Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
In der Rechtssache C‑309/06
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom House of Lords (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 12. Juli 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Juli 2006, in dem Verfahren
Marks & Spencer plc
gegen
Commissioners of Customs & Excise
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas, der Richter U. Lõhmus und J. Klučka sowie der Richterin P. Lindh und des Richters A. Arabadjiev (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: J. Swedenborg, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Oktober 2007,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Marks & Spencer plc, vertreten durch D. Milne, QC, A. Hitchmough, Barrister, D. Waelbroeck, avocat, und D. Slater, Solicitor,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Bryanston-Cross als Bevollmächtigte im Beistand von K. Lasok, QC, und P. Mantle, Barrister,
– von Irland, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von G. Clohessy, SC, und N. O’Hanlon, BL,
– der zyprischen Regierung, vertreten durch E. Simeonidou als Bevollmächtigte,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und M. Afonso als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Dezember 2007
folgendes
Urteil
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) in der ursprünglichen Fassung sowie von Art. 28 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie in der durch die Richtlinie 92/77/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 (ABl. L 316, S. 1) geänderten Fassung.
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Marks & Spencer plc (im Folgenden: Marks & Spencer) und den Commissioners of Customs & Excise (im Folgenden: Commissioners) über die Weigerung der Commissioners, einem von Marks & Spencer gestellten Antrag auf Erstattung von zu Unrecht gezahlter Mehrwertsteuer stattzugeben.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3. Art. 12 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie bestimmt, dass die Mehrwertsteuer grundsätzlich zu dem „Satz …, der zu dem Zeitpunkt gilt, zu dem der Steuertatbestand eintritt“, geschuldet wird.
4. Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie in der ursprünglichen Fassung lautete:
„Die ermäßigten Steuersätze und die Steuerbefreiungen mit Erstattung der auf der vorausgehenden Stufe entrichteten Steuern, die am 31. Dezember 1975 galten und den im letzten Gedankenstrich des Artikels 17 der zweiten Richtlinie des Rates vom 11. April [1967] genannten Kriterien entsprechen, können bis zu einem Zeitpunkt beibehalten werden, der vom Rat auf Vorschlag der Kommission einstimmig festgesetzt wird und der nicht später liegen darf als der Zeitpunkt der Beseitigung der Besteuerung der Einfuhr und der steuerlichen Entlastung der Ausfuhr im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten erlassen Vorschriften, die es ermöglichen, von den Steuerpflichtigen die Angaben zu erlangen, die erforderlich sind, um die mit diesen Umsätzen zusammenhängenden eigenen Einnahmen feststellen zu können.
Alle fünf Jahre überprüft der Rat auf der Grundlage eines Berichts der Kommission die vorstehend genannten ermäßigten Steuersätze und Steuerbefreiungen und trifft gegebenenfalls auf Vorschlag der Kommission einstimmig die erforderlichen Maßnahmen zu deren schrittweiser Beseitigung.“
5. In der durch die Richtlinie 92/77 geänderten Fassung bestimmt Art. 28 Abs. 2 Buchst. a:
„…
a) Ausnahmeregelungen, wonach die auf der vorausgehenden Stufe gezahlte Steuer zurückerstattet wird, und ermäßigte Sätze, die niedriger als der in Artikel 12 Absatz 3 festgelegte Mindestsatz für die ermäßigten Sätze sind, die am 1. Januar 1991 anwendbar waren, die mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind und die die Bedingungen gemäß Artikel 17 letzter Gedankenstrich der zweiten Richtlinie vom 11. April 1967 erfüllen, können beibehalten werden.
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Ermittlung der Eigenmittel in Bezug auf diese Umsätze sicherzustellen.
…“
Nationales Recht
6. Nach dem Mehrwertsteuergesetz 1994 (Value Added Tax Act 1994, im Folgenden: VAT Act 1994) findet im Vereinigten Königreich auf die Lieferung von Lebensmitteln im Allgemeinen ein Mehrwertsteuersatz von null Anwendung. Section 30 des VAT Act 1994 („Besteuerung zum Nullsatz“) verweist auf Anhang 8 dieses Gesetzes, in dem unter derselben Überschrift in Teil II unter „Gruppe 1 – Lebensmittel“ in Nr. 2 der „Waren, die unter eine Ausnahmeregelung fallen“, bestimmt wird, dass von der Anwendung eines Mehrwertsteuersatzes von null in Bezug auf Süßwaren (confectionary) abgewichen wird, außer bei Kuchen und Keksen, die einem Nullsteuersatz unterliegen, wobei Kekse, die ganz oder teilweise mit Schokolade überzogen sind, als Ausnahme zum Normalsatz besteuert werden.
7. Section 80 des VAT Act 1994 lautete in dem im Ausgangsverfahren streitigen Zeitraum:
„(1) Wer (vor oder nach Inkrafttreten dieses Gesetzes) einen Betrag ohne Rechtsgrund als Mehrwertsteuer an die Commissioners entrichtet hat, hat einen Anspruch auf Rückzahlung des Betrags.
(2) Die Commissioners haben einen Betrag nach dieser Section nur zu erstatten, wenn ein entsprechender Anspruch geltend gemacht wird.
(3) Gegen einen Anspruch nach dieser Section kann eingewendet werden, dass die Rückzahlung des Betrags den Kläger ungerechtfertigt bereichern würde.
…“
8. Section 80 des VAT Act 1994 wurde durch Section 3 des Zweiten Finanzgesetzes von 2005 (Finance [No. 2] Act 2005) geändert, wobei in Bezug auf den Einwand der ungerechtfertigten Bereicherung wesentliche Änderungen erfolgten. In Subsection 3 von Section 80 wurde insbesondere der Begriff „Rückzahlung“ (repayment) durch den Begriff „Gutschrift“ (crediting) ersetzt.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9. Seit der Einführung der Mehrwertsteuer im Vereinigten Königreich im Jahr 1973 waren die Commissioners, die mit der Erhebung dieser Steuer beauftragt sind, der Meinung, dass die von Marks & Spencer vertriebenen, mit Schokolade überzogenen „Teacakes“ Kekse und keine Kuchen seien und daher dem normalen Mehrwertsteuersatz und nicht dem Nullsatz unterlägen. Von April 1973 bis Oktober 1994 zahlte Marks & Spencer so eine Steuer, die nicht geschuldet war.
10. Mit Schreiben vom 30. September 1994 gestanden die Commissioners ihren Fehler ein, da sich die Teacakes letztlich als Kuchen erwiesen und als solche dem Mehrwertsteuersatz von null unterlagen. Aufgrund dessen stellte Marks & Spencer am 8. Februar 1995 einen Antrag auf Rückzahlung von 3,5 Millionen GBP. Diese Forderung wurde nur in Höhe von 10 % (350 000 GBP) anerkannt, da die Commissioners der Ansicht waren, dass die betreffende Kaufhauskette 90 % der von ihr gezahlten Mehrwertsteuer auf ihre Kunden abgewälzt habe. Die Commissioners hielten Marks & Spencer folglich die Einrede der ungerechtfertigten Bereicherung nach Section 80 (3) des VAT Act 1994 entgegen. Außerdem wandten sie (neue, mit Rückwirkung versehene) Verjährungsregeln an, wonach sie einen Betrag, der mehr als drei Jahre vor Stellung des Antrags auf Rückzahlung entrichtet wurde, nicht zu erstatten hatten. Daher wurde am 4. April 1997 schließlich ein Betrag von 88 440 GBP an Marks & Spencer gezahlt.
11. Nachdem ihr Einspruch zurückgewiesen worden war, wandte sich Marks & Spencer an das VAT and Duties Tribunal, das mit Urteil vom 22. April 1998 die Ansicht der Commissioners bestätigte. Marks & Spencer legte ein Rechtsmittel beim High Court of Justice (England & Wales), Queen’s Bench Division (Crown Office), ein, der den Antrag mit Entscheidung vom 21. Dezember 1998 wiederum zurückwies. Ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung wurde beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) eingelegt, der den Antrag von Marks & Spencer in Bezug auf den Erstattungsanspruch hinsichtlich der Teacakes erneut zurückwies. Wegen eines anderen Teils des Rechtsstreits (in Bezug auf die Besteuerung von durch Marks & Spencer vertriebenen Einkaufsgutscheine) legte der Court of Appeal dem Gerichtshof jedoch mit Beschluss vom 14. Dezember 1999 eine Frage zur Vorabentscheidung über die Vereinbarkeit der rückwirkend eingeführten Verjährungsfrist von drei Jahren (vgl. Randnr. 10 des vorliegenden Urteils) mit dem Grundsatz der Effektivität des Gemeinschaftsrechts und dem Grundsatz des Vertrauensschutzes vor. Mit dieser Frage wollte er u. a. wissen, ob ein Einzelner nach der korrekten Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht aus ihr unmittelbar Ansprüche ableiten kann, wenn der Mitgliedstaat den Geltungsbereich der Richtlinie verkannt hat.
12. Mit Urteil vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer (C‑62/00, Slg. 2002, I‑6325), hat der Gerichtshof für Recht erkannt, dass die Grundsätze der Effektivität und des Vertrauensschutzes einer nationalen Regelung wie der streitigen Regelung des Vereinigten Königreichs entgegenstehen.
13. Angesichts der Gründe, auf die der Gerichtshof die Unvereinbarkeit der Regelung über die rückwirkende Einführung einer Verjährungsfrist mit den genannten Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gestützt hatte, erkannten die Commissioners in dem Bestreben, alle Anträge nach Section 80 des VAT Act 1994 gleichzubehandeln, aus eigenem Entschluss an, dass die Forderung von Marks & Spencer nicht verjährt sei, und erstatteten demgemäß die geforderten Beträge zu 10 %, da ihrer Ansicht nach darüber hinaus eine ungerechtfertigte Bereicherung vorliegen würde.
14. Vor dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) erhielt Marks & Spencer ihre Ansprüche in Bezug auf die Beträge, die angeblich zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen, unmittelbar gestützt auf das Gemeinschaftsrecht weiter aufrecht. Mit Entscheidung vom 21. Oktober 2003 wies der Court of Appeal das Rechtsmittel von Marks & Spencer zurück, die dagegen ein Rechtsmittel beim House of Lords einlegte.
15. Das House of Lords hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Wenn ein Mitgliedstaat nach Art. 28 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie (vor und nach ihrer Änderung durch die Richtlinie 92/77 im Jahr 1992) im nationalen Mehrwertsteuerrecht eine Steuerbefreiung mit Erstattung der Vorsteuer bezüglich bestimmter Leistungen beibehalten hat, besteht dann ein unmittelbar durchsetzbarer gemeinschaftsrechtlicher Anspruch des Wirtschaftsteilnehmers, der solche Leistungen erbringt, auf Besteuerung zum Nullsteuersatz?
2. Falls Frage 1 verneint wird: Wenn ein Mitgliedstaat nach Art. 28 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie (vor und nach ihrer Änderung durch die Richtlinie 92/77 im Jahr 1992) im nationalen Mehrwertsteuerrecht eine Steuerbefreiung mit Erstattung der Vorsteuer bezüglich bestimmter Leistungen beibehalten hat, aber sein nationales Recht irrtümlicherweise so ausgelegt hat, dass bestimmte Leistungen, die der Befreiung mit Erstattung der Vorsteuer nach seinem nationalen Recht unterliegen, dem normalen Steuersatz unterworfen wurden, sind dann die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, inklusive der steuerlichen Neutralität, anwendbar, so dass sie dem Wirtschaftsteilnehmer, der solche Leistungen erbrachte, einen Anspruch auf Rückerstattung der Beträge verleihen, die irrtümlicherweise bezüglich der Leistungen verlangt wurden?
3. Falls die Fragen 1 oder 2 bejaht werden, sind die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität grundsätzlich mit der Folge anwendbar, dass sie verletzt würden, wenn dem fraglichen Wirtschaftsteilnehmer nicht der gesamte Betrag, der irrtümlicherweise für die von ihm erbrachten Leistungen verlangt wurde, zurückgezahlt würde, wenn:
i) der Wirtschaftsteilnehmer durch die Rückzahlung des gesamten Betrags ungerechtfertigt bereichert wäre,
ii) das nationale Recht bestimmt, dass zu viel gezahlte Steuer nicht in dem Ausmaß zurückgezahlt werden kann, dass die Rückzahlung zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Wirtschaftsteilnehmers führen würde, aber
iii) das nationale Recht für Ansprüche von „repayment traders“ keine Vorschrift enthält, die der unter ii genannten ähnlich ist? (Ein „repayment trader“ ist ein Steuerpflichtiger, der in einem bestimmten vorgeschriebenen Abrechnungszeitraum keine Mehrwertsteuer an die zuständigen nationalen Behörden entrichtet, sondern eine Zahlung von ihnen erhält, weil in diesem Zeitraum der Mehrwertsteuerbetrag, den er abziehen darf, den Mehrwertsteuerbetrag übersteigt, den er für die von ihm erbrachten Leistungen schuldet.)
4. Hat es einen Einfluss auf die Antwort auf Frage 3, ob es einen Nachweis gibt, dass der Unterschied in der Behandlung von Wirtschaftsteilnehmern, die Ansprüche auf Rückzahlung von zu viel gezahlter Mehrwertsteuer geltend machen, und Wirtschaftsteilnehmern, die Ansprüche auf zusätzliche Beträge (entstanden durch eine zu hohe Mehrwertsteuererklärung) durch Vorsteuerabzug geltend machen, einen finanziellen Verlust oder Nachteil bei Ersteren verursacht hat oder nicht, und wenn ja, welchen?
5. Falls in der Situation, die in Frage 3 beschrieben wird, die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität anwendbar sind und andernfalls verletzt würden, wird aufgrund des Gemeinschaftsrechts von einem Gericht verlangt oder ihm erlaubt, den Unterschied in der Behandlung auszugleichen, indem der Klage eines Wirtschaftsteilnehmers auf Rückzahlung der zu viel gezahlten Steuer stattgegeben wird, so dass er ungerechtfertigt bereichert wird, oder wird verlangt oder erlaubt, dass das Gericht auf andere Weise Abhilfe schafft (und wenn ja, wie)?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage: Vorliegen eines im Gemeinschaftsrecht begründeten Anspruchs, dass ein bestimmter Umsatz einem Mehrwertsteuersatz von null unterliegt
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
16. Marks & Spencer ist der Meinung, dass ein Anspruch darauf, dass ein bestimmter Umsatz einem Mehrwertsteuersatz von null unterliege, nach Art. 12 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie, dessen Wortlaut klar, genau und unbedingt sei, sowie nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung bestehe. Die abweichende Regelung, die das Vereinigte Königreich sowohl nach Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie in ihrer ursprünglichen Fassung als auch nach Art. 28 Abs. 2 Buchst. a in der Fassung der Richtlinie 92/77 in Anspruch nehme, führe nicht dazu, dass der Fall aus dem Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle, wie in der Bestimmung selbst festgelegt werde.
17. Die Regierung des Vereinigten Königreichs und Irland sind im Gegensatz dazu der Ansicht, dass ein Wirtsc haftsteilnehmer aus dem Gemeinschaftsrecht keinen Anspruch mit unmittelbarer Wirkung auf Steuerbefreiung mit Erstattung der Vorsteuer ableiten könne. Der Anspruch darauf, dass Umsätze einem Nullsteuersatz unterlägen, ergebe sich folglich nur aus dem nationalen Recht.
18. Die zyprische Regierung führt aus, dass der Fehler der Commissioners die Anwendung von Bestimmungen des nationalen Rechts betreffe, auch wenn die Beibehaltung dieser Bestimmungen durch die Sechste Richtlinie erlaubt werde.
19. Die Kommission betont, ohne direkt auf die vorgelegte Frage, die sie für irrelevant hält, einzugehen, dass die Steuerverwaltung des Vereinigten Königreichs das nationale Recht falsch ausgelegt, aber keineswegs gegen eine Verpflichtung aus der Sechsten Richtlinie verstoßen habe.
Antwort des Gerichtshofs
20. Die erste Frage geht dahin, ob ein Wirtschaftsteilnehmer unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Besteuerung zum Nullsatz ableiten kann, wenn sich dieser Steuersatz aus dem nationalen Recht ergibt.
21. Zunächst ist festzustellen, dass diese Frage einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Sachverhalt, der dem vorlegenden Gericht unterbreitet wurde, aufweist und für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits objektiv erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Mai 1994, Corsica Ferries, C‑18/93, Slg. 1994, I‑1783, Randnr. 14, und vom 22. November 2005, Mangold, C‑144/04, Slg. 2005, I‑9981, Randnr. 34). Der Einwand der Kommission, dass die erste Frage nicht einschlägig sei, ist daher zurückzuweisen, da der Gerichtshof für die Entscheidung über diese Frage zuständig ist.
22. Zweitens ist daran zu erinnern, dass Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie dadurch, dass er den Mitgliedstaaten gestattet, Ausnahmeregelungen, wonach die gezahlte Steuer zurückerstattet wird, anzuwenden, eine Ausnahme von den Bestimmungen über den Normalsatz der Mehrwertsteuer zulässt (Urteil vom 6. Juli 2006, Talacre Beach Caravan Sales, C‑251/05, Slg. 2006, I‑6269, Randnr. 17). Es trifft also zu, dass diese Ausnahmeregelung, die sogenannte „Besteuerung zum Nullsatz“, aufgrund des Gemeinschaftsrechts zulässig ist.
23. Das Gemeinschaftsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten jedoch nicht, solche Ausnahmeregelungen beizubehalten. Denn wie dem Wortlaut dieser Bestimmung in ihrer ursprünglichen Fassung zu entnehmen ist, „können“ die Fälle der Steuerbefreiung, die am 31. Dezember 1975 galten, beibehalten werden, was bedeutet, dass es allein dem Ermessen des betreffenden Mitgliedstaats überlassen ist, diese oder jene Regelung beizubehalten, die insbesondere die in Art. 17 letzter Gedankenstrich der aufgehobenen Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1303) aufgestellten Bedingungen erfüllt, wonach Ausnahmeregelungen, die die Rückerstattung der gezahlten Steuer vorsehen, nur aus genau definierten sozialen Gründen zugunsten der Endverbraucher eingeführt werden durften.
24. Art. 28 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie ist also einer Stillhalteklausel gleichzusetzen, die darauf abzielt, schwierige soziale Situationen zu vermeiden, die sich daraus ergeben könnten, dass vom nationalen Gesetzgeber vorgesehene, aber von der Sechsten Richtlinie nicht übernommene Vorteile abgeschafft werden (Urteil Talacre Beach Caravan Sales, Randnr. 22). Die fakultative Beibehaltung des Status quo ante wird daher lediglich in den Rahmen der Sechsten Richtlinie einbezogen. Daraus folgt, dass Marks & Spencer aufgrund einer nationalen Regelung, die keine Maßnahme zur Umsetzung der Sechsten Richtlinie ist (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Juli 2000, Idéal tourisme, C‑36/99, Slg. 2000, I‑6049, Randnr. 38), sondern Überbleibsel einer Vergünstigung, die unter Berücksichtigung der sozialen Zielsetzungen, die das Vereinigte Königreich dadurch verfolgt, dass es dem Endverbraucher keine Mehrwertsteuer auf alltägliche Lebensmittel auferlegt, nach der Richtlinie erlaubt ist, Steuerbefreiung mit Erstattung der Vorsteuer beanspruchen kann.
25. Marks & Spencer kann sich nicht mit Erfolg auf Art. 12 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie berufen. Mit dieser Bestimmung, die festlegt, dass der Steuersatz anzuwenden ist, der zu dem Zeitpunkt gilt, zu dem der Steuertatbestand eintritt, soll dem nationalen Gesetzgeber untersagt werden, im Fall einer Änderung des für eine bestimmte Ware geltenden Steuersatzes, wie durch Art. 12 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie bestätigt wird, auf einen bestimmten Umsatz einen anderen Steuersatz anzuwenden als den, der zu dem Zeitpunkt gilt, zu dem der Steuertatbestand in Bezug auf diesen Umsatz eintritt.
26. Der Zweck dieser Vorschrift besteht also klar darin, den zeitlichen Bezugspunkt für die Anwendung eines bestimmten Mehrwertsteuersatzes festzulegen.
27. Davon völlig verschieden ist der Fall des Ausgangsverfahrens, in dem die Commissioners einen Fehler in Bezug auf die Frage festgestellt haben, ob für eine bestimmte Ware die Steuerbefreiung mit Erstattung der entrichteten Steuer gilt, da es sich nicht um eine zwischenzeitlich eingetretene Änderung des Steuersatzes handelt, sondern um die Frage, ob eine Ware in den Geltungsbereich einer nach Art. 28 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie erlaubten Befreiung mit Erstattung der entrichteten Steuer fällt.
28. Auf die erste Frage ist daher zu antworten, dass, wenn ein Mitgliedstaat nach Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie vor und nach den Änderungen dieser Vorschrift durch die Richtlinie 92/77 im nationalen Recht eine Steuerbefreiung mit Erstattung der Vorsteuer bezüglich bestimmter Leistungen beibehalten hat, kein unmittelbar durchsetzbarer gemeinschaftsrechtlicher Anspruch des Wirtschaftsteilnehmers, der solche Leistungen erbringt, darauf besteht, dass diese Leistungen zu einem Mehrwertsteuersatz von null besteuert werden.
Zur zweiten Frage: Bestehen eines auf den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts beruhenden Anspruchs auf Erstattung von zu Unrecht gezahlter Mehrwertsteuer
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
29. Nach der Auffassung von Marks & Spencer sind die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts einschließlich des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität so anzuwenden, dass sie zugunsten von Marks & Spencer einen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer begründeten, da das gesamte Mehrwertsteuersystem per definitionem im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bleibe, auch in dem in Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie sowohl in der ursprünglichen als auch in der durch die Richtlinie 92/77 geänderten Fassung vorgesehenen Fall.
30. Die Regierung des Vereinigten Königreichs, Irland und die zyprische Regierung betonen, dass die im Ausgangsverfahren streitigen Beträge nicht unter Verstoß gegen eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts, die unmittelbare Wirkung habe oder einen Anspruch verleihe, erhoben worden seien. Es handle sich rein um eine Frage des nationalen Rechts, und es gebe keineswegs Anlass zur Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts. Irland fügt hinzu, dass es dem Endverbraucher, der die Mehrwertsteuer getragen habe, zugutekommen sollte, wenn der Grundsatz der steuerlichen Neutralität im vorliegenden Fall so anzuwenden sein sollte, dass er Grundlage für einen Erstattungsanspruch sei.
31. Die Kommission erinnert daran, dass die zuständigen nationalen Behörden bei der Anwendung der Mehrwertsteuer die wesentlichen Grundsätze einhalten müssten, die dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde lägen, insbesondere den Grundsatz der Neutralität. Dieser Verpflichtung unterlägen sie bei der Erstattung von Steuerüberschüssen. Die Kommission äußert sich jedoch nicht direkt zur zweiten Frage.
Antwort des Gerichtshofs
32. Bei der zweiten Frage geht es darum, ob ein Wirtschaftsteilnehmer nach den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, u. a. dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität, einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht erhobener Mehrwertsteuer hat, wenn sich der Steuersatz, der hätte angewendet werden müssen, aus dem nationalen Recht ergibt.
33. Zunächst ist hervorzuheben, dass der Wortlaut von Art. 28 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie in der Fassung der Richtlinie 92/77 zeigt, dass die nationalen Rechtsvorschriften, deren Beibehaltung erlaubt ist, „mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar“ sein müssen und die Bedingungen gemäß Art. 17 letzter Gedankenstrich der Richtlinie 67/228 erfüllen müssen. Auch wenn der Zusatz „mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar“ erst im Jahr 1992 eingefügt worden ist, gilt ein solches Erfordernis, das eng mit dem reibungslosen Funktionieren und der einheitlichen Auslegung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems verbunden ist, für den gesamten Zeitraum der unrichtigen Besteuerung, um den es im Ausgangsverfahren geht. Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, ist die Beibehaltung von Befreiungen oder ermäßigten Mehrwertsteuersätzen, die niedriger als der in der Sechsten Richtlinie festgelegte Mindestsatz sind, nur dann zulässig, wenn sie nicht u. a. den diesem System zugrunde liegenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. September 1999, Gregg, C‑216/97, Slg. 1999, I‑4947, Randnr. 19, und vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich, C‑481/98, Slg. 2001, I‑3369, Randnr. 21).
34. Daraus folgt also, dass die das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beherrschenden Grundsätze, darunter der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, auch in dem nach Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Fall zur Anwendung kommen und gegebenenfalls von einem Steuerpflichtigen gegen eine Bestimmung des nationalen Rechts oder ihre Anwendung, die diesen Grundsätzen zuwiderläuft, geltend gemacht werden können.
35. Insbesondere zum Erstattungsanspruch ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das Recht auf Erstattung von Abgaben, die in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhoben wurden, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die dem Einzelnen unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Marks & Spencer, Randnr. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieser Grundsatz gilt ebenfalls für Abgaben, die unter Verstoß gegen eine nach Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie erlaubte nationale Regelung erhoben wurden.
36. Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass, wenn ein Mitgliedstaat nach Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie vor und nach ihrer Änderung durch die Richtlinie 92/77 im nationalen Recht eine Steuerbefreiung mit Erstattung der Vorsteuer bezüglich bestimmter Leistungen beibehalten hat, aber sein nationales Recht irrtümlicherweise so ausgelegt hat, dass bestimmte Leistungen, die der Befreiung mit Erstattung der Vorsteuer nach seinem nationalen Recht unterliegen, dem normalen Steuersatz unterworfen wurden, die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, einschließlich des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, so anzuwenden sind, dass sie dem Wirtschaftsteilnehmer, der diese Leistungen erbracht hat, einen Anspruch auf Rückerstattung der Beträge verleihen, die irrtümlicherweise bezüglich der Leistungen verlangt wurden.
Zur dritten, zur vierten und zur fünften Frage: mögliche Grenzen eines auf den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität beruhenden Erstattungsanspruchs
Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen
37. Marks & Spencer ist der Auffassung, dass die Anwendung der Grundsätze der ungerechtfertigten Bereicherung auf „payment traders“ (Steuerpflichtige, deren geschuldete Mehrwertsteuerbeträge in einem vorgeschriebenen Abrechnungszeitraum die Vorsteuer übersteigen), aber nicht auf „repayment traders“ (Steuerpflichtige, die sich in der umgekehrten Lage befinden) einen Verstoß gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität darstelle. Deswegen sei es nicht erforderlich, nachzuweisen, dass der „payment trader“ einen finanziellen Verlust oder finanziellen Nachteil erlitten habe. Schließlich obliege es jedem Mitgliedstaat, unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts, das der Einrede der ungerechtfertigten Bereicherung nicht entgegenstehe und sie auch nicht vorschreibe, zu bestimmen, wie eine unterschiedliche Behandlung, die gegen die genannten Grundsätze verstoße, ausgeglichen werde.
38. Die Regierung des Vereinigten Königreichs ist der Meinung, dass die dritte, die vierte und die fünfte Vorlagefrage zu verneinen seien.
39. Irland und die zyprische Regierung haben es angesichts des Umstands, dass die erste und die zweite Frage ihrer Ansicht nach zu verneinen waren, nicht für notwendig gehalten, die weiteren Fragen zu beantworten.
40. Die Kommission weist darauf hin, dass das Gemeinschaftsrecht eine auf ungerechtfertigte Bereicherung gestützte Weigerung der Erstattung unter der Bedingung zulasse, dass die ungerechtfertigte Bereicherung erwiesen sei. Außerdem müsse eine solche Weigerung steuerlich neutral sein und dürfe zu keiner Diskriminierung zwischen Wirtschaftsteilnehmern führen.
Antwort des Gerichtshofs
– Vorbemerkungen
41. Das Gemeinschaftsrecht verbietet es nicht, dass ein nationales Rechtssystem die Erstattung von zu Unrecht erhobenen Steuern unter Umständen ablehnt, die zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führen würden (Urteile vom 24. März 1988, Kommission/Italien, 104/86, Slg. 1988, 1799, Randnr. 6, vom 9. Februar 1999, Dilexport, C‑343/96, Slg. 1999, I‑579, Randnr. 47, und vom 21. September 2000, Michaïlidis, C‑441/98 und C‑442/98, Slg. 2000, I‑7145, Randnr. 31). Um jedoch im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht zu stehen, muss der Grundsatz, der die ungerechtfertigte Bereicherung verbietet, unter Beachtung von Grundsätzen wie dem Grundsatz der Gleichbehandlung durchgeführt werden.
42. Außerdem ist daran zu erinnern, dass im Fall einer gemeinschaftsrechtswidrigen Erhebung der Steuer die innerstaatlichen Behörden dann, wenn die Steuer nachweislich nur teilweise abgewälzt worden ist, dem Abgabenpflichtigen den nicht abgewälzten Betrag zu erstatten haben (Urteil vom 14. Januar 1997, Comateb u. a., C‑192/95 bis C‑218/95, Slg. 1997, I‑165, Randnrn. 27 und 28). Jedoch könnte dem Steuerpflichtigen selbst dann, wenn die Steuer in vollem Umfang in den Preis eingeflossen ist, aus einem Absatzrückgang ein wirtschaftlicher Schaden entstehen (vgl. in diesem Sinne Urteile Comateb u. a., Randnrn. 29 und 30, und Michaïlidis, Randnrn. 34 und 35).
43. Vorliegen und Umfang der ungerechtfertigten Bereicherung, zu der die Erstattung einer gemeinschaftsrechtswidrig erhobenen Abgabe bei einem Abgabepflichtigen führt, lassen sich daher erst nach einer wirtschaftlichen Untersuchung feststellen, bei der alle maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden (vgl. insbesondere Urteil vom 2. Oktober 2003, Weber’s Wine World u. a., C‑147/01, Slg. 2003, I‑11365, Randnrn. 94 bis 100).
44. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die Beurteilung durch die Commissioners der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebenen Untersuchung entspricht.
– Zur dritten Frage
45. Der Gerichtshof wird mit der Frage befasst, ob die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Gleichbehandlung dann verletzt werden, wenn einem Wirtschaftsteilnehmer nicht der gesamte Betrag der von den Steuerbehörden zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer zurückgezahlt wird, weil er durch die Rückzahlung ungerechtfertigt bereichert würde, dieser Grund für die Versagung der Rückzahlung im nationalen Recht jedoch nicht vorgesehen ist, wenn der Wirtschaftsteilnehmer vor der Erstattung Gläubiger der Staatskasse ist.
46. Es ist zu prüfen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität und der allgemeine gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Gleichbehandlung im Rahmen einer teilweisen Verweigerung der Erstattung wie der des Ausgangsverfahrens durch die unterschiedliche Behandlung von „payment traders“ und „repayment traders“ verletzt werden.
47. Was, erstens, den Grundsatz der steuerlichen Neutralität betrifft, ist daran zu erinnern, dass es nach diesem Grundsatz, der ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt (vgl. u. a. Urteil vom 19. September 2000, Schmeink & Cofreth und Strobel, C‑454/98, Slg. 2000, I‑6973, Randnr. 59), insbesondere unzulässig ist, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteile vom 11. Juni 1998, Fischer, C‑283/95, Slg. 1998, I‑3369, Randnrn. 21 und 27, und Kommission/Frankreich, Randnr. 22). Demnach sind solche Erzeugnisse einem einheitlichen Steuersatz zu unterwerfen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Frankreich, Randnr. 22).
48. Folglich wird in einem Fall, in dem ein Fehler in Bezug auf den Steuersatz mehrere Steuerpflichtige betrifft und in dem die Rückzahlung der wegen dieses Fehlers zu Unrecht erhobenen Steuern zumindest teilweise davon abhängig ist, ob die Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Mehrwertsteuer ursprünglich Gläubiger oder Schuldner der Staatskasse sind, ihnen gegenüber in Wirklichkeit eine unterschiedliche tatsächliche Besteuerung angewandt, ähnlich derjenigen, die sich aus der Anwendung unterschiedlicher Mehrwertsteuersätze auf gleichartige Waren hätte ergeben können. Ein solcher Unterschied verstößt daher gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, sofern diese Steuerpflichtigen gleichartige Waren vertrieben haben, was das nationale Gericht zu beurteilen hat.
49. Zweitens ist daran zu erinnern, dass im Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck kommt (Urteil vom 8. Juni 2006, L. u. P., C‑106/05, Slg. 2006, I‑5123, Randnr. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). Während ein Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nur zwischen konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmern in Betracht gezogen werden kann, wie in Randnr. 47 des vorliegenden Urteils erwähnt, kann indessen ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung im Steuerbereich durch andere Arten der Diskriminierung gekennzeichnet sein, die Wirtschaftsteilnehmer betreffen, die nicht zwangsläufig miteinander konkurrieren, aber sich trotzdem in einer in anderer Beziehung vergleichbaren Situation befinden.
50. Der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung ist daher in einer Situation anzuwenden, in der alle Wirtschaftsteilnehmer Inhaber eines Mehrwertsteuerguthabens sind, dieses Guthaben von den Steuerbehörden erstattet haben wollen und ihr Antrag auf Erstattung unterschiedlich behandelt wird, unabhängig von den Wettbewerbsverhältnissen, die zwischen ihnen bestehen können. Es ist also zu prüfen, ob dieser Grundsatz als solcher einer Bestimmung wie Section 80 des VAT Act 1994 entgegensteht.
51. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre (Urteile vom 25. November 1986, Klensch u. a., 201/85 und 202/85, Slg. 1986, 3477, Randnr. 9, und Idéal tourisme, Randnr. 35).
52. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass in einer nationalen Regelung wie der i m Ausgangsverfahren anwendbaren die unterschiedliche Behandlung von Wirtschaftsteilnehmern in Bezug auf den Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung je nachdem, ob die Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Mehrwertsteuer ursprünglich Gläubiger oder Schuldner der Staatskasse sind, nicht objektiv gerechtfertigt ist. Der Umstand, dass ein Wirtschaftsteilnehmer ungerechtfertigt bereichert wird, hat nämlich nichts mit der Stellung dieses Wirtschaftsteilnehmers gegenüber der Finanzverwaltung vor der Rückzahlung der Mehrwertsteuer zu tun, da sich die ungerechtfertigte Bereicherung, wenn sie besteht, aus der Rückzahlung selbst ergibt, und nicht aus der vorangehenden Stellung des Wirtschaftsteilnehmers als Gläubiger oder Schuldner der Staatskasse.
53. Diese Analyse wird, sollte dies erforderlich sein, durch die Änderung der Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs im Anschluss an das Mahnschreiben der Kommission an diesen Mitgliedstaat im Rahmen der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens untermauert. Nach Section 3 des in Randnr. 8 des vorliegenden Urteils erwähnten Finance (No. 2) Act 2005 wird nämlich keine Unterscheidung mehr nach der Stellung des Steuerpflichtigen gegenüber der Staatskasse getroffen.
54. Auf die dritte Frage ist demnach zu antworten, dass, auch wenn die Grundsätze der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens grundsätzlich anwendbar sind, ein Verstoß gegen sie nicht allein aufgrund des Umstands gegeben ist, dass die Verweigerung der Rückzahlung auf eine ungerechtfertigte Bereicherung des betreffenden Steuerpflichtigen gestützt wird. Dagegen verbietet der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass das Verbot der ungerechtfertigten Bereicherung nur den „payment traders“, nicht aber den „repayment traders“ entgegengehalten wird, sofern diese Steuerpflichtigen gleichartige Waren vertrieben haben. Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob dies in dieser Rechtssache der Fall ist. Im Übrigen verbietet der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung, dessen Verletzung im Steuerbereich durch Diskriminierungen gekennzeichnet sein kann, die Wirtschaftsteilnehmer betreffen, die nicht zwangsläufig miteinander konkurrieren, aber sich trotzdem in einer in anderer Beziehung vergleichbaren Situation befinden, eine Diskriminierung von „payment traders“ gegenüber „repayment traders“, die nicht objektiv gerechtfertigt ist.
– Zur vierten Frage
55. Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es einen Einfluss auf die Antwort auf die dritte Frage hätte, wenn erwiesen wäre, dass der Wirtschaftsteilnehmer, dem die Erstattung wegen der ungerechtfertigten Bereicherung, die sich aus der Rückzahlung ergeben würde, verweigert wurde, keinen finanziellen Verlust oder Nachteil erlitten hat.
56. Dazu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass eine vollständige Abwälzung der Mehrwertsteuer auf den Endverbraucher nicht notwendigerweise das Fehlen eines finanziellen Verlustes oder Nachteils zur Folge hat, da dem Wirtschaftsteilnehmer, wie in Randnr. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt, auch in diesem Fall aus einem Absatzrückgang ein wirtschaftlicher Schaden entstanden sein kann. Zum anderen liegt ein, in den Randnrn. 52 bis 54 des vorliegenden Urteils erwähnter Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung durch eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige vor, wenn zwischen Wirtschaftsteilnehmern hinsichtlich ihres Anspruchs auf Erstattung der zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer unabhängig von der Frage, ob diese Wirtschaftsteilnehmer tatsächlich einen finanziellen Verlust oder Nachteil erlitten haben, diskriminiert wird.
57. Auf die vierte Frage ist daher zu antworten, dass der Nachweis, dass der Wirtschaftsteilnehmer, dem die Erstattung der zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer verweigert wurde, keinen finanziellen Verlust oder Nachteil erlitten hat, keinen Einfluss auf die Antwort auf die dritte Frage hat.
– Zur fünften Frage
58. Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob aufgrund des Gemeinschaftsrechts von einem nationalen Gericht verlangt oder ihm erlaubt wird, den in den Randnrn. 52 bis 54 des vorliegenden Urteils erwähnten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung durch die Anordnung auszugleichen, dem durch diesen Verstoß benachteiligten Wirtschaftsteilnehmer die zu Unrecht erhobene Steuer vollständig zurückzuzahlen, auch wenn eine solche Rückzahlung eine ungerechtfertigte Bereicherung dieses Wirtschaftsteilnehmers zur Folge hat, oder ob von ihm verlangt oder ihm erlaubt wird, dass gegen diesen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung auf andere Weise Abhilfe geschaffen wird.
59. Nach ständiger Rechtsprechung ist es mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung Sache der nationalen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und das Verfahren für die Klagen auszugestalten, die den vollen Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen (vgl. Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5, und vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, Slg. 2003, I‑10239, Randnr. 46).
60. Es ist folglich Sache des vorlegenden Gerichts, selbst aus dem in den Randnrn. 52 bis 54 des vorliegenden Urteils erwähnten Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung etwaige Konsequenzen für die Vergangenheit zu ziehen.
61. Gleichwohl obliegt es dem Gerichtshof, auf bestimmte Kriterien oder Grundsätze des Gemeinschaftsrechts hinzuweisen, die dabei zu beachten sind.
62. Das nationale Gericht hat im Rahmen dieser Beurteilung das Gemeinschaftsrecht und insbesondere, wie in Randnr. 51 des vorliegenden Urteils erwähnt, den Grundsatz der Gleichbehandlung zu beachten. Das nationale Gericht hat grundsätzlich anzuordnen, dass die dem Wirtschaftsteilnehmer, der diskriminiert wurde, geschuldete Mehrwertsteuer vollständig zurückgezahlt wird, damit der Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung behoben wird, es sei denn, dass nach dem nationalen Recht andere Möglichkeiten bestehen, diesen Verstoß auszugleichen.
63. Wie die Generalanwältin in Nr. 74 ihrer Schlussanträge bemerkt hat, ist dazu festzustellen, dass das nationale Gericht gehalten ist, eine diskriminierende nationale Bestimmung außer Anwendung zu lassen, ohne dass es deren vorherige Aufhebung durch den Gesetzgeber beantragen oder abwarten müsste, und auf die Mitglieder der benachteiligten Gruppe eben die Regelung anzuwenden, die für die Mitglieder der begünstigten Gruppe gilt.
64. Auf die fünfte Frage ist folglich zu antworten, dass es Sache des vorlegenden Gerichts ist, selbst aus dem in den Randnrn. 52 bis 54 des vorliegenden Urteils erwähnten Verstoß gegen den Gleichheitssatz nach den Vorschriften über die zeitlichen Wirkungen des im Ausgangsverfahren anzuwendenden nationalen Rechts unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere des Grundsatzes der Gleichbehandlung sowie des Grundsatzes, wonach das Gericht darauf achten muss, dass die von ihm angeordneten Abhilfemaßnahmen nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen, etwaige Konsequenzen für die Vergangenheit zu ziehen.
Kosten
65. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
1. Hat ein Mitgliedstaat nach Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage vor und nach den Änderungen dieser Vorschrift durch die Richtlinie 92/77/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 im nationalen Recht eine Steuerbefreiung mit Erstattung der Vorsteuer bezüglich bestimmter Leistungen beibehalten, so besteht kein unmittelbar durchsetzbarer gemeinschaftsrechtlicher Anspruch des Wirtschaftsteilnehmers, der solche Leistungen erbringt, darauf, dass diese Leistungen zu einem Mehrwertsteuersatz von null besteuert werden.
2. Hat ein Mitgliedstaat nach Art. 28 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 vor und nach den Änderungen dieser Vorschrift durch die Richtlinie 92/77 im nationalen Recht eine Steuerbefreiung mit Erstattung der Vorsteuer bezüglich bestimmter Leistungen beibehalten, aber sein nationales Recht irrtümlicherweise so ausgelegt, dass bestimmte Leistungen, die der Befreiung mit Erstattung der Vorsteuer nach seinem nationalen Recht unterliegen, dem normalen Steuersatz unterworfen wurden, so sind die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, inklusive des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität, so anzuwenden, dass sie dem Wirtschaftsteilnehmer, der diese Leistungen erbracht hat, einen Anspruch auf Rückerstattung der Beträge verleihen, die irrtümlicherweise bezüglich der Leistungen verlangt wurden.
3. Auch wenn die Grundsätze der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität auf das Ausgangsverfahren grundsätzlich anwendbar sind, ist ein Verstoß gegen sie nicht allein aufgrund des Umstands gegeben, dass die Weigerung der Rückzahlung auf eine ungerechtfertigte Bereicherung des betreffenden Steuerpflichtigen gestützt wird. Dagegen verbietet der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass der Begriff der ungerechtfertigten Bereicherung nur Steuerpflichtigen wie „payment traders“ (Steuerpflichtige, deren geschuldete Mehrwertsteuerbeträge in einem vorgeschriebenen Abrechnungszeitraum die Vorsteuer übersteigen), nicht aber Steuerpflichtigen wie „repayment traders“ (Steuerpflichtige, die sich in der umgekehrten Lage befinden) entgegengehalten wird, sofern diese Steuerpflichtigen gleichartige Waren vertrieben haben. Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob dies in dieser Rechtssache der Fall ist. Im Übrigen verbietet der allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung, dessen Verletzung im Steuerbereich durch Diskriminierungen gekennzeichnet sein kann, die Wirtschaftsteilnehmer betreffen, die nicht zwangsläufig miteinander konkurrieren, aber sich trotzdem in einer in anderer Beziehung vergleichbaren Situation befinden, eine Diskriminierung von „payment traders“ gegenüber „repayment traders“, die nicht objektiv gerechtfertigt ist.
4. Der Nachweis, dass der Wirtschaftsteilnehmer, dem die Erstattung der zu Unrecht erhobenen Mehrwertsteuer verweigert wurde, keinen finanziellen Verlust oder Nachteil erlitten hat, hat keinen Einfluss auf die Antwort auf die dritte Frage.
5. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, selbst aus der in Nr. 3 des Tenors des vorliegenden Urteils erwähnten Verletzung des Gleichheitssatzes nach den Vorschriften über die zeitlichen Wirkungen des im Ausgangsverfahren anzuwendenden nationalen Rechts unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere des Grundsatzes der Gleichbehandlung sowie des Grundsatzes, wonach das Gericht darauf achten muss, dass die von ihm angeordneten Abhilfemaßnahmen nicht gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen, etwaige Konsequenzen für die Vergangenheit zu ziehen.