URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

15. Februar 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Eilvorabentscheidungsverfahren — Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen — Richtlinie 2008/115/EG — Legaler Aufenthalt — Richtlinie 2013/32/EU — Art. 9 — Berechtigung zum Verbleib in einem Mitgliedstaat — Richtlinie 2013/33/EU — Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e — Haft — Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung — Gültigkeit — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 6 und 52 — Beschränkung — Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑601/15 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 17. November 2015, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren

J. N.

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) und J. L. da Cruz Vilaça, der Kammerpräsidentin C. Toader, der Kammerpräsidenten D. Šváby und C. Lycourgos, des Richters E. Juhász, der Richterinnen M. Berger und A. Prechal, der Richter E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund und C. Vajda sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn N., vertreten durch S. Thelosen und S. Pijl, advocaten,

des Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie, vertreten durch D. Kuiper als Bevollmächtigten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Noort und M. Bulterman als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch S. Vanrie, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und S. Šindelková als Bevollmächtigte,

der hellenischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,

der zyprischen Regierung, vertreten durch A. Argyropoulou als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

des Europäischen Parlaments, vertreten durch T. Lukácsi und R. van de Westelaken als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Chavrier und F. Naert als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, H. Krämer und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Generalanwältin

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180, S. 96).

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn N. und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, im Folgenden: Staatssekretär) wegen der Inhaftnahme von Herrn N.

Rechtlicher Rahmen

EMRK

3

Art. 5 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bestimmt in Abs. 1:

„Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

f)

rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.“

Charta

4

Art. 6 („Recht auf Freiheit und Sicherheit“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet:

„Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“

5

In Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) der Charta heißt es:

„(1)   Jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

(3)   Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.

(7)   Die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“

Richtlinie 2008/115/EG

6

Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98) lautet:

„Eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik muss mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegt werden.“

7

In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2008/115 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.

‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

4.

‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

…“

8

Art. 7 („Freiwillige Ausreise“) der Richtlinie 2008/115 lautet:

„(1)   Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. Die Mitgliedstaaten können in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorsehen, dass diese Frist nur auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen eingeräumt wird. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen davon, dass die Möglichkeit besteht, einen solchen Antrag zu stellen.

Die Frist nach Unterabsatz 1 steht einer früheren Ausreise der betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht entgegen.

(2)   Die Mitgliedstaaten verlängern – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum.

(3)   Den Betreffenden können für die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise bestimmte Verpflichtungen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr auferlegt werden, wie eine regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, das Einreichen von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.

(4)   Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“

9

Art. 8 („Abschiebung“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt in Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, wenn nach Artikel 7 Absatz 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder wenn die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der nach Artikel 7 eingeräumten Frist für die freiwillige Ausreise nachgekommen ist.“

10

Art. 11 („Einreiseverbot“) der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„(1)   Rückkehrentscheidungen gehen mit einem Einreiseverbot einher,

a)

falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder

(2)   Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

…“

Richtlinie 2013/32/EU

11

In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180, S. 60) heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c)

‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch keine bestandskräftige Entscheidung ergangen ist;

p)

‚Verbleib im Mitgliedstaat‘ den Verbleib im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde oder geprüft wird;

q)

‚Folgeantrag‘ einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 abgelehnt hat.“

12

Art. 9 („Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)   Antragsteller dürfen ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens so lange im Mitgliedstaat verbleiben, bis die Asylbehörde auf der Grundlage der in Kapitel III genannten erstinstanzlichen Verfahren über den Antrag entschieden hat. Aus dieser Berechtigung zum Verbleib ergibt sich kein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel.

(2)   Die Mitgliedstaaten dürfen nur eine Ausnahme machen, wenn eine Person einen Folgeantrag im Sinne von Artikel 41 stellt oder wenn sie eine Person aufgrund von Verpflichtungen aus einem Europäischen Haftbefehl … oder aus anderen Gründen entweder an einen anderen Mitgliedstaat oder aber an einen Drittstaat oder an internationale Strafgerichte überstellen beziehungsweise ausliefern.

…“

Richtlinie 2013/33

13

Die Erwägungsgründe 15 bis 18, 20 und 35 der Richtlinie 2013/33 lauten:

„(15)

Die Inhaftnahme von Antragstellern sollte im Einklang mit dem Grundsatz erfolgen, wonach eine Person nicht allein deshalb in Haft genommen werden darf, weil sie um internationalen Schutz nachsucht, insbesondere sollte die Inhaftnahme im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und unter Beachtung von Artikel 31 des [am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), ergänzt durch das New Yorker Protokoll vom31. Januar 1967] erfolgen. Antragsteller dürfen nur in den in der Richtlinie eindeutig definierten Ausnahmefällen und im Einklang mit den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Art und Weise und den Zweck der Inhaftnahme in Haft genommen werden. Befindet sich ein Antragsteller in Haft, sollte er effektiven Zugang zu den erforderlichen Verfahrensgarantien haben und beispielsweise zur Einlegung eines Rechtsbehelfs bei einer nationalen Justizbehörde berechtigt sein.

(16)

Was die Verwaltungsverfahren im Zusammenhang mit den Gründen für die Haft betrifft, so setzt der Begriff ‚gebotene Sorgfalt‘ zumindest voraus, dass die Mitgliedstaaten konkrete und sinnvolle Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die zur Überprüfung der Gründe für die Inhaftierung erforderliche Zeit so kurz wie möglich ist und dass tatsächlich die Aussicht besteht, dass diese Überprüfung in kürzestmöglicher Zeit erfolgreich durchgeführt wird. Die Dauer der Haft darf den Zeitraum, der vernünftigerweise erforderlich ist, um die einschlägigen Verfahren abzuschließen, nicht überschreiten.

(17)

Die in dieser Richtlinie aufgeführten Gründe für die Haft lassen andere Haftgründe – einschließlich der Haftgründe im Rahmen eines Strafverfahrens – unberührt, die nach dem einzelstaatlichen Recht unabhängig vom Antrag eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen auf internationalen Schutz anwendbar sind.

(18)

Antragsteller, die sich in Haft befinden, sollten unter uneingeschränkter Wahrung der Menschenwürde behandelt werden, und die Bedingungen für ihre Aufnahme sollten ihren Bedürfnissen in dieser Situation angepasst werden. Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere sicherstellen, dass Artikel 37 des [am 20. November 1989 in New York geschlossenen und von allen Mitgliedstaaten ratifizierten] Übereinkommens der Vereinten Nationen … über die Rechte des Kindes angewandt wird.

(20)

Die Inhaftnahme eines Antragstellers sollte lediglich als letztes Mittel eingesetzt werden und darf erst zur Anwendung kommen, nachdem alle Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen sorgfältig darauf geprüft worden sind, ob sie besser geeignet sind, die körperliche und geistige Unversehrtheit des Antragstellers sicherzustellen. Alle Alternativen zur Haft müssen mit den grundlegenden Menschenrechten der Antragsteller in Einklang stehen.

(35)

Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [Charta] anerkannt wurden. Sie zielt vor allem darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1, 4, 6, 7, 18, 21, 24 und 47 der Charta zu fördern, und muss entsprechend umgesetzt werden.“

14

In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

b)

‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

h)

‚Haft‘ die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat;

…“

15

Art. 8 („Haft“) der Richtlinie 2013/33 lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie [2013/32] ist.

(2)   In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)   Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a)

um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen;

b)

um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;

c)

um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

d)

wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Richtlinie [2008/115] zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;

e)

wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist,

f)

wenn dies mit Artikel 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist [ABl. L 180, S. 31], in Einklang steht.

Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.

(4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten wie zum Beispiel Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten.“

16

In Art. 9 („Garantien für in Haft befindliche Antragsteller“) der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„(1)   Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind.

Die Verwaltungsverfahren in Bezug auf die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe für die Inhaftnahme werden mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, rechtfertigen keine Fortdauer der Haft.

(2)   Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.

(3)   Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten in ihrem einzelstaatlichen Recht die Frist fest, in der die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen und/oder die gerichtliche Überprüfung auf Antrag des Antragstellers durchzuführen ist.

Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen.

(4)   In Haft befindliche Antragsteller werden unverzüglich schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen, oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit informiert, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen.

(5)   Die Haft wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft, insbesondere wenn sie von längerer Dauer ist oder sich maßgebliche Umstände ergeben oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken könnten.

…“

Niederländisches Recht

17

Art. 8 der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz von 2000, im Folgenden: Ausländergesetz) bestimmt:

„Ein Ausländer hält sich nur dann rechtmäßig in den Niederlanden auf,

f)

wenn in Erwartung der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung [einer befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] die Abschiebung des Antragstellers nach diesem Gesetz oder aufgrund dieses Gesetzes oder einer gerichtlichen Entscheidung unterbleiben muss, bis über den Antrag entschieden wurde.

…“

18

In Art. 30a des Ausländergesetzes heißt es:

„(1)   Ein Antrag auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis [wegen Asyls] kann für unzulässig im Sinne von Art. 33 der [Richtlinie 2013/32] erklärt werden, wenn

d)

der Ausländer einen Folgeasylantrag gestellt hat, dem er keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zugrunde gelegt hat oder in dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zutage getreten sind, die für die Beurteilung des Antrags relevant sein können, oder

(3)   Durch oder kraft Verordnung kann die Anwendung von Abs. 1 näher geregelt werden.“

19

Art. 59b des Ausländergesetzes sieht vor:

„(1)   Der Ausländer, dessen Aufenthalt aufgrund von Art. 8 Buchst. f … rechtmäßig ist, soweit dies einen Antrag auf Erteilung einer [befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] betrifft, kann vom Minister in Haft genommen werden, wenn

a)

die Inhaftnahme erforderlich ist, um die Identität oder Staatsangehörigkeit des Ausländers festzustellen;

b)

die Inhaftnahme erforderlich ist, um Beweise zu sichern, die für die Beurteilung eines Antrags auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis im Sinne von Art. 28 benötigt werden, insbesondere wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Zugriff entziehen wird;

...

d)

der Ausländer eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 8 Abs. 3 [Unterabs. 1] Buchst. e der [Richtlinie 2013/33] darstellt.

(4)   Die Haftdauer beträgt in den Fällen von Abs. 1 Buchst. d höchstens sechs Monate.

(5)   Der Minister kann die Haftdauer in den Fällen von Abs. 1 Buchst. d um bis zu neun Monate verlängern, wenn

a)

komplexe tatsächliche und rechtliche Umstände vorliegen, die die Bearbeitung des Antrags auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis [wegen Asyls] betreffen, und

b)

ein schwerwiegender Belang der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit berührt wird.“

20

In Art. 3.1 des Vreemdelingenbesluit 2000 (Ausländerverordnung von 2000) heißt es:

„…

(2)   Die Stellung eines Antrags auf Erteilung einer [befristeten Aufenthaltserlaubnis wegen Asyls] hat zur Folge, dass die Abschiebung unterbleibt, es sei denn,

a)

der Ausländer hat einen Folgeantrag gestellt, nachdem ein früherer Folgeantrag in Anwendung von Arti. 30a Abs. 1 Buchst. d [des Ausländergesetzes] bestandskräftig für unzulässig erklärt wurde oder in Anwendung von Art. 30b oder 31 [des Ausländergesetzes] bestandskräftig als offensichtlich unbegründet oder als unbegründet abgelehnt wurde und keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zutage getreten sind, die für die Beurteilung des Antrags relevant sein können;

(3)   Die in Abs. 2 vorgesehenen Ausnahmen sind nicht anwendbar, wenn die Abschiebung zu einer Verletzung [des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, unterzeichnet am 28. Juli 1951 in Genf und ergänzt durch das New Yorker Protokoll vom 31. Januar 1967], unionsrechtlicher Pflichten, der [EMRK] oder des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe führen würde.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

21

Der Kläger des Ausgangsverfahrens reiste am 23. September 1995 in die Niederlande ein und stellte am selben Tag einen ersten Asylantrag. Dieser Antrag wurde durch Beschluss vom 18. Januar 1996 abgelehnt. Mit Urteil vom 5. Juni 1997 erklärte die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) die dagegen erhobene Klage für unbegründet. Dieses Urteil ist rechtskräftig.

22

Aus dem vom vorlegenden Gericht beigezogenen Strafregisterauszug ergibt sich, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens zwischen dem 25. November 1999 und dem 17. Juni 2015 in 21 Fällen, meist wegen Diebstählen, zu Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt wurde.

23

Am 19. Dezember 2012 stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens einen zweiten Asylantrag, den er aber am 24. Dezember 2012 wieder zurücknahm.

24

Am 8. Juli 2013 stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens einen dritten Asylantrag. Durch Beschluss vom 8. Januar 2014 lehnte der Staatssekretär diesen Antrag ab, gab dem Kläger des Ausgangsverfahrens auf, die Europäische Union unverzüglich zu verlassen, und verhängte gegen ihn ein Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren. Mit Urteil vom 4. April 2014 erklärte die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) die dagegen erhobene Klage für unbegründet. Auch dieses Urteil ist rechtskräftig.

25

Am 28. Januar 2015 wurde der Kläger des Ausgangsverfahrens im niederländischen Hoheitsgebiet wegen Diebstahls und Verstoßes gegen das ihm auferlegte Einreiseverbot festgenommen. Wegen dieser beiden Taten wurde er am 11. Februar 2015 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt.

26

Am 27. Februar 2015, während der Verbüßung dieser Strafe, stellte der Kläger des Ausgangsverfahrens einen vierten Asylantrag; aufgrund seines Gesundheitszustands konnte während seiner Strafhaft jedoch nicht über diesen neuen Antrag entschieden werden.

27

Nachdem der Kläger des Ausgangsverfahrens am 27. März 2015 seine Strafe verbüßt hatte, wurde er als Asylbewerber in Haft genommen, u. a. um zu beurteilen, ob er zu seinem Asylantrag gehört werden könne.

28

Am 9. April 2015 wurde er aus der Haft entlassen, weil die in den zu dieser Zeit geltenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Höchstdauer der Haft überschritten zu werden drohte.

29

Am 16. Juni 2015 wurde der Kläger des Ausgangsverfahrens erneut wegen Diebstahls und Verstoßes gegen das ihm auferlegte Einreiseverbot festgenommen. Wegen dieser beiden Taten wurde er am 1. Juli 2015 zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, die er bis zum 14. September 2015 verbüßte.

30

Da zum letztgenannten Zeitpunkt noch immer medizinische Gründe seiner Anhörung zu seinem vierten Asylantrag entgegenstanden, wurde er durch Beschluss vom 14. September 2015 auf der Grundlage von Art. 59b Abs. 1 Buchst. d des Ausländergesetzes, mit dem Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 umgesetzt wird, erneut als Asylbewerber in Haft genommen. Die niederländischen Behörden waren nämlich der Ansicht, er halte sich zwar aufgrund seines vierten Asylantrags gemäß Art. 8 Buchst. f des Ausländergesetzes rechtmäßig in den Niederlanden auf, doch sei seine Inhaftierung zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt, weil er wegen Straftaten verurteilt worden sei und weiterer Straftaten verdächtigt werde.

31

Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob Klage gegen den Beschluss über seine Inhaftierung vom 14. September 2015 und verlangte Schadensersatz. Diese Klage wurde von der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) mit Urteil vom 28. September 2015 erstinstanzlich abgewiesen.

32

Am 28. September 2015 stellte ein Rechtsmediziner fest, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens nach wie vor nicht zu seinem Asylantrag angehört werden könne.

33

Am 23. Oktober 2015 wurde die Inhaftierung des Klägers des Ausgangsverfahrens ausgesetzt, damit er eine weitere gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe verbüßen konnte.

34

Im Rahmen des beim vorlegenden Gericht eingelegten Rechtsmittels gegen das Urteil der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) vom 28. September 2015 macht der Kläger des Ausgangsverfahrens geltend, seine Inhaftierung verstoße gegen Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Satzteil EMRK, der vorsehe, dass ein Ausländer nur in Haft genommen werden dürfe, wenn ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange sei. Werde ein Ausländer, der sich bis zur Entscheidung über seinen Asylantrag rechtmäßig in den Niederlanden aufhalte, in Haft behalten, verstoße dies gegen diese Bestimmung.

35

In Anbetracht dieser Ausführungen wirft das vorlegende Gericht die Frage nach der Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta auf. Es weist darauf hin, dass nach den Erläuterungen zur Charta die in deren Art. 6 vorgesehenen Rechte den durch Art. 5 EMRK garantierten Rechten entsprächen und dass sie nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite hätten, die ihnen in der EMRK verliehen werde.

36

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta gültig,

Zum Eilverfahren

37

Der Raad van State (Staatsrat) hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem in Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

38

Zur Stützung dieses Antrags macht das vorlegende Gericht insbesondere geltend, dass sich der Kläger des Ausgangsverfahrens derzeit in Haft befinde. Es fügt hinzu, nach den Angaben des Staatssekretärs habe die seit dem 14. September 2015 bestehende Inhaftierung des Betroffenen am 23. Oktober 2015 geendet. Seither befinde er sich in Strafhaft („strafrechtelijke detentie“), die am 1. Dezember 2015 enden und an die sich höchstwahrscheinlich eine erneute Inhaftierung („vreemdelingenbewaring“) anschließen werde.

39

Insoweit ist erstens festzustellen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen, das die Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 betrifft, Fragen zu den Bereichen aufwirft, die von Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags erfasst werden. Es kommt daher für ein Eilvorabentscheidungsverfahren in Betracht.

40

Zweitens ist festzustellen, dass sich der Kläger des Ausgangsverfahrens zum Zeitpunkt der Prüfung des Antrags, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, in Haft befand. Zwar beruhte diese Haft nicht auf Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33, sondern auf der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, doch schloss sie sich ab dem 23. Oktober 2015 an eine Inhaftierung nach der Richtlinie 2013/33 an. Überdies sollte er nach den Angaben der nationalen Behörden am Ende seiner Strafhaft erneut im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 in Haft genommen werden.

41

In Anbetracht dessen hat die Vierte Kammer des Gerichtshofs am 24. November 2015 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung der Generalanwältin entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben. Überdies hat die Kammer entschieden, die Rechtssache an den Gerichtshof zu verweisen, damit er sie der Großen Kammer zuweist.

42

Am 1. Dezember 2015 hat das vorlegende Gericht in Erfüllung der von ihm übernommenen Verpflichtung, alle relevanten Informationen über die Entwicklung der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens zu übermitteln, dem Gerichtshof mitgeteilt, dass er sich seit diesem Tag erneut gemäß Art. 59b Abs. 1 Buchst. d des Ausländergesetzes in Haft befinde („vreemdelingenbewaring“).

Zur Vorlagefrage

43

Mit seiner Vorlagefrage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um die Prüfung der Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 6 der Charta.

44

Wie aus den Akten hervorgeht, beruht die Inhaftierung des Klägers des Ausgangsverfahrens insbesondere auf den von ihm im niederländischen Hoheitsgebiet begangenen Straftaten sowie darauf, dass er rechtskräftig zum Verlassen des niederländischen Hoheitsgebiets aufgefordert und mit einem Einreiseverbot belegt wurde. Das vorlegende Gericht nimmt auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK, insbesondere das Urteil Nabil u. a./Ungarn (§ 38), Bezug, die nach Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung ihres Art. 6 zu berücksichtigen ist. Nach dieser Rechtsprechung verstoße die Inhaftnahme eines Asylbewerbers gegen die genannte Bestimmung der EMRK, wenn sie nicht im Hinblick auf die Abschiebung angeordnet werde.

45

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die durch die EMRK anerkannten Grundrechte, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, zwar als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind und dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden, doch stellt die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, und Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 45).

46

Somit ist die Prüfung der Gültigkeit von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 allein anhand der durch die Charta garantierten Grundrechte vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile Otis u. a., C‑199/11, EU:C:2012:684, Rn. 47, und Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Kommission, C‑398/13 P, EU:C:2015:535, Rn. 46).

47

Insoweit ergibt sich aus den Erläuterungen zu Art. 6 der Charta, die nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 20, und Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 54), dass die Rechte aus Art. 6 der Charta den durch Art. 5 EMRK garantierten Rechten entsprechen und dass die Einschränkungen, die legitim an der Ausübung der in Art. 6 der Charta verankerten Rechte vorgenommen werden können, nicht über die Einschränkungen hinausgehen dürfen, die nach der EMRK im Rahmen ihres Art. 5 zulässig sind. In den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta heißt es jedoch, dass mit Abs. 3 dieses Artikels die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden soll, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“.

48

Überdies ist nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ein Unionsrechtsakt so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere mit den Bestimmungen der Charta auszulegen (Urteile McDonagh, C‑12/11, EU:C:2013:43, Rn. 44, und Überprüfung Kommission/Strack, C‑579/12 RX‑II, EU:C:2013:570, Rn. 40).

49

Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 sieht, da er die Inhaftnahme eines Antragstellers gestattet, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist, eine Einschränkung des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit vor.

50

Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss aber jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und ihren Wesensgehalt achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen der Ausübung dieser Rechte und Freiheiten nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

51

Hierzu ist festzustellen, dass die fragliche Einschränkung, da sie sich aus einer Richtlinie ergibt, die einen Rechtsetzungsakt der Union darstellt, gesetzlich vorgesehen ist.

52

Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 berührt auch nicht den Wesensgehalt des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit. Er stellt nämlich die Gewährleistung dieses Rechts nicht in Frage und verleiht, wie aus seinem Wortlaut und aus dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, den Mitgliedstaaten die Befugnis, einen Antragsteller in Haft zu nehmen, nur aufgrund seines individuellen Verhaltens und in den von dieser Bestimmung erfassten Ausnahmefällen, für die überdies alle in den Art. 8 und 9 der Richtlinie enthaltenen Voraussetzungen gelten.

53

Da mit Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 das Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung verfolgt wird, ist festzustellen, dass eine auf dieser Bestimmung beruhende Inhaftierung einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung tatsächlich entspricht. Darüber hinaus trägt der Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung auch zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer bei. Insoweit ist festzustellen, dass nach Art. 6 der Charta jeder Mensch das Recht nicht nur auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit hat (vgl. in diesem Sinne Urteil Digital Rights Ireland u. a., C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 42).

54

Zur Verhältnismäßigkeit des festgestellten Eingriffs ist darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass die Handlungen der Unionsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei die durch sie verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Afton Chemical, C‑343/09, EU:C:2010:419, Rn. 45, Nelson u. a.,C‑581/10 und C‑629/10, EU:C:2012:657 Rn. 71, und Sky Österreich, C‑283/11, EU:C:2013:28, Rn. 50).

55

Insoweit ist die aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderliche Inhaftnahme eines Antragstellers ihrem Wesen nach eine Maßnahme, die die Öffentlichkeit vor der Gefahr, die das Verhalten einer solchen Person darstellen kann, zu schützen vermag und somit zur Erreichung des mit Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 verfolgten Ziels geeignet ist.

56

Zur Erforderlichkeit der den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung verliehenen Befugnis, einen Antragsteller aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in Haft zu nehmen, ist hervorzuheben, dass angesichts der Bedeutung des in Art. 6 der Charta verankerten Rechts auf Freiheit und der Schwere des in einer solchen Inhaftnahme bestehenden Eingriffs in dieses Recht die Einschränkungen seiner Ausübung auf das absolut Notwendige beschränkt bleiben müssen (vgl. entsprechend, in Bezug auf das Recht auf Achtung des Privatlebens, Urteil Digital Rights Ireland u. a., C‑293/12 und C‑594/12, EU:C:2014:238, Rn. 52).

57

Insoweit ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut und dem Kontext als auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 8 der Richtlinie 2013/33, dass die in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e vorgesehene Möglichkeit, einen Antragsteller aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung in Haft zu nehmen, von der Einhaltung einer ganzen Reihe von Voraussetzungen abhängig ist, mit denen der Rückgriff auf eine solche Maßnahme eng begrenzt werden soll.

58

Erstens ergibt sich nämlich schon aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33, dass ein Antragsteller nur in Haft genommen werden kann, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung „erforderlich ist“.

59

Überdies ist hervorzuheben, dass in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/33 die verschiedenen Gründe – darunter solche der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung –, aus denen eine Inhaftnahme gerechtfertigt sein kann, erschöpfend aufgezählt werden und dass jeder von ihnen einem besonderen Bedürfnis entspricht und autonomen Charakter hat.

60

Ferner heißt es in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33, dass die Haftgründe im einzelstaatlichen Recht geregelt werden. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wenn die Bestimmungen einer Richtlinie ihnen einen Beurteilungsspielraum für die Festlegung der an die verschiedenen denkbaren Sachverhalte angepassten Umsetzungsmaßnahmen lassen, bei der Durchführung dieser Maßnahmen nicht nur ihr nationales Recht in einer mit der fraglichen Richtlinie konformen Weise auslegen müssen, sondern auch darauf zu achten haben, dass sie sich nicht auf eine Auslegung der Richtlinie stützen, die mit den Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert (vgl. in diesem Sinne Urteile Promusicae, C‑275/06, EU:C:2008:54, Rn. 68, sowie N. S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 77).

61

Zweitens wird in den übrigen Absätzen von Art. 8 der Richtlinie 2013/33, wie aus deren Erwägungsgründen 15 und 20 hervorgeht, die den Mitgliedstaaten eingeräumte Befugnis zur Inhaftnahme erheblich eingeschränkt. So verbietet Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie den Mitgliedstaaten, eine Person allein deshalb in Haft zu nehmen, weil sie einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Außerdem darf nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie eine Inhaftnahme nur in Fällen angeordnet werden, in denen dies erforderlich ist, und muss auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung erfolgen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen. Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 schreibt den Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten, wie z. B. Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten.

62

Des Weiteren bestimmt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, dass ein Antragsteller für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen wird, wie die in Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie genannten Gründe gegeben sind. Überdies sind bei der Haftanordnung wichtige das Verfahren und die gerichtliche Überprüfung betreffende Garantien zu beachten. So sind nach Art. 9 Abs. 2 und 4 der Richtlinie in der Anordnung die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft anzugeben, und dem Antragsteller müssen in einer Sprache, die er versteht, oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass er sie versteht, eine Reihe von Informationen übermittelt werden. Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie regelt, welche Modalitäten die Mitgliedstaaten für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme vorsehen müssen.

63

Drittens ergibt sich aus Abschnitt 3 Nr. 4 der Begründung des der Richtlinie 2013/33 zugrunde liegenden Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (KOM[2008] 815 endgültig), dass der Haftgrund des Schutzes der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung, ebenso wie die drei anderen in diesem Vorschlag enthaltenen Haftgründe, die später in Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. a bis c der Richtlinie aufgenommen wurden, auf der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats über Maßnahmen zur Ingewahrsamnahme von Asylbewerbern vom 16. April 2003 und auf den Richtlinien des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (HCR) über anzuwendende Kriterien und Standards betreffend die Haft von Asylsuchenden vom 26. Februar 1999 beruht. Insbesondere geht aus den Abschnitten 4.1 und 4.2 der letztgenannten Richtlinien in ihrer im Jahr 2012 verabschiedeten Fassung zum einen hervor, dass Haft nur in Ausnahmefällen verhängt werden darf und einem legitimen Zweck dienen muss und dass es drei Zwecke gibt, für die Haft im Einzelfall notwendig sein kann und die allgemein dem Völkerrecht entsprechen, nämlich die öffentliche Ordnung, die öffentliche Gesundheit und die nationale Sicherheit. Zum anderen darf Haft nur verhängt werden, wenn festgestellt wurde, dass sie notwendig, in Anbetracht aller Umstände angemessen und in Bezug auf einen legitimen Zweck verhältnismäßig ist.

64

Hinzuzufügen ist, dass der enge Rahmen für die Ausübung der den zuständigen nationalen Behörden zuerkannten Befugnis, einen Antragsteller auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 in Haft zu nehmen, auch durch die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorgenommene Auslegung der Begriffe „nationale Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ in anderen Richtlinien gewährleistet wird, die auch für die Richtlinie 2013/33 gilt.

65

So hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „öffentliche Ordnung“ jedenfalls voraussetzt, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteile Zh. und O., C‑554/13, EU:C:2015:377, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung, zu Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115, sowie T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung, zu den Art. 27 und 28 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung [EWG] Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG [ABl. L 158, S. 77, berichtigt im ABl. 2004, L 229, S. 35]).

66

Zum Begriff „öffentliche Sicherheit“ geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass er sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats umfasst, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können (vgl. in diesem Sinne Urteil Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 43 und 44).

67

Eine Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung kann daher nur dann die Anordnung oder Beibehaltung der Inhaftierung eines Antragstellers auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 erforderlich machen, wenn sein individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder die innere oder äußere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 78 und 79).

68

Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie steht auch nicht außer Verhältnis zu den genannten Zielen. Insoweit ist hervorzuheben, dass in dieser Bestimmung die verfolgte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung – der Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung – und der durch eine Inhaftierung herbeigeführte Eingriff in das Recht auf Freiheit ausgewogen gewichtet werden (vgl. entsprechend Urteil Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, EU:C:2010:662, Rn. 72 und 77).

69

Eine solche Bestimmung kann nämlich Haftmaßnahmen nur dann tragen, wenn die zuständigen nationalen Behörden zuvor im konkreten Fall geprüft haben, ob die von den betreffenden Personen ausgehende Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung zumindest der Schwere des mit solchen Maßnahmen verbundenen Eingriffs in das Recht auf Freiheit dieser Personen entspricht.

70

Aus den vorstehenden Erwägungen ist zu schließen, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 einen angemessenen Ausgleich zwischen dem Recht auf Freiheit des Antragstellers und den Erfordernissen des Schutzes der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung gewahrt hat.

71

In Bezug auf die Anwendung der Erfordernisse, die sich im Kontext einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens insbesondere aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, ist, um dem vorlegenden Gericht eine umfassende Antwort zu geben, festzustellen, dass nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, die in den Rn. 30 und 44 dieses Urteils wiedergegeben werden, die Inhaftierung des Klägers des Ausgangsverfahrens im Wesentlichen auf den von ihm im niederländischen Hoheitsgebiet begangenen Straftaten sowie auf der Tatsache beruht, dass er rechtskräftig zum Verlassen des niederländischen Hoheitsgebiets aufgefordert und mit einem Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren belegt wurde.

72

Zunächst ist in Bezug auf den letztgenannten Umstand darauf hinzuweisen, dass nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 die Dauer eines Einreiseverbots, die in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt wird, grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreitet. Nach dieser Bestimmung kann sie jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Betreffende eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

73

Unter diesen Umständen können die Gründe, aus denen die nationalen Behörden annahmen, dass das individuelle Verhalten des Klägers des Ausgangsverfahrens eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 darstelle, auch eine Inhaftnahme aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 rechtfertigen. Zu prüfen ist jedoch, ob eine solche Inhaftnahme unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit angeordnet wurde und ob diese Gründe nach wie vor bestehen.

74

Dass der Kläger des Ausgangsverfahrens, nachdem ihm unter Verhängung eines Einreiseverbots für die Dauer von zehn Jahren aufgegeben worden war, das niederländische Hoheitsgebiet zu verlassen, einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz stellte, steht seiner Inhaftierung auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 nicht entgegen. Eine solche Inhaftierung nimmt dem Antragsteller nämlich nicht die Berechtigung, nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 ausschließlich zum Zweck des Verfahrens des internationalen Schutzes im Mitgliedstaat zu verbleiben, bis die Asylbehörde erstinstanzlich über seinen Antrag auf internationalen Schutz entschieden hat.

75

Zu dem Hinweis des vorlegenden Gerichts auf seine eigene Rechtsprechung, wonach infolge der Stellung eines Asylantrags durch eine Person, die Gegenstand eines Rückführungsverfahrens sei, eine zuvor im Rahmen dieses Verfahrens ergangene Rückkehrentscheidung von Rechts wegen kraftlos werde, ist hervorzuheben, dass jedenfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2008/115 verlangt, dass ein nach dieser Richtlinie eingeleitetes Verfahren, in dessen Rahmen eine Rückkehrentscheidung, gegebenenfalls einhergehend mit einem Einreiseverbot, ergangen ist, in dem Stadium, in dem es wegen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, wieder aufgenommen werden kann, sobald dieser Antrag erstinstanzlich abgelehnt wurde. Die Mitgliedstaaten dürfen nämlich die Erreichung des mit dieser Richtlinie verfolgten Ziels, das darin besteht, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige zu schaffen, nicht beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil El Dridi, C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 59).

76

Insoweit ergibt sich sowohl aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten, die aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgt und auf die in Rn. 56 des Urteils El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268) hingewiesen wird, als auch aus den u. a. im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 angesprochenen Erfordernissen der Wirksamkeit, dass die den Mitgliedstaaten durch Art. 8 dieser Richtlinie auferlegte Pflicht, in den in Art. 8 Abs. 1 genannten Fällen die Abschiebung vorzunehmen, binnen kürzester Frist zu erfüllen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Achughbabian, C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 43 und 45). Dieser Pflicht würde aber nicht genügt, wenn die Abschiebung dadurch verzögert würde, dass nach der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz ein Verfahren wie das in der vorstehenden Randnummer beschriebene nicht in dem Stadium, in dem es unterbrochen wurde, fortgeführt würde, sondern von vorne beginnen müsste.

77

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in der Charta enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Daher ist Art. 5 Abs. 1 EMRK bei der Auslegung von Art. 6 der Charta zu berücksichtigen. Beim Erlass von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 hat der Unionsgesetzgeber aber das durch Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Satzteil EMRK gebotene Schutzniveau nicht verkannt.

78

Die letztgenannte Bestimmung gestattet nämlich nach ihrem Wortlaut die rechtmäßige Freiheitsentziehung bei einer Person, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist. Hierzu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zwar im Urteil Nabil u. a./Ungarn (§ 29) entschieden, dass eine auf diese Bestimmung gestützte Freiheitsentziehung nur gerechtfertigt sein kann, wenn ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist, und dass die Inhaftierung nicht mehr durch sie gerechtfertigt ist, wenn das Verfahren nicht mit der gebotenen Sorgfalt betrieben wird. In diesem Urteil wurde jedoch nicht die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat ausgeschlossen, unter Beachtung der von ihr vorgesehenen Garantien einen Drittstaatsangehörigen in Haft zu nehmen, gegen den vor der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz eine mit einem Einreiseverbot einhergehende Rückkehrentscheidung ergangen war.

79

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat hinzugefügt, dass ein laufendes Asylverfahren für sich genommen nicht bedeutet, dass eine Person angesichts eines von ihr gestellten Asylantrags nicht mehr im Hinblick auf ihre Ausweisung inhaftiert wird, da eine etwaige Ablehnung dieses Antrags den Weg für den Vollzug der bereits beschlossenen Abschiebungsmaßnahmen frei machen kann (EGMR, Nabil u. a./Ungarn, § 38).

80

Daher ist, wie in den Rn. 75 und 76 dieses Urteils festgestellt, ein nach der Richtlinie 2008/115 eingeleitetes Verfahren, in dessen Rahmen eine Rückkehrentscheidung, gegebenenfalls einhergehend mit einem Einreiseverbot, ergangen ist, in dem Stadium, in dem es wegen der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterbrochen wurde, wieder aufzunehmen, sobald dieser Antrag erstinstanzlich abgelehnt wurde, so dass ein solches Verfahren nach wie vor im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. f zweiter Satzteil EMRK „im Gange“ ist.

81

Ferner ist hervorzuheben, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 5 Abs. 1 EMRK die Vereinbarkeit der Durchführung einer freiheitsentziehenden Maßnahme mit dem Ziel des Schutzes des Einzelnen vor Willkür u. a. voraussetzt, dass sie frei von Elementen bösen Glaubens oder der Täuschung seitens der Behörden ist, dass sie mit dem Ziel der nach dem einschlägigen Unterabsatz von Art. 5 Abs. 1 EMRK zulässigen Einschränkungen im Einklang steht und dass der angeführte Grund in angemessenem Verhältnis zu der fraglichen Freiheitsentziehung steht (vgl. in diesem Sinne EGMR, Saadi/Vereinigtes Königreich, Nr. 13229/03, §§ 68 bis 74, EGMR 2008). Wie aus den Ausführungen im Rahmen seiner Gültigkeitsprüfung im Hinblick auf Art. 52 Abs. 1 der Charta hervorgeht, genügt Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33, dessen Tragweite angesichts seines Kontextes eng begrenzt ist, aber diesen Erfordernissen.

82

Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass die Prüfung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33 nichts ergeben hat, was die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht der Art. 6 und 52 Abs. 1 und 3 der Charta berühren könnte.

Kosten

83

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Prüfung von Art. 8 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, hat nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht der Art. 6 und 52 Abs. 1 und 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union berühren könnte.

 

Unterschriften


( *1 )   Verfahrenssprache: Niederländisch.