Urteil des Gerichts erster Instanz (Zweite erweiterte Kammer) vom 30. April 2002. - Government of Gibraltar gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften. - Staatliche Beihilfen - Steuerregelungen - Bestehende oder neue Beihilfen - Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens im Sinne von Artikel 88 Absatz 2 EG. - Verbundene Rechtssachen T-195/01 und T-207/01.
Sammlung der Rechtsprechung 2002 Seite II-02309
Leitsätze
Parteien
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
1. Nichtigkeitsklage - Anfechtbare Handlungen - Handlungen, die Rechtswirkungen erzeugen - Entscheidung der Kommission, in Bezug auf eine staatliche Beihilfe ein förmliches Prüfverfahren in Verbindung mit der vorläufigen Einstufung der neuen Beihilfe einzuleiten - Zulässigkeit
(Artikel 88 EG; Verordnung Nr. 659/99 des Rates, Artikel 10, 11, 17 bis 19)
2. Staatliche Beihilfen - Bestehende und neue Beihilfen - Maßnahme zur Änderung einer bestehenden Beihilferegelung - Änderung, die die Regelung nicht in ihrem Kern betrifft - Einstufung der Regelung insgesamt als neue Beihilfe - Unzulässigkeit
(Artikel 88 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 1 Buchstabe c)
3. Staatliche Beihilfen - Bestehende und neue Beihilfen - Unterbleiben der Prüfung einer neuen Beihilfe während einer verhältnismäßig langen Zeit - Umwandlung in eine bestehende Beihilfe - Ausschluss - Mögliches berechtigtes Vertrauen der Empfänger, das der Wiedereinziehung der Beihilfe entgegensteht
(Artikel 88 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 15)
4. Staatliche Beihilfen - Entscheidung der Kommission, ein förmliches Prüfverfahren in Bezug auf eine Beihilfe einzuleiten - Begründungspflicht - Umfang
(Artikel 88 Absätze 2 und 3 EG sowie 253 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 6)
5. Staatliche Beihilfen - Prüfung durch die Kommission - Keine Verpflichtung, eine Anhörung mit dem Beschwerdeführer, den Beteiligten und allen Mitgliedstaaten im Stadium der Vorprüfung zu veranstalten
(Artikel 88 Absätze 2 und 3 EG; Verordnung Nr. 659/1999 des Rates, Artikel 2 Absatz 2, 5 Absätze 1 und 2 sowie 10 Absatz 2)
1. Auch wenn die Einstufung einer staatlichen Beihilfe einer objektiven Situation entspricht, die unabhängig von der Beurteilung ist, die im Stadium der Einleitung des Prüfverfahrens vorgenommen wird, und die bloße Einleitung dieses Verfahrens nicht ebenso unmittelbar verbindlich ist wie eine an den betreffenden Mitgliedstaat gerichtete Aussetzungsanordnung, entfaltet die Entscheidung der Kommission für die Einleitung eines förmlichen Prüfverfahrens in Verbindung mit der vorläufigen Einstufung einer staatlichen Maßnahme als neue Beihilfe anstelle der Wahl des Verfahrens für bestehende Beihilfen Rechtswirkungen.
Denn zum einen hätte sogar eine endgültige Entscheidung, mit der diese Beihilfen für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt würden, nicht die Heilung der Maßnahmen zur Durchführung der rechtswidrigen Maßnahme zur Folge. Zum anderen kann die Einleitungsentscheidung vor einem nationalen Gericht geltend gemacht werden und auf diese Weise die von der Maßnahme Begünstigten und die Gebietskörperschaften der Gefahr aussetzen, dass das nationale Gericht die Aussetzung der Maßnahme und/oder die Wiedereinziehung der erfolgten Zahlungen anordnet.
Daher muss die Entscheidung, ein förmliches Verfahren einzuleiten, verbunden mit der vorläufigen Einstufung als neue Beihilfen, auch in einem Fall wie dem vorliegenden einer Nachprüfung ihrer Rechtmäßigkeit unterzogen werden können. Denn die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens erzeugt die erwähnten Rechtswirkungen, während sich im Rahmen der Prüfung einer bestehenden Beihilfe die Rechtslage bis zu einer etwaigen Zustimmung des betreffenden Mitgliedstaats zu einem Vorschlag zweckdienlicher Maßnahmen oder bis zum Erlass einer abschließenden Entscheidung durch die Kommission nicht ändert.
( vgl. Randnrn. 82, 84-86 )
2. Nach Artikel 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 659/1999 gelten als neue Beihilfen alle Änderungen bestehender Beihilfen". Nach diesem eindeutigen Wortlaut ist nicht jede geänderte bestehende Beihilfe" als neue Beihilfe anzusehen, sondern nur die Änderung als solche kann als neue Beihilfe eingestuft werden.
Daher wird die ursprüngliche Regelung durch die Änderung nur dann in eine neue Beihilferegelung ungewandelt, wenn die Änderung sie in ihrem Kern betrifft. Um eine derartige wesentliche Änderung kann es sich jedoch nicht handeln, wenn sich das neue Element eindeutig von der ursprünglichen Regelung trennen lässt.
Nach allem hat die Kommission gegen Artikel 88 EG und Artikel 1 der erwähnten Verordnung verstoßen, indem sie das förmliche Prüfverfahren in Bezug auf eine staatliche Beihilferegelung insgesamt eingeleitet und diese Regelung vorläufig insgesamt als neue Beihilfe eingestuft hat, obwohl die später vorgenommenen Änderungen als Elemente zu betrachten sind, die von der ursprünglichen Regelung abgetrennt werden können.
( vgl. Randnrn. 109, 111, 114-115 )
3. Der bloße Umstand, dass die Kommission während einer verhältnismäßig langen Zeit keine Prüfung in Bezug auf eine bestimmte staatliche Maßnahme eingeleitet hat, kann dieser Maßnahme allein nicht den objektiven Charakter einer bestehenden Beihilfe nehmen, wenn es sich um eine Beihilfe handelt. Die möglicherweise in dieser Hinsicht bestehenden Ungewissheiten können allenfalls dazu führen, dass bei den Begünstigten ein berechtigtes Vertrauen besteht, das die Wiedereinziehung der gezahlten Beihilfe für die Vergangenheit hindert.
Das Gleiche gilt für die Verjährungsfrist des Artikels 15 der Verordnung Nr. 659/1999, die nicht den Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes darstellt, wonach eine neue Beihilfe in eine bestehende Beihilfe umgewandelt würde, sondern nur die Wiedereinziehung von Beihilfen ausschließt, die mehr als zehn Jahre vor dem ersten Tätigwerden der Kommission eingeführt wurden.
( vgl. Randnrn. 129-130 )
4. Gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 659/1999 braucht eine Entscheidung der Kommission zur Einleitung eines förmlichen Prüfverfahrens in Bezug auf eine staatliche Beihilfe nur eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung" des Beihilfecharakters der in Rede stehenden Maßnahme und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt zu enthalten. Ebenfalls nach Artikel 6 muss die Einleitungsentscheidung die Betroffenen in die Lage versetzen, sich in wirksamer Weise am förmlichen Prüfverfahren zu beteiligen, in dem sie ihre Argumente geltend machen können. Hierfür genügt es, dass die Beteiligten erfahren, welche Überlegungen die Kommission zu der vorläufigen Ansicht veranlasst haben, dass die in Rede stehende Maßnahme eine neue, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Maßnahme darstelle.
( vgl. Randnrn. 137-138 )
5. Für eine Verpflichtung der Kommission, einen Beschwerdeführer im Stadium der Vorprüfung der staatlichen Beihilfen anzuhören, gibt es keine Rechtsgrundlage. Dies gilt in gleicher Weise für alle Beteiligten und alle Mitgliedstaaten, denen die geltenden Bestimmungen keinen Anspruch auf kontradiktorische Beteiligung an der Phase der Vorprüfung, die vor der Entscheidung zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens liegt, verleihen. Denn allein die Kommission ist befugt, anzuordnen, dass der betroffene Mitgliedstaat ihr Auskünfte erteilt" (Artikel 2 Absatz 2, Artikel 5 Absätze 1 und 2 sowie Artikel 10 Absatz 2 der Verordnung Nr. 659/1999). Somit können die Mitgliedstaaten und die Beteiligten die Kommission nicht zwingen, sie anzuhören, damit sie die vorläufige Würdigung" beeinflussen können, die die Kommission gegebenenfalls zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens veranlasst.
( vgl. Randnr. 144 )
In den verbundenen Rechtssachen T-195/01 und T-207/01
Regierung von Gibraltar, Prozessbevollmächtigte: A. Sutton, M. Llamas, Barristers, und Rechtsanwalt W. Schuster, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Di Bucci und R. Lyal als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
unterstützt durch
Königreich Spanien, vertreten durch R. Silva de Lapuerta als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelfer,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidungen SG(2001) D/289755 und SG(2001) D/289757 der Kommission vom 11. Juli 2001 über die Eröffnung des Verfahrens gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG in Bezug auf Rechtsvorschriften von Gibraltar über steuerbefreite und qualifizierte Gesellschaften,
erlässt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN
(Zweite erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten R. M. Moura Ramos, der Richterin V. Tiili sowie der Richter J. Pirrung, P. Mengozzi und A. W. H. Meij,
Kanzler: J. Plingers, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. März 2002,
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrechtliche Vorschriften
1 Gemäß Artikel 87 Absatz 1 EG sind staatliche Beihilfen, abgesehen von bestimmten Ausnahmen, verboten. Um die Wirksamkeit dieses Verbotes zu sichern, erlegt Artikel 88 EG der Kommission eine besondere Überwachungspflicht und den Mitgliedstaaten genaue Verpflichtungen zu dem Zweck auf, der Kommission die Erfuellung ihrer Aufgabe zu erleichtern und zu verhindern, dass sie vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
2 So überprüft die Kommission gemäß Artikel 88 Absatz 1 EG fortlaufend in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten die in diesen bestehenden Beihilferegelungen und schlägt ihnen gegebenenfalls "die zweckdienlichen Maßnahmen vor, welche die fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erfordern".
3 Werden die Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen beabsichtigt, so muss die Kommission gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG so rechtzeitig unterrichtet werden, dass sie sich dazu äußern kann. Die Kommission muss das kontradiktorische Verfahren gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG einleiten, wenn sie der Auffassung ist, dass ein angemeldetes Beihilfevorhaben nicht mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist. Die Mitgliedstaaten dürfen die beabsichtigten Maßnahmen nicht durchführen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung darüber erlassen hat, ob diese Maßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind.
4 Artikel 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] (ABl. L 83, S. 1, im Folgenden: Beihilfeverfahrensverordnung), die am 16. April 1999 in Kraft trat, enthält folgende in den vorliegenden Verfahren relevante Definitionen:
"a) $Beihilfen` alle Maßnahmen, die die Voraussetzungen des Artikels [87] Absatz 1 des Vertrags erfuellen;
b) $bestehende Beihilfen`
i) ... alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind;
...
ii) genehmigte Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die von der Kommission oder vom Rat genehmigt wurden;
...
v) Beihilfen, die als bestehende Beihilfen gelten, weil nachgewiesen werden kann, dass sie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie eingeführt wurden, keine Beihilfe waren und später aufgrund der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu Beihilfen wurden, ohne dass sie eine Änderung durch den betreffenden Mitgliedstaat erfahren haben. Werden bestimmte Maßnahmen im Anschluss an die Liberalisierung einer Tätigkeit durch gemeinschaftliche Rechtsvorschriften zu Beihilfen, so gelten derartige Maßnahmen nach dem für die Liberalisierung festgelegten Termin nicht als bestehende Beihilfen;
c) $neue Beihilfen` alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen;
...
f) $rechtswidrige Beihilfen` neue Beihilfen, die unter Verstoß gegen Artikel [88] Absatz 3 des Vertrags eingeführt werden".
5 Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung "teilen die Mitgliedstaaten der Kommission ihre Vorhaben zur Gewährung neuer Beihilfen rechtzeitig mit", und nach Absatz 3 dieser Verordnung dürfen solche Beihilfen nicht eingeführt werden, "bevor die Kommission eine diesbezügliche Genehmigungsentscheidung erlassen hat oder die Beihilfe als genehmigt gilt". Nach Artikel 4 Absatz 4 entscheidet die Kommission, das Verfahren nach Artikel 88 Absatz 2 EG (im Folgenden: förmliches Prüfverfahren) zu eröffnen, wenn sie nach einer vorläufigen Prüfung feststellt, dass die angemeldete Maßnahme Anlass zu "Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt gibt".
6 Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung enthält die "Entscheidung über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens ... eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung des Beihilfecharakters der geplanten Maßnahme durch die Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt".
7 Nach Artikel 7 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung wird das förmliche Prüfverfahren "durch eine Entscheidung nach den Absätzen 2 bis 5 dieses Artikels abgeschlossen". Gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass die angemeldete Maßnahme keine Beihilfe darstellt, so stellt sie dies durch Entscheidung fest (Absatz 2). Gelangt sie zu dem Schluss, dass die angemeldete Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar ist, so entscheidet sie, dass diese Beihilfe nicht eingeführt werden darf (Absatz 5). Die Entscheidungen nach den Absätzen 2 bis 5 werden erlassen, sobald die in Artikel 4 Absatz 4 genannten Bedenken ausgeräumt sind (Absatz 6).
8 Hinsichtlich nicht angemeldeter Maßnahmen bestimmt Artikel 10 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung: "Befindet sich die Kommission im Besitz von Informationen gleich welcher Herkunft über angebliche rechtswidrige Beihilfen, so prüft sie diese Informationen unverzüglich." Nach Artikel 13 Absatz 1 kann diese Prüfung mit einer Entscheidung zur Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens abgeschlossen werden.
9 Gemäß Artikel 11 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung kann die Kommission eine Entscheidung erlassen, mit der dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen so lange auszusetzen, bis sie eine Entscheidung über die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt erlassen hat. Artikel 11 Absatz 2 ermächtigt sie, eine Entscheidung zu erlassen, mit der dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen einstweilig zurückzufordern, sofern u. a. "[n]ach geltender Praxis ... hinsichtlich des Beihilfecharakters der betreffenden Maßnahme keinerlei Zweifel [besteht]".
10 Was die Rückforderung von Beihilfen angeht, so entscheidet die Kommission gemäß Artikel 14 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung in Negativentscheidungen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern, es sei denn, dass die Rückforderung "gegen einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen würde". Nach Artikel 15 Absatz 1 gelten die "Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen ... für eine Frist von zehn Jahren".
11 Das für bestehende Beihilfen geltende Verfahren ist in den Artikeln 17 bis 19 der Beihilfeverfahrensverordnung geregelt. Gemäß Artikel 18 schlägt die Kommission, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die bestehende Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt nicht oder nicht mehr vereinbar ist, dem betreffenden Mitgliedstaat zweckdienliche Maßnahmen vor. Stimmt der Mitgliedstaat den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht zu, kann die Kommission gemäß Artikel 19 Absatz 2 ein förmliches Prüfverfahren nach Artikel 4 Absatz 4 einleiten.
Der Status von Gibraltar und die streitigen Vorschriften
12 Da das Gebiet von Gibraltar ein europäisches Hoheitsgebiet im Sinne von Artikel 299 Absatz 4 EG ist, dessen auswärtige Beziehungen das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland wahrnimmt, findet der EG-Vertrag auf dieses Gebiet Anwendung. Während gemäß Artikel 28 der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zu den Europäischen Gemeinschaften, die dem Vertrag über diesen Beitritt beigefügt ist (ABl. 1972, L 73, S. 5), die Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft betreffend u. a. "die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer ... auf Gibraltar nicht anwendbar" sind, sofern der Rat nicht etwas anderes bestimmt, gelten die Bestimmungen des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts einschließlich der Bestimmungen über die von den Mitgliedstaaten gewährten Beihilfen auch dort.
13 Die vorliegenden Rechtssachen betreffen zwei gesellschaftsrechtliche Regelungen über "steuerbefreite Gesellschaften" und "qualifizierte Gesellschaften". Während erstere in Gibraltar nicht angesiedelt sind, haben letztere dort "a bricks and mortar presence" (eine tatsächliche Geschäftsstelle) und sind in verschiedenen Bereichen tätig.
Steuerbefreite Gesellschaften
14 Ám 9. März 1967 erließ das House of Assembly von Gibraltar die Ordinance No. 2 of 1967, gemeinhin bekannt unter der Bezeichnung "Companies (Taxation and Concessions) Ordinance" (Verordnung über die Gesellschaften [Besteuerung und Steuervergünstigungen]). Diese Verordnung wurde in den Jahren 1969 und 1970 und nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland noch zehnmal geändert, nämlich 1974, 1977, 1978, 1983, 1984, 1985, 1987, 1988, 1990 und 1993. Im vorliegenden Verfahren geht es um die geänderte Fassung der Verordnung von 1978 und 1983 (im Folgenden: Regelung über steuerbefreite Gesellschaften).
15 Für die Anerkennung als steuerbefreite Gesellschaft muss ein Unternehmen die in Artikel 3 der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften festgelegten Voraussetzungen erfuellen. Dazu gehört das Verbot der Ausübung einer gewerblichen oder sonstigen Tätigkeit in Gibraltar, ausgenommen allerdings Tätigkeiten mit anderen steuerbefreiten oder - nach den Angaben im Verfahren der einstweiligen Anordnung - qualifizierten Gesellschaften. Staatsangehörige und Bewohner von Gibraltar können an einer steuerbefreiten Gesellschaft nicht beteiligt sein und aus einer solchen Beteiligung keine Vorteile erlangen, es sei denn mittels einer Aktiengesellschaft als deren Aktionär. Ferner schloss nach der 1983 vorgenommenen Änderung Artikel 3 der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften den Status Stellung einer steuerbefreiten Gesellschaft für die Gesellschaften im Sinne des Kapitels IX, also Gesellschaften, die nicht in Gibraltar gegründet worden sind und dort nur über eine Niederlassung verfügen, aus; es handelt sich dabei insbesondere um registrierte Niederlassungen ausländischer Gesellschaften.
16 Nach Artikel 8 der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften ist eine solche Gesellschaft - unter bestimmten, engen Ausnahmen - in Gibraltar von der Einkommensteuer befreit und braucht nach Artikel 10 dieser Regelung nur eine jährliche Pauschalsteuer von 225 GBP zu entrichten. Nach Artikel 9 der Regelung fallen außerdem für Beteiligungen an einer steuerbefreiten Gesellschaft, ihr gewährte Darlehen und von ihr ausgegebene Schuldverschreibungen keinerlei Verkehrsteuern an.
- Änderung von 1978
17 Nach der 1978 vorgenommenen Änderung bestimmt Artikel 9 der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften, dass die Verkehrsteuerbefreiung künftig für jede von einer steuerbefreiten Gesellschaft ausgestellte Versicherungspolice gilt und dass der Wert einer solchen Versicherungspolice nicht bei der Bestimmung des Satzes der auf andere Gegenstände erhobenen Verkehrsteuern berücksichtigt werden oder diesem hinzugefügt werden darf. Allerdings gilt die Befreiung von den Verkehrsteuern nicht für Lebensversicherungspolicen, die einen Staatsangehörigen oder Einwohner Gibraltars betreffen, und sie können in Bezug auf ihren Wert berücksichtigt werden. Nach Artikel 9 in der 1978 geänderten Fassung wird - unbeschadet der Bestimmungen des Stamp Duty Ordinance (Verordnung über Stempelabgaben) - bei der Ausstellung von Verkehrsteuern befreiter Lebensversicherungspolicen, bei der Zahlung von Renten durch steuerbefreite Gesellschaften oder bei bestimmten Vorgängen im Zusammenhang mit diesen Policen oder Renten, wie der Sicherheitsleistung, dem Verkauf usw., keine Stempelabgabe erhoben.
- Änderung von 1983
18 Durch die 1983 eingeführte Änderung wurden in Artikel 3 der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften die Worte "mit Ausnahme ihres Kapitels IX" (siehe Randnr. 15) gestrichen, und es wurde somit den von diesem Kapitel erfassten Gesellschaften erlaubt, die Stellung von steuerbefreiten Gesellschaften zu erlangen.
Qualifizierte Gesellschaften
19 Am 14. Juli 1983 erließ das House of Assembly die Ordinance No. 24 of 1983, gemeinhin bekannt unter der Bezeichnung "Income Tax (Amendment) Ordinance 1983" (Verordnung zur Änderung der Verordnung über die Einkommensteuer). Mit dieser Verordnung wurden in die Ordinance No. 11 of 1952, gemeinhin bekannt unter der Bezeichnung "Income Tax Ordinance" (Verordnung über die Einkommensteuer), die Definition einer als "Qualifying Companies" ("qualifizierte Gesellschaft") bezeichneten Gesellschaftsart und verschiedene Vorschriften über diese eingefügt. Die erforderlichen Einzelbestimmungen zur Durchführung dieser neuen Vorschriften wurden in den "Income Tax (Qualifying Companies) Rules" (Regeln über die Einkommensteuer [qualifizierte Gesellschaften]) vom 22. September 1983 erlassen. Die Ordinance No. 24 und die Regeln von 1983 (im Folgenden: Regelung über qualifizierte Gesellschaften) bilden die in den vorliegenden Verfahren anwendbare Regelung über qualifizierte Gesellschaften.
20 Um den Status einer qualifizierten Gesellschaft zu erlangen, sind im Wesentlichen die gleichen Voraussetzungen zu erfuellen wie für den Status einer steuerbefreiten Gesellschaft.
21 Gemäß Artikel 41 Absatz 4 der Income Tax Ordinance unterliegen qualifizierte Gesellschaften der Gewinnsteuer, deren Satz jedoch den in Gibraltar geltenden Satz der Körperschaftsteuer (gegenwärtig 35 % vom Gewinn) nicht überschreiten darf. Der tatsächlich geltende Satz für die von einer qualifizierten Gesellschaft zu entrichtende Steuer wird durch keine Rechtsnorm festgelegt. Alle diese Gesellschaften müssen allerdings nach den Angaben in den Akten und im Verfahren der einstweiligen Anordnung Steuern in Höhe eines Satzes zahlen, der mit den Steuerbehörden von Gibraltar ausgehandelt wird und zwischen 2 % und 10 % ihres Gewinnes schwankt. Nach Artikel 41 Absatz 4 Buchstaben b und c der Income Tax Ordinance sind ferner Honorare, die eine qualifizierte Gesellschaft Empfängern ohne Wohnsitz in Gibraltar (einschließlich Direktoren) zahlt, und von ihr an die Aktionäre ausgeschütteten Dividenden zu dem gleichen Satz zu versteuern wie ihr Gewinn. Nach der Stamp Duty Ordinance fällt keine Stempelsteuer an für die Übertragung der Aktien einer qualifizierten Gesellschaft, den Erwerb von einer solchen ausgegebener Lebensversicherungspolicen, von ihr gezahlte Renten oder die Veräußerung, Verpfändung oder sonstige Transaktion solcher Policen oder Renten.
Vorgeschichte der Rechtsstreitigkeiten
22 Mit Schreiben vom 12. Februar 1999 ersuchte die Kommission den Ständigen Vertreter des Vereinigten Königreichs bei der Europäischen Union um allgemeine Auskünfte u. a. über fünf in Gibraltar geltende Steuerregelungen, deren Prüfung im Übrigen bereits der Rat im Zusammenhang mit dem Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung (beigefügt den Schlussfolgerungen des Rates "Wirtschafts- und Finanzfragen" vom 1. Dezember 1997 zur Steuerpolitik, ABl. 1998, C 2, S. 1) und außerdem eine 1997 vom Rat eingesetzte, gegenwärtig unter der Leitung von Frau Primarolo stehende Arbeitsgruppe (im Folgenden: Arbeitsgruppe Primarolo), der hochrangige nationale Steuerexperten und ein Kommissionsvertreter angehören, aufgenommen hatten.
23 Zu diesen Regelungen gehörten die über die steuerbefreiten und über die qualifizierten Gesellschaften. Die Regierung des Vereinigten Königreichs übermittelte die erbetenen Auskünfte mit Schreiben vom 22. Juli 1999 und bat um eine Zusammenkunft mit den zuständigen Dienststellen der Kommission, um diese Regelungen zu erörtern.
24 Am 23. Mai und 28. Juni 2000 richtete die Kommission ein Schreiben und eine Erinnerung an den Ständigen Vertreter des Vereinigten Königreichs, mit denen sie um ergänzende Informationen über die Regelungen ersuchte.
25 Die Ständige Vertretung des Vereinigten Königreichs beantwortete dies mit einem Schreiben vom 3. Juli 2000, dem sie eine Kopie der Verordnung über die steuerbefreiten Gesellschaften von 1967 in der Fassung von 1983 und der Verordnung von 1983 über die qualifizierten Gesellschaften in der 1984 geltenden Fassung beifügte.
26 Mit Schreiben vom 14. Juli 2000 an den Ständigen Vertreter des Vereinigten Königreichs bestätigte die Kommission, dass sie nach den ihr vorliegenden Angaben die Regelung über die steuerbefreiten Gesellschaften für eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Betriebsbeihilfe halte. Um festzustellen, ob es sich um eine bestehende Beihilfe handelte, ersuchte sie weiterhin um Übermittlung einer Kopie der Verordnung in ihrer ursprünglichen Fassung von 1967 und forderte zugleich die Regierung des Vereinigten Königreichs gemäß Artikel 17 Absatz 2 der Beihilfeverfahrensverordnung zur Stellungnahme auf.
27 Hierauf reagierte die Ständige Vertretung des Vereinigten Königreichs mit Antwortschreiben vom 3. August 2000, dem sie den ursprünglichen Text der Verordnung mit den geänderten Fassungen von 1969, 1970, 1977 und 1978 beifügte, und vom 12. September 2000; sie ersuchte darin außerdem erneut um eine Sitzung mit Vertretern der Kommission. Im Schreiben vom 12. September 2000 erinnerte sie nochmals an diese Bitte und übersandte der Kommission ein Schriftstück der Regierung von Gibraltar, die darin erläuterte, aus welchen Gründen sie die Regelung über die steuerbefreiten Gesellschaften nicht für eine staatliche Beihilfe halte.
28 Am 19. Oktober 2000 fand in Brüssel eine Sitzung von Vertretern der Regierung des Vereinigten Königreichs und den Dienststellen der Kommission statt. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hatte auch Vertreter der Regierung von Gibraltar zur Teilnahme an der Sitzung eingeladen. Verschiedene Antworten auf die Fragen, die die Kommission in dieser Sitzung stellte, wurden von der Regierung von Gibraltar ausgearbeitet und der Kommission am 28. November 2000 bereits vor ihrer förmlichen Übermittlung durch die Regierung des Vereinigten Königreichs am 8. Januar 2001 zur Kenntnis gebracht.
Die angefochtene Entscheidungen
29 Mit den Entscheidungen SG(2001) D/289755 und SG(2001) D/289757 vom 11. Juli 2001, der Regierung des Vereinigten Königreichs zugestellt mit Schreiben vom selben Tag, eröffnete die Kommission das förmliche Prüfverfahren hinsichtlich der Regelungen für steuerbefreite und für qualifizierte Gesellschaften.
Die Entscheidung betreffend die steuerbefreiten Gesellschaften
30 In der Begründung der Entscheidung SG(2001) D/289755 stellt die Kommission nach einer Zusammenfassung der wichtigsten Voraussetzungen für die Anerkennung als steuerbefreite Gesellschaft in Nummer 9 fest:
"Nach den von den Behörden des Vereinigten Königreichs übermittelten Informationen weisen die Rechtsvorschriften über steuerbefreite Gesellschaften, die nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union in Kraft gesetzt wurden, mindestens zwei gemäß der Regelung über staatliche Beihilfen anzumeldende Änderungen auf."
31 Nach Auffassung der Kommission waren durch die Änderung von 1978 die steuerbefreiten Gesellschaften dadurch von ihrer Steuerpflichtigkeit freigestellt worden, dass sie von der Stempelsteuer für den Abschluss von Lebensversicherungsverträgen, auf die nach solchen Verträgen gezahlten Renten und für bestimmte Transaktionen im Zusammenhang mit solchen Verträgen und Renten ausgenommen wurden. Durch die Änderung von 1983 sei die fragliche Steuerregelung zugunsten neuer Unternehmen ausgeweitet worden, die nach der ursprünglichen, von 1967 datierenden Fassung der Verordnung über die steuerbefreiten Gesellschaften nicht die erforderlichen Voraussetzungen für eine Anerkennung als steuerbefreite Gesellschaft erfuellt hätten (bei dieser Unternehmensgruppe habe es sich um die gemäß Titel IX der Companies Ordinance [Verordnung über Gesellschaften] von Gibraltar registrierten Niederlassungen ausländischer Gesellschaften gehandelt). Diese Unternehmen zahlen im Fall ihrer Anerkennung als steuerbefreite Gesellschaften nur eine jährliche Pauschalsteuer von 300 GBP. Die Kommission gelangte daher zu dem Ergebnis, dass wegen dieser "wesentlichen Änderungen", durch die sowohl die gewährte Vergünstigung ihrem Betrag nach erhöht als auch der Kreis der potenziell Begünstigten ausgeweitet worden seien, "die Regelung über die steuerbefreiten Gesellschaften nicht als eine bestehende Beihilfe, sondern als eine rechtswidrige Beihilfe anzusehen" sei.
32 Die Kommission fasste das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Regierung von Gibraltar im Rahmen ihrer Vorprüfung zusammen und stellte sodann fest, dass dieses Vorbringen nicht genüge, um die Bedenken hinsichtlich der Natur der fraglichen Regelung als einer bestehenden staatlichen Beihilfe auszuräumen. Die Kommission prüfte anschließend die Rechtmäßigkeit der Beihilfe und kam zu dem Ergebnis, dass diese offenbar nicht in den Anwendungsbereich der in Artikel 87 Absatz 3 EG aufgeführten Ausnahmen falle. Sie ersuchte die Beteiligten um Stellungnahme dazu, ob der Rückforderung der Beihilfe, "falls [diese] für rechtswidrig und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt werden sollte", etwaige Hindernisse entgegenstuenden. Sie wies die Regierung des Vereinigten Königreichs darauf hin, dass das Verfahren gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG aufschiebende Wirkung habe und dass gemäß Artikel 14 der Beihilfeverfahrensverordnung eine rechtswidrige Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern sei.
Die Entscheidung betreffend die qualifizierten Gesellschaften
33 In der Begründung der Entscheidung SG(2001) D/289757 führte die Kommission aus, dass die Regelung über qualifizierte Gesellschaften von der Definition einer bestehenden Beihilfe gemäß Artikel 1 der Beihilfeverfahrensverordnung "anscheinend nicht erfasst" werde und dass "sie derzeit als eine nicht angemeldete Beihilfe anzusehen" sei.
34 Nach der Feststellung, dass es sich bei dieser Regelung offenbar um eine Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 EG handele, stellte die Kommission fest, dass sie "derzeit" als eine Betriebsbeihilfe anzusehen sein könnte, die offenbar nicht unter eine der Ausnahmen gemäß Artikel 87 Absatz 3 EG falle. Sie ersuchte die Beteiligten um Stellungnahme, ob der Rückforderung der Beihilfe, "falls [diese] für rechtswidrig und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt werden sollte", etwaige Hindernisse entgegenstuenden. Sie wies die Regierung des Vereinigten Königreichs auf die aufschiebende Wirkung des Verfahrens gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG sowie darauf hin, dass eine rechtswidrige Beihilfe gemäß Artikel 14 der Beihilfeverfahrensverordnung vom Empfänger zurückzufordern sei.
Verfahren
35 Mit Klageschrift, die am 20. August 2001 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen und unter der Nummer T-195/01 in das Register eingetragen worden ist, hat die Regierung von Gibraltar (im Folgenden: Klägerin) gemäß Artikel 230 Absatz 4 EG eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung SG(2001) D/289755 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung I) über die Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens wegen der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften erhoben.
36 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung I und auf Erlass einstweiliger Anordnungen, mit denen der Kommission die Bekanntgabe der Eröffnung des in Frage stehenden Verfahrens untersagt werden soll, gestellt.
37 Mit Klageschrift, die am 7. September 2001 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen und unter der Nummer T-207/01 in das Register eingetragen worden ist, hat die Antragstellerin gemäß Artikel 230 Absatz 4 EG eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung SG(2001) D/289757 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung II) über die Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens wegen der Regelung über qualifizierte Gesellschaften erhoben.
38 Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung II und auf Erlass einstweiliger Anordnungen, mit denen der Kommission die Bekanntgabe der Eröffnung des in Frage stehenden Verfahrens untersagt werden soll, gestellt.
39 Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat auf ein im Verfahren der einstweiligen Anordnung an den Ständigen Vertreter des Vereinigten Königreichs gerichtetes Auskunftsersuchen mit Schreiben vom 11. Oktober 2001 (im Folgenden: Antwort des Vereinigten Königreichs) geantwortet, dass für die Einbringung und den Erlass von Vorschriften über die Unternehmensbesteuerung, da es sich hierbei um "defined domestic matters" ("festgelegte innere Angelegenheiten") im Sinne von Artikel 55 der Gibraltar Constitution Order (Verordnung über die Verfassung von Gibraltar) von 1969 handele, die Klägerin und das House of Assembly von Gibraltar zuständig seien. Nur Angelegenheiten, die nicht in diese Kategorie fielen, verblieben in der ausschließlichen Zuständigkeit des Gouverneurs von Gibraltar. Nach dem Ministerialerlass vom 23. Mai 1969 könne der Gouverneur jedoch im Namen des Vereinigten Königreichs in einer Angelegenheit tätig werden, wenn ein solches Tätigwerden erforderlich sei, um u. a. die internationalen - einschließlich der gemeinschaftsrechtlichen - Verpflichtungen der Regierung des Vereinigten Königreichs zu wahren. Was die Befugnis angehe, in Angelegenheiten der Unternehmensbesteuerung gerichtliche Verfahren einzuleiten, so könne der Chief Minister hierzu im Namen der Klägerin ermächtigt werden; die Klägerin sei nämlich ungeachtet der Abgrenzung ihrer inneren Zuständigkeiten gegenüber dem House of Assembly von Gibraltar insoweit klagebefugt.
40 Die Zweite erweiterte Kammer des Gerichts, an die die Hauptsacheverfahren verwiesen worden sind, hat in ihrer Beratung vom 12. November 2001 gemäß Artikel 76a der Verfahrensordnung des Gerichts in der Fassung vom 6. Dezember 2000 (ABl. L 322, S. 4) nach Anhörung der Klägerin zu dieser Frage beschlossen, dem Antrag der Kommission vom 18. Oktober 2001 auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren stattzugeben.
41 Durch Beschluss des Präsidenten der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts vom 14. November 2001 sind die beiden Verfahren in der Hauptsache gemäß Artikel 50 der Verfahrensordnung des Gerichts zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
42 Die Klägerin und die Kommission haben mit Schriftsätzen, die am 29. November 2001 eingegangen sind, auf Ersuchen des Gerichts schriftlich zu den möglichen Folgen des Urteils des Gerichtshofes vom 9. Oktober 2001 in der Rechtssache C-400/99 (Italien/Kommission, Slg. 2001, I-7303, im Folgenden: Urteil Tirrenia) für die vorliegenden Rechtsstreitigkeiten Stellung genommen.
43 Der Präsident des Gerichts hat mit Beschluss vom 19. Dezember 2001 die Anträge der Klägerin auf einstweilige Anordnungen in den Rechtssachen T-195/01 R und T-207/01 R zurückgewiesen.
44 Der Präsident der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts hat mit Beschluss vom 21. Januar 2002 das Königreich Spanien als Streithelfer in den vorliegenden Rechtssachen zur Unterstützung der Anträge der Beklagten zugelassen und hat zunächst dem Antrag der Klägerin auf vertrauliche Behandlung bestimmter bei den Akten befindlicher Unterlagen gegenüber dem Streithelfer stattgegeben.
45 Das Gericht (Zweite erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
46 Die Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 5. März 2002 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
Anträge der Verfahrensbeteiligten
47 Die Klägerin beantragt,
- die angefochtene Entscheidung I und die angefochtene Entscheidung II für nichtig zu erklären;
- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
48 Die Kommission beantragt,
- die Klagen als unzulässig abzuweisen;
- hilfsweise, sie als unbegründet abzuweisen;
- der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
49 Das Königreich Spanien schließt sich den Anträgen der Kommission an.
Zur Zulässigkeit der Klagen
50 Die Kommission, unterstützt durch das Königreich Spanien, erhebt zwei Einreden der Unzulässigkeit. Mit der ersten bestreitet sie die Klagebefugnis der Klägerin. Mit der zweiten macht sie geltend, dass die angefochtenen Entscheidungen keine Rechtswirkungen entfalteten und daher nicht mit einer Nichtigkeitsklage angefochten werden könnten.
Zur Klagebefugnis
Vorbringen der Kommission und des Königreichs Spanien
51 Die Kommission und das Königreich Spanien bezweifeln die Klagebefugnis der Klägerin und die Befugnis des Chief Minister, die vorliegenden Klagen zu erheben. Nach ihrer Ansicht besteht eine gewisse Unvereinbarkeit zwischen der Antwort des Vereinigten Königreichs (siehe oben, Randnr. 39) und dem Standpunkt des Vereinigten Königreichs in der Rechtssache, die zum Urteil des Gerichtshofes vom 29. Juni 1993 in der Rechtssache C-298/89 (Gibraltar/Rat, Slg. 1993, I-3605) geführt hat; in dieser Rechtssache habe das Vereinigte Königreich erklärt, dass sich die Zuständigkeit des Ministerrats - sogar in Bezug auf definierte örtliche Angelegenheiten - nicht auf die Anwendung internationaler Übereinkünfte auf Gibraltar, die Erfuellung von Verpflichtungen aus internationalen Verträgen durch Gibraltar oder die Beteiligung Gibraltars an spezialisierten internationalen Organisationen erstrecke. In diesen Bereichen könne eine Klage im Namen der Regierung von Gibraltar nur im Auftrag des Gouverneurs von Gibraltar erhoben werden. Die Kommission stellt die Entscheidung, ob die Prüfung dieser Frage fortzusetzen sei, in das Ermessen des Gerichts.
Würdigung durch das Gericht
52 In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Artikel 230 Absatz 4 EG "jede natürliche oder juristische Person" eine Nichtigkeitsklage erheben kann. Im vorliegenden Fall verfügt die Klägerin nach britischem Recht unbestreitbar über Rechtspersönlichkeit und ist daher als juristische Person im Sinne dieser Bestimmung zu betrachten.
53 In Bezug auf die Befugnis der Klägerin zur Erhebung der vorliegenden Klagen geht aus der Antwort des Vereinigten Königreichs (siehe oben, Randnr. 39) hervor, dass das britische Recht ihr eine Zuständigkeit auf dem Gebiet verleiht, das Gegenstand des vorliegenden Falles ist, nämlich im Bereich der Unternehmensbesteuerung als "definierte örtliche Angelegenheit". Die Akten enthalten nichts, was es dem Gericht erlaubte, den Inhalt dieser Antwort in Frage zu stellen.
54 Daher ist der Verweis der Kommission und des Königreichs Spanien auf die dem Urteil Gibraltar/Rat zugrunde liegende Rechtssache, in der das Vereinigte Königreich die Klagebefugnis der Regierung von Gibraltar bestritten haben soll, unerheblich, da diese Rechtssache den innergemeinschaftlichen Luftverkehr und damit einen grundlegend anderen Gegenstand als das vorliegende Verfahren hatte.
55 Somit ist die erste Rüge der Unzulässigkeit aufgrund des Akteninhalts zurückzuweisen, ohne dass diese Zulässigkeitsfrage von Amts wegen weiter zu vertiefen wäre.
Zur Rechtsnatur der angefochtenen Entscheidungen
Vorbringen der Kommission und des Königreichs Spanien
56 Nach Ansicht der Kommission entfalten die angefochtenen Entscheidungen keine Rechtswirkungen. Im Unterschied zu den Entscheidungen, die Gegenstand der Urteile des Gerichtshofes vom 30. Juni 1992 in der Rechtssache C-312/90 (Spanien/Rat, Slg. 1992, I-4117, im Folgenden: Urteil Cenemesa) und in der Rechtssache C-47/91 (Italien/Kommission, Slg. 1992, I-4145, im Folgenden: Urteil Italgrani) gewesen seien, enthielten die angefochtenen Entscheidungen keine endgültigen Schlussfolgerungen zu der Frage, ob die vermeintlichen Beihilfen neue oder bestehende Beihilfen seien, und zu ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt. Daher bedeuteten diese Entscheidungen nicht automatisch die Auslösung der Aussetzungspflicht des Artikels 88 Absatz 3 EG. Sie führten dem Vereinigten Königreich lediglich die Wirkung dieser Bestimmung für den Fall vor Augen, dass diese Anwendung finde. Die Frage, ob die streitigen Regelungen, sofern sie Beihilfen darstellten, als neue oder bestehende Beihilfen einzustufen seien, bleibe daher in der Schwebe.
57 Die Kommission fügt hinzu, sie habe keine Entscheidung erlassen, mit der dem Mitgliedstaat aufgegeben werde, die Beihilfe gemäß Artikel 11 Absatz 2 der Beihilfeverfahrensverordnung einstweilig zurückzufordern. Sie habe das Vereinigte Königreich und die anderen Beteiligten schlicht aufgefordert, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob die Beihilfeempfänger ein berechtigtes Vertrauen erworben haben könnten, das der Rückforderung entgegenstuende, "falls diese Beihilfen für rechtswidrig und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar befunden würden".
58 Die Kommission räumt ein, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung in den Urteilen Cenemesa und Italgrani im Urteil Tirrenia bestätigt habe, doch werde in diesem Urteil nicht ausgeführt, dass jede Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens notwendigerweise Rechtswirkungen entfalte. Wie die Urteile Cenemesa und Italgrani beruhe das Urteil Tirrenia auf dem Gedanken, dass die Kommission die in Rede stehende Maßnahme als neue Beihilfe eingestuft habe. In diesem Zusammenhang verweist die Kommission insbesondere auf Randnummer 59 des Urteils Tirrenia, in dem es um eine Entscheidung über die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 88 Absatz 2 EG über eine in der Durchführung begriffene "und als neue Beihilfe eingestufte" Maßnahme gehe. Im vorliegenden Fall habe die Kommission jedoch keine Entscheidung in diesem Sinne getroffen und die Beihilfen nicht für rechtswidrig erklärt.
59 Im Übrigen habe die Kommission in der dem Urteil Tirrenia zugrunde liegenden Rechtssache in ihrem Aufforderungsschreiben an die italienischen Behörden nur die Frage des Bestehens und der Vereinbarkeit der von den Beschwerdeführern gerügten Beihilfe mit dem Gemeinschaftsrecht aufgeworfen. Niemals habe die Kommission Zweifel daran geäußert, dass die gerügte Beihilfe eine neue Beihilfe gewesen sei. Sie habe vielmehr klar angegeben, dass ihres Erachtens die in Rede stehende Beihilfe neu sei und aufgehoben werden müsse. Sie habe die italienischen Behörden aufgefordert, die Aussetzung dieser Beihilfe binnen zehn Tagen zu bestätigen und ihnen die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme ins Gedächtnis gerufen, um jede spätere Verzerrung des Marktes zu verhindern. Sie habe auch an die Möglichkeit erinnert, den Gerichtshof gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG unmittelbar anzurufen, falls die Italienische Republik der Aussetzungsentscheidung nicht nachkomme. In einem späteren Schreiben habe sie ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, eine Entscheidung zu erlassen, mit der der Italienischen Republik aufgegeben werde, die Zahlung dieser Beihilfe auszusetzen.
60 Im vorliegenden Fall habe die Kommission hingegen keine Entscheidung über die Aussetzung der vermeintlichen Beihilfe erlassen und auch nicht ihre Absicht bekannt gegeben, dies zu tun. Sie habe auch nicht gedroht, den Gerichtshof unmittelbar zu befassen, wenn die vermeintliche Beihilfe nicht ausgesetzt werde. Sie habe aus dem einfachen Grund keine dieser Maßnahmen ergriffen, weil sie noch nicht bestimmt gehabt habe, ob es sich bei der vermeintlichen Beihilfe um eine neue oder eine bestehende Beihilfe handele. Eine der Fragen, die durch das förmliche Prüfverfahren beantwortet werden solle, betreffe gerade den Charakter der Maßnahmen als neue Maßnahmen. Erst wenn diese Frage beantwortet sei, könne eindeutig festgestellt werden, ob Gibraltar die Gewährung der vermeintlichen Beihilfe auszusetzen habe.
61 Im Urteil Tirrenia habe der Gerichtshof ausgeführt, dass die Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Verfahrens eigenständige Rechtswirkungen entfalte, da die Entscheidung impliziere, dass "die Kommission nicht beabsichtigt, die Beihilfe im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung bestehender Beihilferegelungen ... zu prüfen" (Randnr. 58). Das bedeute, dass nach Ansicht der Kommission die Beihilfe "unter Missachtung des Durchführungsverbots, das für neue Beihilfen aus Artikel 88 Absatz 3 Satz 3 EG folgt, rechtswidrig durchgeführt wurde und wird" (Randnr. 58). Nach dem Erlass dieser Entscheidung bestehen nach Ansicht des Gerichtshofes "zumindest erhebliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme, die ... den Mitgliedstaat veranlassen müssen, die Zahlung auszusetzen" (Randnr. 59).
62 Die im vorliegenden Fall angefochtenen Entscheidungen könnten nicht der Entscheidung in der dem Urteil Tirrenia zugrunde liegenden Rechtssache gleichgestellt werden. Im vorliegenden Fall habe die Kommission weder geltend gemacht, dass die Beihilfe rechtswidrig durchgeführt worden sei, noch sei sie zu diesem Ergebnis gelangt; im Übrigen bedeuteten die angefochtenen Entscheidungen nicht, dass sie nicht beabsichtige, die Beihilfe "im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung der bestehenden Beihilferegelungen" zu prüfen. Sie habe noch nicht das Stadium erreicht, in dem sie mit Gewissheit sagen könne, ob es sich bei den in Rede stehenden Maßnahmen um neue oder bestehende Maßnahmen handele. Handele es sich um bestehende Maßnahmen, so seien sie im Rahmen der Regelung für bestehende Beihilfen zu prüfen, während sie, wenn es sich um neue Maßnahmen handele, ausgesetzt werden müssten. Um jedoch bestimmen zu können, welche Regelung anwendbar sei, benötige man weitere Auskünfte.
63 Die Kommission räumt ein, dass die im vorliegenden Fall angefochtenen Entscheidungen Bedenken im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Maßnahmen hervorrufen könnten (sie bezieht sich hierfür auf Randnr. 59 des Urteils Tirrenia). Allerdings könnten diese Bedenken logischerweise in jedem Verfahrensabschnitt entstehen, wenn die Frage aufgeworfen werde, ob es sich bei der vermeintlichen Beihilfe um eine neue oder eine bestehende Beihilfe handele.
64 Daher sei es unzutreffend, wenn unter Berufung auf das Urteil Tirrenia die Ansicht vertreten werde, dass jede Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens notwendigerweise eine Entscheidung beinhalte, mit der festgestellt werde, dass es sich bei der geprüften Beihilfe um eine neue Beihilfe handele. Jede Entscheidung sei anhand ihres Inhalts zu würdigen. Die im vorliegenden Fall angefochtenen Entscheidungen gelangten zu keinem endgültigen Ergebnis in Bezug auf die Frage, ob die in Rede stehenden Maßnahmen als neue oder als bestehende Beihilfen zu betrachten seien. In ihnen würden nur die Umstände aufgeführt, die darauf hindeuteten, dass es sich um neue Beihilfen handele, und die Betroffenen würden aufgefordert, Stellung zu nehmen. Nur so könne die Kommission vollständige Auskünfte aus so zahlreichen Quellen wie möglich erhalten.
65 In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission erklärt, dass die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens ohne rechtliche Einstufung der in Rede stehenden Maßnahmen, wie sie in den angefochtenen Entscheidungen vorgenommen worden sei, eine "neuartige" Verfahrensweise darstelle. Gleichwohl stehe diese Lösung im Einklang mit den anwendbaren Bestimmungen.
66 Jede andere Betrachtungsweise laufe auf die Ansicht hinaus, dass sie das förmliche Prüfverfahren nicht eröffnen könne, wenn sie nicht zuvor bestimmt habe, ob die in Rede stehende Maßnahme, sofern es sich um eine Beihilfe handele, eine neue oder eine bestehende Beihilfe darstelle. Jedoch reiche die Möglichkeit, bei dem betreffenden Mitgliedstaat Informationen zu erhalten, nicht immer aus. Zumindest in bestimmten Fällen sei es möglich, dass die Kommission des Beitrags Dritter bedürfe, um diese Frage richtig beurteilen und zu einer abschließenden Entscheidung über die Vereinbarkeit der Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt gelangen zu können. Namentlich im vorliegenden Fall, in dem die Bestimmung, ob es sich bei den vermeintlichen Beihilfen um neue Beihilfen handele, von ihren wirtschaftlichen Auswirkungen oder der Entwicklung des Marktes abhänge, stellten die Wirtschaftsteilnehmer die besten Informationsquellen dar.
67 Das Königreich Spanien schließt sich im Kern den Ausführungen der Kommission an.
Würdigung durch das Gericht
68 Es ist zu ermitteln, welche Kriterien für die Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens gelten, und es ist zu prüfen, ob die angefochtenen Handlungen diese Kriterien erfuellen oder ob sie, wie die Kommission geltend macht, als verfahrensmäßige Neuerungen anderer Art als eine "klassische" Einleitungsentscheidung zu betrachten sind.
69 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens durch die Kommission nach Artikel 88 EG und Artikel 4 Absatz 4 der Beihilfeverfahrensverordnung sowie den Artikeln 13, 16 und 19 Absatz 2 dieser Verordnung in vier abschließend aufgezählten Fällen vorgesehen ist, nämlich zur Prüfung einer neuen angemeldeten Beihilfe, zur Prüfung "einer etwaigen rechtswidrigen Beihilfe", bei missbräuchlicher Anwendung einer Beihilfe im Sinne von Artikel 1 Buchstabe g dieser Verordnung und in dem Fall, dass ein Mitgliedstaat die von der Kommission vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen in Bezug auf eine bestehende Beihilferegelung ablehnt.
70 In der vorliegenden Rechtssache scheiden die beiden letztgenannten Fälle von vornherein aus. Im Übrigen sind die in Rede stehenden nationalen Regelungen nicht gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG angemeldet worden, da ihre Übermittlung an die Primarolo-Gruppe - die vom Rat eingerichtet wurde und insbesondere aus nationalen Sachverständigen besteht - nicht einer förmlichen Anmeldung bei der Kommission im Sinne der Gemeinschaftsregelung für staatliche Beihilfen gleichgesetzt werden kann. Daher kann die Frage, ob die von der Kommission im vorliegenden Fall gewählte Verfahrensweise als Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens mit den damit verbundenen Rechtswirkungen einzustufen ist, nur im Rahmen des Falles "einer etwaigen rechtswidrigen Beihilfe" untersucht werden.
71 Nach Artikel 4 Absatz 4 und Artikel 6 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung ist jedes förmliche Prüfverfahren durch eine Entscheidung zu eröffnen, die eine "vorläufige Würdigung" des Beihilfecharakters der Maßnahme durch die Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt enthält. Das förmliche Prüfverfahren kann nach Artikel 7 der Beihilfeverfahrensverordnung durch eine Entscheidung abgeschlossen werden, mit der festgestellt wird, dass die in Rede stehende Maßnahme keine Beihilfe darstellt (Absatz 2), durch eine Positiventscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wird (Absatz 3), durch eine mit Bedingungen und Auflagen verbundene Positiventscheidung (Absatz 4) oder durch eine Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt wird (Absatz 5).
72 Diese Bestimmungen erlauben es der Kommission, unter allen möglichen Gesichtspunkten den Charakter der in Rede stehenden staatlichen Maßnahme, die möglicherweise eine neue Beihilfe oder die Änderung einer bestehenden Beihilfe darstellt, zu prüfen, um im förmlichen Prüfverfahren die Bedenken ausräumen zu können, die sie in Bezug auf die Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Gemeinsamen Markt hegt (vgl. in diesem Sinne Urteil Tirrenia, Randnr. 45). Die Kommission ist sogar gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Beihilfeverfahrensverordnung verpflichtet, dieses Verfahren einzuleiten, wenn sie bei einer ersten Prüfung nicht alle Schwierigkeiten ausräumen konnte, die bei der Beurteilung dieser Maßnahme entstehen können (vgl. Urteile des Gerichts vom 15. September 1998 in der Rechtssache T-95/96, Gestevisión Telecinco/Kommission, Slg. 1998, II-3407, Randnr. 52, vom 15. September 1998 in der Rechtssache T-11/95, BP Chemicals/Kommission, Slg. 1998, II-3235, Randnr. 166, und vom 15. März 2001 in der Rechtssache T-73/98, Prayon-Rupel/Kommission, Slg. 2001, II-867, Randnr. 42).
73 Nach Abschluss der Vorprüfungsphase in Bezug auf eine staatliche Maßnahme kann die Kommission somit zwischen drei Möglichkeiten wählen: Entweder entscheidet sie, dass die gerügte staatliche Maßnahme keine staatliche Beihilfe darstellt, oder sie entscheidet, dass diese Maßnahme zwar eine Beihilfe darstellt, jedoch mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, oder sie entscheidet, dass das förmliche Prüfverfahren eingeleitet wird (Urteil Gestevisión Telecinco/Kommission, Randnr. 55, und Urteil des Gerichts vom 3. Juni 1999 in der Rechtssache T-17/96, TF1/Kommission, Slg. 1999, II-1757, Randnr. 28).
74 Daraus ergibt sich, dass das förmliche Prüfverfahren nur durch eine "Entscheidung" im Sinne von Artikel 249 Absatz 4 EG eingeleitet werden kann und dass diese Entscheidung eine "vorläufige Würdigung" des Charakters der in Rede stehenden staatlichen Maßnahme enthalten muss. Diese Würdigung ist ein notwendiges Element der Eröffnungsentscheidung.
75 Zur Prüfung der Frage, ob die im vorliegenden Fall angefochtenen Maßnahmen diesen Kriterien genügen, ist zunächst festzustellen, dass beide eine Einleitungsformel enthalten, wonach die Kommission "beschlossen [hat], das Verfahren des Artikels 88 Absatz 2 EG zu eröffnen". Ferner enthalten beide eine "vorläufige Würdigung" der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften bzw. derjenigen über qualifizierte Gesellschaften.
76 So führt die Kommission in der angefochtenen Entscheidung I aus, dass die in Rede stehende Regelung nach den von den Behörden des Vereinigten Königreichs übermittelten Informationen "mindestens zwei gemäß der Regelung über staatliche Beihilfen anzumeldende Änderungen aufzuweisen [scheint]" (Nr. 9). Die Kommission gelangt zu dem Ergebnis, dass wegen dieser "wesentlichen Änderungen" die Regelung über die steuerbefreiten Gesellschaften nicht als eine bestehende, sondern als eine rechtswidrige Beihilfe anzusehen sei (Nr. 16). Sie fügt hinzu, dass das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Regierung von Gibraltar nicht genüge, um ihre Bedenken hinsichtlich deren Ausführungen zur Natur der fraglichen Regelung auszuräumen (Nrn. 34 und 35), und dass die Beihilfe nicht in den Anwendungsbereich der in Artikel 87 Absatz 3 EG aufgeführten Ausnahme zu fallen scheine (Nr. 48).
77 In der angefochtenen Entscheidung II führt die Kommission aus, dass die in Rede stehende Regelung von der Definition einer bestehenden Beihilfe "nicht erfasst" zu werden scheine und dass "sie derzeit als eine nicht angemeldete Beihilfe anzusehen" sei (Nr. 1). Nach der Feststellung, dass es sich bei der Regelung um eine Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 zu handeln scheine (Nr. 17), gelangt die Kommission zu dem Ergebnis, dass diese "derzeit" als eine Betriebsbeihilfe anzusehen sein könne, die nicht unter eine der Ausnahmen gemäß Artikel 87 Absatz 3 EG zu fallen scheine (Nrn. 23 und 24).
78 Somit sind die angefochtenen Entscheidungen trotz des Vorbringens der Kommission zu der angeblichen verfahrensmäßigen Neuerung keineswegs durch ein völliges Fehlen einer vorläufigen rechtlichen Würdigung gekennzeichnet, sondern sie stellen echte Entscheidungen über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens im Sinne der Beihilfeverfahrensverordnung und der einschlägigen Rechtsprechung dar.
79 Die Feststellung, dass die Kommission vorläufig der Meinung war, dass die in Rede stehenden Regelungen rechtswidrige Beihilfen darstellten und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar seien, wird nicht durch die Aufforderung (in den Nrn. 49 bzw. 25 der angefochtenen Entscheidungen) an die Beteiligten abgeschwächt, Stellung zu einer möglichen Rückforderung der Beihilfe zu nehmen, "falls [diese] für rechtswidrig und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt werden sollte". Es handelt sich dabei um eine rein vorsorgliche Klausel, mit der nur daran erinnert wird, dass eine endgültige Entscheidung, die nach Abschluss des förmlichen Verfahrens und im Licht der von den Betroffenen eingereichten Stellungnahmen erlassen wird, eine von der vorläufigen Würdigung in der Einleitungsentscheidung abweichende rechtliche Einstufung enthalten kann.
80 Wie der Gerichtshof zu einer Entscheidung, das förmliche Prüfverfahren hinsichtlich einer angeblich rechtswidrigen Beihilfe zu eröffnen, im Urteil Tirrenia entschieden hat, entfaltet, wenn "es sich um eine in der Durchführung begriffene Beihilfe handelt, deren Zahlung andauert und die nach Ansicht des Mitgliedstaats eine bestehende Beihilfe darstellt, ... die gegenteilige Einstufung als neue Beihilfe, die die Kommission - und sei es vorläufig - in ihrer Entscheidung, das Verfahren nach Artikel 88 Absatz 2 EG für diese Beihilfe einzuleiten, vornimmt, eigenständige Rechtswirkung" (Randnr. 57). Wie der Gerichtshof entschieden hat, impliziert eine derartige Entscheidung, dass "die Kommission nicht beabsichtigt, die Beihilfe im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung bestehender Beihilferegelungen gemäß den Artikeln 88 Absatz 1 EG und 17 bis 19 der [Beihilfeverfahrensverordnung] zu prüfen" (Randnr. 58), und "ändert insbesondere im Hinblick auf die Fortführung der fraglichen Maßnahme notwendigerweise ihre Rechtslage sowie die der beihilfebegünstigten Unternehmen" (Randnr. 59). Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt:
"Während der Mitgliedstaat, die beihilfebegünstigten Unternehmen und die anderen Wirtschaftsbeteiligten bis zum Erlass einer solchen Entscheidung davon ausgehen können, dass die Maßnahme ordnungsgemäß als bestehende Beihilfe durchgeführt wird, bestehen nach dem Erlass zumindest erhebliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme, die ... den Mitgliedstaat veranlassen müssen, die Zahlung auszusetzen, da die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 88 Absatz 2 EG es ausschließt, dass eine sofortige Entscheidung ergeht, mit der die Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt festgestellt würde und die es ermöglichen würde, die Durchführung der Maßnahme ordnungsgemäß fortzusetzen" (Randnr. 59).
81 Hervorzuheben ist, dass der Gerichtshof diese Erwägungen in Anbetracht einer Einleitungsentscheidung der Kommission entwickelt hat, mit der dem betroffenen Mitgliedstaat weder die Aussetzung der beanstandeten Maßnahmen gemäß Artikel 11 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung (Randnr. 55) noch die vorläufige Wiedereinziehung der bereits gezahlten Beihilfe (Artikel 11 Absatz 2 der Beihilfeverfahrensverordnung) aufgegeben wurde. Entgegen der Ansicht der Kommission ist der Umstand, dass sie von den Möglichkeiten des Artikels 11 keinen Gebrauch gemacht hat, daher für die Einstufung der Rechtsnatur einer Entscheidung, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten, unerheblich.
82 Auch wenn die Einstufung als Beihilfe einer objektiven Situation entspricht, die unabhängig von der Beurteilung ist, die im Stadium der Einleitung des Prüfverfahrens vorgenommen wird, und die bloße Einleitung dieses Verfahrens nicht ebenso unmittelbar verbindlich ist wie eine an den betreffenden Mitgliedstaat gerichtete Aussetzungsanordnung (Urteil Tirrenia, Randnrn. 58 und 60), entfaltet folglich die Wahl des förmlichen Prüfverfahrens durch die Kommission in Verbindung mit der vorläufigen Einstufung der in Rede stehenden Regelungen als neue Beihilfen anstelle der Wahl des Verfahrens für bestehende Beihilfen Rechtswirkungen, wie sie der Gerichtshof im Urteil Tirrenia beschrieben hat.
83 Ferner weist jede Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens, wie die im vorliegenden Fall angefochtenen Entscheidungen, trotz des vorläufigen Charakters der in ihr enthaltenen rechtlichen Würdigungen insoweit einen endgültigen Aspekt auf, als die von der Kommission getroffene Wahl der Eröffnung dieses Verfahrens zumindest bis zu seiner Einstellung Wirkungen entfaltet.
84 Denn zum einen hätte sogar eine endgültige Entscheidung der Kommission, mit der die in Rede stehenden staatlichen Maßnahmen als neue Beihilfen eingestuft und sodann für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt würden, nicht die Heilung der unter Verstoß gegen das Verbot des Artikels 88 Absatz 3 Satz 3 EG ergangenen Durchführungsmaßnahmen zur Folge (Urteil Cenemesa, Randnr. 23).
85 Zum anderen kann die Einleitungsentscheidung auf alle Fälle vor einem nationalen Gericht geltend gemacht werden (Urteil Tirrenia, Randnr. 59) und auf diese Weise die von der Maßnahme Begünstigten und Gebietskörperschaften wie die Klägerin der Gefahr aussetzen, dass das nationale Gericht die Aussetzung der Maßnahme und/oder die Wiedereinziehung der erfolgten Zahlungen zur Durchsetzung des Artikels 88 Absatz 3 Satz 3 EG anordnet, da sich die unmittelbare Wirkung des Verbotes der Durchführung der beabsichtigten Maßnahmen nach diesem Artikel auf jede Beihilfe erstreckt, die durchgeführt wird, ohne angemeldet worden zu sein (Urteile des Gerichtshofes vom 11. Dezember 1973 in der Rechtssache 120/73, Lorenz, Slg. 1973, 1471, Randnr. 8, und vom 11. Juli 1996 in der Rechtssache C-39/94, SFEI u. a., Slg. 1996, I-3547, Randnr. 39). Diese Begünstigten und Gebietskörperschaften gehen somit ein höheres wirtschaftliches und finanzielles Risiko ein, als wenn das förmliche Prüfverfahren nicht eingeleitet worden wäre. Insbesondere aus diesem Grund ist die Entscheidung, dieses Verfahren einzuleiten, geeignet, ihre Rechtsstellung zu beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil des Gerichts vom 9. November 1994 in der Rechtssache T-46/92, Scottish Football/Kommission, Slg. 1994, II-1039, Randnr. 13).
86 Daher muss die Verfahrenswahl der Kommission auch in einem Fall wie dem vorliegenden einer Nachprüfung ihrer Rechtmäßigkeit unterzogen werden können. Denn die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens erzeugt die erwähnten Rechtswirkungen, während sich im Rahmen der Prüfung einer bestehenden Beihilfe die Rechtslage bis zu einer etwaigen Zustimmung des betreffenden Mitgliedstaats zu einem Vorschlag zweckdienlicher Maßnahmen oder bis zum Erlass einer abschließenden Entscheidung durch die Kommission nicht ändert (Urteil Tirrenia, Randnr. 61).
87 Daher kann die zweite Rüge der Unzulässigkeit ebenfalls keinen Erfolg haben.
88 Somit sind die Klagen für zulässig zu erklären.
Zur Begründetheit
89 Zur Stützung ihrer Nichtigkeitsklagen führt die Klägerin Klagegründe an, die sich in den beiden Rechtssachen weitgehend decken. Als erstes wird eine Verletzung der Begründungspflicht gerügt. Als zweites wird eine Verletzung der Verteidigungsrechte der Klägerin und des Vereinigten Königreichs gerügt. Drittens rügt die Klägerin die Unvereinbarkeit der angefochtenen Entscheidungen mit Artikel 88 EG und Artikel 1 der Beihilfeverfahrensverordnung. Viertens wird ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerügt. Fünftens rügt die Klägerin einen Verstoß gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
90 Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist es angebracht, diese Klagegründe umzugruppieren und mit der gemeinsamen Prüfung der Klagegründe eines Verstoßes gegen Artikel 88 EG und Artikel 1 der Beihilfeverfahrensverordnung sowie eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu beginnen.
Zu den Klagegründen eines Verstoßes gegen die Artikel 88 EG und 1 der Beihilfeverfahrensverordnung sowie eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes
Vorbringen der Parteien
91 In Bezug auf die Regelung über steuerbefreite Gesellschaften macht die Klägerin geltend, der Kommission sei ein offenkundiger Beurteilungsfehler mit ihrer Feststellung unterlaufen, dass die Änderungen in den Jahren 1978 und 1983 "wesentliche Änderungen" einer nicht angemeldeten Beihilferegelung darstellten. Mit dieser Bewertung der Änderungen und damit der gesamten Regelung über steuerbefreite Gesellschaften als "neue Beihilferegelung" ohne Berücksichtigung des gemeinschaftlichen Kontextes, in dem diese Regelung seinerzeit erlassen worden sei, und ohne wirtschaftliche Analysen habe die Kommission dem Begriff der neuen Beihilfe eine ganz unübliche und willkürliche Bedeutung beigelegt.
92 Die Änderung im Jahr 1978 habe nur im Wege einer Verordnung eine bereits bestehende und weit verbreitete Praxis bestätigt und sei somit ohne konkrete Auswirkung geblieben. In Bezug auf die Änderung von 1983 habe die Kommission eine wirtschaftliche Analyse der Auswirkung dieser Änderungen auf den Wettbewerb und den Handelsverkehr im Binnenmarkt unterlassen.
93 Die Kommission habe jedenfalls dadurch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen, dass sie die steuerliche Regelung über steuerbefreite Gesellschaften insgesamt als neue Beihilfe eingestuft habe, obwohl die Änderungen von 1978 und 1983 von der Regelung von 1967 zu trennen gewesen seien.
94 Was die Regelung über qualifizierte Gesellschaften anbelange, so habe die Kommission sie rechtlich fehlerhaft nicht als eine bestehende Beihilferegelung eingestuft. Diese Regelung stamme von 1983, aus einer Zeit also, in der weder für die Kommission noch für die Mitgliedstaaten, noch erst recht für die Wirtschaftsteilnehmer klar gewesen sei, ob überhaupt und gegebenenfalls wie weit die Vorschriften über staatliche Beihilfen systematisch auf nationale Bestimmungen über die Körperschaftsteuer anzuwenden seien. Die Regelung sei somit zehn Jahre vor der Liberalisierung des Kapitalverkehrs und fünfzehn Jahre vor der Klärung des Begriffes der staatlichen Beihilfe seitens der Kommission in ihrer Mitteilung vom 10. Dezember 1998 über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung (ABl. C 384, S. 3) ergangen.
95 Die Regierung des Vereinigten Königreichs habe die Regelung über qualifizierte Gesellschaften sogar der Primarolo-Gruppe vor Veröffentlichung der erwähnten Mitteilung von 1998 notifiziert. Diese Mitteilung habe erstmals eine allgemeine, aber nicht erschöpfende Definition der "staatlichen Beihilfen steuerlicher Art" enthalten und sei mehr eine politische Erklärung über das künftige Tätigwerden der Kommission in diesem Bereich als eine "klärende Erläuterung" der geltenden Vorschriften gewesen.
96 Dass die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen durch die Entscheidungen der Kommission und der Gemeinschaftsgerichte weiter entwickelt werden könnten, sei auch anerkannt durch Artikel 1 Buchstabe b Ziffer v der Beihilfeverfahrensverordnung (siehe oben, Randnr. 4). Die Regelung über qualifizierte Gesellschaften sei nach dieser Vorschrift eine Maßnahme, die erst nachträglich zu einer Beihilfe geworden sei. Indem sie diese Regelung nicht als bestehende Beihilfen einstufe, wende die Kommission relativ komplexe Kriterien für die Definition staatlicher Beihilfen im Jahr 2001 auf die unterschiedliche rechtliche und wirtschaftliche Lage im Jahr 1983 an. Insoweit sei zu verweisen auf die irische Regelung der Körperschaftsteuer, die zunächst nicht als eine Beihilfe angesehen worden sei, während die Kommission später einen anderen Standpunkt eingenommen und der schrittweisen Entwicklung der Gemeinschaftsvorschriften zu einer strengeren Behandlung steuerlicher Förderungsregelungen Rechnung getragen habe (Vorschläge der Kommission für zweckdienliche Maßnahmen betreffend das Internationale Finanzdienstleistungszentrum und die zollfreie Zone am Flughafen Shannon [ABl. 1998, C 395, S. 14] und betreffend die irische Körperschaftsteuer [ABl. 1998, C 395, S. 19]).
97 Die Klägerin vertritt die Ansicht, die Kommission habe auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, indem sie die Steuerregelung für qualifizierte Gesellschaften der für neue Beihilfen vorgesehenen Regelung unterworfen habe. Eine solche Behandlung habe dramatische wirtschaftliche Folgen. Dieser erhebliche Schaden stehe außer Verhältnis zu dem mit der Einleitung eines Verfahrens verfolgten Interesse, wenn man insbesondere die sehr geringe Größe der Wirtschaft von Gibraltar und die zu vernachlässigende Auswirkung der in Rede stehenden Regelung auf den Wettbewerb und den internationalen Handelsverkehr berücksichtige. Ein ausgewogeneres Vorgehen seitens der Kommission hätte darin bestehen können, die in Rede stehende Regelung unter dem Blickwinkel des Verhaltenskodexes im Bereich der Unternehmensbesteuerung, der Artikel 96 und 97 EG oder nach dem Verfahren für bestehende Beihilfen zu betrachten.
98 Schließlich habe die Kommission gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verstoßen, indem sie 18 bzw. 23 Jahre gewartet habe, bis sie die in Rede stehenden Regelungen, die 1967 und 1983 erlassen worden seien, gerügt habe, und indem sie ihre Ermittlungen in Bezug auf diese Regelungen nicht innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt habe. Die Vereinbarkeit dieser Regelungen mit dem Gemeinschaftsrecht habe die Kommission vor Februar 1999 niemals in Zweifel gezogen. Diese lange Untätigkeit der Kommission habe auf Seiten von Gibraltar berechtigte Erwartungen geschaffen. Auch seien auf die Ermittlungen der Kommission die Regeln über der Verjährung anzuwenden. So gelte nach Artikel 15 der Beihilfeverfahrensverordnung jede Einzelbeihilfe, die nach einer Beihilferegelung mehr als zehn Jahre vor dem Zeitpunkt des Tätigwerdens der Kommission gezahlt worden sei, als bestehende Beihilfe. Nach dieser Bestimmung hätte die Kommission die in Rede stehenden Regelungen als bestehende Beihilferegelungen betrachten müssen. Die Kommission habe auf alle Fälle dadurch gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verstoßen, dass sie nach der Einleitung ihrer Prüfung der Regelungen eine zu lange Frist habe verstreichen lassen. Die Voruntersuchung habe am 12. Februar 1999 begonnen; das förmliche Prüfverfahren sei jedoch erst zweieinhalb Jahre später, am 11. Juli 2001, eingeleitet worden. Im Laufe der Voruntersuchung habe die Kommission 10 bzw. 12 Monate lang geschwiegen.
99 Die Kommission führt zur Regelung über steuerbefreite Gesellschaften aus, dass die wirklich zu entscheidende Frage dahin gehe, ob die Änderungen aus den Jahren 1978 und 1983 wesentlich gewesen seien, weil sie die Substanz und nicht nur den Umfang der Beihilfe betroffen hätte (Schlussanträge von Generalanwalt Fennelly in den Rechtssachen C-15/98 und C-105/99, Italien und Sardegna Lines/Kommission, Slg. 2000, I-8859, Nrn. 62 und 63). Die Kommission brauche deshalb nicht die wirtschaftlichen Auswirkungen der Änderungen zu analysieren, sondern nur die in Frage stehenden Rechtsvorschriften zu prüfen. Diese Prüfung sei vorzunehmen im Rahmen eines förmlichen Prüfverfahrens, wenn nicht schon bei erster Prüfung ausgeschlossen werden könne, dass die Änderungen die Substanz der Regelung berührt hätten.
100 In dieser Phase bestuenden Gründe dafür, bei erster Prüfung anzunehmen, dass die beiden in der angefochtenen Entscheidung I erwähnten Änderungen die Regelung in der Sache geändert hätten. Die Änderung von 1978 habe die von der Regelung erfassten Unternehmen von der Pflicht zur Entrichtung einer Steuer befreit; selbst wenn diese Steuer weitgehend umgangen worden sei, sei doch eine neue Steuerbefreiung eingeführt worden. Die Änderung von 1983 habe die Regelung auf eine neue, potenziell sehr umfangreiche Kategorie von Unternehmen erstreckt. Der Umstand, dass nur wenige Unternehmen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hätten, nehme der Änderung nicht ihren wesentlichen Charakter. Die Angaben, über die die Kommission verfügt habe, hätten daher ausgereicht, um sie zumindest zu ermächtigen, das förmliche Prüfverfahren zum Zweck einer eingehenden Prüfung einzuleiten. Die Klägerin habe die Möglichkeit gehabt, im förmlichen Verfahren die Argumente vorzutragen, die sie vor dem Gericht geltend gemacht habe.
101 Die Kommission räumt ein, dass das Vorbringen der Klägerin in Bezug auf die Geringfügigkeit der an der vorherigen Regelung vorgenommenen Änderungen und die Möglichkeit, dass sich die Einstufung als neue Beihilfe auf die geänderten Gesichtspunkte der Regelung beschränke, berechtigt und zutreffend sei. Dieses Vorbringen sei nicht nur aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen, sondern auch, weil es sich auf den wesentlichen Charakter der Änderung und ihrer Folgen beziehe. Deswegen sei die Kommission jedoch nicht an der eigentlichen Einschätzung der Regelung gehindert. Im Übrigen beträfen verschiedene der von der Klägerin angeführten Erwägungen möglicherweise die Frage, ob die Wiedereinziehung der gezahlten Beihilfe anzuordnen sei, andere dagegen die Prüfung der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Gemeinsamen Markt.
102 Zur Regelung über qualifizierte Gesellschaften macht die Kommission geltend, sie beabsichtige nicht, abschließend festzustellen, ob es sich bei der gerügten Beihilfe um eine neue oder eine bestehende Beihilfe handele. Diese Frage sei im förmlichen Prüfverfahren zu vertiefen. Es gebe jedoch derzeit Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Maßnahme von Anfang an eine Beihilfe im Sinne von Artikel 87 EG dargestellt habe. Die Beweismittel, über die die Kommission verfüge, erlaubten es ihr daher zumindest, das Verfahren einzuleiten, um zu einer vertieften Prüfung zu gelangen.
103 Im förmlichen Prüfverfahren könne die Klägerin ihre Argumente geltend machen. Es müsse insbesondere erörtert werden, inwieweit die Tätigkeiten der von der Regelung über qualifizierte Gesellschaften begünstigten Unternehmen dem internationalen Wettbewerb offen stuenden, da diese Unternehmen in einem weiten Spektrum von Bereichen tätig seien, u. a. im Bereich der Finanzdienstleistungen, der Schiffsreparatur, der Kraftfahrzeuge, der Telekommunikation und des Glückspiels. Daher seien die verschiedenen von diesen Unternehmen ausgeübten Tätigkeiten und die Marktbedingungen 1983 und in der Folgezeit zu untersuchen. Nichtsdestoweniger lege derzeit bereits der Umstand, dass die qualifizierten Gesellschaften Tätigkeiten außerhalb Gibraltars ausüben müssten, die Annahme nahe, dass sie internationalen Handel betrieben.
104 Das Königreich Spanien schließt sich im Kern dem Vorbringen der Kommission zur Sache an.
Würdigung durch das Gericht
- Zur angefochtenen Entscheidung I betreffend die Steuerregelung für steuerbefreite Gesellschaften
105 In Bezug auf die Prüfung, ob die Kommission berechtigt war, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten, oder ob sie die in Rede stehende staatliche Maßnahme im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung der bestehenden Beihilferegelungen nach Artikel 88 Absatz 1 EG und den Artikeln 17 bis 19 der Beihilfeverfahrensverordnung hätte prüfen müssen, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Verfahren im vorliegenden Fall eingeleitet wurde, weil die Kommission ernsthafte Bedenken in Bezug auf die Einstufung dieser Regelung als "etwaige rechtswidrige Beihilfe" und in Bezug auf ihre mögliche Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt hatte. Die rechtswidrige Beihilfe wird in Artikel 1 Buchstabe f der Beihilfeverfahrensverordnung als "neue Beihilfe, die unter Verstoß gegen Artikel [88] Absatz 3 des Vertrages eingeführt" wird, definiert.
106 Es steht jedoch fest, dass die ursprüngliche Steuerregelung von 1967 - unterstellt, sie kann als "Beihilferegelung" eingestuft werden - jedenfalls eine "bestehende Beihilfe" im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b Ziffer i der Beihilfeverfahrensverordnung darstellte, als das Vereinigte Königreich der Gemeinschaft am 1. Januar 1973 beitrat.
107 In der angefochtenen Entscheidung I heißt es ausdrücklich, dass diese ursprüngliche Regelung zweimal, 1978 und 1983, geändert worden sei. Diese Änderungen werden als wesentlich eingestuft, so dass "die Regelung über die steuerbefreiten Gesellschaft nicht als eine bestehende Beihilfe, sondern als eine rechtswidrige Beihilfe anzusehen" sei (Nr. 16 der Entscheidung). Im Übrigen führt die Entscheidung sämtliche steuerbefreite Gesellschaften an, die in Gibraltar bestehen, und nicht nur die durch die Änderungen von 1978 und 1983 betroffenen Gesellschaften (Nr. 38).
108 Die Kommission ist damit vorläufig zu der Ansicht gelangt, dass die beiden nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Gemeinschaft vorgenommenen Änderungen die ursprüngliche Steuerregelung insgesamt in eine neue Beihilferegelung umgewandelt hätten.
109 Nach Artikel 1 Buchstabe c der Beihilfeverfahrensverordnung gelten als neue Beihilfen alle "Änderungen bestehender Beihilfen". Nach diesem eindeutigen Wortlaut ist nicht "jede geänderte bestehende Beihilfe" als neue Beihilfe anzusehen, sondern nur die Änderung als solche kann als neue Beihilfe eingestuft werden.
110 Dieses Ergebnis wird durch das Urteil des Gerichtshofes vom 9. August 1994 in der Rechtssache C-44/93 (Namur-Les assurances du crédit, Slg. 1994, I-3829, Randnrn. 13 und 16) bestätigt, in dem der Gerichtshof bestätigt hat, dass als neue Beihilfen die Maßnahmen anzusehen sind, die "auf die Einführung ... von Beihilfen gerichtet sind", und dass "Vorhaben zur ... Umgestaltung von Beihilfen" nicht durchgeführt werden dürfen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung erlassen hat.
111 Daher wird die ursprüngliche Regelung durch die Änderung nur dann in eine neue Beihilferegelung ungewandelt, wenn die Änderung sie in ihrem Kern betrifft. Um eine derartige wesentliche Änderung kann es sich jedoch nicht handeln, wenn sich das neue Element eindeutig von der ursprünglichen Regelung trennen lässt.
112 Im vorliegenden Fall hat die Kommission in Randnummer 12 der angefochtenen Entscheidung I selbst erklärt, dass durch die Änderung von 1978 eine Befreiung von der Stempelabgabe für den Abschluss von Lebensversicherungsverträgen durch die steuerbefreiten Gesellschaften, auf die nach solchen Verträgen gezahlten Renten und für bestimmte Transaktionen im Zusammenhang mit solchen Verträgen und Renten eingeführt worden sei und dass die den steuerbefreiten Gesellschaften damit gewährte Vergünstigung in der ursprünglichen Regelung nicht vorgesehen gewesen sei. In den Nummern 13 und 14 der Entscheidung hat die Kommission ausgeführt, dass die Änderung von 1983 die fragliche Steuerregelung auf eine neue Gruppe von Unternehmen erstreckt habe, die zuvor nicht die Voraussetzungen erfuellt habe, um in den Genuss der ursprünglichen Regelung von 1967 zu gelangen.
113 Es erweist sich somit, dass die beiden in Rede stehenden Änderungen in den Erwägungen der Kommission selbst bloße Zusätze zur ursprünglichen Regelung von 1967 darstellen, die zum einen die steuerbefreiten Geschäfte auf eine einzige zusätzliche Art von Geschäften, nämlich Lebensversicherungen, erstreckte, und zum anderen den durch die Steuerbefreiung Begünstigten eine einzige Gruppe von Unternehmen hinzufügte, nämlich die Niederlassungen bestimmter Gesellschaften. Dagegen enthalten die Akten nichts, was die Feststellung erlaubte, dass diese Zusätze das eigentliche Funktionieren der ursprünglichen Steuerregelung in Bezug auf die übrigen Geschäfte und Gruppen von Unternehmen beeinträchtigt hätten. Die Änderungen von 1978 und 1983 sind daher als abtrennbare Elemente der ursprünglichen Steuerregelung von 1967 zu betrachten, so dass - vorausgesetzt, sie können als Beihilfen eingestuft werden - sie deren Charakter einer bestehenden Beihilfe nicht ändern können.
114 Diesem Ergebnis steht das Urteil Namur-Les assurances du crédit (Randnr. 28) nicht entgegen, in dem der Gerichtshof für Recht erkannt hat, dass Maßstab für die Einstufung einer Beihilfe als neue oder umgestaltete Beihilfe die Bestimmungen sind, in denen sie vorgesehen ist. Denn im vorliegenden Fall wurden zwar die Änderungen von 1978 und 1983 in den Wortlaut der ursprünglichen Regelung von 1967 eingefügt, doch handelt es sich bei diesen Änderungen um Elemente, die von der ursprünglichen Regelung abgetrennt werden können. In der Rechtssache Namur-Les assurances du crédit ist jedoch nicht die Frage aufgeworfen worden, ob die Änderung abtrennbar war, und der Gerichtshof hat sich hierzu nicht geäußert.
115 Nach allem hat die Kommission gegen Artikel 88 EG und Artikel 1 der Beihilfeverfahrensverordnung verstoßen, indem sie das förmliche Prüfverfahren in Bezug auf die Steuerregelung für steuerbefreite Gesellschaften insgesamt eingeleitet und diese Regelung vorläufig insgesamt als neue Beihilfe eingestuft hat. Daher ist die angefochtene Entscheidung I insgesamt für nichtig zu erklären, ohne dass das weitere zu ihrer Anfechtung geltend gemachte Vorbringen geprüft zu werden braucht.
116 Eine auf die Einfügung der in Rede stehenden Änderungen in die ursprüngliche Regelung beschränkte Teilnichtigerklärung dieser Entscheidung ist ausgeschlossen, da sich das Gericht nicht an die Stelle der Kommission setzen kann, indem es entsheidet, dass es gerechtfertigt ist, das förmliche Prüfverfahren in Bezug allein auf die Änderung von 1978 und 1983 weiter zu betreiben.
- Zur angefochtenen Entscheidung II betreffend die Steuerregelung für qualifizierte Gesellschaften
117 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Steuerregelung für qualifizierte Gesellschaften von 1983 stammt. Sie wurde daher nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Gemeinschaft erlassen. Somit kann sie nicht als "bestehende Beihilfe" im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b Ziffer i der Beihilfeverfahrensverordnung betrachtet werden.
118 Sodann kann das Gericht die Entscheidung der Kommission für das förmliche Prüfverfahren statt für das Verfahren für bestehende Beihilfen gegebenenfalls nur auf der Grundlage der Klagegründe und des Vorbringens der Klägerin beanstanden. Das Vorbringen der Klägerin im vorliegenden Rechtstreit enthält jedoch nichts, was sich wirklich gegen die Darstellung der Sach- und Rechtslage oder gegen die von der Kommission in der angefochtenen Entscheidung II vorgenommene Vorprüfung der Rechtsnatur richtete, auf deren Grundlage die Kommission zu der vorläufigen Ansicht gelangte, dass die in Rede stehende Regelung eine neue mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe darstelle.
119 Die Klägerin beschränkt sich nämlich auf eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung, der unsicheren Rechtslage, die 1983 bestanden habe, der nachfolgenden Liberalisierung des Kapitalverkehrs und der Erläuterungen des Begriffes der staatlichen Beihilfe steuerlicher Art, die erst gegen Ende 1990 vorgenommen worden seien. Sie macht lediglich allgemein geltend, dass die Regelung über staatliche Beihilfen ein "lebendiges Recht" darstelle und dass der Beihilfebegriff mit der Zeit eine gewisse Entwicklung mitgemacht habe, was durch Artikel 1 Buchstabe b Ziffer v der Beihilfeverfahrensverordnung anerkannt werde. Schließlich entspreche die Annahme, dass im Jahre 2001 die Regelung über qualifizierte Gesellschaften eine "bestehende" Beihilfe darstelle, dem gesunden Menschenverstand und sei recht und billig, während die Einstufung als "neu" jeder Logik und dem üblichen Sinn des anwendbaren Gemeinschaftsrechts zuwiderlaufe.
120 Diese allgemeine Argumentation kann nicht zu der Feststellung führen, dass die Steuerregelung von 1983 wegen ihrer Merkmale als bestehende Beihilferegelung zu betrachten wäre.
121 Zudem hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Juni 1999 in der Rechtssache C-295/97 (Piaggio, Slg. 1999, I-3735, Randnrn. 45 bis 48) entschieden, dass die Antwort auf die Frage, ob eine neue Beihilfe vorliegt, nicht von der subjektiven Einschätzung der Kommission abhängen kann. So hat der Gerichtshof 1999 das Verhalten der Kommission in Bezug auf ein nationales Gesetz von 1979 beanstandet, das von der Kommission "aus Zweckmäßigkeitsgründen" als bestehende staatliche Beihilfe eingestuft worden war, zu denen die Zweifel zählten, die die Kommission 14 Jahre lang in Bezug auf die Einstufung dieses Gesetzes als staatliche Beihilfe gehabt hatte. Das Gericht schließt daraus, dass der Charakter einer bestimmten staatlichen Maßnahme als bestehende oder neue Beihilfe unabhängig von der Zeit zu bestimmen ist, die seit der Einführung dieser Maßnahme verstrichen ist, und unabhängig von jeder vorherigen Verwaltungspraxis.
122 Soweit die Klägerin geltend macht, dass die in Rede stehende Steuerregelung als bestehende Beihilfe einzustufen sei, da sie der Primarolo-Gruppe übermittelt worden sei, ist bereits ausgeführt worden (Randnr. 70), dass diese Mitteilung nicht einer förmlichen Anmeldung bei der Kommission im Sinne der Gemeinschaftsregelung für staatliche Beihilfen gleichgestellt werden kann.
123 Zum Verweis auf die beiden Vorschläge der Kommission betreffend die irische Regelung über die Körperschaftsteuer ist festzustellen, dass sich die diesen Vorschlägen zugrunde liegende Sach- und Rechtslage deutlich von derjenigen des vorliegenden Falles unterscheidet. Für eine mögliche Einstufung der Steuerregelung, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, als bestehende Beihilfe lässt sich diesen Vorschlägen kein Anhaltspunkt entnehmen.
124 Die Klägerin hebt noch die geringe Größe Gibraltars hervor und macht geltend, dass die Auswirkungen der in Rede stehenden Regelung auf den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt und auf den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten stets marginal gewesen seien, da nach 18 Jahren der Anwendung der Regelung in Gibraltar nur 150 qualifizierte Gesellschaften registriert seien. Im Übrigen habe die Kommission keine wirtschaftliche Analyse dieser Auswirkungen vorgenommen.
125 Dieses Vorbringen enthält keine bezifferten Angaben zum Umfang der in Rede stehenden steuerlichen Maßnahmen und zur Größe der begünstigten Gesellschaften nach Umsatz und Gewinn. Daher genügt die Feststellung, dass nach ständiger Rechtsprechung weder der verhältnismäßig geringe Umfang einer Beihilfe noch die verhältnismäßig geringe Größe des begünstigten Unternehmens von vornherein die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten ausschließt (Urteil des Gerichts vom 28. Januar 1999 in der Rechtssache T-14/96, BAI/Kommission, Slg. 1999, II-139, Randnr. 77, m. w. N). Im Übrigen reicht es für die Annahme der Einstufung als staatliche Beihilfe aus, wenn die in Rede stehenden staatlichen Maßnahmen den Wettbewerb zu verfälschen "drohen" und den Handelsverkehr zwischen Mitgliedstaaten beeinflussen "können".
126 Da die Klägerin hierzu nichts Näheres vorgetragen hat, ist die Feststellung in der angefochtenen Entscheidung II (Nr. 14), dass die von der in Rede stehenden Regelung begünstigten qualifizierten Gesellschaften tatsächlich oder potenziell Handel mit den in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Gesellschaften treiben können, umso mehr, als sie üblicherweise nicht berechtigt sind, Handel in Gibraltar zu treiben, nicht substanziiert bestritten worden.
127 Ferner bildet, wie die Kommission zu Recht geltend macht, das förmliche Prüfverfahren den geeigneten Verfahrensrahmen für die Durchführung der von der Klägerin begehrten wirtschaftlichen Analyse, da es die Einbeziehung der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer in das Verfahren zum Erlass der endgültigen Entscheidung erlaubt.
128 Zum Argument, dass die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Stellung Gibraltars als internationaler Finanzplatz in nicht wieder gutzumachender Weise beeinträchtige, da die Gefahr der Aufhebung der in Rede stehenden Steuerregelung eine ernsthafte Bedrohung der Rentabilität der Wirtschaft Gibraltars darstelle, genügt der Hinweis (siehe oben, Randnrn. 72 und 121), dass die Kommission verpflichtet ist, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten, wenn sie nach der vorläufigen Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als neue Beihilfe ernsthaften Schwierigkeiten bei der Beurteilung ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt begegnet. Die durch die Entscheidung über die Einleitung dieses Verfahrens hervorgerufenen wirtschaftlichen Risiken, wie sie die Klägerin darstellt, können daher nicht für sich allein die Rechtmäßigkeit einer derartigen Entscheidung beeinträchtigen. Somit ist dieses Vorbringen zurückzuweisen.
129 Soweit sich die Klägerin schließlich auf die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit beruft, ergibt sich aus den vorstehenden Ausführungen, dass der bloße Umstand, dass die Kommission während einer verhältnismäßig langen Zeit keine Prüfung in Bezug auf eine bestimmte staatliche Maßnahme eingeleitet hat, dieser Maßnahme allein nicht den objektiven Charakter einer bestehenden Beihilfe nehmen kann, wenn es sich um eine Beihilfe handelt (Urteil Piaggio, Randnr. 45 bis 47). Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, können die möglicherweise in dieser Hinsicht bestehenden Ungewissheiten allenfalls höchstens dazu führen, dass bei den Begünstigten ein berechtigtes Vertrauen besteht, das die Wiedereinziehung der gezahlten Beihilfe für die Vergangenheit hindert (Urteile des Gerichtshofes vom 24. November 1987 in der Rechtssache 223/85, RSV/Kommission, Slg. 1987, 4617, Randnrn. 16 und 17, und vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-5/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1990, I-3437, Randnrn. 16 und 17).
130 Das Gleiche gilt für die Verjährungsfrist des Artikels 15 der Beihilfeverfahrensverordnung, die nicht den Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes darstellt, wonach eine neue Beihilfe in eine bestehende Beihilfe umgewandelt würde, sondern nur die Wiedereinziehung von Beihilfen ausschließt, die mehr als zehn Jahre vor dem ersten Tätigwerden der Kommission eingeführt wurden.
131 Nach allem sind die Klagegründe eines Verstoßes gegen die Artikel 88 EG und 1 der Beihilfeverfahrensverordnung sowie gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zurückzuweisen, soweit es die gegen die angefochtene Entscheidung II erhobene Klage angeht.
132 Daher sind die übrigen Klagegründe zu prüfen, auf die diese Klage gestützt wird.
Zum Klagegrund einer Verletzung der Begründungspflicht
Vorbringen der Klägerin
133 Die Klägerin macht geltend, Artikel 253 EG stelle den Grundsatz auf, dass die Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane auf einer hinreichend genauen Begründung zu beruhen hätten, die die Überlegungen des betreffenden Organs klar und eindeutig zum Ausdruck brächten. Im Gegensatz zu den Verordnungen, die allgemeiner Natur seien, erforderten die Entscheidungen, die sich an bestimmte Personen richteten, eine eingehende Begründung.
134 Die Entscheidungen der Kommission im Bereich der staatlichen Beihilfen hätten besonders erhebliche Auswirkungen für die Mitgliedstaaten, die Regionen und die örtlichen Gebietskörperschaften sowie für private Unternehmen. Sie seien wirtschaftlicher Natur und verlangten somit eine wirtschaftliche Begründung betreffend den Einfluss der Maßnahme auf den Wettbewerb und den Handelsverkehr sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht.
135 Nach Ansicht der Klägerin hat die Kommission in Nummer 1 der angefochtenen Entscheidung II eine zögernde Formulierung gewählt, die keineswegs klar sei und nicht erläutere, weshalb die Regelung über qualifizierte Gesellschaften keine bestehende Beihilferegelung darstelle. Eine eingehende Begründung sei jedoch geboten gewesen, da die in Rede stehende Regelung 18 Jahre lang Teil der Rechtsordnung Gibraltars gewesen sei, ohne dass die Kommission sie gerügt hätte, und da die Frage, ob die Regelung für staatliche Beihilfen systematisch auf die Steuerregelung für Gesellschaften anzuwenden sei, 1983 keineswegs geklärt gewesen sei.
Würdigung durch das Gericht
136 Wie die Kommission zu Recht ausführt, muss die nach Artikel 253 EG vorgeschriebene Begründung der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein, und ihr müssen sich die Gründe für den Rechtsakt entnehmen lassen. Dabei ist nicht nur der Wortlaut des Aktes zu berücksichtigen, sondern auch sein Kontext sowie sämtliche Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteil des Gerichtshofes vom 2. April 1998 in der Rechtssache C-367/95 P, Kommission/Sytraval und Brink's France, Slg. 1998, I-1719, Randnr. 63).
137 Zur Beurteilung des Umfangs der Verpflichtung, eine Entscheidung zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens zu begründen, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Artikel 6 der Beihilfeverfahrensverordnung die Entscheidung über die Einleitung nur eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine "vorläufige Würdigung" des Beihilfecharakters der in Rede stehenden staatlichen Maßnahme und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt zu enthalten braucht.
138 Ebenfalls nach Artikel 6 muss die Einleitungsentscheidung die Betroffenen in die Lage versetzen, sich in wirksamer Weise am förmlichen Prüfverfahren zu beteiligen, in dem sie ihre Argumente geltend machen können. Hierfür genügt es, dass die Beteiligten erfahren, welche Überlegungen die Kommission zu der vorläufigen Ansicht veranlasst haben, dass die in Rede stehende Maßnahme eine neue, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Maßnahme darstelle.
139 Daher können die von der Klägerin gerügten Unzulänglichkeiten der Begründung nicht als Verstoß gegen Artikel 253 EG betrachtet werden. Die angeblich zögerliche Formulierung der angefochtenen Entscheidung II spiegelt gerade die Bedenken der Kommission wider, die sie dazu veranlasst haben, das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen. Im Übrigen werden in dieser Entscheidung die Merkmale der Steuerregelung dargestellt, die Gegenstand des förmlichen Prüfverfahrens ist, und es wird ausgeführt, dass die Kommission anhand der Angaben, über die sie in dieser Phase verfügt, vorläufig der Ansicht sei, dass es sich um eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe handele.
140 Daher ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
Zum Klagegrund einer Verletzung der Verteidigungsrechte der Klägerin und des Vereinigten Königreichs
Vorbringen der Klägerin
141 Die Klägerin macht geltend, jeder Person, der gegenüber eine beschwerende Entscheidung ergehen könne, sei Gelegenheit zu geben, zu den Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, auf die die Kommission bei der Begründung der streitigen Entscheidung zu ihrem Nachteil abstelle (Urteil des Gerichts vom 6. Dezember 1994 in der Rechtssache T-450/93, Lisrestal u. a./Kommission, Slg. 1994, II-1177, Randnr. 42). Dieser Grundsatz komme auch jeder unmittelbar und individuell von einer derartigen Entscheidung betroffenen Person zugute (Urteil des Gerichtshofes vom 29. Juni 1994 in der Rechtssache C-135/92, Fiskano/Kommission, Slg. 1994, I-2885, Randnr. 26 und 41). Die Kommission habe die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt, denn sie habe die angefochtene Entscheidung II ohne Erörterung mit ihr erlassen und ohne ihr zu gestatten, ihren Standpunkt zum Ausdruck zu bringen.
142 Nach dem Antwortschreiben des Vereinigten Königreichs an die Kommission vom 3. Juli 2000 habe die Kommission ihre Analyse in Bezug auf die Regelung über qualifizierte Gesellschaften unterbrochen, dabei jedoch ihre parallelen Analysen zur Regelung über steuerbefreite Gesellschaften fortgesetzt. Damit habe die Kommission einseitig jede Möglichkeit der Erörterung der Natur der Regelung über qualifizierte Gesellschaften beseitigt. Auch habe sich die Kommission nicht bemüht, die Klägerin in das Verwaltungsverfahren einzubinden, und habe es abgelehnt, unmittelbar mit ihr zu verhandeln.
143 Die Klägerin macht geltend, ihr Vorbringen in Bezug auf die Verletzung ihrer Verteidigungsrechte gelte entsprechend für die Verteidigungsrechte des Vereinigten Königreichs.
Würdigung durch das Gericht
144 Hierzu genügt der Hinweis, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Kommission/Sytraval und Brink's France (Randnrn. 58 und 59) für Recht erkannt hat, dass es für eine Verpflichtung der Kommission, einen Beschwerdeführer im Stadium der Vorprüfung der staatlichen Beihilfen anzuhören, keine Rechtsgrundlage gibt. Dies gilt in gleicher Weise für alle Beteiligten und alle Mitgliedstaaten, denen die geltenden Bestimmungen keinen Anspruch auf kontradiktorische Beteiligung an der Phase der Vorprüfung, die vor der Entscheidung zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens liegt, verleihen. Denn allein die Kommission ist befugt, anzuordnen, dass der betroffene Mitgliedstaat ihr "Auskünfte erteilt" (Artikel 2 Absatz 2, Artikel 5 Absätze 1 und 2 sowie Artikel 10 Absatz 2 der Beihilfeverfahrensverordnung). Somit können die Mitgliedstaaten und die Beteiligten die Kommission nicht zwingen, sie anzuhören, damit sie die "vorläufige Würdigung" beeinflussen können, die die Kommission gegebenenfalls zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens veranlasst.
145 Daher oblag es der Kommission nicht, der Klägerin oder dem Vereinigten Königreich in der Phase der Vorprüfung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
146 Jedenfalls geht aus den Akten hervor, dass die Klägerin und das Vereinigte Königreich im Laufe des Vorverfahrens tatsächlich Stellung nehmen konnten: Das Vereinigte Königreich übersandte der Kommission mehrere Schreiben in Bezug auf die Regelungen über steuerbefreite Gesellschaften und qualifizierte Gesellschaften und übermittelte ihr sodann am 12. September 2000 ein von der Regierung von Gibraltar stammendes Dokument, in dem die Gründe dargelegt wurden, aus denen diese der Ansicht war, dass die Regelung über steuerbefreite Gesellschaften nicht von der Gemeinschaftsregelung über staatliche Beihilfen erfasst werde; die Klägerin konnte auch an einer von der Kommission am 19. Oktober 2000 veranstalteten Sitzung teilnehmen, in der das erwähnte Dokument erörtert wurde. Zwar bezogen sich diese Schritte offenbar nur auf die Regelung über steuerbefreite Gesellschaften, doch erlaubt nichts die Annahme, dass das Vereinigte Königreich und die Klägerin daran gehindert gewesen wären, auch zur Regelung über qualifizierte Gesellschaften Stellung zu nehmen, wenn sie dies als angebracht erachtet hätten.
147 Daher ist dieser Klagegrund ebenfalls zurückzuweisen.
148 Da keiner der gegen die angefochtene Entscheidung II gerichteten Klagegründe durchgreift, ist die Klage in der Rechtssache T-207/01 abzuweisen.
Kosten
149 Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterlegene Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. In der Rechtssache T-195/01 sind der Kommission die Kosten aufzuerlegen, da diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist und die Klägerin einen entsprechenden Antrag gestellt hat. In der Rechtssache T-207/01 sind der Klägerin die Kosten aufzuerlegen, da diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist und die Kommission ebenfalls einen entsprechenden Antrag gestellt hat.
150 In den verbundenen Rechtssachen T-195/01 R und T-207/01 R sind der Klägerin die Kosten aufzuerlegen, da diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist und die Kommission einen entsprechenden Antrag gestellt hat.
151 Entgegen dem Antrag, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellt hat, ist Artikel 87 § 3 der Verfahrensordnung nicht anzuwenden, da der vorliegende Fall nicht als außergewöhnlich betrachtet werden kann und da die Kommission der Klägerin die ihr entstandenen Kosten nicht ohne angemessenen Grund oder böswillig verursacht hat.
152 Nach Artikel 87 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts trägt das Königreich Spanien in beiden Rechtssachen seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT
(Zweite erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. In der Rechtssache T-195/01:
a) Die Entscheidung SG (2001) D/289755 der Kommisison vom 11. Juli 2001 über die Eröffnung des Verfahrens gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG betreffend die Regelung Gibraltars über steuerbefreite Gesellschaften wird für nichtig erklärt;
b) die Kommission trägt die Kosten der Regierung von Gibraltar und ihre eigenen Kosten mit Ausnahme der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung in der Rechtssache T-195/01 R, die die Regierung von Gibraltar insgesamt trägt;
c) das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten.
2. In der Rechtssache T-207/01:
a) Die Klage wird abgewiesen;
b) die Regierung von Gibraltar trägt die Kosten der Kommission und ihre eigenen Kosten, einschließlich der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung in der Rechtssache T-207/01 R;
c) das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten.