URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

1. Juli 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Steuerprüfung – Erbringung von Dienstleistungen aufgrund einer Tätigkeit als Vermittler von Künstlern – Mehrwertsteuerpflichtige Umsätze – Bei der Steuerverwaltung nicht erklärte Umsätze, über die keine Rechnung ausgestellt wurde – Betrug – Rekonstruktion der Bemessungsgrundlage für die Einkommensteuer – Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer – Einbeziehung der Mehrwertsteuer in die rekonstruierte Steuerbemessungsgrundlage“

In der Rechtssache C‑521/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Oberstes Gericht von Galicien, Spanien) mit Entscheidung vom 19. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2019, in dem Verfahren

CB

gegen

Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters J. Passer,

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von CB, vertreten durch C. Gómez Docampo, abogada,

der spanischen Regierung, vertreten durch S. Jiménez García als Bevollmächtigten,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. März 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 73 und 78 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen CB und dem Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia (Unabhängige Regionale Einspruchsstelle der Finanzverwaltung von Galicien, Spanien) wegen Steuerfestsetzungen und Sanktionen, die CB im Rahmen einer Steuernacherhebung der für die Jahre 2010 bis 2012 geschuldeten Einkommensteuer auferlegt wurden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der siebte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sollte, selbst wenn die Sätze und Befreiungen nicht völlig harmonisiert werden, eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden.“

4

Art. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie legt das gemeinsame Mehrwertsteuersystem fest.

(2)   Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.

Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.

Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem wird bis zur Einzelhandelsstufe, diese eingeschlossen, angewandt.“

5

Art. 73 der Richtlinie 2006/112 hat folgenden Wortlaut:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

6

Art. 78 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente einzubeziehen:

a)

Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;

b)

Nebenkosten wie Provisions-, Verpackungs-, Beförderungs- und Versicherungskosten, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger fordert.

Die Mitgliedstaaten können als Nebenkosten im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe b Kosten ansehen, die Gegenstand einer gesonderten Vereinbarung sind.“

7

In Art. 178 der Richtlinie 2006/112 heißt es:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a)

für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und dem Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;

…“

8

Nach Art. 193 der Richtlinie 2006/112 schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, die Mehrwertsteuer, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Art. 194 bis 199 sowie 202 der Richtlinie von einer anderen Person geschuldet wird.

9

In Art. 220 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 heißt es:

„Jeder Steuerpflichtige stellt in folgenden Fällen eine Rechnung entweder selbst aus oder trägt dafür Sorge, dass eine Rechnung vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder in seinem Namen und für seine Rechnung von einem Dritten ausgestellt wird:

1.

Er liefert Gegenstände oder erbringt Dienstleistungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person.

5.

Er erhält Vorauszahlungen von einem anderen Steuerpflichtigen oder einer nichtsteuerpflichtigen juristischen Person, bevor eine Dienstleistung abgeschlossen ist.“

10

Art. 226 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:

6.

Menge und Art der gelieferten Gegenstände beziehungsweise Umfang und Art der erbrachten Dienstleistungen;

7.

das Datum, an dem die Gegenstände geliefert werden oder die Dienstleistung erbracht bzw. abgeschlossen wird, oder das Datum, an dem die Vorauszahlung im Sinne des Artikels 220 Nummern 4 und 5 geleistet wird, sofern dieses Datum feststeht und nicht mit dem Ausstellungsdatum der Rechnung identisch ist;

8.

die Steuerbemessungsgrundlage für die einzelnen Steuersätze beziehungsweise die Befreiung, den Preis je Einheit ohne Mehrwertsteuer sowie jede Preisminderung oder Rückerstattung, sofern sie nicht im Preis je Einheit enthalten sind;

9.

den anzuwendenden Mehrwertsteuersatz;

10.

den zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag, außer bei Anwendung einer Sonderregelung, bei der nach dieser Richtlinie eine solche Angabe ausgeschlossen wird;

…“

11

Art. 273 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

Spanisches Recht

12

Art. 78 Abs. 1 der Ley 37/1992 del Impuesto sobre el Valor Añadido (Gesetz 37/1992 über die Mehrwertsteuer) vom 28. November 1992 (BOE Nr. 312 vom 29. Dezember 1992, S. 44247) lautet:

„Die Steuerbemessungsgrundlage besteht aus dem Gesamtbetrag der vom Empfänger oder von Dritten für die der Steuer unterliegenden Umsätze erbrachten Gegenleistung.“

13

Art. 88 („Abwälzung der Steuer“) des Gesetzes 37/1992 lautet:

„(1)   Die Steuerpflichtigen müssen den Betrag der Steuer in vollem Umfang auf die Person abwälzen, für die der besteuerte Umsatz bewirkt wird, und diese hat die Steuer zu zahlen, vorausgesetzt, die Abwälzung erfolgt im Einklang mit den Bestimmungen dieses Gesetzes, unabhängig davon, was die Parteien untereinander vereinbart haben. Bei steuerbaren und nicht steuerbefreiten Warenlieferungen und Dienstleistungen, deren Empfänger eine öffentliche Stelle ist, wird immer davon ausgegangen, dass der Steuerpflichtige bei der Formulierung seiner Preisangebote, auch wenn diese nur mündlich erfolgen, in diese Angebote die Mehrwertsteuer einbezogen hat, die gegebenenfalls gleichwohl als unabhängiger Teil in den Unterlagen abgewälzt werden muss, die für die Erhebung vorgelegt werden, während sich der vereinbarte Gesamtbetrag als Folge des ausgewiesenen Betrags der abgewälzten Steuer nicht erhöhen darf.

(2)   Die Abwälzung der Steuer muss mittels einer Rechnung und im Einklang mit den gesetzlichen Voraussetzungen erfolgen. Zu diesem Zweck wird der abgewälzte Betrag, auch bei verwaltungsmäßig festgesetzten Preisen, unter Angabe des angewendeten Steuersatzes gesondert von der Steuerbemessungsgrundlage ausgewiesen. Gesetzlich festgelegte Umsätze sind von dem Vorstehenden ausgenommen.

(3)   Die Abwälzung der Steuer muss im Zeitpunkt der Ausstellung und Aushändigung der entsprechenden Rechnung erfolgen.

(4)   Das Recht zur Abwälzung der Steuer erlischt nach Ablauf eines Jahres seit dem Fälligkeitsdatum.

(5)   Der Empfänger des mit der Mehrwertsteuer belasteten Umsatzes ist vor dem Fälligkeitsdatum der Mehrwertsteuer nicht zur Zahlung der abgewälzten Mehrwertsteuer verpflichtet.

(6)   Etwaige Streitigkeiten mit Bezug auf die Abwälzung der Steuer, sowohl hinsichtlich ihrer Zulässigkeit als auch ihrer Höhe, gelten für die Zwecke der entsprechenden Einsprüche im Wirtschaftsverwaltungsverfahren als solche steuerlicher Art.“

14

Art. 89 („Berichtigung der abgewälzten Steuerbeträge“) dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)   Steuerpflichtige sind zur Berichtigung der abgewälzten Steuerbeträge verpflichtet, wenn deren Betrag fehlerhaft bestimmt wurde oder Umstände eintreten, die nach den Bestimmungen von Art. 80 dieses Gesetzes zur Änderung der Steuerbemessungsgrundlage führen. Die Berichtigung muss zu dem Zeitpunkt erfolgen, in dem die Gründe für die fehlerhafte Bestimmung der Beträge bekannt werden oder die anderen Umstände eintreten, auf die der vorstehende Unterabsatz Bezug nimmt, sofern noch keine vier Jahre seit dem Zeitpunkt der Fälligkeit der dem Umsatz entsprechenden Steuer oder gegebenenfalls seit dem Eintreten der in Art. 80 dieses Gesetzes in Bezug genommenen Umstände vergangen sind.

(2)   Die Bestimmungen des vorstehenden Absatzes finden auch Anwendung, wenn kein Betrag abgewälzt und die dem Umsatz entsprechende Rechnung ausgestellt worden ist.

(3)   Unbeschadet der Bestimmungen in den vorstehenden Absätzen dürfen die abgewälzten Steuerbeträge in den folgenden Fällen nicht berichtigt werden:

1.

wenn die Berichtigung nicht auf den in Art. 80 dieses Gesetzes genannten Gründen beruht, eine Erhöhung der abgewälzten Beträge bedeutet und die Empfänger der Umsätze nicht als Unternehmer oder Gewerbetreibende handeln, außer in Fällen der gesetzlichen Anhebung der Steuersätze, in denen die Berichtigung im Monat des Inkrafttretens der neuen Steuersätze sowie im Folgemonat erfolgen kann;

2.

wenn die Steuerbehörde durch entsprechende Steuerfestsetzung fällige und nicht abgewälzte Steuerbeträge nachweist, die die vom Steuerpflichtigen erklärten übersteigen, und aufgrund objektiver Daten feststeht, dass dieser Steuerpflichtige an einem Betrug beteiligt war oder wusste oder bei angemessener Sorgfalt hätte wissen müssen, dass er einen Umsatz bewirkte, der Teil eines Betrugs war.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

15

CB ist ein Selbständiger, der als Vermittler von Künstlern tätig ist. Seine Tätigkeit unterliegt der Mehrwertsteuer. In dieser Eigenschaft erbrachte er Dienstleistungen für die Lito-Gruppe, eine Gruppe von Unternehmen, die mit dem Infrastruktur- und Orchestermanagement für Patronats- und Dorffeste in Galicien (Spanien) betraut war. Konkret nahm CB Kontakt zu den Festkomitees (informellen Gruppen von Ortseinwohnern, die die Festlichkeiten organisierten) auf und verhandelte im Namen der Lito-Gruppe über den Auftritt der Orchester.

16

Die in diesem Rahmen geleisteten Zahlungen der Festkomitees an die Lito-Gruppe erfolgten in bar, ohne Ausstellung einer Rechnung oder Verbuchung. Infolgedessen wurden sie der Steuerverwaltung weder für Zwecke der Körperschaftsteuer noch für Zwecke der Mehrwertsteuer erklärt.

17

CB erhielt 10 % der Einnahmen der Lito-Gruppe. Die an ihn geleisteten Zahlungen erfolgten auch in bar, wurden nicht erklärt, und es wurden keine Rechnungen darüber ausgestellt. CB führte keine Buchhaltung und erstellte keine offiziellen Aufzeichnungen. Er stellte weder Rechnungen aus, noch erhielt er welche. Infolgedessen gab er keine Mehrwertsteuererklärungen ab.

18

Nach einer Prüfung der steuerlichen Situation von CB war die Steuerverwaltung der Ansicht, dass die Beträge, die er als Vergütung für seine Tätigkeit als Vermittler für die Lito-Gruppe erhalten habe –64414,90 Euro im Jahr 2010, 67565,40 Euro im Jahr 2011 und 60692,50 Euro im Jahr 2012 –, keine Mehrwertsteuer enthielten. Deshalb sei die Steuerbemessungsgrundlage für die Einkommensteuer dieser Jahre unter Berücksichtigung der Gesamtheit dieser Beträge zu ermitteln. Die entsprechenden Nacherhebungen führten zur Festsetzung von Einkommensteuer für die Jahre 2010 bis 2012. Außerdem wurden gegen CB Sanktionen verhängt. Er legte gegen die Maßnahmen der Steuerverwaltung, mit denen die Steuer festgesetzt und Sanktionen gegen ihn angeordnet wurden, Einspruch ein.

19

Die Unabhängige Regionale Einspruchsstelle der Finanzverwaltung von Galicien wies den Einspruch von CB zurück, der dagegen einen Rechtsbehelf beim vorlegenden Gericht einlegte.

20

In diesem Zusammenhang trägt CB vor, die nachträgliche Anwendung der Mehrwertsteuer auf Beträge, die die Steuerverwaltung als Einkünfte angesehen habe, stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) und des Gerichtshofs, wonach die Mehrwertsteuer, wenn der Steuerverwaltung Umsätze bekannt würden, die grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterlägen, für die jedoch keine Erklärungen abgegeben und keine Rechnungen ausgestellt worden seien, als in dem zwischen den Parteien dieser Umsätze vereinbarten Preis enthalten anzusehen sei.

21

CB ist daher der Ansicht, da es ihm nach spanischem Recht nicht möglich sei, die nicht abgewälzte Mehrwertsteuer einzufordern, weil sein Verhalten ein Steuervergehen darstelle, müsse davon ausgegangen werden, dass die Mehrwertsteuer im Preis der erbrachten Dienstleistungen enthalten sei.

22

Das vorlegende Gericht führt aus, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits müsse es klären, ob die Auslegung des Gesetzes 37/1992 durch das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), wonach bei Umsätzen, die Wirtschaftsteilnehmer freiwillig und in abgestimmter Weise tätigten und die zu Barzahlungen ohne Rechnungen und ohne Erklärung der Mehrwertsteuer führten, davon auszugehen sei, dass diese Zahlungen die Mehrwertsteuer enthielten, mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

23

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Superior de Justicia de Galicia (Oberstes Gericht von Galicien, Spanien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Art. 73 und 78 der Richtlinie 2006/112 im Licht der Grundsätze der Neutralität, des Verbots des Steuerbetrugs und des Rechtsmissbrauchs sowie des Verbots rechtswidriger Wettbewerbsverzerrungen dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften und der Rechtsprechung zu ihrer Auslegung entgegenstehen, wonach in Fällen, in denen die Steuerverwaltung verschleierte mehrwertsteuerpflichtige Umsätze entdeckt, für die keine Rechnungen ausgestellt wurden, davon auszugehen ist, dass der von den Parteien für diese Umsätze vereinbarte Preis die Mehrwertsteuer enthält?

Kann daher in Fällen von Betrug, in denen der Umsatz gegenüber der Steuerverwaltung verschleiert wurde, angenommen werden, dass, wie den Urteilen des Gerichtshofs vom 28. Juli 2016, Astone (C‑332/15, EU:C:2016:614), vom 5. Oktober 2016, Maya Marinova (C‑576/15, EU:C:2016:740), und vom 7. März 2018, Dobre (C‑159/17, EU:C:2018:161), zu entnehmen ist, die gezahlten und erlangten Beträge die Mehrwertsteuer nicht enthalten, um die geeignete Festsetzung vorzunehmen und die entsprechende Sanktion zu verhängen?

Zur Vorlagefrage

24

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, wie die Art. 73 und 78 der Richtlinie 2006/112 über die Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage eines Umsatzes zwischen Mehrwertsteuerpflichtigen insbesondere im Licht des Grundsatzes der Neutralität auszulegen sind, wenn diese Steuerpflichtigen der Steuerverwaltung aufgrund eines Steuerbetrugs weder mitgeteilt haben, dass es den Umsatz gibt, noch eine Rechnung ausgestellt oder die bei diesem Umsatz erzielten Einkünfte in einer direkte Steuern betreffenden Erklärung angegeben haben. Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, ob unter diesen Umständen davon auszugehen ist, dass die gezahlten und erhaltenen Beträge die Mehrwertsteuer bereits enthalten.

25

Zunächst ist hervorzuheben, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen zwar zu den von der Richtlinie 2006/112 anerkannten und geförderten Zielen gehört (Urteil vom 12. November 2020, ITH Comercial Timișoara, C‑734/19, EU:C:2020:919, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung), doch zählt die Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage eines Umsatzes zwischen Steuerpflichtigen im Sinne der Art. 73 und 78 dieser Richtlinie nicht zu den Instrumenten, die den Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Richtlinie zur Erreichung des genannten Ziels in der Weise zur Verfügung stehen, dass sie diese Bestimmungen im Fall der Steuerhinterziehung anders auslegen können als dann, wenn kein betrügerisches Verhalten der Steuerpflichtigen vorliegt.

26

Wie der Generalanwalt in Nr. 29 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage nämlich von der Frage zu trennen, ob es geboten ist, den betreffenden Personen wegen Verstoßes gegen die Vorschriften des gemeinsamen Mehrwertsteuermechanismus eine Sanktion aufzuerlegen.

27

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber unabhängig von den Sanktionen, die von den Mitgliedstaaten zur Bekämpfung rechtswidriger und insbesondere betrügerischer Verhaltensweisen festgelegt wurden, selbst dafür gesorgt hat, dass Steuerpflichtige, die die Grundregeln der Richtlinie 2006/112, insbesondere im Bereich der Rechnungsstellung, nicht eingehalten haben, die Folgen ihres Verhaltens tragen, indem sie die Mehrwertsteuer auch dann nicht in Abzug bringen können, wenn auf Umsätze, für die keine Rechnung ausgestellt wurde, nach einer Steuerprüfung rückwirkend Mehrwertsteuer erhoben wird.

28

So ist zwar nach ständiger Rechtsprechung das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die für die von ihnen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen geschuldete oder entrichtete Vorsteuer abzuziehen, ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, mit dem der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll und das auf diese Weise die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis gewährleistet, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen; um dieses Recht ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige jedoch nach Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 grundsätzlich im Besitz einer Rechnung sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen, C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 37, 38, 42 und 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Wie das vorlegende Gericht bestätigt, ergibt sich aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften in Art. 88 Abs. 2 und Art. 89 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes 37/1992, dass im vorliegenden Fall der Kläger des Ausgangsverfahrens – unbeschadet der steuerlichen Sanktionen, die gegen ihn verhängt wurden oder verhängt werden könnten – den auf den Umsatz, den er der Steuerverwaltung nicht gemeldet hat und für den er keine Rechnung ausgestellt hat, entfallenden Mehrwertsteuerbetrag nicht in Abzug bringen kann.

30

Was die Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage für Umsätze zwischen Steuerpflichtigen, also auf einer früheren Stufe als derjenigen, auf der die Mehrwertsteuer vom Endverbraucher entrichtet wird, anbelangt, hätte somit der Dienstleistungserbringer, hier der Kläger des Ausgangsverfahrens, dem Empfänger der Dienstleistungen, hier der Lito-Gruppe, die Mehrwertsteuer in Rechnung stellen und bei der Steuerverwaltung erklären müssen; dies hätte ihm ein Recht auf Abzug der Vorsteuer auf alle Waren oder Dienstleistungen eröffnet, die für die Erbringung seiner eigenen Dienstleistung herangezogen wurden. Wegen des von ihm begangenen Betrugs würden jedoch die Bestimmungen von Art. 89 Abs. 3 Nr. 2 des Gesetzes 37/1992 jeder Möglichkeit zur Berichtigung der Mehrwertsteuer und damit auch zur Ausübung des fraglichen Rechts auf Vorsteuerabzug entgegenstehen; dies wird das vorlegende Gericht zu überprüfen haben.

31

Der Umstand, dass Steuerpflichtige gegen die in Art. 220 der Richtlinie 2006/112 aufgestellte Pflicht zur Rechnungsstellung verstoßen haben und daher die in Art. 226 Nrn. 6 bis 10 dieser Richtlinie aufgeführten zwingenden Angaben definitionsgemäß nicht vorhanden sind, kann jedoch dem Grundprinzip dieser Richtlinie, das nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs darin besteht, dass nur der Endverbraucher durch das Mehrwertsteuersystem belastet werden soll (Urteil vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin, C‑249/12 und C‑250/12, EU:C:2013:722, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung), nicht im Weg stehen.

32

Darüber hinaus ist – auch wenn die von der betreffenden nationalen Verwaltung im Rahmen einer Steuerprüfung durchgeführten Überprüfungen darauf abzielen, die Situation wiederherzustellen, die ohne Unregelmäßigkeit und erst recht ohne Betrug bestanden hätte, und auch wenn diese Verwaltung Anstrengungen unternimmt, mittels verschiedener Methoden die verschleierten Umsätze und die hinterzogenen Einkünfte zu rekonstruieren – gleichwohl darauf hinzuweisen, dass diese Methoden keine absolute Zuverlässigkeit beanspruchen können und eine unvermeidbare Unsicherheitsmarge beinhalten, so dass sie in Wirklichkeit darauf abzielen, zu einem steuerlichen Ergebnis zu gelangen, das in Anbetracht der bei der Steuerprüfung gesammelten materiellen Gesichtspunkte so wahrscheinlich und so wahrheitsgetreu wie möglich ist.

33

Unter diesen Umständen ist die Steuerbemessungsgrundlage im Sinne der Art. 73 und 78 der Richtlinie 2006/112, d. h. die Gegenleistung als subjektiver Wert, den der Steuerpflichtige tatsächlich erhalten hat und der die Mehrwertsteuer nicht umfasst, im Fall einer nachträglichen Rekonstruktion durch die betreffende nationale Steuerverwaltung wegen des fehlenden Ausweises der Mehrwertsteuer in einer Rechnung oder des Fehlens einer Rechnung – unabhängig davon, ob diese Versäumnisse auf einer betrügerischen Absicht beruhen – unter Berücksichtigung dieser unvermeidbaren Unsicherheitsmarge zu verstehen.

34

Deshalb ist davon auszugehen, dass das Ergebnis eines Umsatzes, der von mehrwertsteuerpflichtigen Personen gegenüber der Steuerverwaltung verschleiert wurde, obwohl für ihn nach Art. 220 der Richtlinie 2006/112 eine Rechnung mit den in ihrem Art. 226 vorgeschriebenen Angaben hätte ausgestellt werden müssen und er der Behörde hätte gemeldet werden müssen, die auf den Umsatz entfallende Mehrwertsteuer enthält, wenn dieses Ergebnis, wie im Ausgangsverfahren, auf einer Rekonstruktion durch die betreffende Steuerverwaltung beruht, die im Rahmen einer Prüfung in Bezug auf direkte Steuern vorgenommen wurde.

35

Anders verhielte es sich im vorliegenden Fall hingegen, wenn das vorlegende Gericht der Auffassung sein sollte, dass am Ende der in Rn. 30 des vorliegenden Urteils angesprochenen Prüfung nach dem anwendbaren nationalen Recht eine Berichtigung der Mehrwertsteuer möglich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin, C‑249/12 und C‑250/12, EU:C:2013:722, Rn. 37).

36

Jede andere Auslegung verstieße gegen den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer und würde dazu führen, dass ein Teil der Mehrwertsteuerbelastung von einem Steuerpflichtigen zu tragen wäre, obwohl sie nach der in den Rn. 28 und 31 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nur vom Endverbraucher getragen werden soll.

37

Diese Lösung steht auch nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung in den Urteilen vom 28. Juli 2016, Astone (C‑332/15, EU:C:2016:614), vom 5. Oktober 2016, Maya Marinova (C‑576/15, EU:C:2016:740), und vom 7. März 2018, Dobre (C‑159/17, EU:C:2018:161), denn dort hat sich der Gerichtshof, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht dazu geäußert, ob die Mehrwertsteuer im Betrag der von der Steuerverwaltung im Fall eines Betrugs rekonstruierten Einkünfte enthalten ist, wenn die Einkünfte durch verschleierte mehrwertsteuerpflichtige Umsätze entstanden sind, für die eine Rechnung hätte ausgestellt werden müssen und die meldepflichtig gewesen wären.

38

Hinzuzufügen ist, dass die Beachtung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer die Mitgliedstaaten weder daran hindert, in Anwendung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112 Sanktionen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung zu erlassen, noch, allgemeiner, der ihnen durch Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV auferlegten Verpflichtung entgegensteht, gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit effektiven und abschreckenden Maßnahmen zu bekämpfen und zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 30). Ein Steuerbetrug wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende ist im Rahmen solcher Sanktionen zu ahnden und nicht im Wege der Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage im Sinne der Art. 73 und 78 der Richtlinie 2006/112.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 und insbesondere ihre Art. 73 und 78 im Licht des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass in einem Fall, in dem mehrwertsteuerpflichtige Personen der Steuerverwaltung aufgrund eines Steuerbetrugs weder mitgeteilt haben, dass es den Umsatz gibt, noch eine Rechnung ausgestellt oder die bei diesem Umsatz erzielten Einkünfte in einer direkte Steuern betreffenden Erklärung angegeben haben, davon auszugehen ist, dass die von der betreffenden Steuerverwaltung im Rahmen der Überprüfung einer solchen Erklärung durchgeführte Rekonstruktion der bei dem fraglichen Umsatz gezahlten und erhaltenen Beträge einen die Mehrwertsteuer bereits enthaltenden Preis darstellt, es sei denn, für die Steuerpflichtigen besteht nach nationalem Recht die Möglichkeit, die in Rede stehende Mehrwertsteuer trotz des Betrugs nachträglich abzuwälzen und in Abzug zu bringen.

Kosten

40

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und insbesondere ihre Art. 73 und 78 sind im Licht des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem mehrwertsteuerpflichtige Personen der Steuerverwaltung aufgrund eines Steuerbetrugs weder mitgeteilt haben, dass es den Umsatz gibt, noch eine Rechnung ausgestellt oder die bei diesem Umsatz erzielten Einkünfte in einer direkte Steuern betreffenden Erklärung angegeben haben, davon auszugehen ist, dass die von der betreffenden Steuerverwaltung im Rahmen der Überprüfung einer solchen Erklärung durchgeführte Rekonstruktion der bei dem fraglichen Umsatz gezahlten und erhaltenen Beträge einen die Mehrwertsteuer bereits enthaltenden Preis darstellt, es sei denn, für die Steuerpflichtigen besteht nach nationalem Recht die Möglichkeit, die in Rede stehende Mehrwertsteuer trotz des Betrugs nachträglich abzuwälzen und in Abzug zu bringen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.