URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

12. September 2013 ( *1 )

„Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht — Arbeitsvertrag — Art. 6 Abs. 2 — Mangels Rechtswahl anwendbares Recht — Recht des Landes, in dem der Arbeitnehmer ‚gewöhnlich seine Arbeit verrichtet‘ — Vertrag, der engere Verbindungen zu einem anderen Mitgliedstaat aufweist“

In der Rechtssache C‑64/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach dem Ersten Protokoll vom 19. Dezember 1988 betreffend die Auslegung des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) mit Entscheidung vom 3. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Februar 2012, in dem Verfahren

Anton Schlecker, im Namen der „Firma Anton Schlecker“,

gegen

Melitta Josefa Boedeker

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič sowie der Richter E. Jarašiūnas und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters C. G. Fernlund,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau M. J. Boedeker, vertreten durch R. de Lange, advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. April 2013

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (ABl. 1980, L 266, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen von Rom).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A. Schlecker im Namen der „Firma Anton Schlecker“ (im Folgenden: Schlecker), einer Gesellschaft mit Sitz in Ehingen (Deutschland), und Frau Boedeker, die in Mülheim an der Ruhr (Deutschland) wohnt und in den Niederlanden arbeitet, über die einseitige Änderung des Arbeitsorts durch den Arbeitgeber und in diesem Zusammenhang über das auf den Arbeitsvertrag anwendbare Recht.

Rechtlicher Rahmen

Übereinkommen von Rom

3

Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens von Rom bestimmt:

„Der Vertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht. Die Rechtswahl muss ausdrücklich sein oder sich mit hinreichender Sicherheit aus den Bestimmungen des Vertrages oder aus den Umständen des Falles ergeben. Die Parteien können die Rechtswahl für ihren ganzen Vertrag oder nur für einen Teil desselben treffen.“

4

Art. 6 („Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse von Einzelpersonen“) dieses Übereinkommens sieht vor:

„(1)   Ungeachtet des Artikels 3 darf in Arbeitsverträgen und Arbeitsverhältnissen die Rechtswahl der Parteien nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das nach Absatz 2 mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre.

(2)   Abweichend von Artikel 4 sind mangels einer Rechtswahl nach Artikel 3 auf Arbeitsverträge und Arbeitsverhältnisse anzuwenden:

a)

das Recht des Staates, in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, selbst wenn er vorübergehend in einen anderen Staat entsandt ist, oder

b)

das Recht des Staates, in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, sofern dieser seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet,

es sei denn, dass sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Arbeitsvertrag oder das Arbeitsverhältnis engere Verbindungen zu einem anderen Staat aufweist; in diesem Fall ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.“

Verordnung (EG) Nr. 593/2008

5

Die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. L 177, S. 6, im Folgenden: Rom-I-Verordnung) hat das Übereinkommen von Rom ersetzt. Diese Verordnung findet Anwendung auf Verträge, die am 17. Dezember 2009 oder später geschlossen wurden.

6

Art. 8 Abs. 4 („Individualarbeitsverträge“) der Rom-I-Verordnung lautet:

„Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Vertrag eine engere Verbindung zu einem anderen als dem in Absatz 2 oder 3 bezeichneten Staat aufweist, ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7

Frau Boedeker war bei Schlecker, einem im Bereich von Drogerieprodukten tätigen deutschen Unternehmen mit mehreren Filialen in verschiedenen Mitgliedstaaten, beschäftigt. Nachdem sie vom 1. Dezember 1979 bis zum 1. Januar 1994 in Deutschland gearbeitet hatte, schloss Frau Boedeker einen neuen Arbeitsvertrag, aufgrund dessen sie als Geschäftsführerin von Schlecker in den Niederlanden angestellt wurde. In dieser Eigenschaft übte sie Funktionen der Geschäftsleitung von Schlecker in diesem Mitgliedstaat über ungefähr 300 Filialen und ca. 1250 Beschäftigte aus.

8

Schlecker teilte Frau Boedeker mit Schreiben vom 19. Juni 2006 u. a. mit, dass ihr Arbeitsplatz als Geschäftsführerin für die Niederlande zum 30. Juni 2006 ersatzlos entfalle, und wies sie an, mit Wirkung ab dem 1. Juli 2006 zu unveränderten Vertragsbedingungen als Bereichsleiterin Revision in Dortmund (Deutschland) tätig zu sein.

9

Frau Boedeker widersprach der von ihrem Arbeitgeber einseitig getroffenen Entscheidung, ihren Arbeitsort zu ändern, erschien aber am 3. Juli 2006 in Dortmund, um ihre neue Tätigkeit aufzunehmen. Dann meldete sie sich am 5. Juli 2006 krank. Ab dem 16. August 2006 bezog sie Leistungen aus der deutschen Krankenkasse.

10

In diesem Zusammenhang strengte Frau Boedeker verschiedene Gerichtsverfahren in den Niederlanden an. Im Rahmen eines dieser Verfahren rief sie den Kantonrechter te Tiel zum einen an, damit er die Anwendung des niederländischen Rechts auf ihr Arbeitsverhältnis feststelle, und zum anderen, damit er den zweiten Arbeitsvertrag für nichtig erkläre und ihr eine Entschädigung zuspreche. Mit einer vorläufigen und später im Rechtsmittelverfahren bestätigten Sachentscheidung löste der Kantonrechter te Tiel den Arbeitsvertrag mit Wirkung vom 15. Dezember 2007 auf und sprach Frau Boedeker eine Abfindung in Höhe von 557651,52 Euro brutto zu. Diese Entscheidung war jedoch nur unter der Bedingung endgültig, dass niederländisches Recht für auf den Vertrag anwendbar erklärt werden sollte. Zu diesem Gesichtspunkt erkannte der Kantonrechter te Tiel mit einer anderen Entscheidung die Anwendbarkeit niederländischen Rechts an.

11

Der Gerechtshof te Arnhem bestätigte auf das von Schlecker eingelegte Rechtsmittel hin dieses Urteil zur Bestimmung des auf den Vertrag anwendbaren Rechts und führte aus, dass deutsches Recht nicht stillschweigend habe vereinbart werden können. Insbesondere war er der Ansicht, dass nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Übereinkommens von Rom für den Arbeitsvertrag niederländisches Recht, das Recht des Landes, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichte, gelte. Daher war dieses Gericht der Auffassung, dass die verschiedenen Gesichtspunkte, auf die sich Schlecker berufen habe, u. a. hinsichtlich der Mitgliedschaft in der Renten-, Kranken- und Erwerbsunfähigkeitsversicherung, nicht den Schluss zuließen, dass der Arbeitsvertrag engere Verbindungen zu Deutschland aufweise, so dass die Anwendung deutschen Rechts nicht angenommen werden könne.

12

Gegen diese Entscheidung des Gerechtshofs te Arnhem über die Bestimmung des anwendbaren Rechts legte Schlecker beim Hoge Raad der Nederlanden Kassationsbeschwerde ein.

13

Im Kassationsbeschwerdeverfahren beantragt Frau Boedeker, auf die zwischen den Parteien geschlossene Vereinbarung niederländisches Recht anzuwenden und Schlecker zu verurteilen, sie als „Verantwortliche für die Niederlande“ wiedereinzugliedern. Schlecker hingegen macht geltend, dass deutsches Recht anwendbar sei, weil die Gesamtumstände auf eine engere Verbindung zu Deutschland hindeuteten.

14

Wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, stellt der Hoge Raad der Nederlanden fest, dass das niederländische Recht der Arbeitnehmerin im vorliegenden Fall einen weiter gehenden Schutz gegen die vom Arbeitgeber angeordnete Änderung des Arbeitsortes gewähre als das deutsche Recht. Das Gericht hat deshalb Zweifel, wie Art. 6 Abs. 2 letzter Halbsatz des Übereinkommens von Rom auszulegen ist, wonach die Anwendung des Rechts, das sonst gemäß den in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a und b dieses Übereinkommens vorgesehenen Anknüpfungspunkten anzuwenden wäre, ausgeschlossen werden kann, falls sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Arbeitsvertrag engere Verbindungen mit einem anderen Land aufweist.

15

Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom dahin auszulegen, dass, sofern ein Arbeitnehmer die Arbeit in Erfüllung des Vertrags nicht nur gewöhnlich, sondern auch dauerhaft und ununterbrochen in ein- und demselben Land verrichtet, ausnahmslos das Recht dieses Landes anzuwenden ist, auch wenn alle übrigen Umstände auf eine enge Verbindung des Arbeitsvertrags zu einem anderen Land hindeuten?

2.

Ist es für die Bejahung der ersten Frage erforderlich, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei Abschluss des Arbeitsvertrags oder zumindest bei Aufnahme der Arbeit beabsichtigt haben oder sich zumindest darüber im Klaren gewesen sind, dass die Arbeit dauerhaft und ununterbrochen in ein- und demselben Land verrichtet werden würde?

Zu den Vorlagefragen

16

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 1 des Ersten Protokolls vom 19. Dezember 1988 über die Auslegung des Übereinkommens von 1980 durch den Gerichtshof (ABl. 1998, C 27, S. 47), das am 1. August 2004 in Kraft getreten ist, für die Entscheidung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens zuständig ist. Im Übrigen kann der Hoge Raad der Nederlanden gemäß Art. 2 Buchst. a dieses Protokolls eine Frage, die in einem bei ihm anhängigen Verfahren aufgeworfen wird und sich auf die Auslegung von Bestimmungen des Übereinkommens von Rom bezieht, dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen.

17

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom dahin auszulegen ist, dass auch dann, wenn ein Arbeitnehmer die Arbeit in Erfüllung des Arbeitsvertrags nicht nur gewöhnlich, sondern auch dauerhaft und ununterbrochen in ein- und demselben Staat verrichtet, das nationale Gericht das Recht des Landes der gewöhnlichen Verrichtung der Arbeit gemäß dem letzten Halbsatz dieser Bestimmung ausschließen kann, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass eine engere Verbindung zwischen diesem Vertrag und einem anderen Land besteht.

18

Der Gerichtshof ist somit aufgefordert, das Anknüpfungskriterium des Landes der gewöhnlichen Verrichtung der Arbeit im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Übereinkommens von Rom im Hinblick auf die vom letzten Halbsatz dieses Abs. 2 eröffnete Möglichkeit auszulegen, das Recht des Landes, das die engsten Verbindungen zu diesem Vertrag aufweist, als das auf den Arbeitsvertrag anwendbare Recht anzusehen.

19

Hierzu sind Frau Boedeker, die österreichische Regierung und die Europäische Kommission der Auffassung, dass das Gericht, das über einen konkreten Fall zu entscheiden habe, eine Würdigung der Gesamtheit der verschiedenen Tatsachen und Gesichtspunkte des Falles vornehmen müsse, um das anwendbare Recht zu bestimmen, und dass der Zeitraum, während dessen der Arbeitnehmer tatsächlich gewöhnlich seine Arbeit verrichtet habe, im Rahmen dieser Würdigung entscheidend sein könne. Wenn festgestellt werde, dass die Arbeit hauptsächlich an einem einzigen Ort während eines langen Zeitraums verrichtet worden sei, stelle diese Feststellung daher einen entscheidenden Gesichtspunkt für die Bestimmung des anwendbaren Rechts dar.

20

Genauer gesagt beantragt Frau Boedeker auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Übereinkommens von Rom die Anwendung des niederländischen Rechts, das im Ausgangsverfahren mehr Schutz gegen eine einseitige Änderung des Arbeitsorts durch den Arbeitgeber bietet. Hierzu macht sie u. a. geltend, dass die im letzten Halbsatz des Abs. 2 vorgesehene Ausnahme strikt auszulegen und unter Berücksichtigung des Grundsatzes des Schutzes des Arbeitnehmers, auf den sich diese Bestimmung gründe, anzuwenden sei, um die Anwendung des materiell günstigsten Rechts zu gewährleisten.

21

Die niederländische Regierung hingegen macht geltend, dass, falls der Vertrag eine engere Verbindung zu einem anderen Land als dem, in dem die Arbeit verrichtet werde, aufweise, das Recht des Landes, das die engste Verbindung aufweise, anzuwenden sei, im vorliegenden Fall das deutsche Recht. Auf einen solchen Vertrag die in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Übereinkommens von Rom vorgesehene Anknüpfungsregel Anwendung finden zu lassen, selbst wenn die Gesamtumstände ein anderes Rechtssystem bezeichneten, würde nämlich dazu führen, die im letzten Halbsatz dieses Art. 6 Abs. 2 vorgesehene Ausnahme ihres Sinnes zu entleeren. Daher seien bei der Anwendung der Ausnahmeklausel alle rechtlichen und tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, wobei allerdings dem anwendbaren Sozialversicherungsrecht ein erhebliches Gewicht zuzuerkennen sei.

22

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 des Übereinkommens von Rom spezielle Kollisionsnormen für Einzelarbeitsverträge festlegt, die von den in den Art. 3 und 4 dieses Übereinkommens vorgesehenen allgemeinen Kollisionsnormen abweichen, die die freie Rechtswahl bzw. die Kriterien zur Bestimmung des mangels einer solchen Wahl anzuwendenden Rechts betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2011, Koelzsch, C-29/10, Slg. 2011, I-1595, Randnr. 34, sowie vom 15. Dezember 2011, Voogsgeerd, C-384/10, Slg. 2011, I-13275, Randnr. 24).

23

Zwar sieht Art. 6 Abs. 1 dieses Übereinkommens vor, dass die Rechtswahl der Parteien hinsichtlich eines Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses nicht dazu führen kann, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch die zwingenden Bestimmungen des Rechts gewährt wird, das nach diesem Artikel mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre.

24

Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom legt jedoch die spezifischen Anknüpfungskriterien fest, anhand derer mangels einer Rechtswahl der Parteien die lex contractus bestimmt werden kann (Urteil Voogsgeerd, Randnr. 25).

25

Es sind dies in erster Linie das in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Übereinkommens von Rom verankerte Kriterium des Staates, in dem der Arbeitnehmer „gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“, und subsidiär, in Ermangelung eines solchen Ortes, das Kriterium der „Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat“, wie es in Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieses Übereinkommens vorgesehen ist (Urteil Voogsgeerd, Randnr. 26).

26

Außerdem sieht der letzte Halbsatz von Abs. 2 vor, dass diese beiden Anknüpfungskriterien nicht anwendbar sind, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Arbeitsvertrag oder das Arbeitsverhältnis engere Verbindungen zu einem anderen Staat aufweist; in diesem Fall ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden (Urteil Voogsgeerd, Randnr. 27).

27

Im Ausgangsverfahren haben die Vertragsparteien, wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, keine ausdrückliche Wahl hinsichtlich der Anwendung eines bestimmten Rechts getroffen. Außerdem ist zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig, dass Frau Boedeker im Rahmen der Erfüllung ihres zweiten, am 30. November 1994 geschlossenen Arbeitsvertrags mit Schlecker ihre Tätigkeiten über mehr als elf Jahre und ohne Unterbrechung gewöhnlich in den Niederlanden verrichtet hatte.

28

Gleichwohl ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass alle anderen Anknüpfungselemente des Vertrags auf eine engere Verbindung zu Deutschland hindeuteten. Folglich möchte es wissen, ob die Bestimmungen von Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Übereinkommens von Rom im Vergleich zum letzten Halbsatz von Art. 6 Abs. 2 weit auszulegen sind.

29

Deutsches Recht könnte nämlich, wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht, anwendbar sein, weil die Gesamtumstände auf eine engere Verbindung zu Deutschland hindeuten, und zwar die Tatsache, dass der Arbeitgeber eine deutsche juristische Person war, dass das Gehalt (vor Einführung des Euro) in Deutscher Mark gezahlt wurde, dass die Altersrentenversicherung bei einem deutschen Versicherer abgeschlossen war, dass Frau Boedeker ihren Wohnsitz in Deutschland beibehalten hatte, wo sie ihre Sozialbeiträge entrichtete, dass der Arbeitsvertrag auf zwingende Bestimmungen des deutschen Rechts verwies und dass der Arbeitgeber die Fahrtkosten von Frau Boedeker von Deutschland in die Niederlande erstattete.

30

Im vorliegenden Fall ist daher zu untersuchen, ob das in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Übereinkommens von Rom vorgesehene Kriterium nur dann ausgeschlossen werden kann, wenn es keinen wirklichen Anknüpfungswert hat, oder auch, wenn das Gericht feststellt, dass der Arbeitsvertrag engere Verbindungen zu einem anderen Land aufweist.

31

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bei seiner Analyse der Beziehung zwischen den Regeln in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a und b des Übereinkommens von Rom entschieden hat, dass das in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a dieses Übereinkommens aufgestellte Kriterium des Staates, in dem der Arbeitnehmer „gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“, weit auszulegen ist, während das in Art. 6 Abs. 2 Buchst. b vorgesehene Kriterium des Ortes der „Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat“, nur anzuwenden ist, wenn das angerufene Gericht nicht in der Lage ist, den Staat zu bestimmen, in dem gewöhnlich die Arbeit verrichtet wird (vgl. Urteile Koelzsch, Randnr. 43, und Voogsgeerd, Randnr. 35).

32

Somit ist für die Bestimmung des anzuwendenden Rechts das Kriterium für die Anknüpfung des in Rede stehenden Arbeitsvertrags an den Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Aufgaben verrichtet, vorrangig zu berücksichtigen, und seine Anwendung schließt die Berücksichtigung des subsidiären Kriteriums des Ortes, an dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, aus (vgl. in diesem Sinne Urteile Koelzsch, Randnr. 43, sowie Voogsgeerd, Randnrn. 32, 35 und 39).

33

Eine andere Auslegung widerspräche dem mit Art. 6 des Übereinkommens von Rom verfolgten Ziel, dem Arbeitnehmer einen angemessenen Schutz zu gewähren. Wie sich aus dem Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht von Herrn Giuliano und Herrn Lagarde (ABl. 1980, C 282, S. 1) ergibt, wurde mit Art. 6 des Übereinkommens bezweckt‚ eine geeignetere Regelung für Sachverhalte zu finden, bei denen die Interessen der Vertragschließenden nicht auf der gleichen Ebene liegen, um damit jener Partei, die in diesem Zusammenhang sozial und wirtschaftlich als die schwächere anzusehen ist, einen angemessenen Schutz zu gewähren (vgl. Urteile Koelzsch, Randnrn. 40 und 42, sowie Voogsgeerd, Randnr. 35).

34

Da das Ziel von Art. 6 des Übereinkommens von Rom ist, dem Arbeitnehmer einen angemessenen Schutz zu gewähren, muss diese Bestimmung sicherstellen, dass auf den Arbeitsvertrag das Recht des Landes angewandt wird, mit dem dieser Vertrag die engsten Anknüpfungspunkte aufweist. Diese Auslegung darf jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 36 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht zwingend in jeder Fallkonstellation zur Anwendung des für den Arbeitnehmer günstigeren Rechts führen.

35

Wie sich aus dem Wortlaut und der Zielsetzung von Art. 6 des Übereinkommens von Rom ergibt, muss der Richter zunächst das anwendbare Recht auf der Grundlage der in Abs. 2 Buchst. a bzw. b dieses Artikels genannten spezifischen Anknüpfungskriterien bestimmen, die dem allgemeinen Erfordernis der Vorhersehbarkeit des Rechts und der Rechtssicherheit in den Vertragsbeziehungen Rechnung tragen (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2009, ICF, C-133/08, Slg. 2009, I-9687, Randnr. 62).

36

Wenn sich jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Arbeitsvertrag engere Verbindungen zu einem anderen Land aufweist, obliegt es dem nationalen Gericht, die in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a und b des Übereinkommens von Rom genannten Anknüpfungskriterien auszuschließen und das Recht dieses anderen Landes anzuwenden.

37

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht nämlich hervor, dass das vorlegende Gericht andere Umstände des Arbeitsverhältnisses berücksichtigen kann, wenn sich ergibt, dass die Umstände, die das eine oder das andere der beiden in Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom aufgeführten Anknüpfungskriterien betreffen, zu dem Schluss führen, dass der Vertrag engere Verbindungen zu einem anderen als dem Staat aufweist, der sich aus der Anwendung der Kriterien in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a bzw. b dieses Übereinkommens ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil Voogsgeerd, Randnr. 51).

38

Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Wortlaut der neuen Bestimmung über Kollisionsnormen in Bezug auf Individualarbeitsverträge, die mit der Rom‑I‑Verordnung eingeführt wurde, jedoch im Ausgangsverfahren zeitlich nicht anwendbar ist. Gemäß Art. 8 Abs. 4 dieser Verordnung ist nämlich, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Vertrag eine engere Verbindung zu einem anderen als dem in den Abs. 2 oder 3 dieses Artikels bezeichneten Staat aufweist, das Recht dieses anderen Staates anzuwenden (vgl. entsprechend Urteil Koelzsch, Randnr. 46).

39

Aus dem Vorstehenden folgt, dass das vorlegende Gericht das auf den Vertrag anwendbare Recht unter Bezugnahme auf die in Art. 6 Abs. 2 erster Halbsatz des Übereinkommens von Rom definierten Anknüpfungskriterien und insbesondere auf das Kriterium des Ortes der gewöhnlichen Verrichtung der Arbeit in diesem Abs. 2 Buchst. a zu bestimmen hat. Wenn ein Vertrag enger mit einem anderen Staat als dem der gewöhnlichen Verrichtung der Arbeit verbunden ist, ist jedoch nach dem letzten Halbsatz dieses Absatzes das Recht des Staates der Verrichtung der Arbeit auszuschließen und das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.

40

Hierbei muss das vorlegende Gericht sämtliche Gesichtspunkte berücksichtigen, die das Arbeitsverhältnis kennzeichnen, und den- oder diejenigen würdigen, die seiner Ansicht nach am maßgeblichsten sind. Wie die Kommission besonders hervorgehoben und der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann das Gericht, das über einen konkreten Fall zu entscheiden hat, allerdings nicht automatisch zu dem Schluss kommen, dass die in Art. 6 Abs. 2 Buchst. a des Übereinkommens von Rom aufgestellte Regel allein deshalb auszuschließen ist, weil abgesehen vom tatsächlichen Arbeitsort die anderen relevanten Umstände aufgrund ihrer großen Zahl auf ein anderes Land hindeuten.

41

Unter den wichtigen Anknüpfungspunkten sind hingegen das Land, in dem der Arbeitnehmer Steuern und Abgaben auf die Einkünfte aus seiner Tätigkeit entrichtet, und das Land, in dem er der Sozialversicherung und den diversen Renten-, Gesundheits- und Erwerbsunfähigkeitsregelungen angeschlossen ist, zu berücksichtigen. Außerdem muss das nationale Gericht auch die gesamten Umstände des Falles wie u. a. die Parameter, die mit der Bestimmung des Gehalts und der Arbeitsbedingungen zusammenhängen, berücksichtigen.

42

Aus dem Vorstehenden folgt, dass Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom dahin auszulegen ist, dass auch dann, wenn ein Arbeitnehmer die Arbeit in Erfüllung des Arbeitsvertrags gewöhnlich, dauerhaft und ununterbrochen in ein- und demselben Staat verrichtet, das nationale Gericht das in diesem Land anwendbare Recht gemäß dem letzten Halbsatz dieser Bestimmung ausschließen kann, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass eine engere Verbindung zwischen diesem Vertrag und einem anderen Land besteht.

43

Die zweite Vorlagefrage braucht daher nicht beantwortet zu werden.

44

Demzufolge ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens von Rom dahin auszulegen ist, dass auch dann, wenn ein Arbeitnehmer die Arbeit in Erfüllung des Arbeitsvertrags gewöhnlich, dauerhaft und ununterbrochen in ein- und demselben Staat verrichtet, das nationale Gericht das in diesem Land anwendbare Recht gemäß dem letzten Halbsatz dieser Bestimmung ausschließen kann, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass eine engere Verbindung zwischen diesem Vertrag und einem anderen Land besteht.

Kosten

45

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 6 Abs. 2 des Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom, ist dahin auszulegen, dass auch dann, wenn ein Arbeitnehmer die Arbeit in Erfüllung des Arbeitsvertrags gewöhnlich, dauerhaft und ununterbrochen in ein- und demselben Staat verrichtet, das nationale Gericht das in diesem Land anwendbare Recht gemäß dem letzten Halbsatz dieser Bestimmung ausschließen kann, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass eine engere Verbindung zwischen diesem Vertrag und einem anderen Land besteht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.