URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

30. April 2025 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Asylpolitik – Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 12 Abs. 2 Buchst. b – Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling – Gründe – Begehen einer schweren nicht politischen Straftat außerhalb des Aufnahmelands vor der Aufnahme als Flüchtling – Auswirkung der Tatsache, dass die Strafe verbüßt wurde“

In der Rechtssache C‑63/24 [Galte] ( i )

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) mit Entscheidung vom 24. Januar 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Januar 2024, in dem Verfahren

K. L.

gegen

Migracijos departamentas prie Lietuvos Respublikos vidaus reikalų ministerijos

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richter S. Rodin und N. Piçarra, der Richterin O. Spineanu-Matei und des Richters N. Fenger,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der litauischen Regierung, vertreten durch V. Kazlauskaitė-Švenčionienė und E. Kurelaitytė als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard und O. Duprat-Mazaré als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und A. Hanje als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Blanc, M. Debieuvre und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) in Verbindung mit Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen K. L. und dem Migracijos departamentas prie Lietuvos Respublikos vidaus reikalų ministerijos (Amt für Migration beim Innenministerium der Republik Litauen, im Folgenden: Amt für Migration) über dessen Ablehnung, K. L. als Flüchtling anzuerkennen.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt und geändert (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention).

4

In Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention heißt es:

„Die Bestimmungen dieses Abkommens finden keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist,

b)

dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes begangen haben, bevor sie dort als Flüchtling aufgenommen wurden;

…“

5

Art. 33 dieses Abkommens bestimmt:

„(1)   Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.

(2)   Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

Unionsrecht

6

Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Die Genfer Flüchtlingskonvention … stell[t] einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.“

7

Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

b)

eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; insbesondere grausame Handlungen können als schwere nichtpolitische Straftaten eingestuft werden, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden;

…“

8

Art. 21 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten achten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen.“

Litauisches Recht

9

Art. 86 Abs. 1 des Lietuvos Respublikos įstatymas dėl užsieniečių teisinės padėties Nr. IX‑2206 (Gesetz Nr. IX‑2206 der Republik Litauen über die Rechtsstellung von Ausländern) vom 29. April 2004 (Žin., 2004, no 73‑2539) bestimmt in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung:

„Die Flüchtlingseigenschaft wird einem Asylbewerber zuerkannt, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung sich außerhalb des Staates befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Staates nicht in Anspruch nehmen kann oder sich davor fürchtet, ihn in Anspruch zu nehmen, oder die Staatsangehörigkeit keines ausländischen Staates besitzt, sich außerhalb des Staates seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet, und aus den oben genannten Gründen nicht dorthin zurückkehren kann oder sich davor fürchtet, dorthin zurückzukehren, sofern er nicht unter die in Art. 88 Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes vorgesehenen Ausschlussgründe fällt.“

10

Art. 88 Abs. 2 Nr. 3 dieses Gesetzes lautet:

„Einem Asylbewerber, der die in Art. 86 Abs. 1 dieses Gesetzes genannten Kriterien erfüllt, wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er vor seiner Einreise in die Republik Litauen eine schwere nichtpolitische Straftat begangen hat (insbesondere grausame Handlungen können als schwere nichtpolitische Straftaten eingestuft werden, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden) oder sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, oder zu solchen Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich anderweitig daran beteiligt hat.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11

Am 17. Februar 2022 beantragte der Drittstaatsangehörige K. L., nachdem er die Grenze zwischen Belarus und Litauen illegal überquert hatte, Asyl und Erteilung eines vorübergehenden Aufenthaltstitels in diesem Mitgliedstaat. Er gab an, von den Behörden seines Herkunftslands dreimal zu Unrecht verurteilt worden zu sein; wahrer Grund für seine Verurteilungen sei seine Tätigkeit für die politische Opposition. Er habe sein Herkunftsland verlassen, weil die dortigen Strafverfolgungsbehörden andere Personen verhört hätten, was er als Hinweis darauf gewertet habe, dass gegen ihn wegen der Verbreitung politischer Informationen und der Organisation von Kundgebungen ein weiteres Strafverfahren vorbereitet werde.

12

Das Amt für Migration war der Auffassung, dass K. L. in Litauen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden könne. Da der Betroffene öffentlich Kritik an den Behörden seines Herkunftslands geäußert habe, sei es wahrscheinlich, dass er dort verfolgt werde. Mit seiner Verhaftung in diesem Land und einer strafrechtlichen Verfolgung aufgrund seiner Veröffentlichungen in den sozialen Netzwerken sei zu rechnen.

13

Aufgrund der in der Vergangenheit gegen K. L. geführten Strafverfahren und der Höhe der verhängten Strafen ging das Amt für Migration jedoch davon aus, dass er Straftaten begangen habe, die als „schwere nichtpolitische Straftaten“ im Sinne von Art. 88 Abs. 2 Nr. 3 des Gesetzes Nr. IX‑2206 der Republik Litauen über die Rechtsstellung von Ausländern in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung begangen habe.

14

Infolgedessen wies das Amt für Migration den von K. L. gestellten Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 16. Januar 2023 zurück, erteilte ihm jedoch wegen des Verbots seiner Abschiebung in sein Herkunftsland, in dem er möglicherweise wegen seiner politischen Überzeugungen verfolgt werde, einen befristeten Aufenthaltstitel.

15

Mit Urteil vom 30. März 2023 wies der Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen) die von K. L. gegen diesen Bescheid erhobene Klage ab. Der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens), das vorlegende Gericht, ist mit dem Rechtsmittel befasst, das K. L. gegen dieses Urteil eingelegt hat.

16

Vor diesem Gericht macht K. L. geltend, er habe die Strafe, zu der er wegen der Straftat verurteilt worden sei und aufgrund deren das Amt für Migration ihm die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verweigert habe, bereits verbüßt. Unter Hinweis auf Veröffentlichungen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) führt er aus, dass daher die in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 enthaltene Klausel für den Ausschluss der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr anwendbar sei.

17

Nach Ansicht des Amts für Migration enthalten weder die Richtlinie 2011/95 noch die litauischen Rechtsvorschriften eine genaue Definition des Begriffs „schwere nichtpolitische Straftat“. Deshalb habe es sich für die Einstufung einer der vom Betroffenen begangenen Straftaten als „schwere nichtpolitische Straftat“ zum einen auf den „EASO-Praxisleitfaden zum Ausschluss wegen schwerer (nichtpolitischer) Straftaten“ des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) von Oktober 2021 und zum anderen auf S. 35 des „EASO-Praxisleitfadens: Ausschluss“ von Januar 2017 gestützt und festgestellt, dass die zuständige Behörde, wenn die internationalen Schutz beantragende Person ihre Strafe verbüßt habe, in Bezug auf die Anwendung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 über ein Ermessen verfüge.

18

Dem vorlegenden Gericht zufolge ist die Auswirkung eines solchen Umstands in den Urteilen des Gerichtshofs vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661), sowie vom 13. September 2018, Ahmed (C‑369/17, EU:C:2018:713), die die Reichweite von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 präzisierten, bisher ebenso wenig erläutert worden wie in den EASO-Praxisleitfäden. Das Dokument „Ausschluss: Artikel 12 und 17 Anerkennungsrichtlinie [2011/95/EU]“ von Januar 2016 nehme hierzu nicht Stellung und der „EASO-Praxisleitfaden zum Ausschluss wegen schwerer (nichtpolitischer) Straftaten“ von Oktober 2021 enthalte keine abschließende Liste der Kriterien zur Bestimmung einer schweren Straftat.

19

Zudem fragt sich das vorlegende Gericht, nach dessen Auffassung die Vollstreckung der verhängten Strafe naturgemäß nicht im Zusammenhang mit der Schwere der von der internationalen Schutz beantragenden Person begangenen Straftat oder ihrer individuellen Verantwortung steht, welche Auswirkung dieser Umstand angesichts von Nr. 157 des Dokuments HCR/1P/4/FRE/REV.4 „Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ des UNHCR von Februar 2019 sowie von S. 35 des EASO-Dokuments „Praxisleitfaden: Ausschluss“ von Januar 2017 auf die Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 hat. Aus diesen Dokumenten ergebe sich, dass die Tatsache, dass die internationalen Schutz beantragende Person ihre Strafe bereits verbüßt habe, begnadigt worden sei oder ihr Amnestie gewährt worden sei, für die Anwendung dieser Bestimmung relevant sein könne.

20

Im Übrigen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach Art. 18 der Charta das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention sowie des EU-Vertrags und des AEU-Vertrags gewährleistet wird. Der Gerichtshof habe in Rn. 50 des Urteils vom 2. Mai 2018, K. und H. F. (Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen) (C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296), entschieden, dass die in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention und in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Gründe für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling mit dem Ziel geschaffen worden seien, von dieser Anerkennung Personen auszuschließen, die als des damit verbundenen Schutzes unwürdig angesehen würden.

21

Eine Verpflichtung dahin, für die Anwendung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie die Vollstreckung einer verhängten Strafe, eine Begnadigung oder die Gewährung einer Amnestie zu berücksichtigen, könne einem solchen Ziel zuwiderlaufen. Diese Berücksichtigung könne dazu führen, dass die Beurteilung der Schwere einer Straftat oder der individuellen Verantwortung Asylsuchender zweitrangig würde.

22

Ausschlussgründe seien als Ausnahmen von oder Grenzen für die Anwendung humanitärer Standards besonders vorsichtig auszulegen. Insoweit belege Punkt 18 des Dokuments EC/47/SC/CRP.29 des Exekutivausschusses des UNHCR vom 30. Mai 1997 („Note on the Exclusion Clauses“ [Note zu den Ausschlussklauseln]), dass es einer Abwägung bedürfe zwischen der begangenen Straftat und dem Ausmaß der Verfolgung, der der Betroffene im Herkunftsstaat voraussichtlich ausgesetzt sei. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wird dieser Anforderung genügt, solange der Grundsatz der Nichtzurückweisung zugunsten des Asylsuchenden garantiert wird, selbst wenn ihm – wie im vorliegenden Fall – kein Asyl gewährt wird.

23

Unter diesen Umständen hat der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 18 der Charta dahin auszulegen, dass bei der Beurteilung der Frage, ob die Handlungen einer Person, die im Übrigen die Kriterien für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt, unter die in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b genannten Gründe für den Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling fallen, die Verpflichtung besteht, die von dieser Person bereits verbüßte Strafe, die ihr gewährte Begnadigung oder Amnestie oder andere vergleichbare Umstände zu berücksichtigen?

Zur Vorlagefrage

24

Vorab ist festzustellen, dass – wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht – der internationalen Schutz begehrende Antragsteller, um den es im Ausgangsverfahren geht, vorträgt, er habe die Strafe verbüßt, die für die Straftat gegen ihn verhängt wurde, derentwegen ihm das Amt für Migration die Flüchtlingseigenschaft verweigert. In den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ist weder von Begnadigung noch von Amnestie die Rede.

25

Für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit bedarf es also in Bezug auf diese Umstände keiner Beantwortung der Vorlagefrage durch den Gerichtshof.

26

Somit möchte das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen, ob Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 18 der Charta dahin auszulegen ist, dass bei der Beurteilung der Frage, ob die Handlungen einer internationalen Schutz beantragenden Person, die im Übrigen die Kriterien für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, unter den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grund für den Ausschluss dieser Anerkennung fallen, die Behörden und gegebenenfalls die zuständigen Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats die Tatsache berücksichtigen müssen, dass diese Person die gegen sie wegen der von ihr begangenen Straftaten verhängte Strafe bereits verbüßt hat.

27

Gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er eine schwere nicht politische Straftat außerhalb des Aufnahmelands begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde.

28

Nach ständiger Rechtsprechung folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die – wie Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 – für die Ermittlung ihrer Bedeutung und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Besonders schwere Straftat], C‑402/22, EU:C:2023:543 Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Da weder in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 noch in einer anderen Bestimmung dieser Richtlinie der Ausdruck „schwere Straftat“ definiert wird, ist dieser entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen, wobei der Kontext, in dem er verwendet wird, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Besonders schwere Straftat], C‑402/22, EU:C:2023:543 Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Als Erstes sollen gemäß dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 mit dem dort genannten Ausschlussgrund Handlungen geahndet werden, die in der Vergangenheit begangen wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 103).

31

Nach dem gewöhnlichen Sinn der verwendeten Formulierung verweist das Wort „Straftat“ zwar auf in der Vergangenheit – nämlich zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat – verankerte tatsächliche Umstände, doch durch das Attribut „schwere“ tritt ergänzend ein Beurteilungskriterium hinzu, das sich im Laufe der Zeit ändern kann. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass die Beurteilung der Schwere einer Straftat zum Zeitpunkt ihrer Begehung anders ausfällt als zum Zeitpunkt der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz.

32

Was als Zweites die systematische Auslegung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 18 der Charta das Recht auf Asyl nach Maßgabe u. a. der Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet wird.

33

Dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 zufolge stellt die Genfer Flüchtlingskonvention einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar. Die Bestimmungen dieser Richtlinie sind daher nicht nur im Licht der allgemeinen Systematik der Richtlinie, sondern auch unter Beachtung dieses Abkommens auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Februar 2024, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl [Späterer Religionswechsel], C‑222/22, EU:C:2024:192, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

In diesem Zusammenhang sind die vom UNHCR herausgegebenen Dokumente angesichts der ihm durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragenen Rolle besonders relevant (Urteil vom 16. Januar 2024, Intervyuirasht organ na DAB pri MS [Frauen als Opfer häuslicher Gewalt], C‑621/21, EU:C:2024:47, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Zu Art. 1 Abschnitt F Buchst. b des Abkommens, dessen Wortlaut dem von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 entspricht, heißt es in Nr. 157 des Dokuments HCR/1P/4/FRE/REV.4 „Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ des UNHCR von Februar 2019, dass „[b]ei der Beurteilung eines solchen Verbrechens … auch die Tatsache [relevant ist], dass ein wegen eines schwerwiegenden nichtpolitischen Vergehens verurteilter Antragsteller seine Strafe verbüßt hat, dass er begnadigt oder dass ihm Amnestie gewährt wurde“.

36

Als Drittes besteht der den Ausschlussgründen der Richtlinie 2011/95 zugrunde liegenden Zweck darin, die Glaubwürdigkeit des durch die Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Schutzsystems zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 115).

37

Insoweit verfolgt erstens Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie sowohl das Ziel, von der Anerkennung als Flüchtling Personen auszuschließen, die als des damit verbundenen Schutzes unwürdig angesehen werden, als auch zu verhindern, dass diese Anerkennung es den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermöglicht, sich einer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Die Berücksichtigung des Umstands, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, die Strafe verbüßt hat, zu der sie wegen von ihr begangener Handlungen verurteilt wurde, verstößt nicht gegen diese beiden Zielsetzungen. Zum einen kann der Ausschluss einer Person von der Anerkennung als Flüchtling, wenn diese die gegen sie wegen der in Rede stehenden Straftat verhängte Strafe bereits verbüßt hat, nicht durch das Ziel gerechtfertigt werden, zu vermeiden, dass sie sich der strafrechtlichen Verantwortung für diese Straftat entzieht. Zum anderen darf in Bezug auf das Ziel, Personen von der Anerkennung als Flüchtlinge auszuschließen, die als des damit verbundenen Schutzes unwürdig angesehen werden, die Begehung schwerwiegender Handlungen in einem bestimmten Zeitpunkt des Lebens einer Person nicht zwangsläufig dazu führen, dass diese Person für immer der Gewährung internationalen Schutzes unwürdig wird, ohne etwa deren mögliche Rehabilitierung zu berücksichtigen.

39

Zweitens hängt der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling aus dem in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grund mit der Schwere der begangenen Handlungen zusammen, die von einem solchen Grad sein muss, dass die betreffende Person nicht in berechtigter Weise Anspruch auf den Schutz erheben kann, der mit der Flüchtlingseigenschaft verbunden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 108).

40

Nach ständiger Rechtsprechung darf sich die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats auf den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Ausschlussgrund erst berufen, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betroffenen, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt, unter diesen Ausschlussgrund fallen, wobei die Beurteilung der Schwere der fraglichen Straftat eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls erfordert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Besonders schwere Straftat], C‑402/22, EU:C:2023:543 Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Daher darf die Entscheidung, eine Person von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen, nicht automatisch erlassen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 91 und 93, sowie vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 49).

42

Insoweit steht der Umstand, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 weder voraussetzt, dass von der betreffenden Person eine gegenwärtige Gefahr für den Aufnahmemitgliedstaat ausgeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), noch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt, die eine erneute Beurteilung des Schweregrads der begangenen Handlungen einschließt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 109), dem nicht entgegen, dass bei der Beurteilung, ob die betreffende Person unter diesen Ausschlussgrund fällt, die Tatsache berücksichtigt wird, dass sie ihre Strafe verbüßt hat.

43

Demnach ist die Tatsache, dass die internationalen Schutz beantragende Person ihre Strafe verbüßt hat, ein Aspekt, den die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bei der Prüfung sämtlicher besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zwingend zu berücksichtigen hat.

44

Im Übrigen steht dieser Umstand als solcher – wie im Wesentlichen von der litauischen, der französischen und der niederländischen Regierung sowie der Europäischen Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt – der Anwendung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 keineswegs entgegen.

45

Die Tatsache, dass die internationalen Schutz beantragende Person ihre Strafe verbüßt hat, ist nämlich nur einer von mehreren Umständen, die bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen sind, ob diese Person unter den in dieser Vorschrift genannten Ausschlussgrund fällt. Die zuständige Behörde wird bei der Beurteilung der Schwere der fraglichen Straftat u. a. die Art der in Rede stehenden Handlung, die angedrohte und verhängte Strafe, die seit dem strafbaren Verhalten vergangene Zeit, das Verhalten des Betroffenen während dieser Zeit und die von ihm gegebenenfalls gezeigte Reue zu prüfen haben.

46

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass der Ausschluss einer Person von der Anerkennung als Flüchtling gemäß Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 keine Stellungnahme zu der gesonderten Frage impliziert, ob diese Person in ihr Herkunftsland abgeschoben werden darf (vgl. Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 110).

47

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 18 der Charta dahin auszulegen ist, dass bei der Beurteilung der Frage, ob die Handlungen einer internationalen Schutz beantragenden Person, die im Übrigen die Kriterien für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, unter den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grund für den Ausschluss dieser Anerkennung fallen, die Behörden und gegebenenfalls die zuständigen Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats die Tatsache berücksichtigen müssen, dass diese Person die gegen sie wegen der von ihr begangenen Straftaten verhängte Strafe bereits verbüßt hat, ohne dass dieser Umstand aber für sich genommen dem Ausschluss des Antragstellers von der Anerkennung als Flüchtling nach dieser Bestimmung entgegensteht.

Kosten

48

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes in Verbindung mit Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

 

ist dahin auszulegen, dass

 

bei der Beurteilung der Frage, ob die Handlungen einer internationalen Schutz beantragenden Person, die im Übrigen die Kriterien für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, unter den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grund für den Ausschluss dieser Anerkennung fallen, die Behörden und gegebenenfalls die zuständigen Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats die Tatsache berücksichtigen müssen, dass diese Person die gegen sie wegen der von ihr begangenen Straftaten verhängte Strafe bereits verbüßt hat, ohne dass dieser Umstand aber für sich genommen dem Ausschluss des Antragstellers von der Anerkennung als Flüchtling nach dieser Bestimmung entgegensteht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.

( i ) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.