URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

8. Mai 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 90 und 273 – Vollständige oder teilweise Nichtbezahlung des dem Steuerzahler aus einem mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz geschuldeten Betrags durch den Schuldner – Steuerbemessungsgrundlage – Verminderung – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑127/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 18. Januar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Februar 2018, in dem Verfahren

A-PACK CZ s. r. o.

gegen

Odvolací finanční ředitelství

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas, L. Bay Larsen und M. Safjan,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Januar 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der A-PACK CZ s. r. o., vertreten durch R. Cholenský und F. Hejl, advokáti,

des Odvolací finanční ředitelství, vertreten durch T. Rozehnal als Bevollmächtigten,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und O. Serdula als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und A. Kramarczyk-Szaładzińska als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Salyková, J. Jokubauskaitė und R. Lyal als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie von Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

2

Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der A‑PACK CZ s. r. o. und dem Odvolací finanční ředitelství (Einspruchsfinanzdirektion, Tschechische Republik) über dessen Weigerung, es A‑PACK CZ zu gestatten, eine Berichtigung der für unbezahlte und wegen Insolvenz des Schuldners als uneinbringlich erachtete Forderungen entrichteten Mehrwertsteuer vorzunehmen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 73 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

4

Art. 90 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„(1)   Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.

(2)   Die Mitgliedstaaten können im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von Absatz 1 abweichen.“

5

Art. 273 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

Tschechisches Recht

6

Das Recht auf Berichtigung der Steuerhöhe bei Forderungen gegen Schuldner im Insolvenzverfahren wurde in den Zákon č. 235/2004 Sb., o dani z přidané hodnoty (Gesetz Nr. 235/2004 über die Mehrwertsteuer, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) durch das Gesetz Nr. 47/2011 eingefügt, dessen Begründung lautet:

„Aufgrund der negativen Entwicklung der wirtschaftlichen Situation gilt es, eine neue Möglichkeit der Berichtigung der Mehrwertsteuerhöhe bei Forderungen gegen Schuldner (Erwerber), gegen die ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, einzuführen. Der vorliegende Vorschlag reagiert aktiv auf die gegenwärtige wirtschaftliche Situation und stellt eine Maßnahme der Krisenbekämpfung dar mit dem Ziel, die Unternehmen zu unterstützen, deren Cashflow durch uneinbringliche Forderungen gegen Unternehmen in Insolvenz vermindert ist.

Wegen der Folgen der weltweiten Finanzkrise gibt es immer mehr Unternehmen, die sich in einem Insolvenzverfahren befinden und nicht mehr in der Lage sind, ihren Verpflichtungen ihren Gläubigern (Lieferanten) gegenüber nachzukommen. Etliche Lieferanten (Gläubiger) sind nicht mehr in der Lage, die Forderungen, die sie gegen Erwerber (Schuldner) haben, in voller Höhe beizutreiben. Dieser Umstand hat negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation von bislang ‚lebensfähigen‘ Unternehmen.

Auf der Grundlage dieser Bestimmung wird der Gläubiger (Lieferant) deshalb das Recht auf Berichtigung der Mehrwertsteuerhöhe haben, wenn der Erwerber (Schuldner) ihm die gelieferten Gegenstände oder die erbrachte Dienstleistung nicht bezahlt hat und der Insolvenzrichter gegen den Erwerber ein Insolvenzverfahren eröffnet hat. …

Der Vorschlag steht vollauf im Einklang mit den Art. 90 und 185 der Richtlinie [2006/112]. Eine ähnliche Regelung gilt in mindestens zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Diese Regelung ist in unterschiedlicher Form in folgenden Mitgliedstaaten umgesetzt: Belgien, Luxemburg, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Portugal, Irland, Österreich, Italien, Griechenland, Lettland und Großbritannien.“

7

§ 44 Abs. 3 des Mehrwertsteuergesetzes, der sich auf die Berichtigung der Steuerhöhe für Forderungen gegen Schuldner bezieht, gegen die ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, sieht vor:

„Der Gläubiger kann die Berichtigung der Mehrwertsteuerhöhe frühestens in dem Steuerjahr durchführen, in dem die Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind. Eine Berichtigung … kann nicht durchgeführt werden, wenn der Schuldner nicht mehr steuerpflichtig ist.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

8

A‑PACK CZ ist eine mehrwertsteuerpflichtige tschechische Gesellschaft; gegen eines der Unternehmen, die zu ihren Kunden zählen, die Delpharmea Nutraceuticals, a.s., wurde am 27. Mai 2009 ein Insolvenzverfahren eröffnet.

9

In ihrer Steuererklärung für den Steuerzeitraum des vierten Quartals des Jahres 2011 beantragte A‑PACK CZ die Erstattung eines Betrags von 539822 tschechischen Kronen (CZK) (ungefähr 21000 Euro), u. a. aufgrund einer Berichtigung der Mehrwertsteuerhöhe wegen unbezahlter Forderungen dieser Gesellschaft für die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen im Zeitraum vom 30. Oktober 2008 bis zum 2. Februar 2009.

10

Mit Bescheid vom 17. April 2012 beschränkte der Finanční úřad pro Prahu 9 (Finanzamt für Prag 9, Tschechische Republik) den von A‑PACK CZ geforderten Betrag auf 41211 CZK (ungefähr 1600 Euro), da eine Berichtigung der Steuerhöhe nach § 44 Abs. 3 des Mehrwertsteuergesetzes nicht vorgenommen werden könne, wenn der Schuldner nicht mehr steuerpflichtig sei, was bei Delpharmea Nutraceuticals seit dem 3. November 2011 der Fall sei.

11

A‑PACK CZ legte gegen diesen Bescheid Einspruch bei der Einspruchsfinanzdirektion ein, die diesen zurückwies.

12

A‑PACK CZ erhob beim Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik) eine Klage auf Aufhebung der Zurückweisungsentscheidung, die dieses Gericht abwies.

13

Unter diesen Umständen legte A‑PACK CZ gegen das abweisende Urteil Kassationsbeschwerde bei dem vorlegenden Gericht, dem Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik), ein. Sie macht geltend, die Voraussetzung der Mehrwertsteuerpflichtigkeit des Schuldners gemäß § 44 Abs. 3 des Mehrwertsteuergesetzes stehe nicht nur im Widerspruch zu Art. 90 der Richtlinie 2006/112, sondern stelle auch eine verbotene staatliche Beihilfe dar.

14

Das vorlegende Gericht vertritt die Auffassung, dass das Vorbringen von A‑PACK CZ zum Vorliegen einer staatlichen Beihilfe nicht durchgreifen könne. Die Voraussetzung der weiterhin bestehenden Mehrwertsteuerpflichtigkeit des Schuldners gemäß § 44 Abs. 3 des Mehrwertsteuergesetzes stehe hingegen im Widerspruch zu Art. 90 der Richtlinie 2006/112, da dies die Berichtigung der Steuerbemessungsgrundlage des steuerpflichtigen Gläubigers unmöglich machen könne, ohne dass dies durch die Unsicherheit über die Endgültigkeit der Nichtbezahlung gerechtfertigt sei.

15

Vor diesem Hintergrund hat der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann Art. 90 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes so ausgelegt werden, dass er es den Mitgliedstaaten ermöglicht, durch eine abweichende Regelung Bedingungen festzulegen, die für bestimmte Fälle eine Minderung der Steuerbemessungsgrundlage im Falle der teilweisen oder vollständigen Nichtbezahlung ausschließen?

2.

Sofern Frage 1 zu bejahen ist, steht eine innerstaatliche rechtliche Regelung, die den Mehrwertsteuerzahler daran hindert, eine Berichtigung der Steuerhöhe durchzuführen, sofern die Pflicht zur Erklärung der Steuer bei der Bewirkung eines steuerpflichtigen Umsatzes gegenüber einem anderen (Steuer‑)Zahler entstanden ist, der dafür nur teilweise oder gar nicht gezahlt hat und der danach nicht mehr mehrwertsteuerpflichtig war, im Widerspruch zum Sinn von Art. 90 der Richtlinie 2006/112?

Zu den Vorlagefragen

16

Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 90 der Richtlinie 2006/112 im Licht der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen rechtlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach der Steuerzahler bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung eines aus einem mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz geschuldeten Betrags durch seinen Schuldner keine Berichtigung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage durchführen kann, wenn der Schuldner nicht mehr mehrwertsteuerpflichtig ist.

17

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichtet Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112, der die Fälle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des der Zahlung der Steuer zugrunde liegenden Umsatzes betrifft, die Mitgliedstaaten, die Steuerbemessungsgrundlage und mithin den Betrag der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer immer dann zu vermindern, wenn der Steuerpflichtige nach der Bewirkung eines Umsatzes die gesamte Gegenleistung oder einen Teil davon nicht erhält. Diese Bestimmung ist Ausdruck eines fundamentalen Grundsatzes der Richtlinie 2006/112, nach dem die Bemessungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung ist und aus dem folgt, dass die Steuerverwaltung als Mehrwertsteuer keinen höheren als den dem Steuerpflichtigen gezahlten Betrag erheben darf (vgl. u. a. Urteil vom 6. Dezember 2018, Tratave, C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

18

Art. 90 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 ermöglicht es den Mitgliedstaaten zwar, im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises des Umsatzes von dieser Regel abzuweichen.

19

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, beruht diese Abweichungsbefugnis im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung jedoch auf der Erwägung, dass es unter bestimmten Umständen und aufgrund der Rechtslage in dem betreffenden Mitgliedstaat schwierig sein kann, nachzuprüfen, ob die Gegenleistung endgültig oder nur vorläufig nicht erbracht wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juli 1997, Goldsmiths, C‑330/95, EU:C:1997:339, Rn. 18, vom 23. November 2017, Di Maura, C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 17, und vom 22. Februar 2018, T‑2, C‑396/16, EU:C:2018:109, Rn. 37).

20

Daraus folgt, dass die Ausübung einer solchen Abweichungsbefugnis gerechtfertigt werden muss, damit die von den Mitgliedstaaten zu ihrer Durchführung erlassenen Maßnahmen das mit der Richtlinie 2006/112 verfolgte Ziel der Steuerharmonisierung nicht zunichtemachen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juli 1997, Goldsmiths, C‑330/95, EU:C:1997:339, Rn. 18, vom 23. November 2017, Di Maura, C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 18, und vom 22. Februar 2018, T‑2, C‑396/16, EU:C:2018:109, Rn. 38), und dass die Abweichungsbefugnis es den Mitgliedstaaten nicht erlaubt, die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage im Falle der Nichtbezahlung einfach ohne Weiteres auszuschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2017, Di Maura, C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 20 und 21).

21

Dieses Ergebnis wird durch eine teleologische Auslegung von Art. 90 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 bestätigt. Zwar ergibt es Sinn, dass die Mitgliedstaaten der Unsicherheit über die Nichtbezahlung einer Rechnung oder über ihre Endgültigkeit entgegenwirken können, doch kann eine solche Abweichungsbefugnis nicht über diese Unsicherheit hinausgehen und sich insbesondere nicht auf die Frage erstrecken, ob eine Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage bei Nichtbezahlung entfallen kann (Urteile vom 23. November 2017, Di Maura, C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 22, und vom 22. Februar 2018, T‑2, C‑396/16, EU:C:2018:109, Rn. 40).

22

Würde zugelassen, dass die Mitgliedstaaten jede Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage ausschließen könnten, liefe dies auch dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer zuwider, aus dem sich insbesondere ergibt, dass der Unternehmer in seiner Eigenschaft als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. November 2017, Di Maura, C‑246/16, EU:C:2017:887, Rn. 23).

23

Vorliegend kann ein Erfordernis wie das in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung, die die Berichtigung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage davon abhängig macht, dass der Schuldner noch mehrwertsteuerpflichtig ist, nicht mit der Notwendigkeit gerechtfertigt werden, die Unsicherheit über die Endgültigkeit der in Rede stehenden Nichtbezahlung zu berücksichtigen.

24

Dass der Schuldner nicht mehr mehrwertsteuerpflichtig ist, ist nämlich, wie auch die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen ausführt, im Kontext eines Insolvenzverfahrens vielmehr im Gegenteil ein Umstand, der die Endgültigkeit der Nichtbezahlung bestätigen kann.

25

Zu der Frage, ob dieses Erfordernis, wie die tschechische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen unter Bezugnahme insbesondere auf Rn. 33 des Urteils vom 26. Januar 2012, Kraft Foods Polska (C‑588/10, EU:C:2012:40), vorträgt, dennoch als im Einklang mit Art. 90 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 angesehen werden könnte, da damit die Ziele verfolgt werden, eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung sowie die Gefährdung des Steueraufkommens zu vermeiden, ist festzustellen, dass diese Ziele zu keinem Widerspruch zum Sinn sowie zur Systematik dieser Bestimmung führen dürfen und keine Abweichung von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 aus Gründen rechtfertigen können, die nicht mit der Unsicherheit über die Nichtbezahlung oder über deren Endgültigkeit zusammenhängen.

26

Auch wenn die Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Richtlinie 2006/112, der von der tschechischen Regierung für ihre Auslegung ebenfalls angeführt wird, Pflichten vorsehen können, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, dürfen solche Maßnahmen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich von der Einhaltung der Regeln über die Steuerbemessungsgrundlage nur insoweit abweichen, als dies für die Erreichung dieses spezifischen Ziels zwingend erforderlich ist, da sie die Ziele und Grundsätze der Richtlinie 2006/112 nur so wenig wie möglich beeinträchtigen dürfen und nicht so eingesetzt werden können, dass sie die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen würden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2018, Tratave, C‑672/17, EU:C:2018:989, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung), die ein Grundprinzip des durch das einschlägige Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist.

27

Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass es zu einem besonderen Risiko der Steuerhinterziehung oder ‑vermeidung führen würde, es einem steuerpflichtigen Gläubiger wie A‑PACK CZ zu gestatten, seine Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage zu vermindern, wenn er sich in einer Situation befindet, in der ein insolventer und zwischenzeitlich nicht mehr steuerpflichtiger Schuldner seine Forderung nicht bezahlt. Jede Möglichkeit der Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage in einem solchen Fall auszuschließen und den steuerpflichtigen Gläubiger mit einem Mehrwertsteuerbetrag zu belasten, den er im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit nicht erhalten hat, geht jedenfalls auch über das hinaus, was zur Erreichung der in Art. 273 der Richtlinie 2006/112 genannten Ziele zwingend erforderlich ist.

28

Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 90 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen rechtlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach der Steuerzahler bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung eines aus einem mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz geschuldeten Betrags durch seinen Schuldner keine Berichtigung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage durchführen kann, wenn der Schuldner nicht mehr mehrwertsteuerpflichtig ist.

Kosten

29

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 90 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen rechtlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach der Steuerzahler bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung eines aus einem mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz geschuldeten Betrags durch seinen Schuldner keine Berichtigung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage durchführen kann, wenn der Schuldner nicht mehr mehrwertsteuerpflichtig ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Tschechisch.