichert war. Eine solche Situation unterscheidet sich grundlegend von der, in der ein Arbeitnehmer, wie im vorliegenden Fall, nicht mehr in einem Mitgliedstaat sozialversichert ist, nachdem er dort seine Berufstätigkeit aufgegeben und seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat. |
49 |
In Bezug auf das zweite Urteil genügt die Feststellung, dass die dort in Rede stehende Ungleichbehandlung anders als in der vorliegenden Rechtssache nichts mit dem nationalen Sozialversicherungssystem zu tun hatte und damit nicht unter das System zur Koordinierung der Regelungen auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts fiel, das in der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehen ist, die inzwischen durch die Verordnung Nr. 883/2004 ersetzt wurde. |
50 |
Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die im Hinblick auf die Bestimmung der Höhe der von einem Arbeitnehmer geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge vorsieht, dass sich die diese Beiträge betreffende Ermäßigung, auf die ein Arbeitnehmer für ein Kalenderjahr Anspruch hat, nach dem Zeitraum bemisst, in dem dieser Arbeitnehmer im Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats versichert war, und somit von der jährlichen Ermäßigung den Teil ausschließt, der dem Zeitraum entspricht, in dem dieser Arbeitnehmer nicht in diesem System versichert war und in einem anderen Mitgliedstaat wohnte, ohne dort berufstätig zu sein. |
Kosten
51 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt: |
Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die im Hinblick auf die Bestimmung der Höhe der von einem Arbeitnehmer geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge vorsieht, dass sich die diese Beiträge betreffende Ermäßigung, auf die ein Arbeitnehmer für ein Kalenderjahr Anspruch hat, nach dem Zeitraum bemisst, in dem dieser Arbeitnehmer im Sozialversicherungssystem dieses Mitgliedstaats versichert war, und somit von der jährlichen Ermäßigung den Teil ausschließt, der dem Zeitraum entspricht, in dem dieser Arbeitnehmer nicht in diesem System versichert war und in einem anderen Mitgliedstaat wohnte, ohne dort berufstätig zu sein. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.