Rechtssache C-277/00
Bundesrepublik Deutschland
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
«Nichtigkeitsklage – Staatliche Beihilfen – Entscheidung 2000/567/EG – Beihilfe der Bundesrepublik Deutschland zugunsten der System Microelectronic Innovation GmbH, Frankfurt/Oder (Brandenburg)
– Artikel 88 Absatz 2 EG – Verteidigungsrechte – Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt – Artikel 87 Absatz 1 EG – Rückforderung rechtswidriger Beihilfen – Rückforderung bei anderen Unternehmen als dem ursprünglichen Empfänger»
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Schlussanträge des Generalanwalts A. Tizzano vom 19. Juni 2003 |
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Urteil des Gerichtshofes (Sechste Kammer) vom 29. April 2004 |
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Leitsätze des Urteils
- 1.
- Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Tragweite der Ausnahme – Enge Auslegung – Tätigkeit der Treuhandanstalt – Begriff der Privatisierung
(Artikel 87 Absätze 1 und 2 Buchstabe c EG)
- 2.
- Staatliche Beihilfen – Prüfung durch die Kommission – Beurteilung der Rechtmäßigkeit anhand der beim Erlass der Entscheidung zur Verfügung stehenden Auskünfte
(Artikel 88 EG)
- 3.
- Staatliche Beihilfen – Verbot – Ausnahmen – Beihilfen für die durch die Teilung Deutschlands betroffenen Gebiete – Tragweite der Ausnahme – Enge Auslegung – Wirtschaftliche Nachteile, die durch die Isolierung als Folge der Zonengrenze entstanden sind
(Artikel 87 Absätze 1 und 2 Buchstabe c EG)
- 4.
- Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Aus der Rechtswidrigkeit folgende Pflicht – Gegenstand – Wiederherstellung der früheren Lage
(Artikel 88 Absatz 2 EG)
- 5.
- Staatliche Beihilfen – Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe – Bestimmung des Schuldners im Fall der Übertragung von Aktiva – Nutznießer des Wettbewerbsvorteils
(Artikel 88 Absatz 2 EG)
- 1.
- Ausnahmen von dem in Artikel 87 Absatz 1 EG niedergelegten allgemeinen Grundsatz der Unvereinbarkeit staatlicher Beihilfen
mit dem Gemeinsamen Markt sind eng auszulegen. Bei der Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift sind nicht nur deren Wortlaut,
sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.
- Der von der Kommission geschaffene rechtliche Rahmen für die Tätigkeit der Treuhandanstalt besteht in einer Reihe von Ausnahmen
von dem in Artikel 87 Absatz 1 EG niedergelegten allgemeinen Grundsatz der Unvereinbarkeit von Beihilfen mit dem Gemeinsamen
Markt. Mit diesen Ausnahmen wollte die Kommission die Aufgabe der Treuhandanstalt – einer ihrem Wesen nach einzigartigen Einrichtung
– erleichtern, die darin bestand, die Unternehmen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik umzustrukturieren und für
ihren Übergang von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft zu sorgen.
- Der Begriff „Privatisierung“ ist als Voraussetzung für die Anwendung einer Regelung, die von dem in Artikel 87 Absatz 1 EG
niedergelegten allgemeinen Grundsatz der Unvereinbarkeit staatlicher Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt abweicht, im Rahmen
der Beihilferegelungen der Treuhandanstalt eng auszulegen. Im Rahmen einer solchen Auslegung kann vom Vorliegen einer Privatisierung
im Sinne dieser Regelungen grundsätzlich nur ausgegangen werden, wenn ein privater Investor einen Kapitalanteil erwirbt, der
ihm die Kontrolle über das betreffende Unternehmen verschaffen kann.
- Somit kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Erwerb einer Minderheitsbeteiligung an einem öffentlichen Unternehmen, verbunden
mit der Übertragung der tatsächlichen Kontrolle über dieses Unternehmen, als „Privatisierung“ im Sinne der Beihilferegelungen
der Treuhandanstalt angesehen werden könnte.
(vgl. Randnrn. 20-22, 24-25)
- 2.
- Die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung im Bereich staatlicher Beihilfen ist anhand der Auskünfte zu beurteilen, über die die
Kommission zum Zeitpunkt ihres Erlasses verfügte. Daher kann sich ein Mitgliedstaat für die Anfechtung der Rechtmäßigkeit
einer derartigen Entscheidung nicht auf Umstände berufen, die er der Kommission im Verwaltungsverfahren nicht zur Kenntnis
gebracht hat.
(vgl. Randnr. 39)
- 3.
- Artikel 87 Absatz 2 Buchstabe c EG, wonach „Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener
Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile
erforderlich sind“, mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind, ist nach der Herstellung der Einheit Deutschlands weder durch
den Vertrag über die Europäische Union noch durch den Vertrag von Amsterdam aufgehoben worden.
- Da es sich jedoch um eine Ausnahme von dem in Artikel 87 Absatz 1 EG niedergelegten allgemeinen Grundsatz der Unvereinbarkeit
staatlicher Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt handelt, ist Artikel 87 Absatz 2 Buchstabe c EG eng auszulegen. Zudem sind
bei seiner Auslegung nicht nur sein Wortlaut, sondern auch sein Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der
Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden.
- Überdies gilt Artikel 87 Absatz 2 Buchstabe c EG zwar bestimmungsgemäß nach der Herstellung der deutschen Einheit für die
neuen Bundesländer, jedoch nur unter den gleichen Voraussetzungen, wie sie für die Zeit vor der Herstellung der staatlichen
Einheit in den alten Bundesländern galten.
- Insoweit bezieht sich der Ausdruck „Teilung Deutschlands“ historisch auf die Ziehung der Trennungslinie zwischen den beiden
Besatzungszonen im Jahr 1948, so dass „durch die Teilung verursachte wirtschaftliche Nachteile“ nur diejenigen wirtschaftlichen
Nachteile sind, die durch die Isolierung aufgrund der Errichtung dieser physischen Grenze – beispielsweise durch die Unterbrechung
der Verkehrswege oder den Verlust der Absatzgebiete aufgrund des Abbruchs der Handelsbeziehungen zwischen den beiden Teilen
Deutschlands – in bestimmten Gebieten Deutschlands entstanden sind.
- Dagegen würde die Auffassung, dass Artikel 87 Absatz 2 Buchstabe c EG es erlaube, den unbestreitbaren wirtschaftlichen Rückstand
der neuen Bundesländer vollständig auszugleichen, sowohl den Ausnahmecharakter dieser Bestimmung als auch ihren Zusammenhang
und die mit ihr verfolgten Ziele verkennen. Die wirtschaftlichen Nachteile, unter denen die neuen Bundesländer allgemein leiden,
sind nämlich nicht unmittelbar durch die räumliche Teilung Deutschlands im Sinne von Artikel 87 Absatz 2 Buchstabe c EG verursacht
worden. Somit beruht die unterschiedliche Entwicklung der alten und der neuen Bundesländer auf anderen Gründen als der sich
aus der Teilung Deutschlands ergebenden geografischen Trennung, insbesondere auf den unterschiedlichen politisch-wirtschaftlichen
Systemen, die in den beiden Teilen Deutschlands errichtet wurden.
(vgl. Randnrn. 45-53)
- 4.
- Die Aufhebung einer rechtswidrigen staatlichen Beihilfe im Wege der Rückforderung ist die logische Folge der Feststellung
ihrer Rechtswidrigkeit und zielt auf die Wiederherstellung der früheren Lage ab. Dieses Ziel ist erreicht, wenn die fraglichen
Beihilfen, gegebenenfalls zuzüglich Verzugszinsen, vom Empfänger oder, mit anderen Worten, von den Unternehmen zurückgezahlt
wurden, die den tatsächlichen Nutzen davon hatten. Durch diese Rückzahlung verliert nämlich der Empfänger den Vorteil, den
er auf dem Markt gegenüber seinen Konkurrenten besaß, und die Lage vor der Zahlung der Beihilfe wird wiederhergestellt.
- Folglich besteht das Hauptziel der Rückerstattung einer zu Unrecht gezahlten staatlichen Beihilfe darin, die Wettbewerbsverzerrung
zu beseitigen, die durch den mit der rechtswidrigen Beihilfe verbundenen Wettbewerbsvorteil verursacht wurde.
(vgl. Randnrn. 74-76)
- 5.
- Wird ein Unternehmen, das eine rechtswidrige staatliche Beihilfe erhalten hat, zum Marktpreis erworben, d. h. zum höchsten
Preis, den ein privater Investor unter normalen Wettbewerbsbedingungen für diese Gesellschaft in der Situation, in der sie
sich – insbesondere nach dem Erhalt staatlicher Beihilfen – befindet, zu zahlen bereit wäre, so wurde das Beihilfeelement
zum Marktpreis bewertet und in den Kaufpreis einbezogen. Unter diesen Umständen kann der Erwerber nicht als Nutznießer eines
Vorteils gegenüber den übrigen Marktteilnehmern angesehen werden.
- Behält das Unternehmen, dem rechtswidrige Beihilfen gewährt wurden, seine Rechtspersönlichkeit und übt weiterhin für eigene
Rechnung die damit subventionierten Tätigkeiten aus, so verbleibt normalerweise der mit den fraglichen Beihilfen verbundene
Wettbewerbsvorteil bei ihm, so dass ihm die Verpflichtung obliegt, einen Betrag in Höhe dieser Beihilfen zurückzuzahlen. Vom
Erwerber kann daher die Rückzahlung solcher Beihilfen nicht verlangt werden.
- Fällt das begünstigte Unternehmen dagegen in Konkurs, so kann die Wiederherstellung der früheren Lage und die Beseitigung
der aus den rechtswidrig gezahlten Beihilfen resultierenden Wettbewerbsverzerrung grundsätzlich durch Anmeldung der Forderung
nach Rückerstattung der betreffenden Beihilfen zur Konkurstabelle erfolgen.
- Werden Auffanggesellschaften gegründet, um einen Teil der Tätigkeiten des begünstigten Unternehmens nach seinem Konkurs fortzuführen,
so kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass gegebenenfalls auch diese Gesellschaften zur Rückerstattung der fraglichen
Beihilfen verpflichtet sein können, falls erwiesen wäre, dass ihnen der tatsächliche Nutzen des mit dem Erhalt dieser Beihilfen
verbundenen Wettbewerbsvorteils verblieben ist. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn die Auffanggesellschaften
die Aktiva der in Konkurs befindlichen Gesellschaft erwerben, ohne dafür einen den Marktbedingungen entsprechenden Preis zu
zahlen, oder wenn feststeht, dass mit der Gründung dieser Gesellschaften die Pflicht zur Rückerstattung der Beihilfen umgangen
wurde.
- Die bloße Tatsache, dass die Einrichtungen des begünstigten Unternehmens für gewisse Zeit von einer solchen Gesellschaft gepachtet
wurden, ist für sich genommen jedoch kein Beweis dafür, dass sie von dem Wettbewerbsvorteil profitierte, der mit den Beihilfen
verbunden war, die der Verpächter fast drei Jahre vor der Gründung des Pächters erhalten hatte.
(vgl. Randnrn. 80-81, 85-86, 88)