URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

9. September 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 – Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen – Art. 1 Abs. 1 Buchst. a – Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Art. 5 Abs. 1 – Ausstehende Forderungen – Gerichtliche Entscheidungen – Mahnbescheide – Zustellung – Schuldner mit Wohnsitz an einer unbekannten Adresse in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts“

In den verbundenen Rechtssachen C‑208/20 und C‑256/20

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski Rayonen sad (Kreisgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidungen vom 14. Mai 2020 (C‑208/20) und vom 10. Juni 2020 (C‑256/20), beim Gerichtshof eingegangen am 14. Mai 2020 und am 10. Juni 2020, in den Verfahren

„Toplofikatsia Sofia“ EAD,

„CHEZ Elektro Bulgaria“ AD,

„Agentsia za control na prosrocheni zadalzhenia“ EOOD (C‑208/20)

und

„Toplofikatsia Sofia“ EAD (C‑256/20)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Richters M. Safjan,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der „Agentsia za control na prosrocheni zadalzhenia“ EOOD, vertreten durch Y. B. Yanakiev,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (ABl. 2001, L 174, S. 1) und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).

2

Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen in der Rechtssache C‑208/20 der „Toplofikatsia Sofia“ EAD, der „CHEZ Elektro Bulgaria“ AD und der „Agentsia za control na prosrocheni zadalzhenia“ EOOD sowie in der Rechtssache C‑256/20 der Toplofikatsia Sofia und jeweils natürlichen Personen, die nicht am Verfahren beteiligt sind, wegen der Beitreibung ausstehender Forderungen.

Rechtlicher Rahmen

Verordnung Nr. 1206/2001

3

Art. 1 der Verordnung Nr. 1206/2001 sieht vor:

„(1)   Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften

a)

das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats um Beweisaufnahme ersucht … oder

b)

darum ersucht, in einem anderen Mitgliedstaat unmittelbar Beweis erheben zu dürfen.

(2)   Um Beweisaufnahme darf nicht ersucht werden, wenn die Beweise nicht zur Verwendung in einem bereits eingeleiteten oder zu eröffnenden gerichtlichen Verfahren bestimmt sind.

…“

4

In Art. 4 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung heißt es:

„Das Ersuchen wird unter Verwendung des im Anhang enthaltenen Formblattes A oder gegebenenfalls des Formblattes I gestellt. Es enthält folgende Angaben:

b) den Namen und die Anschrift der Parteien und gegebenenfalls ihrer Vertreter“.

Verordnung Nr. 1215/2012

5

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:

„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie gilt insbesondere nicht für Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten oder die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta iure imperii).“

6

Art. 4 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“

7

Art. 5 Abs. 1 der Verordnung lautet wie folgt:

„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C‑208/20

8

Das vorlegende Gericht, der Sofiyski Rayonen sad (Kreisgericht Sofia, Bulgarien), ist mit drei Rechtsstreitigkeiten befasst.

9

Der erste Rechtsstreit betrifft eine Klage von Toplofikatsia Sofia auf Feststellung des Bestehens einer Forderung aus der Lieferung von Wärmeenergie an eine Immobilie in Sofia (Bulgarien) gegen eine natürliche Person, nachdem diese im Rahmen eines gegen sie gerichteten Mahnverfahrens unter der im Antrag angegebenen Anschrift nicht auffindbar war. Die Ermittlungen dieses Gerichts bestätigten, dass es sich bei dieser Anschrift um die ständige und aktuelle Anschrift dieser Person handelte, wie sie im nationalen Einwohnermelderegister eingetragen war. Nach den Angaben eines Nachbarn lebt diese Person jedoch seit sieben Jahren in Frankreich.

10

Im zweiten Rechtsstreit erließ das genannte Gericht auf Antrag von CHEZ Elektro Bulgaria, einem Stromversorger, einen Mahnbescheid gegen eine natürliche Person wegen unbezahlter Rechnungen für die Lieferung von Strom an eine in Sofia belegene Immobilie und ordnete an, diesen unter der von CHEZ Elektro Bulgaria angegebenen Anschrift zuzustellen, die der ständigen und aktuellen Anschrift dieser Person entspricht, wie sie im nationalen Einwohnerregister eingetragen ist. Diese Person, die nach den Angaben eines Nachbarn seit einem Jahr in Deutschland lebt, war dort jedoch nicht auffindbar.

11

Im dritten Rechtsstreit hat das vorlegende Gericht auf Antrag eines Inkassounternehmens, Agentsia za control na prosrocheni zadalzhenia, einen Mahnbescheid gegen eine natürliche Person erlassen, die ihr Darlehen bei einem in Sofia ansässigen Kreditinstitut nicht zurückgezahlt hat, und angeordnet, dass dieser ihr unter der von diesem Unternehmen angegebenen Anschrift zugestellt wird, die der ständigen und aktuellen Anschrift dieser Person entspricht, wie sie im nationalen Einwohnerregister eingetragen ist. Diese Person, die nach den Angaben ihrer Mutter seit drei Jahren in Deutschland lebt, war dort jedoch nicht auffindbar.

12

Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob es, ebenso wie es nach bulgarischem Recht verpflichtet ist, von Amts wegen Nachprüfungen hinsichtlich der Anschrift in Bulgarien von Personen durchzuführen, denen ein gerichtliches Schriftstück zuzustellen ist, auch verpflichtet ist, solche Nachprüfungen bei den zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats vorzunehmen, wenn sich herausstellt, dass der Adressat einer gerichtlichen Entscheidung wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden in diesem anderen Mitgliedstaat lebt.

13

Außerdem fragt das vorlegende Gericht nach der Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012. Insoweit möchte es wissen, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass sie das Gericht, wenn es wahrscheinlich oder sicher erscheint, dass ein Schuldner seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in seinem Bezirk hat, daran hindert, einen Mahnbescheid gegen diesen Schuldner zu erlassen, oder verhindert, dass dieser Mahnbescheid vollstreckbar wird. Es fragt sich auch, ob es in diesem Fall nach dieser Bestimmung verpflichtet ist, einen solchen Bescheid von Amts wegen außer Kraft zu setzen.

14

Unter diesen Umständen hat der Sofiyski Rayonen sad (Kreisgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta, die Grundsätze des Diskriminierungsverbots und der Äquivalenz der Verfahrensmaßnahmen im innerstaatlichen Gerichtsverfahren wie auch Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1206/2001 dahin auszulegen, dass, falls das innerstaatliche Recht des angerufenen Gerichts vorsieht, dass dieses eine amtliche Auskunft über die Anschrift des Antragsgegners in seinem eigenen Staat einholt, und festgestellt wird, dass sich dieser Antragsgegner in einem anderen Staat der Europäischen Union befindet, das angerufene nationale Gericht verpflichtet ist, eine Auskunft über die Anschrift des Antragsgegners bei den zuständigen Behörden von dessen Aufenthaltsstaat einzuholen?

2.

Ist Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Verbindung mit dem Grundsatz, dass das nationale Gericht Verfahrensrechte zum wirksamen Schutz der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte gewährleisten muss, dahin auszulegen, dass das nationale Gericht bei der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Schuldners als nach innerstaatlichem Recht geforderter Voraussetzung für die Durchführung eines einseitigen Formalverfahrens ohne Beweisaufnahme, wie das Mahnverfahren eines ist, verpflichtet ist, jeden begründeten Verdacht, dass der Schuldner seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat der Europäischen Union hat, als Mangel einer Rechtsgrundlage für den Erlass eines Mahnbescheids bzw. als Grundlage dafür, dass der Mahnbescheid nicht vollstreckbar wird, auszulegen?

3.

Ist Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 in Verbindung mit dem Grundsatz, dass das nationale Gericht Verfahrensrechte zum wirksamen Schutz der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte gewährleisten muss, dahin auszulegen, dass er ein nationales Gericht, das nach Erlass eines Mahnbescheids gegen einen bestimmten Schuldner festgestellt hat, dass dieser Schuldner wahrscheinlich keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gerichtsstaat hat, und unter der Bedingung, dass dies ein Hindernis für den Erlass eines Mahnbescheids gegen einen solchen Schuldner nach nationalem Recht darstellt, verpflichtet, den erlassenen Mahnbescheid von Amts wegen außer Kraft zu setzen, obwohl keine dahin gehende ausdrückliche gesetzliche Bestimmung vorliegt?

4.

Falls die Frage 3 verneint wird, sind die darin aufgeführten Bestimmungen dahin auszulegen, dass sie das nationale Gericht verpflichten, den erlassenen Mahnbescheid außer Kraft zu setzen, wenn es eine Überprüfung durchgeführt und mit Sicherheit festgestellt hat, dass der Schuldner keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Staat des angerufenen Gerichts hat?

Rechtssache C‑256/20

15

In dieser Rechtssache erließ das vorlegende Gericht, der Sofiyski Rayonen sad (Kreisgericht Sofia), auf Antrag von Toplofikatsia Sofia einen Mahnbescheid gegen eine natürliche Person wegen unbezahlter Rechnungen für die Lieferung von Wärmeenergie an eine Immobilie in Sofia und ordnete dessen Zustellung an die ständige und aktuelle Anschrift dieser Person an. Bei zwei Versuchen war diese Person, die nach den Angaben des Verwalters der betreffenden Immobilie in Deutschland lebt und selten an der fraglichen Adresse anwesend ist, dort jedoch nicht auffindbar.

16

Unter diesen Umständen hat der Sofiyski Rayonen sad (Kreisgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof drei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die mit den Fragen 2 bis 4 in der Rechtssache C‑208/20 identisch sind.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑208/20

17

Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C‑208/20 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta, die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Äquivalenz sowie Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1206/2001 dahin auszulegen sind, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats, wenn sie nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats verpflichtet sind, von Amts wegen die Anschrift in diesem Mitgliedstaat von Personen zu ermitteln, denen ein gerichtliches Schriftstück zuzustellen ist, wenn sich herausstellt, dass eine Person, der eine gerichtliche Entscheidung zuzustellen ist, in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaft ist, ebenfalls verpflichtet sind, eine Auskunft über die Anschrift dieser Person bei den zuständigen Behörden dieses anderen Mitgliedstaats einzuholen.

18

Was erstens die erbetene Auslegung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta sowie der Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Äquivalenz betrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ein Bezug zwischen dem Rechtsstreit, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen muss, so dass diese Auslegung für die Entscheidung, die dieses Gericht zu erlassen hat, objektiv erforderlich ist (Beschluss vom 20. Januar 2021, Bezirkshauptmannschaft Kirchdorf, C‑293/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:44, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19

Der Gerichtshof betont im Übrigen, wie wichtig es ist, dass das nationale Gericht die genauen Gründe angibt, aus denen es Zweifel bezüglich der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat und ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof für erforderlich hält. Insoweit ist es unerlässlich, dass das nationale Gericht in der Vorlageentscheidung selbst ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Vorschriften und dem nationalen Recht, das auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwenden ist, herstellt (Urteil vom 16. Juli 2020, Adusbef und Federconsumatori, C‑686/18, EU:C:2020:567, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20

Die Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens sind ausdrücklich in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs aufgeführt, von dem das vorlegende Gericht im Rahmen der in Art. 267 AEUV vorgesehenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten Kenntnis haben sollte und den es sorgfältig zu beachten hat. Darauf wird auch in Nr. 15 der Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) hingewiesen (Urteil vom 16. Juli 2020, Adusbef und Federconsumatori, C‑686/18, EU:C:2020:567, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

21

Im vorliegenden Fall geht zum einen aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑208/20 in keiner Weise hervor, dass die Ausgangsrechtsstreitigkeiten irgendeinen Bezug zu Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta sowie zu den Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und der Äquivalenz aufweisen.

22

Zum anderen gibt das vorlegende Gericht weder an, aus welchen Gründen seiner Ansicht nach für die Entscheidung der betreffenden Rechtsstreitigkeiten eine Auslegung dieser Bestimmungen und Grundsätze erforderlich ist, noch erläutert es den Zusammenhang, den es zwischen diesen und der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung herstellt.

23

Folglich ist die erste Frage unzulässig, soweit sie sich auf die Auslegung der genannten Bestimmungen und Grundsätze bezieht.

24

Was zweitens die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1206/2001 angeht, ist darauf hinzuweisen, dass diese Verordnung nach dieser Bestimmung in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden ist, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats um Beweisaufnahme ersucht.

25

Die Ermittlung der Anschrift einer Person, der eine gerichtliche Entscheidung zuzustellen ist, stellt jedoch keine „Beweisaufnahme“ im Sinne dieser Bestimmung dar, die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

26

Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung in einem solchen Antrag u. a. der Name und die Anschrift der Parteien anzugeben sind.

27

Folglich wird ein Ersuchen eines Gerichts eines Mitgliedstaats, das die Ermittlung der Anschrift einer Person, an die eine gerichtliche Entscheidung zuzustellen ist, in einem anderen Mitgliedstaat zum Gegenstand hat, nicht durch die Verordnung Nr. 1206/2001 geregelt, so dass diese Verordnung auf eine Situation wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht anwendbar ist.

28

Nach alledem ist auf die erste Frage in der Rechtssache C‑208/20 zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 1206/2001 dahin auszulegen ist, dass er nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anschrift in einem anderen Mitgliedstaat einer Person, der eine gerichtliche Entscheidung zuzustellen ist, zu ermitteln sucht.

Zu den Fragen 2 bis 4 in der Rechtssache C‑208/20 und den drei Fragen in der Rechtssache C‑256/20

29

Mit seinen Fragen 2 bis 4 in der Rechtssache C‑208/20 und seinen drei Fragen in der Rechtssache C‑256/20 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass er ein Gericht eines Mitgliedstaats daran hindert, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, und gegebenenfalls verhindert, dass dieser Bescheid vollstreckbar wird, oder dass er das Gericht verpflichtet, diesen Bescheid außer Kraft zu setzen, wenn es wahrscheinlich oder sicher erscheint, dass der Schuldner seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Bezirk dieses Gerichts hat.

30

Nach dieser Bestimmung können Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 des Kapitels II dieser Verordnung verklagt werden.

31

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein muss, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Das Vorabentscheidungsverfahren setzt daher insbesondere voraus, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Im vorliegenden Fall geht aus den Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht bereits Mahnbescheide gegen die Antragsgegner der Ausgangsverfahren erlassen hat und dass es erst im Stadium der Zustellung dieser Bescheide an die Antragsgegner festgestellt hat, dass diese nicht mehr in seinem Bezirk, sondern wahrscheinlich in einem anderen Mitgliedstaat unter unbekannten Adressen wohnhaft waren.

33

Unter diesen Umständen erscheint eine Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 offensichtlich nicht erforderlich, um dem vorlegenden Gericht die Begründung seiner Zuständigkeit für den Erlass dieser Mahnbescheide zu ermöglichen, da das Gericht diese Bescheide bereits erlassen hat und diese Zuständigkeit daher vor Erlass der Bescheide zwangsläufig anerkannt hat.

34

Daraus folgt, dass die zweite Frage in der Rechtssache C‑208/20 und die erste Frage in der Rechtssache C‑256/20 unzulässig sind, da es in diesen Fragen darum geht, ob diese Bestimmung ein Gericht eines Mitgliedstaats unter solchen Umständen daran hindert, einen Mahnbescheid gegen einen Schuldner zu erlassen, wenn es wahrscheinlich oder sicher erscheint, dass der Schuldner seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Bezirk dieses Gerichts hat.

35

Zu den Fragen, ob Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren dahin auszulegen ist, dass es ihm zuwiderläuft, dass die von dem betreffenden Gericht erlassenen Mahnbescheide vollstreckbar werden, oder dass er dieses Gericht verpflichtet, diese Bescheide außer Kraft zu setzen, genügt die Feststellung, dass diese Bestimmung in keinem Zusammenhang mit den Verfahrensvorschriften der Mitgliedstaaten steht, die zum einen die Voraussetzungen, unter denen gerichtliche Entscheidungen vollstreckbar werden, und zum anderen die Gültigkeit dieser Entscheidungen regeln.

36

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1215/2012 nicht die Vereinheitlichung der Verfahrensregeln der Mitgliedstaaten zum Gegenstand hat, sondern die Verteilung der gerichtlichen Zuständigkeiten für Zivil- und Handelssachen im Verhältnis zwischen diesen Staaten und die Erleichterung der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen (Urteil vom 31. Mai 2018, Nothartová, C‑306/17, EU:C:2018:360, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Da in dieser Verordnung weder festgelegt ist, unter welchen Voraussetzungen gerichtliche Entscheidungen vollstreckbar werden, noch unter welchen Voraussetzungen diese gültig sind, fallen diese Voraussetzungen somit unter die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Mai 2018, Nothartová, C‑306/17, EU:C:2018:360, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung)

38

Da Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 auf eine Situation wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht anwendbar ist, kann außerdem nicht davon ausgegangen werden, dass die vom vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung über den Eintritt der Vollstreckbarkeit eines Mahnbescheids oder die Gültigkeit eines solchen Bescheids in einer solchen Situation geeignet ist, der Anwendung dieser Bestimmung jede Wirksamkeit zu nehmen.

39

Unter diesen Umständen ist auf die Fragen 2 bis 4 in der Rechtssache C‑208/20 und auf die drei Fragen in der Rechtssache C‑256/20 zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 dahin auszulegen ist, dass es ihm nicht zuwiderläuft, dass ein Mahnbescheid gegen einen Schuldner vollstreckbar wird, und dass er nicht vorschreibt, einen solchen Bescheid außer Kraft zu setzen.

Kosten

40

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anschrift in einem anderen Mitgliedstaat einer Person, der eine gerichtliche Entscheidung zuzustellen ist, zu ermitteln sucht.

 

2.

Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass es ihm nicht zuwiderläuft, dass ein Mahnbescheid gegen einen Schuldner vollstreckbar wird, und dass er nicht vorschreibt, einen solchen Bescheid außer Kraft zu setzen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.