Rechtssache C-491/07

Strafverfahren

gegen

Vladimir Turanský

(Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts für Strafsachen Wien)

„Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Verbot der Doppelbestrafung – Anwendungsbereich – Begriff ‚rechtskräftig abgeurteilt‘ – Entscheidung, mit der eine Polizeibehörde die Strafverfolgung einstellt – Entscheidung, die im nationalen Recht nicht die Strafklage verbraucht und kein Verbot der Doppelbestrafung bewirkt“

Leitsätze des Urteils

Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Verbot der Doppelbestrafung

(Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, Art. 54)

Das in Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung, das verhindern soll, dass eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird, ist nicht auf eine Entscheidung anwendbar, mit der eine Behörde eines Vertragsstaats nach sachlicher Prüfung des ihr unterbreiteten Sachverhalts in einem Stadium, zu dem gegen einen einer Straftat Verdächtigen noch keine Beschuldigung erhoben worden ist, die Strafverfolgung einstellt, wenn diese Einstellungsentscheidung nach dem nationalen Recht dieses Staates die Strafklage nicht endgültig verbraucht und damit in diesem Staat kein Hindernis für eine erneute Strafverfolgung wegen derselben Tat bildet.

Daher kann eine Entscheidung einer Polizeibehörde, mit der zwar die Strafverfolgung eingestellt, aber nach der betreffenden nationalen Rechtsordnung die Strafklage nicht endgültig verbraucht wird, keine Entscheidung darstellen, die die Annahme erlaubte, dass der Betroffene im Sinne von Art. 54 dieses Übereinkommens „rechtskräftig abgeurteilt“ worden wäre.

(vgl. Randnrn. 40-41, 45 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

22. Dezember 2008(*)

„Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Verbot der Doppelbestrafung – Anwendungsbereich – Begriff ‚rechtskräftig abgeurteilt‘ – Entscheidung, mit der eine Polizeibehörde die Strafverfolgung einstellt – Entscheidung, die im nationalen Recht nicht die Strafklage verbraucht und kein Verbot der Doppelbestrafung bewirkt“

In der Rechtssache C‑491/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Landesgericht für Strafsachen Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 8. Oktober 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Oktober 2007, in dem Strafverfahren gegen

Vladimir Turanský

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot sowie der Richter K. Schiemann und L. Bay Larsen (Berichterstatter),

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und J.‑C. Niollet als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und Y. de Vries als Bevollmächtigte,

–        der slowakischen Regierung, vertreten durch J. Čorba als Bevollmächtigten,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch zunächst T. Harris, dann I. Rao als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines am 23. November 2000 in Österreich eingeleiteten Strafverfahrens gegen den slowakischen Staatsangehörigen Vladimir Turanský wegen des Verdachts eines im Zusammenwirken mit Dritten im Hoheitsgebiet der Republik Österreich gegen einen österreichischen Staatsangehörigen verübten schweren Raubes.

 Rechtlicher Rahmen

 Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen

3        Art. 21 Abs. 1 und 2 des am 20. April 1959 in Straßburg unterzeichneten Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen (SEV Nr. 30) bestimmt:

„(1) Anzeigen einer Vertragspartei zum Zwecke der Strafverfolgung durch die Gerichte einer anderen Partei sind Gegenstand des Schriftverkehrs zwischen den Justizministerien. …

(2) Der ersuchte Staat teilt dem ersuchenden Staat die auf Grund dieser Anzeige getroffenen Maßnahmen mit und übermittelt ihm gegebenenfalls eine Abschrift der ergangenen Entscheidung.“

 Recht der Europäischen Union

4        Nach Art. 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, das durch den Vertrag von Amsterdam dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft als Anhang beigefügt wurde (im Folgenden: Protokoll), sind 13 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter die Republik Österreich, ermächtigt, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Schengen-Besitzstands, wie er im Anhang zu diesem Protokoll umschrieben ist, zu begründen.

5        Zu dem dort umschriebenen Schengen-Besitzstand gehören u. a. das am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichnete Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sowie das SDÜ.

6        Das am 28. April 1995 in Brüssel unterzeichnete Übereinkommen über den Beitritt der Republik Österreich zum SDÜ (ABl. 2000, L 239, S. 90) trat am 1. Dezember 1997 in Kraft.

7        Der Rat der Europäischen Union erließ gemäß Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 2 des Protokolls am 20. Mai 1999 den Beschluss 1999/436/EG zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrags über die Europäische Union (ABl. L 176, S. 17). Aus Art. 2 dieses Beschlusses in Verbindung mit dessen Anhang A ergibt sich, dass der Rat die Art. 34 EU und 31 EU als Rechtsgrundlagen für die Art. 54 bis 58 SDÜ festgelegt hat.

8        Aus Art. 3 Abs. 1 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33, im Folgenden: Beitrittsakte) in Verbindung mit ihrem Anhang I Nr. 2 geht hervor, dass das SDÜ für die Slowakische Republik ab dem Datum ihres Beitritts, d. h. ab dem 1. Mai 2004, bindend und in ihr anzuwenden ist.

9        Der Titel III („Polizei und Sicherheit“) des SDÜ enthält ein Kapitel 3 über das „Verbot der Doppelbestrafung“. In diesem Kapitel 3 sieht Art. 54 vor:

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

10      Art. 55 Abs. 1 und 4 SDÜ bestimmt:

„(1) Eine Vertragspartei kann bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären, dass sie in einem oder mehreren der folgenden Fälle nicht durch Artikel 54 gebunden ist:

a)      wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde; …

(4)      Ausnahmen, die Gegenstand einer Erklärung nach Absatz 1 waren, finden keine Anwendung, wenn die betreffende Vertragspartei die andere Vertragspartei wegen derselben Tat um Verfolgung ersucht oder die Auslieferung des Betroffenen bewilligt hat.“

11      Art. 57 Abs. 1 und 2 SDÜ sieht vor:

„(1) Ist eine Person im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wegen einer Straftat angeschuldigt und haben die zuständigen Behörden dieser Vertragspartei Grund zu der Annahme, dass die Anschuldigung dieselbe Tat betrifft, derentwegen der Betreffende im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei bereits rechtskräftig abgeurteilt wurde, so ersuchen sie, sofern sie es für erforderlich halten, die zuständigen Behörden der Vertragspartei, in deren Hoheitsgebiet die Entscheidung ergangen ist, um sachdienliche Auskünfte.

(2) Die erbetenen Auskünfte werden sobald wie möglich erteilt und sind bei der Entscheidung über eine Fortsetzung des Verfahrens zu berücksichtigen.“

12      Aus der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 (ABl. L 114, S. 56) veröffentlichten Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam geht hervor, dass die Republik Österreich eine Erklärung nach Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben hat, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs gemäß Art. 35 Abs. 3 Buchst. b EU anerkennt.

 Slowakisches Recht

13      Nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. e Strafprozessordnung in der Fassung, die zu dem Zeitpunkt galt, zu dem die slowakische Polizeibehörde die im Ausgangsverfahren fragliche Entscheidung über die Einstellung der Strafverfolgung erließ, darf eine Strafverfolgung nicht eingeleitet oder, wenn sie bereits eingeleitet wurde, fortgesetzt werden gegen „eine Person, deren frühere Strafverfolgung wegen derselben Tat durch rechtskräftiges Urteil beendet oder endgültig eingestellt worden ist …“.

14      Mit dieser Vorschrift wird Art. 50 Abs. 5 der Verfassung der Slowakischen Republik umgesetzt, wonach niemand für eine Tat strafrechtlich verfolgt werden darf, für die er bereits endgültig verurteilt oder hinsichtlich deren er freigesprochen wurde.

15      Art. 215 Abs. 1 und 4 Strafprozessordnung bestimmt:

„(1)      Die Staatsanwaltschaft stellt die Strafverfolgung ein,

a)      wenn außer Zweifel steht, dass die Tat, derentwegen die Strafverfolgung eingeleitet worden ist, nicht begangen wurde;

b)      wenn diese Tat keinen Straftatbestand erfüllt und kein Grund für ein Ermittlungsverfahren besteht …

(4)      Die Verfahrenseinstellung nach Abs. 1 kann, wenn keine Anklage erhoben wurde, auch von der Polizei verfügt werden. …“

16      Nach der Rechtsprechung des Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberster Gerichtshof der Slowakischen Republik), insbesondere nach seinem Urteil vom 10. Juli 1980 in dem Verfahren Tz 64/80, läuft es Art. 9 Abs. 1 Buchst. e Strafprozessordnung nicht zuwider, dass eine nach Art. 215 Abs. 1 Buchst. b Strafprozessordnung eingestellte Strafverfolgung später wegen derselben Tat wieder aufgenommen wird, sofern die frühere Strafverfolgung nicht durch rechtskräftiges Urteil beendet wurde.

 Sachverhalt des Strafverfahrens und Vorlagefrage

17      Herr Turanský wird verdächtigt, am 5. Oktober 2000 im Zusammenwirken mit zwei polnischen Staatsangehörigen in der Wohnung des Geschädigten in Wien (Österreich) eine diesem gehörende Geldsumme geraubt und den Geschädigten zuvor schwer verletzt zu haben.

18      Am 23. November 2000 beantragte die Staatsanwaltschaft Wien daher beim Untersuchungsrichter des vorlegenden Gerichts die Einleitung der Voruntersuchung gegen Herrn Turanský wegen des dringenden Verdachts des schweren Raubes im Sinne des österreichischen Strafgesetzbuchs sowie die Erlassung eines Haftbefehls und die Ausschreibung zur Verhaftung.

19      Da Hinweise darauf vorlagen, dass sich Herr Turanský in seinem Herkunftsland aufhielt, ersuchte die Republik Österreich gemäß Art. 21 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen am 15. April 2003 die Slowakische Republik um Übernahme der Strafverfolgung von Herrn Turanský.

20      Da die slowakischen Behörden diesem Ersuchen entsprachen, stellte der Untersuchungsrichter des vorlegenden Gerichts das Strafverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der slowakischen Behörden vorläufig ein.

21      Am 26. Juli 2004 leitete der für die Ermittlungen zuständige Beamte des Polizeicorps Prievidza (Slowakei) die Strafverfolgung wegen der angezeigten Tat ein, ohne jedoch zugleich eine bestimmte Person als Beschuldigten zu behandeln. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurde Herr Turanský als Zeuge vernommen.

22      Mit Schreiben vom 20. Dezember 2006 übermittelte die Generalstaatsanwaltschaft der Slowakischen Republik den österreichischen Behörden einen Beschluss der Bezirksdirektion des Polizeicorps Prievidza vom 14. September 2006, mit dem in dem Strafverfahren wegen Raubes gemäß Art. 215 Abs. 1 Buchst. b Strafprozessordnung das Ruhen des Verfahrens angeordnet wurde. In dieser Entscheidung führte der für die Ermittlungen zuständige Beamte des Polizeicorps Prievidza aus:

„Gemäß Art. 215 Abs. 1 Buchst. b [Strafprozessordnung] ordne ich hinsichtlich der Strafverfolgung wegen mittäterschaftlich begangenen Raubes mittels Gewalt

das Ruhen des Verfahrens an,

da die in Frage stehenden Handlungen keinen Straftatbestand erfüllen und kein Grund für die Fortführung des Verfahrens besteht.

Gründe

… Dies wurde auch durch die Aussagen des Opfers … und die Aussagen des Zeugen [Turanský] bewiesen. Das bedeutet, dass das Handeln von Herrn Turanský nicht den Tatbestand des Raubes mittels Gewalt erfüllte …

Selbst wenn das Nichtverhindern der Straftat in Betracht zu ziehen wäre …, wäre keine Fortführung des Verfahrens möglich …, die auf Erhebung einer Anklage zielte, da der Strafverfolgung im vorliegenden Fall die Verjährung entgegenstünde …“

23      Gegen diese Entscheidung konnte binnen drei Tagen nach ihrem Erlass mit aufschiebender Wirkung Beschwerde eingelegt werden. Es wurde jedoch keine Beschwerde eingelegt.

24      Dem Landesgericht für Strafsachen Wien erscheint es zweifelhaft, ob die Entscheidung über das Ruhen der Strafverfolgung, die eine slowakische Polizeibehörde in einem Ermittlungsverfahren wegen derselben Tat erließ, die Gegenstand des beim Landesgericht anhängigen Verfahrens ist, zur Anwendung des Art. 54 SDÜ führen und damit ein Hindernis für die Fortführung des anhängigen Verfahrens bilden kann.

25      Da das vorlegende Gericht über die Frage zu entscheiden hat, ob die Entscheidung der slowakischen Polizeibehörde vom 14. September 2006 einer Fortführung der in der Republik Österreich vorläufig eingestellten Voruntersuchung durch den Untersuchungsrichter entgegensteht, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist das in Art. 54 SDÜ enthaltene Verbot der Doppelbestrafung dahin auszulegen, dass es der Strafverfolgung eines Verdächtigen in der Republik Österreich wegen eines Sachverhalts entgegensteht, wenn in der Slowakischen Republik nach deren Beitritt zur Europäischen Union das Strafverfahren wegen desselben Sachverhalts in der Form eingestellt wurde, dass eine Polizeibehörde nach meritorischer Prüfung das Strafverfahren rechtskräftig durch Anordnung des Ruhens des Verfahrens ohne weitere Sanktion beendet?

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

26      Wie sich aus Randnr. 12 des vorliegenden Urteils ergibt, ist der Gerichtshof im vorliegenden Fall gemäß Art. 35 EU für die Entscheidung über die Auslegung des SDÜ zuständig.

27      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 54 SDÜ in zeitlicher Hinsicht, wie die österreichische Regierung geltend gemacht hat, auf ein Strafverfahren wie das Ausgangsverfahren anwendbar ist. Denn das SDÜ war zwar am 5. Oktober 2000, als die im Ausgangsverfahren fragliche Tat in Österreich begangen wurde, in der Slowakischen Republik noch nicht in Kraft, galt aber in den beiden betroffenen Vertragsstaaten nicht nur im September 2006, als die Polizeibehörden der Slowakischen Republik die Tat einer ersten Beurteilung unterzogen, sondern ebenso im Oktober 2007, als das mit dem Ausgangsverfahren des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens befasste Gericht die Anwendungsvoraussetzungen des Verbots der Doppelbestrafung prüfte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink, C‑367/05, Slg. 2007, I‑6619, Randnr. 22).

28      Ferner ist erstens klarzustellen, dass – wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften zutreffend bemerkt hat – die Frage, ob die Entscheidung der slowakischen Polizeibehörde über die Einstellung der Strafverfolgung ein Verbot der Doppelbestrafung auslöst, auf der Grundlage der Art. 54 bis 58 SDÜ zu beurteilen ist, da Art. 21 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen, auf dessen Grundlage die Republik Österreich die Slowakische Republik um die Einleitung der Strafverfolgung gegen Herrn Turanský ersuchte, nicht die Frage regelt, welche Wirkungen die Übernahme der Strafverfolgung durch den ersuchten Staat auf das im ersuchenden Staat anhängige Verfahren hat.

29      Zweitens ist festzustellen, dass, auch wenn die Republik Österreich eine Erklärung nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. a bis c SDÜ (BGBl. III vom 27. Mai 1997, S. 2048) abgegeben hat und die in Buchst. a dieser Bestimmung genannte Ausnahme, da die fragliche Tat im Hoheitsgebiet des erklärenden Staates begangen wurde, gerade eine Situation wie die im Ausgangsverfahren vorliegende betrifft, der erklärte Vorbehalt doch in diesem Verfahren wegen Art. 55 Abs. 4 SDÜ nicht eingreifen kann, da gemäß dieser Bestimmung erklärte Vorbehalte nicht anwendbar sind, wenn die betroffene Vertragspartei, d. h. im genannten Verfahren die Republik Österreich, die andere Vertragspartei, d. h. die Slowakische Republik, wegen derselben Tat um Verfolgung ersucht hat.

 Zur Vorlagefrage

30      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das in Art. 54 SDÜ niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung auf eine Entscheidung wie die im Ausgangsverfahren fragliche anwendbar ist, mit der eine Polizeibehörde nach sachlicher Prüfung des ihr unterbreiteten Sachverhalts in einem Stadium, zu dem gegen einen einer Straftat Verdächtigen noch keine Beschuldigung erhoben worden ist, die eingeleitete Strafverfolgung einstellt.

31      Aus dem Wortlaut des Art. 54 SDÜ ergibt sich, dass niemand in einem Vertragsstaat wegen derselben Tat wie der, derentwegen er in einem anderen Vertragsstaat bereits „rechtskräftig abgeurteilt“ worden ist, verfolgt werden darf.

32      Zu dem Begriff „rechtskräftig abgeurteilt“ hat der Gerichtshof bereits in Randnr. 30 des Urteils vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, Slg. 2003, I‑1345), ausgeführt, dass der Betroffene als hinsichtlich der ihm vorgeworfenen Tat „rechtskräftig abgeurteilt“ im Sinne des Art. 54 SDÜ anzusehen ist, wenn die Strafklage aufgrund eines Strafverfahrens endgültig verbraucht ist.

33      Weiter hat der Gerichtshof in Randnr. 61 des Urteils vom 28. September 2006, Van Straaten (C‑150/05, Slg. 2006, I‑9327), entschieden, dass Art. 54 SDÜ auf eine Entscheidung der Justiz eines Vertragsstaats anwendbar ist, mit der ein Angeklagter rechtskräftig aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird.

34      Daraus folgt, dass grundsätzlich eine Entscheidung, um als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne von Art. 54 SDÜ angesehen werden zu können, endgültig die Strafverfolgung beenden und die Strafklage verbrauchen muss.

35      Um zu beurteilen, ob eine Entscheidung im Sinne von Art. 54 SDÜ „rechtskräftig“ ist, muss, wie insbesondere die österreichische, die niederländische und die finnische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Kommission geltend gemacht haben, zunächst geprüft werden, ob das nationale Recht des Vertragsstaats, dessen Behörden die fragliche Entscheidung erlassen haben, diese als endgültig und bindend ansieht, und Gewissheit darüber hergestellt werden, ob die Entscheidung in diesem Staat den sich aus dem Verbot der Doppelbestrafung ergebenden Schutz bewirkt.

36      Eine Entscheidung, die nach dem Recht des ersten Vertragsstaats, der die Strafverfolgung gegen einen Betroffenen einleitet, die Strafklage auf nationaler Ebene nicht endgültig verbraucht, kann nämlich grundsätzlich nicht als ein Verfahrenshindernis hinsichtlich der etwaigen Einleitung oder Fortführung der Strafverfolgung wegen derselben Tat gegen diesen Betroffenen in einem anderen Vertragsstaat angesehen werden.

37      Was den endgültigen Charakter der im Ausgangsverfahren fraglichen Entscheidung im slowakischen Recht angeht, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 57 SDÜ, wie im Übrigen aus den Erklärungen der niederländischen Regierung und der Kommission hervorgeht, einen Rahmen der Zusammenarbeit geschaffen hat, der es den zuständigen Behörden des zweiten Vertragsstaats ermöglicht, zur Klärung beispielsweise der genauen Art einer im Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaats erlassenen Entscheidung bei dessen Behörden sachdienliche Rechtsauskünfte einzuholen.

38      Eine solche Zusammenarbeit, die indessen im Ausgangsverfahren nicht stattgefunden hat, hätte die Feststellung erlaubt, dass eine Entscheidung wie die im Ausgangsverfahren fragliche nach slowakischem Recht in Wirklichkeit nicht so geartet ist, dass sie als eine Entscheidung angesehen werden könnte, die die Strafklage auf nationaler Ebene endgültig verbraucht.

39      Insoweit geht gerade aus den schriftlichen Erklärungen der slowakischen Regierung in der vorliegenden Rechtssache hervor, dass eine Entscheidung gemäß Art. 215 Abs. 1 Buchst. b der slowakischen Strafprozessordnung, mit der die Strafverfolgung in einem Stadium eingestellt wird, in dem noch keine bestimmte Person beschuldigt worden ist, nach dem nationalen Recht kein Hindernis für eine neue Strafverfolgung wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet der Slowakischen Republik bildet.

40      Es ist daher festzustellen, dass eine Entscheidung einer Polizeibehörde wie die im Ausgangsverfahren fragliche, mit der zwar die Strafverfolgung eingestellt, aber nach der betreffenden nationalen Rechtsordnung die Strafklage nicht endgültig verbraucht wird, keine Entscheidung darstellen kann, die die Annahme erlaubte, dass der Betroffene im Sinne von Art. 54 SDÜ „rechtskräftig abgeurteilt“ worden wäre.

41      Diese Auslegung des Art. 54 SDÜ ist mit dessen Ziel vereinbar, das darin besteht, zu verhindern, dass eine rechtskräftig abgeurteilte Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Gözütok und Brügge, Randnr. 38).

42      Die Anwendung dieses Artikels auf eine Entscheidung über die Einstellung der Strafverfolgung wie die im Ausgangsverfahren fragliche würde sich aber in einem anderen Vertragsstaat, in dem vielleicht mehr Beweise zur Verfügung stehen könnten, als Hindernis für jede konkrete Möglichkeit auswirken, eine Person für ihr unrechtmäßiges Tun zu verfolgen und unter Umständen einer Sanktion zu unterwerfen, obgleich eine solche Möglichkeit im ersten Vertragsstaat, wo der Betroffene nicht als rechtskräftig abgeurteilt im Sinne des nationalen Rechts dieses Staates gilt, nicht ausgeschlossen wäre.

43      Eine solche Konsequenz liefe, wie die schwedische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben, dem Zweck der Vorschriften des Titels VI des Vertrags über die Europäische Union zuwider, wie er in Art. 2 Abs. 1 vierter Gedankenstrich EU zum Ausdruck kommt, nämlich der Ergreifung von „geeigneten Maßnahmen in Bezug auf … die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität“ unter gleichzeitiger Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist.

44      Es ist hinzuzufügen, dass mit Art. 54 SDÜ zwar das Ziel verfolgt wird, einem Betroffenen zu garantieren, dass er sich, wenn er in einem Vertragsstaat verurteilt worden ist und die Strafe verbüßt hat oder gegebenenfalls endgültig freigesprochen worden ist, im Schengen-Gebiet bewegen kann, ohne befürchten zu müssen, dass er in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2006, Van Esbroeck, C‑436/04, Slg. 2006, I‑2333, Randnr. 34), nicht aber das Ziel, einen Verdächtigen dagegen zu schützen, dass er möglicherweise wegen derselben Tat in mehreren Vertragsstaaten aufeinanderfolgenden Ermittlungen ausgesetzt ist.

45      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass das in Art. 54 SDÜ niedergelegte Verbot der Doppelbestrafung nicht auf eine Entscheidung anwendbar ist, mit der eine Behörde eines Vertragsstaats nach sachlicher Prüfung des ihr unterbreiteten Sachverhalts in einem Stadium, zu dem gegen einen einer Straftat Verdächtigen noch keine Beschuldigung erhoben worden ist, die Strafverfolgung einstellt, wenn diese Einstellungsentscheidung nach dem nationalen Recht dieses Staates die Strafklage nicht endgültig verbraucht und damit in diesem Staat kein Hindernis für eine erneute Strafverfolgung wegen derselben Tat bildet.

 Kosten

46      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Das Verbot der Doppelbestrafung, das in Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen niedergelegt ist, ist nicht auf eine Entscheidung anwendbar, mit der eine Behörde eines Vertragsstaats nach sachlicher Prüfung des ihr unterbreiteten Sachverhalts in einem Stadium, zu dem gegen einen einer Straftat Verdächtigen noch keine Beschuldigung erhoben worden ist, die Strafverfolgung einstellt, wenn diese Einstellungsentscheidung nach dem nationalen Recht dieses Staates die Strafklage nicht endgültig verbraucht und damit in diesem Staat kein Hindernis für eine erneute Strafverfolgung wegen derselben Tat bildet.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.