URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
4. Oktober 2024 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten – Richtlinie (EU) 2016/680 – Art. 3 Nr. 2 – Begriff ‚Verarbeitung‘ – Art. 4 – Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten – Art. 4 Abs. 1 Buchst. c – Grundsatz der ‚Datenminimierung‘ – Art. 7, 8 und 47 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Erfordernis, dass eine Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts ‚gesetzlich vorgesehen‘ sein muss – Verhältnismäßigkeit – Beurteilung der Verhältnismäßigkeit anhand aller relevanten Gesichtspunkte – Vorherige Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde – Art. 13 – Der betroffenen Person zur Verfügung zu stellende oder zu erteilende Informationen – Grenzen – Art. 54 – Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter – Polizeiliche Ermittlungen im Bereich des Handels mit Suchtmitteln – Versuch der Polizeibehörden, ein Mobiltelefon zu entsperren, um für die Zwecke dieser Ermittlungen Zugang zu den darauf gespeicherten Daten zu erlangen“
In der Rechtssache C‑548/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Tirol (Österreich) mit Entscheidung vom 1. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 6. September 2021, in dem Verfahren
CG
gegen
Bezirkshauptmannschaft Landeck
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, T. von Danwitz und Z. Csehi, der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei sowie der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Januar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll, K. Ibili und E. Riedl als Bevollmächtigte, |
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der dänischen Regierung, vertreten durch M. P. B. Jespersen, V. Pasternak Jørgensen, M. Søndahl Wolff und Y. T. Thyregod Kollberg als Bevollmächtigte, |
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der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und M. Hellmann als Bevollmächtigte, |
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der estnischen Regierung, vertreten durch M. Kriisa als Bevollmächtigte, |
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Irlands, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, A. Joyce und M. Lane als Bevollmächtigte im Beistand von R. Farrell, SC, D. Fennelly, BL, und D. O’Reilly, Solicitor, |
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der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A. Daniel, A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte, |
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der zyprischen Regierung, vertreten durch I. Neophytou als Bevollmächtigte, |
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der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte, |
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der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und J. Langer als Bevollmächtigte, |
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der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, |
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der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine als Bevollmächtigte, |
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der schwedischen Regierung, vertreten durch J. Lundberg, H. Eklinder, C. Meyer-Seitz, A. M. Runeskjöld, M. Salborn Hodgson, R. Shahsavan Eriksson, H. Shev und O. Simonsson als Bevollmächtigte, |
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der norwegischen Regierung, vertreten durch F. Bergsjø, H. Busch, K. Moe Winther und P. Wennerås als Bevollmächtigte, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, S. L. Kalėda, H. Kranenborg und F. Wilman als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. April 2023
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 (ABl. 2009, L 337, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2002/58) im Licht der Art. 7, 8, 11, 41 und 47 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen CG und der Bezirkshauptmannschaft Landeck (Österreich) über die Sicherstellung des Mobiltelefons von CG durch die Polizeibehörden und deren Versuche, im Rahmen von Ermittlungen im Bereich des Handels mit Suchtmitteln dieses Telefon zu entsperren, um Zugang zu den darauf gespeicherten Daten zu erlangen. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2002/58
3 |
Art. 1 („Geltungsbereich und Zielsetzung“) der Richtlinie 2002/58 bestimmt: „(1) Diese Richtlinie sieht die Harmonisierung der Vorschriften der Mitgliedstaaten vor, die erforderlich sind, um einen gleichwertigen Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten, insbesondere des Rechts auf Privatsphäre und Vertraulichkeit, in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten im Bereich der elektronischen Kommunikation sowie den freien Verkehr dieser Daten und von elektronischen Kommunikationsgeräten und ‑diensten in der Gemeinschaft zu gewährleisten. … (3) Diese Richtlinie gilt nicht für Tätigkeiten, die nicht in den Anwendungsbereich des [AEU-Vertrags] fallen, beispielsweise Tätigkeiten gemäß den Titeln V und VI des [EU-Vertrags], und auf keinen Fall für Tätigkeiten betreffend die öffentliche Sicherheit, die Landesverteidigung, die Sicherheit des Staates (einschließlich seines wirtschaftlichen Wohls, wenn die Tätigkeit die Sicherheit des Staates berührt) und die Tätigkeiten des Staates im strafrechtlichen Bereich.“ |
4 |
Art. 3 („Betroffene Dienste“) der Richtlinie 2002/58 lautet: „Diese Richtlinie gilt für die Verarbeitung personenbezogener Daten in Verbindung mit der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste in öffentlichen Kommunikationsnetzen in der Gemeinschaft, einschließlich öffentlicher Kommunikationsnetze, die Datenerfassungs- und Identifizierungsgeräte unterstützen.“ |
5 |
Art. 5 („Vertraulichkeit der Kommunikation“) der Richtlinie 2002/58 bestimmt in Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten stellen die Vertraulichkeit der mit öffentlichen Kommunikationsnetzen und öffentlich zugänglichen Kommunikationsdiensten übertragenen Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch innerstaatliche Vorschriften sicher. Insbesondere untersagen sie das Mithören, Abhören und Speichern sowie andere Arten des Abfangens oder Überwachens von Nachrichten und der damit verbundenen Verkehrsdaten durch andere Personen als die Nutzer, wenn keine Einwilligung der betroffenen Nutzer vorliegt, es sei denn, dass diese Personen gemäß Artikel 15 Absatz 1 gesetzlich dazu ermächtigt sind. Diese Bestimmung steht – unbeschadet des Grundsatzes der Vertraulichkeit – der für die Weiterleitung einer Nachricht erforderlichen technischen Speicherung nicht entgegen.“ |
6 |
Art. 15 („Anwendung einzelner Bestimmungen der Richtlinie 95/46/EG“) der Richtlinie 2002/58 sieht in Abs. 1 vor: „Die Mitgliedstaaten können Rechtsvorschriften erlassen, die die Rechte und Pflichten gemäß Artikel 5, Artikel 6, Artikel 8 Absätze 1, 2, 3 und 4 sowie Artikel 9 dieser Richtlinie beschränken, sofern eine solche Beschränkung gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Richtlinie 95/46/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31)] für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten unter anderem durch Rechtsvorschriften vorsehen, dass Daten aus den in diesem Absatz aufgeführten Gründen während einer begrenzten Zeit aufbewahrt werden. Alle in diesem Absatz genannten Maßnahmen müssen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einschließlich den in Artikel 6 Absätze 1 und 2 [EUV] niedergelegten Grundsätzen entsprechen.“ |
Richtlinie (EU) 2016/680
7 |
In den Erwägungsgründen 2, 4, 7, 10, 11, 15, 26, 37, 44, 46 und 104 der Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI des Rates (ABl. 2016, L 119, S. 89, berichtigt in ABl. 2021, L 74, S. 36) heißt es:
…
…
…
…
…
…
…
…
…
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8 |
Art. 1 („Gegenstand und Ziele“) der Richtlinie 2016/680 sieht in den Abs. 1 und 2 vor: „(1) Diese Richtlinie enthält Bestimmungen zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit. (2) Gemäß dieser Richtlinie haben die Mitgliedstaaten
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9 |
Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt in den Abs. 1 und 3: „(1) Diese Richtlinie gilt für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken. … (3) Diese Richtlinie findet keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten
…“ |
10 |
In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2016/680 heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
…“ |
11 |
Art. 4 („Grundsätze in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt in Abs. 1: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass personenbezogene Daten
…“ |
12 |
Art. 6 („Unterscheidung verschiedener Kategorien betroffener Personen“) der Richtlinie 2016/680 lautet: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass der Verantwortliche gegebenenfalls und so weit wie möglich zwischen den personenbezogenen Daten verschiedener Kategorien betroffener Personen klar unterscheidet, darunter:
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13 |
Art. 10 („Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten“) der Richtlinie 2016/680 lautet: „Die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von genetischen Daten, biometrischen Daten zur eindeutigen Identifizierung einer natürlichen Person, Gesundheitsdaten oder Daten zum Sexualleben oder [zur] sexuellen Orientierung ist nur dann erlaubt, wenn sie unbedingt erforderlich ist und vorbehaltlich geeigneter Garantien für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Person erfolgt und
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14 |
Art. 13 („Der betroffenen Person zur Verfügung zu stellende oder zu erteilende Informationen“) der Richtlinie 2016/680 bestimmt: „(1) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass der Verantwortliche der betroffenen Person zumindest die folgenden Informationen zur Verfügung stellt:
(2) Zusätzlich zu den in Absatz 1 genannten Informationen sehen die Mitgliedstaaten durch Rechtsvorschriften vor, dass der Verantwortliche der betroffenen Person in besonderen Fällen die folgenden zusätzlichen Informationen erteilt, um die Ausübung der Rechte der betroffenen Person zu ermöglichen:
(3) Die Mitgliedstaaten können Gesetzgebungsmaßnahmen erlassen, nach denen die Unterrichtung der betroffenen Person gemäß Absatz 2 soweit und so lange aufgeschoben, eingeschränkt oder unterlassen werden kann, wie diese Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich und verhältnismäßig ist und sofern den Grundrechten und den berechtigten Interessen der betroffenen natürlichen Person Rechnung getragen wird:
…“ |
15 |
Art. 54 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter“) der Richtlinie 2016/680 lautet: „Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass jede betroffene Person unbeschadet eines verfügbaren verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs einschließlich des Rechts auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde gemäß Artikel 52 das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf hat, wenn sie der Ansicht ist, dass die Rechte, die ihr aufgrund von nach dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zustehen, infolge einer nicht mit diesen Vorschriften im Einklang stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden.“ |
Österreichisches Recht
16 |
§ 27 Abs. 1 des Suchtmittelgesetzes vom 5. September 1997 (BGBl. I 112/1997) bestimmt in seiner im Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung: „Wer vorschriftswidrig
… ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen. …“ |
17 |
§ 17 des Strafgesetzbuchs vom 1. Januar 1975 (BGBl. 60/1974) in seiner im Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: StGB) bestimmt: „(1) Verbrechen sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind. (2) Alle anderen strafbaren Handlungen sind Vergehen.“ |
18 |
§ 18 der Strafprozessordnung vom 30. Dezember 1975 (BGBl. 631/1975) in seiner im Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: StPO) sieht vor: „(1) Kriminalpolizei besteht in der Wahrnehmung von Aufgaben im Dienste der Strafrechtspflege (Art. 10 Abs. 1 Z 6 [Bundes-Verfassungsgesetz]). (2) Kriminalpolizei obliegt den Sicherheitsbehörden, deren Organisation und örtliche Zuständigkeit sich nach den Vorschriften des Sicherheitspolizeigesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung richten. (3) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (§ 5 Abs. 2 [Sicherheitspolizeigesetz]) versehen den kriminalpolizeilichen Exekutivdienst, der in der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten nach den Bestimmungen dieses Gesetzes besteht. …“ |
19 |
§ 99 Abs. 1 StPO lautet: „Die Kriminalpolizei ermittelt von Amts wegen oder auf Grund einer Anzeige; Anordnungen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts (§ 105 Abs. 2) hat sie zu befolgen.“ |
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 |
Am 23. Februar 2021 beschlagnahmten Beamte des Zollamts Innsbruck (Österreich) im Zuge einer Suchtmittelkontrolle ein an CG adressiertes Paket, in dem sich 85 g Cannabiskraut befanden. Das Paket wurde sodann der Polizeiinspektion St. Anton am Arlberg (Österreich) zur Prüfung übermittelt. |
21 |
Am 6. März 2021 nahmen zwei Polizeibeamte dieser Dienststelle eine Durchsuchung der Wohnung von CG vor, in deren Verlauf sie ihn zum Absender des Pakets befragten und seinen Wohnbereich durchsuchten. Im Zuge dieser Durchsuchung verlangten die Polizeibeamten, ihnen Einsicht in die Verbindungsdaten des Mobiltelefons von CG zu gewähren. Da CG dies ablehnte, stellten die Polizeibeamten das Mobiltelefon, das eine SIM‑Karte und eine SD‑Karte enthielt, sicher und übergaben CG ein Sicherstellungsprotokoll. |
22 |
In der Folge wurde das Mobiltelefon einem sachkundigen Beamten des Bezirkspolizeikommandos Landeck (Österreich) zur Entsperrung übergeben. Da es diesem nicht gelang, das Mobiltelefon zu entsperren, wurde es an das Bundeskriminalamt in Wien (Österreich) übermittelt, wo abermals versucht wurde, es zu entsperren. |
23 |
Die Sicherstellung des Mobiltelefons von CG sowie die späteren Versuche seiner Auswertung erfolgten aus eigener Initiative der betreffenden Polizeibeamten, ohne dass sie von der Staatsanwaltschaft oder einem Richter dazu ermächtigt worden waren. |
24 |
Am 31. März 2021 erhob CG beim Landesverwaltungsgericht Tirol (Österreich), dem vorlegenden Gericht, Beschwerde gegen die Sicherstellung seines Mobiltelefons. Dieses wurde CG am 20. April 2021 zurückgegeben. |
25 |
CG wurde nicht unverzüglich über die Versuche der Auswertung seines Mobiltelefons informiert. Er erlangte davon erst Kenntnis, als der Polizeibeamte, der das Mobiltelefon sichergestellt und in der Folge Schritte zur Auswertung der digitalen Daten unternommen hatte, im Rahmen des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens als Zeuge vernommen wurde. Die Versuche wurden auch nicht im kriminalpolizeilichen Akt dokumentiert. |
26 |
In Anbetracht dessen möchte das vorlegende Gericht erstens wissen, ob angesichts der Rn. 52 bis 61 des Urteils vom 2. Oktober 2018, Ministerio Fiscal (C‑207/16, EU:C:2018:788), und der in diesen Randnummern angeführten Rechtsprechung Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 im Licht der Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen ist, dass ein umfassender und unkontrollierter Zugang zu allen auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten (Verbindungsdaten, Kommunikationsinhalte, Fotos und Browserverläufe), die ein sehr detailliertes und tiefgehendes Bild fast aller Bereiche des Privatlebens der betroffenen Person liefern können, einen Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte darstellt, der so schwer ist, dass dieser Zugang im Bereich der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten auf die Bekämpfung schwerer Straftaten beschränkt werden muss. |
27 |
Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, das CG im Rahmen des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden strafgerichtlichen Ermittlungsverfahrens zur Last gelegte Delikt sei durch § 27 Abs. 1 des Suchtmittelgesetzes mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht und stelle nach der Unterteilung in § 17 StGB nur ein Vergehen dar. |
28 |
Zweitens wirft das vorlegende Gericht nach einem Hinweis auf die Ausführungen in den Rn. 48 bis 54 des Urteils vom 2. März 2021, Prokuratuur (Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über die elektronische Kommunikation) (C‑746/18, EU:C:2021:152), und der in diesen Randnummern angeführten Rechtsprechung die Frage auf, ob Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 einer nationalen Regelung wie § 18 in Verbindung mit § 99 Abs. 1 StPO entgegensteht, wonach sich die Kriminalpolizei im Zuge eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ohne Genehmigung eines Gerichts oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle einen umfassenden und unkontrollierten Zugang zu allen auf einem Mobiltelefon gespeicherten digitalen Daten verschaffen kann. |
29 |
Drittens schließlich hebt das vorlegende Gericht hervor, dass § 18 in Verbindung mit § 99 Abs. 1 StPO keine Verpflichtung der Polizeibehörden vorsehe, Maßnahmen zur digitalen Auswertung eines Mobiltelefons zu dokumentieren oder dessen Eigentümer über solche Maßnahmen zu informieren, damit dieser ihnen gegebenenfalls mittels eines vorbeugenden oder nachträglichen gerichtlichen Rechtsbehelfs entgegentreten könne, und wirft die Frage der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen der StPO mit dem Grundsatz der Waffengleichheit und dem Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 der Charta auf. |
30 |
Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Tirol beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
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Verfahren vor dem Gerichtshof
31 |
Am 20. Oktober 2021 hat der Gerichtshof an das vorlegende Gericht ein Informationsersuchen gerichtet, mit dem er es aufgefordert hat, ihm mitzuteilen, ob es die Richtlinie 2016/680 im Ausgangsrechtsstreit für möglicherweise einschlägig hält, sowie bejahendenfalls den Inhalt der nationalen Bestimmungen zur Umsetzung dieser Richtlinie in österreichisches Recht darzulegen, die im vorliegenden Fall Anwendung finden könnten. |
32 |
Am 11. November 2021 hat das vorlegende Gericht auf dieses Ersuchen u. a. geantwortet, dass die Vorgaben der Richtlinie 2016/680 in dieser Rechtssache beachtlich seien. Seine Antwort ist den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten mit der Vorlageentscheidung zugestellt worden. |
33 |
Am 8. November 2022 hat der Gerichtshof gemäß Art. 61 seiner Verfahrensordnung die Teilnehmer an der mündlichen Verhandlung aufgefordert, ihre mündlichen Ausführungen auf die Richtlinie 2016/680 zu konzentrieren und in der mündlichen Verhandlung bestimmte diese Richtlinie betreffende Fragen zu beantworten. |
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
34 |
Nach der Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts hat die österreichische Regierung mit Schriftsatz, der am 17. Mai 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Berichtigung der Schlussanträge beantragt, weil darin die von ihr in ihren schriftlichen und mündlichen Ausführungen zum Ausdruck gebrachte Position nicht korrekt wiedergegeben werde und weil sie sachliche Fehler enthielten. |
35 |
Zum einen lege nämlich Nr. 50 der Schlussanträge des Generalanwalts in Verbindung mit deren Fn. 14 den Schluss nahe, dass die österreichische Regierung den Standpunkt vertreten habe, dass ein versuchter Zugriff auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 darstellen könne. Sie habe sich aber in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ausdrücklich dem von der Europäischen Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vertretenen Standpunkt angeschlossen, wonach sich aus einer systematischen Auslegung dieser Richtlinie im Licht ihrer Ziele ergebe, dass sie nicht nur die eigentlichen Verarbeitungen regele, sondern auch Vorgänge in ihrem Vorfeld wie den Versuch einer Verarbeitung, ohne dass die Anwendung der Richtlinie davon abhänge, ob dieser Versuch erfolgreich gewesen sei. |
36 |
Zum anderen beruhe Nr. 27 der Schlussanträge des Generalanwalts auf einem falschen Sachverhalt, da sie den Schluss nahelege, dass die oben in Rn. 22 erwähnten Verarbeitungsversuche in den Akten der Kriminalpolizei nicht dokumentiert worden seien. Entgegen den Angaben in Nr. 27 und im Vorabentscheidungsersuchen habe die österreichische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, dass die Verarbeitungsversuche in zwei Berichten der im Ausgangsverfahren mit den Ermittlungen betrauten Polizeibeamten dokumentiert worden seien und dass diese Berichte in der Folge in den Ermittlungsakt der Staatsanwaltschaft aufgenommen worden seien. |
37 |
Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Mai 2023 ist der Antrag der österreichischen Regierung auf Berichtigung der Schlussanträge des Generalanwalts in einen Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens im Sinne von Art. 83 der Verfahrensordnung umgedeutet worden. |
38 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen. Der Generalanwalt stellt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den Fragen, die dieser in seinen Schlussanträgen prüft, für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 14. März 2024, f6 Cigarettenfabrik, C‑336/22, EU:C:2024:226, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
39 |
Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof zwar jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist. |
40 |
Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch der Auffassung, dass er am Ende des schriftlichen Verfahrens und der mündlichen Verhandlung, die vor ihm stattgefunden hat, über alle Gesichtspunkte verfügt, die für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen erforderlich sind. Außerdem stellen die Gesichtspunkte, auf die die österreichische Regierung ihren Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens stützt, keine neuen Tatsachen von entscheidender Bedeutung für die vom Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zu treffende Entscheidung dar. |
41 |
Speziell zu den oben in Rn. 36 angeführten Sachverhaltselementen ist darauf hinzuweisen, dass es dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nicht obliegt, festzustellen, ob die behaupteten Tatsachen erwiesen sind, sondern nur, die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 36). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt das nationale Gericht die Fragen zur Auslegung des Unionsrechts nämlich in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2024, Bundesrepublik Deutschland [Wirkung einer Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑753/22, EU:C:2024:524, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
42 |
Der Gerichtshof hält deshalb nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens nicht für geboten. |
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
43 |
Mehrere Beteiligte, die im vorliegenden Verfahren schriftliche Erklärungen eingereicht haben, haben die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens insgesamt oder bestimmter Fragen des vorlegenden Gerichts in Zweifel gezogen. |
44 |
Erstens machen die österreichische, die französische und die schwedische Regierung geltend, die Vorlageentscheidung genüge nicht den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung, da sie nicht die tatsächlichen und rechtlichen Angaben enthalte, die erforderlich seien, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben. |
45 |
Zweitens trägt die österreichische Regierung zum einen vor, dass das vorlegende Gericht mit seiner zweiten und seiner dritten Vorlagefrage im Wesentlichen wissen möchte, ob § 18 in Verbindung mit § 99 StPO mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Da diese Bestimmungen jedoch nicht festlegten, unter welchen Voraussetzungen eine Auswertung sichergestellter Datenträger erfolgen dürfe, stünden diese Fragen in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits. Zum anderen sei nach österreichischem Recht eine Anordnung der Staatsanwaltschaft erforderlich, um ein Mobiltelefon sicherzustellen oder um zu versuchen, Zugang zu auf diesem Telefon gespeicherten Daten zu erlangen. Das vorlegende Gericht müsse daher einen Verstoß gegen österreichisches Recht feststellen, so dass die von ihm vorgelegten Fragen für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erforderlich seien und somit über das Vorabentscheidungsersuchen nicht zu entscheiden sei. |
46 |
Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
47 |
Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
48 |
Erstens ist hinsichtlich des Arguments, dass die in Art. 94 der Verfahrensordnung vorgesehenen Anforderungen nicht erfüllt worden seien, darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung, die nunmehr in Art. 94 Buchst. a und b zum Ausdruck kommt, die Notwendigkeit, zu einer dem nationalen Gericht dienlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen, es erforderlich macht, dass dieses Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen die Fragen beruhen. Zudem ist es nach Art. 94 Buchst. c unerlässlich, dass das Vorabentscheidungsersuchen eine Darstellung der Gründe enthält, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang angibt, den es zwischen diesen Vorschriften und der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Regelung herstellt (Urteil vom 21. Dezember 2023, European Superleague Company, C‑333/21, EU:C:2023:1011, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
49 |
Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen zum tatsächlichen Rahmen ausgeführt, dass die österreichischen Polizeibehörden, nachdem sie das Mobiltelefon von CG im Rahmen polizeilicher Ermittlungen im Bereich des Handels mit Suchtmitteln sichergestellt hätten, zweimal versucht hätten, aus eigener Initiative Zugang zu den auf diesem Telefon gespeicherten Daten zu erlangen, ohne hierfür über eine vorherige Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder eines Gerichts zu verfügen. Es hat hinzugefügt, CG habe von den Versuchen, Zugang zu den auf seinem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, erst durch die Zeugenaussage eines Polizeibeamten Kenntnis erlangt. Schließlich seien diese Zugangsversuche auch nicht im Akt der Kriminalpolizei dokumentiert worden. |
50 |
Zum rechtlichen Rahmen hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass die von ihm in der Vorlageentscheidung angeführten nationalen Vorschriften einen Versuch des Zugangs zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten gestatteten, ohne diese Möglichkeit allein auf die Zwecke der Bekämpfung schwerer Kriminalität zu beschränken, ohne diesen Zugangsversuch einer vorherigen Kontrolle durch einen Richter oder eine unabhängige Verwaltungsstelle zu unterwerfen und ohne vorzusehen, dass die Betroffenen über diesen Versuch informiert würden, damit sie sich ihm insbesondere durch Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs widersetzen könnten. |
51 |
Außerdem hat das vorlegende Gericht, wie sich aus den Rn. 26 bis 29 des vorliegenden Urteils ergibt, die Gründe erläutert, aus denen es dem Gerichtshof sein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hat, und den Zusammenhang angegeben, der seiner Ansicht nach zwischen den Bestimmungen des Unionsrechts und der Charta, auf die sich sein Ersuchen bezieht, und den seines Erachtens auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Bestimmungen des österreichischen Rechts besteht. |
52 |
Die in den Rn. 49 bis 51 genannten Gesichtspunkte lassen somit den Schluss zu, dass das Vorabentscheidungsersuchen den Anforderungen von Art. 94 der Verfahrensordnung genügt. |
53 |
Zweitens ist hinsichtlich des Vorbringens, die in der zweiten und der dritten Vorlagefrage genannten Bestimmungen des österreichischen Rechts seien nicht einschlägig, und das vorlegende Gericht hätte einen Verstoß gegen österreichisches Recht feststellen müssen, darauf hinzuweisen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, sich zur Auslegung nationaler Vorschriften zu äußern und zu entscheiden, ob ihre Auslegung oder Anwendung durch das nationale Gericht richtig ist, da eine solche Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt (Urteil vom 15. Juni 2023, Getin Noble Bank [Aussetzung der Durchführung eines Darlehensvertrags], C‑287/22, EU:C:2023:491, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
54 |
Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen und insbesondere aus dem Wortlaut der Vorlagefragen hervor, dass nach Ansicht des vorlegenden Gerichts zum einen diese Bestimmungen des österreichischen Rechts auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar sind und zum anderen der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Versuch, ohne vorherige Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder eines Richters Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, nach österreichischem Recht zulässig ist. Nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung ist es nicht Sache des Gerichtshofs, sich zu einer solchen Auslegung dieser Bestimmungen zu äußern. |
55 |
Folglich sind die Fragen des vorlegenden Gerichts zulässig. |
Zur Beantwortung der Vorlagefragen
56 |
Die österreichische Regierung macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, der Gerichtshof sei nicht für die Beantwortung der ersten und der zweiten Vorlagefrage zuständig, da diese Fragen die Auslegung von Art. 5 und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 beträfen, obwohl diese Richtlinie im Ausgangsrechtsstreit offensichtlich nicht anwendbar sei. In der mündlichen Verhandlung haben mehrere Regierungen vorgetragen, dass eine Umformulierung der Vorlagefragen unter Bezugnahme auf die Richtlinie 2016/680 nicht möglich sei. Die österreichische Regierung hat insbesondere hervorgehoben, dass der Umstand, dass die Richtlinie 2016/680 keine Art. 5 und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 entsprechenden Bestimmungen enthalte, dieser Umformulierung entgegenstehe. Die französische Regierung hat vorgetragen, die Befugnis zur Umformulierung der Vorlagefragen finde eine ihrer Grenzen im Recht der Mitgliedstaaten zur Abgabe schriftlicher Erklärungen. Diesem Recht würde nämlich jede Wirksamkeit genommen, wenn der rechtliche Rahmen des Verfahrens bei der Umformulierung der Vorlagefragen durch den Gerichtshof grundlegend geändert werden könnte. |
57 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, gestützt insbesondere auf Art. 1 Abs. 1 und 3 und Art. 3 der Richtlinie 2002/58, entschieden hat, dass dann, wenn die Mitgliedstaaten unmittelbar Maßnahmen umsetzen, mit denen von der Vertraulichkeit elektronischer Kommunikationen abgewichen wird, ohne den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste Verarbeitungspflichten aufzuerlegen, der Schutz der Daten der betroffenen Personen nicht unter die Richtlinie 2002/58 fällt, sondern allein unter das nationale Recht, vorbehaltlich der Anwendung der Richtlinie 2016/680 (Urteile vom 6. Oktober 2020, Privacy International, C‑623/17, EU:C:2020:790, Rn. 48, und vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a., C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 103). |
58 |
Der Ausgangsrechtsstreit betrifft jedoch unstreitig den unmittelbar von den Polizeibehörden unternommenen Versuch, Zugang zu auf einem Mobiltelefon gespeicherten personenbezogenen Daten zu erlangen, ohne dass ein Betreiber elektronischer Kommunikationsdienste ersucht worden wäre, tätig zu werden. |
59 |
Dieser Rechtsstreit fällt daher offensichtlich nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2002/58, auf die sich die erste und die zweite Vorlagefrage beziehen. |
60 |
Nach ständiger Rechtsprechung ist es jedoch im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geregelten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof auf unionsrechtliche Vorschriften eingehen, die das nationale Gericht in seinen Fragen nicht angeführt hat (Urteile vom 15. Juli 2021, Ministrstvo za obrambo, C‑742/19, EU:C:2021:597, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 18. Juni 2024, Generalstaatsanwaltschaft Hamm [Ersuchen um Auslieferung eines Flüchtlings an die Türkei], C‑352/22, EU:C:2024:521, Rn. 47). |
61 |
Der Umstand, dass ein nationales Gericht eine Vorlagefrage ihrer Form nach unter Bezugnahme auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, hindert den Gerichtshof nämlich nicht daran, diesem Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung über die bei ihm anhängige Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei der Formulierung seiner Fragen darauf Bezug genommen hat oder nicht. Der Gerichtshof hat insoweit aus allem, was das nationale Gericht vorgelegt hat, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 22. Juni 2022, Volvo und DAF Trucks, C‑267/20, EU:C:2022:494, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
62 |
Zwar müssen die Angaben in der Vorlageentscheidung nach ständiger Rechtsprechung nicht nur dem Gerichtshof zweckdienliche Antworten ermöglichen, sondern auch den Regierungen der Mitgliedstaaten und den anderen Beteiligten die Möglichkeit geben, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Erklärungen abzugeben (Urteil vom 21. Dezember 2023, Royal Antwerp Football Club, C‑680/21, EU:C:2023:1010, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
63 |
Wie sich jedoch aus den Rn. 31 bis 33 des vorliegenden Urteils ergibt, hat das vorlegende Gericht auf das Informationsersuchen des Gerichtshofs geantwortet, dass die Richtlinie 2016/680 im Ausgangsrechtsstreit anwendbar sei. Die Beteiligten konnten in ihren schriftlichen Erklärungen zur Auslegung dieser Richtlinie und zu ihrer Relevanz für das Ausgangsverfahren Stellung nehmen. Außerdem hat der Gerichtshof die Teilnehmer an der mündlichen Verhandlung aufgefordert, in der Verhandlung bestimmte Fragen zu dieser Richtlinie zu beantworten. Er hat sie insbesondere aufgefordert, zur Relevanz ihres Art. 4 für die Beantwortung der ersten Vorlagefrage sowie zur Relevanz ihrer Art. 13 und 54 für die Beantwortung der dritten Vorlagefrage Stellung zu nehmen. |
64 |
Folglich steht der Umstand, dass die erste und die zweite Vorlagefrage die Auslegung von Art. 5 und Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 und nicht die Richtlinie 2016/680 betreffen, einer Umformulierung der Fragen des vorlegenden Gerichts im Hinblick auf die für die vorliegende Rechtssache relevanten Bestimmungen der letztgenannten Richtlinie und damit der Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung dieser Fragen nicht entgegen. |
65 |
Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das Vorbringen Irlands sowie der französischen und der norwegischen Regierung in Frage gestellt, wonach ein Versuch des Zugriffs auf personenbezogene Daten nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 falle, da sie nur für tatsächlich erfolgte Verarbeitungen gelte. |
66 |
Die genannten Regierungen machen insoweit geltend, dass die Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht zweckdienlich sei; dies gelte auch für die Bestimmungen der Charta, da sie nur Anwendung finde, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführten. |
67 |
Der Einwand der Unanwendbarkeit eines Unionsrechtsakts auf das Ausgangsverfahren betrifft jedoch, sofern – wie hier bei der Richtlinie 2016/680 – nicht offensichtlich ist, dass seine Auslegung in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, die inhaltliche Beantwortung der Fragen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juli 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
68 |
Daher ist vorab zu prüfen, ob ein Versuch der Polizeibehörden, Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt. |
Zur Anwendung der Richtlinie 2016/680 auf einen Versuch, Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen
69 |
In Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 wird ihr sachlicher Anwendungsbereich festgelegt. Nach dieser Bestimmung gilt sie „für die Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zu den in [ihrem] Artikel 1 Absatz 1 genannten Zwecken“, u. a. zum Zwecke „der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung“. |
70 |
Nach Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 bezeichnet der Ausdruck „Verarbeitung“„jeden mit oder ohne Hilfe automatisierter Verfahren ausgeführten Vorgang oder jede solche Vorgangsreihe im Zusammenhang mit personenbezogenen Daten wie … das Auslesen, das Abfragen“ oder die „Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung“. |
71 |
Somit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 und insbesondere aus der Verwendung der Begriffe „jeder … Vorgang“, „jede … Vorgangsreihe“ und „eine andere Form der Bereitstellung“, dass der Unionsgesetzgeber den Ausdruck „Verarbeitung“ und damit den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie weit fassen wollte. Diese Auslegung wird dadurch bestätigt, dass die Aufzählung der in dieser Bestimmung genannten Vorgänge nicht abschließend ist, was durch die Konjunktion „wie“ zum Ausdruck gebracht wird (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Februar 2022, Valsts ieņēmumu dienests [Verarbeitung personenbezogener Daten für steuerliche Zwecke], C‑175/20, EU:C:2022:124, Rn. 35). |
72 |
Diese den Wortlaut betreffenden Gesichtspunkte sprechen somit für eine Auslegung, wonach Polizeibehörden, wenn sie ein Telefon sicherstellen und versuchen, auf diesem Telefon gespeicherte personenbezogene Daten auszulesen oder abzufragen, eine Verarbeitung im Sinne von Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 vornehmen, auch wenn es ihnen aus technischen Gründen nicht gelingen sollte, auf diese Daten zuzugreifen. |
73 |
Diese Auslegung wird durch den Kontext bestätigt, in den sich Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2016/680 einfügt. Nach ihrem Art. 4 Abs. 1 Buchst. b sehen die Mitgliedstaaten nämlich vor, dass personenbezogene Daten für festgelegte, eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zwecken nicht zu vereinbarenden Weise verarbeitet werden. In der letztgenannten Bestimmung ist der Grundsatz der Zweckbindung verankert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 122). Die Wirksamkeit dieses Grundsatzes setzt zwingend voraus, dass der Zweck der Datenerhebung schon dann ermittelt wird, wenn die zuständigen Behörden versuchen, auf personenbezogene Daten zuzugreifen, da ein solcher Versuch, wenn er erfolgreich ist, es ihnen u. a. ermöglichen kann, die fraglichen Daten unverzüglich zu erheben, auszulesen oder abzufragen. |
74 |
Zu den Zielen der Richtlinie 2016/680 gehört u. a., wie aus ihren Erwägungsgründen 4, 7 und 15 hervorgeht, die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für personenbezogene Daten natürlicher Personen. |
75 |
Dieses Ziel würde in Frage gestellt, wenn ein Versuch, Zugang zu auf einem Mobiltelefon gespeicherten personenbezogenen Daten zu erlangen, nicht als „Verarbeitung“ dieser Daten eingestuft werden könnte. Eine dahin gehende Auslegung der Richtlinie 2016/680 würde die von einem solchen Zugriffsversuch betroffenen Personen nämlich einer erheblichen Gefahr aussetzen, dass ein Verstoß gegen die in dieser Richtlinie aufgestellten Grundsätze nicht mehr verhindert werden kann. |
76 |
Hinzuzufügen ist, dass eine solche Auslegung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit im Einklang steht, der nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gebietet, dass die Anwendung von Rechtsvorschriften für den Einzelnen vorhersehbar ist, vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen haben können (Urteil vom 27. Juni 2024, Gestore dei Servizi Energetici, C‑148/23, EU:C:2024:555, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Eine Auslegung, wonach die Anwendbarkeit der Richtlinie 2016/680 vom Erfolg des Zugriffsversuchs auf personenbezogene Daten, die auf einem Mobiltelefon gespeichert sind, abhinge, würde nämlich sowohl für die zuständigen nationalen Behörden als auch für die Rechtsunterworfenen eine mit diesem Grundsatz unvereinbare Unsicherheit schaffen. |
77 |
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass ein Versuch von Polizeibehörden, für die Zwecke strafrechtlicher Ermittlungen wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zu erlangen, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 fällt, wie auch der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat. |
Zur ersten und zur zweiten Frage
78 |
Das vorlegende Gericht hat in seiner ersten und seiner zweiten Frage ausdrücklich zum einen auf Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 Bezug genommen, wonach der etwaige Erlass von Rechtsvorschriften, die die in mehreren Bestimmungen dieser Richtlinie vorgesehenen Rechte und Pflichten beschränken, durch die Mitgliedstaaten u. a. eine Maßnahme darstellen muss, die für die nationale Sicherheit (d. h. die Sicherheit des Staates), die Landesverteidigung, die öffentliche Sicherheit sowie die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten oder des unzulässigen Gebrauchs von elektronischen Kommunikationssystemen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, angemessen und verhältnismäßig ist, und zum anderen auf Art. 52 Abs. 1 der Charta, in dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Kontext einer Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten verankert ist. |
79 |
Nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 müssen die Mitgliedstaaten vorsehen, dass personenbezogene Daten dem Verarbeitungszweck entsprechen, maßgeblich und in Bezug auf die Zwecke, für die sie verarbeitet werden, nicht übermäßig sind. Diese Bestimmung verlangt somit von den Mitgliedstaaten die Einhaltung des Grundsatzes der „Datenminimierung“, in dem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck gebracht wird (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
80 |
Daher muss u. a. bei der Erhebung personenbezogener Daten im Rahmen eines Strafverfahrens und bei deren Speicherung durch die Polizeibehörden zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Zwecken – wie bei jeder Verarbeitung, die in ihren Anwendungsbereich fällt – der letztgenannte Grundsatz beachtet werden (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
81 |
Somit ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 im Licht der Art. 7 und 8 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta einer nationalen Regelung entgegensteht, die den zuständigen Behörden die Möglichkeit gibt, zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen, und die Ausübung dieser Möglichkeit keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle unterwirft. |
82 |
Zunächst ist festzustellen, dass die Richtlinie 2016/680, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 2 und 4 ergibt, zur Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Union beitragen soll, indem durch den Aufbau eines soliden und kohärenten Rechtsrahmens für den Schutz personenbezogener Daten die Wahrung des in Art. 8 Abs. 1 der Charta und in Art. 16 Abs. 1 AEUV anerkannten Grundrechts auf den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten sichergestellt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Februar 2021, Kommission/Spanien [Richtlinie über personenbezogene Daten – Strafrechtlicher Bereich], C‑658/19, EU:C:2021:138, Rn. 75). |
83 |
Zu diesem Zweck zielt die Richtlinie 2016/680, wie oben in Rn. 74 ausgeführt, u. a. auf die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für personenbezogene Daten natürlicher Personen ab. |
84 |
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die nach der Richtlinie 2016/680 zulässigen Einschränkungen des in Art. 8 der Charta vorgesehenen Rechts auf Schutz personenbezogener Daten und des durch Art. 7 der Charta geschützten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wie im 104. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgehoben wird, im Einklang mit den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta auszulegen sind, zu denen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 33). |
85 |
Diese Grundrechte gelten nämlich nicht uneingeschränkt, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen und gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Jegliche Einschränkung ihrer Ausübung muss gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sein, ihren Wesensgehalt achten sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Nach diesem Grundsatz dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Sie müssen sich auf das absolut Notwendige beschränken, und die Regelung, die die fraglichen Einschränkungen enthält, muss klare und präzise Regeln für ihre Tragweite und ihre Anwendung vorsehen (Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
86 |
Erstens ist in Bezug auf die dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, die eine Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte, wie sie sich aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung ergibt, rechtfertigen kann, hervorzuheben, dass bei einer Verarbeitung personenbezogener Daten im Rahmen polizeilicher Ermittlungen zur Ahndung einer Straftat – wie einem Versuch, auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen – grundsätzlich davon auszugehen ist, dass sie einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta tatsächlich entspricht. |
87 |
Zweitens ist, wie im 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 im Wesentlichen hervorgehoben wird, die Voraussetzung, dass eine solche Einschränkung erforderlich sein muss, nicht erfüllt, wenn die angestrebte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung in zumutbarer Weise ebenso wirksam durch andere Mittel erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen eingreifen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
88 |
Dagegen ist die Voraussetzung der Erforderlichkeit erfüllt, wenn das mit der betreffenden Datenverarbeitung verfolgte Ziel nicht in zumutbarer Weise ebenso wirksam durch andere Mittel erreicht werden kann, die weniger stark in die Grundrechte der betroffenen Personen, insbesondere die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten, eingreifen (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
89 |
Drittens impliziert die Verhältnismäßigkeit einer Einschränkung der Ausübung der in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte, die sich aus solchen Verarbeitungen ergibt, eine Gewichtung aller relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2024, Direktor na Glavna direktsiaNatsionalna politsia pri MVR – Sofia, C‑118/22, EU:C:2024:97, Rn. 62 und 63 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
90 |
Zu diesen Gesichtspunkten gehören u. a. die Schwere der damit verbundenen Einschränkung der Ausübung der in Rede stehenden Grundrechte, die von der Natur und der Sensibilität der Daten abhängt, zu denen die zuständigen Polizeibehörden Zugang erlangen können, die Bedeutung des mit dieser Einschränkung verfolgten, dem Gemeinwohl dienenden Ziels, die Verbindung zwischen dem Eigentümer des Mobiltelefons und der in Rede stehenden Straftat oder die Relevanz der fraglichen Daten für die Feststellung des Sachverhalts. |
91 |
Zum ersten, die Schwere der Grundrechtseinschränkung, die sich aus einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ergibt, betreffenden Gesichtspunkt geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass diese Regelung es den zuständigen Polizeibehörden ermöglicht, ohne vorherige Genehmigung auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen. |
92 |
Je nachdem, welche Inhalte sich auf dem in Rede stehenden Mobiltelefon befinden und welche Entscheidungen die Polizeibehörden treffen, kann sich ein solcher Zugang nicht nur auf Verkehrs- und Standortdaten erstrecken, sondern auch auf Fotos und den Verlauf der Navigation im Internet mit diesem Telefon oder sogar auf einen Teil des Inhalts der mit diesem Telefon geführten Kommunikationen, insbesondere durch die Abfrage der darauf gespeicherten Nachrichten. |
93 |
Der Zugang zu einem solchen Datensatz kann sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person zulassen, etwa auf ihre Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen dieser Person und das soziale Umfeld, in dem sie verkehrt. |
94 |
Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten besonders sensible Daten – wie personenbezogene Daten, aus denen die rassische oder ethnische Herkunft, politische Meinungen und religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen hervorgehen – gehören können, deren Sensibilität den besonderen Schutz rechtfertigt, den sie nach Art. 10 der Richtlinie 2016/680 genießen und der sich auch auf Daten erstreckt, aus denen sich mittels eines Denkvorgangs der Ableitung oder des Abgleichs indirekt derartige Informationen ergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 344). |
95 |
Der Eingriff in die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte, zu dem die Anwendung einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden führen kann, ist daher als schwerwiegend oder sogar besonders schwerwiegend einzustufen. |
96 |
Zum zweiten, die Bedeutung des verfolgten Ziels betreffenden Gesichtspunkt ist hervorzuheben, dass die Schwere der Straftat, die Gegenstand der Ermittlungen ist, einen der zentralen Parameter bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des schwerwiegenden Eingriffs darstellt, um den es sich beim Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten personenbezogenen Daten handelt, die es erlauben, genaue Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person zu ziehen. |
97 |
Falls nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität den Zugang zu auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten rechtfertigen könnte, würden jedoch die Ermittlungsbefugnisse der zuständigen Behörden im Sinne der Richtlinie 2016/680 in Bezug auf Straftaten im Allgemeinen eingeschränkt. Daraus würde sich in Anbetracht der Bedeutung, die solche Daten für strafrechtliche Ermittlungen haben können, eine erhöhte Gefahr der Straflosigkeit solcher Taten ergeben. Eine derartige Einschränkung würde somit den Besonderheiten der Aufgaben, die von diesen Behörden zu den in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie genannten, in ihren Erwägungsgründen 10 und 11 hervorgehobenen Zwecken wahrgenommen werden, nicht gerecht und wäre dem mit ihr verfolgten Ziel der Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Union abträglich. |
98 |
Diese Erwägungen lassen allerdings das in Art. 52 Abs. 1 der Charta aufgestellte Erfordernis unberührt, wonach jede Einschränkung der Ausübung eines Grundrechts „gesetzlich vorgesehen“ sein muss; dies bedeutet, dass die Rechtsgrundlage, die eine solche Einschränkung gestattet, deren Tragweite hinreichend klar und präzise definieren muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
99 |
Um diesem Erfordernis zu genügen, muss der nationale Gesetzgeber die zu berücksichtigenden Gesichtspunkte, insbesondere die Art oder die Kategorien der betreffenden Straftaten, hinreichend präzise definieren. |
100 |
Zum dritten, die Verbindung zwischen dem Eigentümer des Mobiltelefons und der in Rede stehenden Straftat sowie die Relevanz der in Rede stehenden Daten für die Feststellung des Sachverhalts betreffenden Gesichtspunkt ergibt sich aus Art. 6 der Richtlinie 2016/680, dass der Begriff „betroffene Person“ verschiedene Kategorien von Personen umfasst, und zwar im Wesentlichen Personen, gegen die ein begründeter Verdacht besteht, dass sie eine Straftat begangen haben oder in naher Zukunft begehen werden, verurteilte Straftäter, Opfer oder potenzielle Opfer solcher Straftaten sowie andere Parteien im Zusammenhang mit einer Straftat, die bei Ermittlungen in Verbindung mit der betreffenden Straftat oder beim anschließenden Strafverfahren als Zeugen in Betracht kommen. Nach diesem Artikel müssen die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der für die Verarbeitung Verantwortliche gegebenenfalls und so weit wie möglich zwischen den personenbezogenen Daten dieser verschiedenen Kategorien betroffener Personen klar unterscheidet. |
101 |
Insoweit muss insbesondere in Bezug auf den Zugang zu Daten, die wie im Ausgangsverfahren auf dem Mobiltelefon der Person, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, gespeichert sind, der begründete Verdacht, dass diese Person eine Straftat begangen hat, begeht oder zu begehen plant oder dass sie in irgendeiner Weise in eine solche Straftat involviert ist, durch hinreichende objektive Anhaltspunkte untermauert werden. |
102 |
Um namentlich sicherzustellen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in jedem Einzelfall durch eine Gewichtung aller relevanten Gesichtspunkte gewahrt wird, ist es von wesentlicher Bedeutung, dass der Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu personenbezogenen Daten, wenn er die Gefahr eines schwerwiegenden oder sogar besonders schwerwiegenden Eingriffs in die Grundrechte der betroffenen Person mit sich bringt, von einer vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle abhängig gemacht wird. |
103 |
Diese vorherige Kontrolle setzt voraus, dass das mit ihr betraute Gericht oder die mit ihr betraute unabhängige Verwaltungsstelle über alle Befugnisse verfügt und alle Garantien bietet, die erforderlich sind, um zu gewährleisten, dass die verschiedenen einander gegenüberstehenden berechtigten Interessen und Rechte in Einklang gebracht werden. Speziell im Fall strafrechtlicher Ermittlungen verlangt eine solche Kontrolle, dass das Gericht oder die Stelle in der Lage ist, für einen gerechten Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen, die sich aus den Erfordernissen der Ermittlungen im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung ergeben, und den Grundrechten auf Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten der Personen, auf deren Daten zugegriffen wird, zu sorgen. |
104 |
Diese unabhängige Kontrolle muss in einer Situation wie der oben in Rn. 102 beschriebenen vor jedem Versuch, Zugang zu den betreffenden Daten zu erlangen, erfolgen, außer in hinreichend begründeten Eilfällen, in denen die Kontrolle kurzfristig erfolgen muss. Eine spätere Kontrolle würde es nämlich nicht ermöglichen, dem Ziel der vorherigen Kontrolle zu entsprechen, das darin besteht, zu verhindern, dass ein über das absolut Notwendige hinausgehender Zugang zu den fraglichen Daten gewährt wird. |
105 |
Insbesondere müssen Gerichte oder unabhängige Verwaltungsstellen, die im Rahmen einer vorherigen Kontrolle im Anschluss an einen mit Gründen versehenen Zugangsantrag tätig werden, der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2016/680 fällt, befugt sein, diesen Zugang zu verweigern oder einzuschränken, wenn sie feststellen, dass der mit ihm verbundene Eingriff in die Grundrechte unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte unverhältnismäßig wäre. |
106 |
Der Zugang zu den auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten durch die zuständigen Polizeibehörden muss daher verweigert oder eingeschränkt werden, wenn unter Berücksichtigung der Schwere der Straftat und der Erfordernisse der Untersuchung ein Zugang zum Inhalt der Kommunikationen oder zu sensiblen Daten nicht gerechtfertigt erscheint. |
107 |
Insbesondere sind bei der Verarbeitung sensibler Daten die Anforderungen zu berücksichtigen, die in Art. 10 der Richtlinie 2016/680 aufgestellt werden, dessen Zweck darin besteht, einen erhöhten Schutz vor solchen Verarbeitungen zu gewährleisten, die, wie sich aus dem 37. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, erhebliche Risiken für die in den Art. 7 und 8 der Charta verbürgten Grundrechte und Grundfreiheiten wie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten mit sich bringen können. Zu diesem Zweck ist, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 10 der Richtlinie ergibt, die Einschränkung, dass die Verarbeitung solcher Daten „nur dann erlaubt [ist], wenn sie unbedingt erforderlich ist“, dahin auszulegen, dass sie verschärfte Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung sensibler Daten festlegt, verglichen mit denjenigen, die sich aus Art. 4 Abs. 1 Buchst. b und c sowie aus Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie ergeben, in denen lediglich von der „Erforderlichkeit“ einer allgemein in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallenden Verarbeitung von Daten die Rede ist (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49‚ Rn. 116 und 117 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
108 |
So wird zum einen durch die Verwendung des Adverbs „nur“ vor dem Ausdruck „wenn sie unbedingt erforderlich ist“ hervorgehoben, dass die Verarbeitung besonderer Kategorien von Daten im Sinne von Art. 10 der Richtlinie 2016/680 nur in einer begrenzten Zahl von Fällen als erforderlich angesehen werden kann. Zum anderen bedeutet der Umstand, dass die Verarbeitung solcher Daten „unbedingt“ erforderlich sein muss, dass ihre Erforderlichkeit besonders streng zu beurteilen ist (Urteil vom 26. Januar 2023, Ministerstvo na vatreshnite raboti [Registrierung biometrischer und genetischer Daten durch die Polizei], C‑205/21, EU:C:2023:49, Rn. 118). |
109 |
Im vorliegenden Fall gibt das vorlegende Gericht an, dass die österreichischen Polizeibehörden während eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens befugt seien, auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen. Zudem setze dieser Zugang grundsätzlich keine vorherige Genehmigung eines Gerichts oder einer unabhängigen Verwaltungsbehörde voraus. Es ist jedoch allein Sache dieses Gerichts, im Ausgangsrechtsstreit die Konsequenzen aus den insbesondere oben in den Rn. 102 bis 108 vorgenommenen Klarstellungen zu ziehen. |
110 |
Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2016/680 im Licht der Art. 7 und 8 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die den zuständigen Behörden die Möglichkeit gibt, zum Zweck der Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen, nicht entgegensteht, wenn diese Regelung
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Zur dritten Frage
111 |
Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass mit der dritten Frage des vorlegenden Gerichts im Wesentlichen geklärt werden soll, ob CG von den Zugriffsversuchen auf die auf seinem Mobiltelefon gespeicherten Daten hätte in Kenntnis gesetzt werden müssen, damit er sein in Art. 47 der Charta garantiertes Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf hätte ausüben können. |
112 |
Insoweit handelt es sich bei den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2016/680 zum einen um ihren Art. 13 („Der betroffenen Person zur Verfügung zu stellende oder zu erteilende Informationen“) und zum anderen um ihren Art. 54 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter“). |
113 |
Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die mit dieser Richtlinie vorgenommenen Einschränkungen des durch Art. 47 der Charta geschützten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren, wie im 104. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/680 hervorgehoben wird, im Einklang mit den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta auszulegen sind, zu denen die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gehört. |
114 |
Daher ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner dritten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 13 und 54 der Richtlinie 2016/680 im Licht von Art. 47 und Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den für die Strafverfolgung zuständigen Behörden gestattet, zu versuchen, auf die auf einem Mobiltelefon gespeicherten Daten zuzugreifen, ohne die betroffene Person davon in Kenntnis zu setzen. |
115 |
Wie sich aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2016/680 ergibt, sehen die Mitgliedstaaten neben den Informationen, die der betroffenen Person nach Art. 13 Abs. 1 zur Verfügung zu stellen sind und zu denen der Name des für die Verarbeitung Verantwortlichen, der Zweck dieser Verarbeitung und das Bestehen eines Beschwerderechts bei der Aufsichtsbehörde gehören, gesetzlich vor, dass der Verantwortliche der betroffenen Person, um ihr die Ausübung ihrer Rechte zu ermöglichen, erforderlichenfalls weitere Informationen zur Verfügung stellt, insbesondere wenn die personenbezogenen Daten ohne Wissen dieser Person erhoben werden. |
116 |
Art. 13 Abs. 3 Buchst. a und b der Richtlinie 2016/680 gestattet dem nationalen Gesetzgeber jedoch, die Unterrichtung der betroffenen Person gemäß Abs. 2 soweit und so lange einzuschränken oder zu unterlassen, „wie diese Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich und verhältnismäßig ist und sofern den Grundrechten und den berechtigten Interessen der betroffenen natürlichen Person Rechnung getragen wird“, u. a. „zur Gewährleistung, dass behördliche oder gerichtliche Untersuchungen, Ermittlungen oder Verfahren nicht behindert werden“, oder „zur Gewährleistung, dass die Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung oder Verfolgung von Straftaten oder die Strafvollstreckung nicht beeinträchtigt werden“. |
117 |
Schließlich müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 54 der Richtlinie 2016/680, der Art. 47 der Charta Ausdruck verleiht, vorsehen, dass jede Person, die der Ansicht ist, dass die Rechte, die ihr aufgrund nach dieser Richtlinie erlassener Vorschriften zustehen, infolge einer nicht mit diesen Vorschriften im Einklang stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden, das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf hat. |
118 |
Nach der Rechtsprechung verlangt das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf grundsätzlich, dass der Betroffene Kenntnis von den Gründen, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht, erlangen kann, um es ihm zu ermöglichen, seine Rechte unter den bestmöglichen Bedingungen zu verteidigen und in Kenntnis aller Umstände zu entscheiden, ob es für ihn von Nutzen ist, das zuständige Gericht anzurufen, und um dieses Gericht vollständig in die Lage zu versetzen, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung zu überprüfen (Urteil vom 16. November 2023, Ligue des droits humains [Prüfung der Datenverarbeitung durch die Aufsichtsbehörde], C‑333/22, EU:C:2023:874, Rn. 58). |
119 |
Dieses Recht kann allerdings keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen und kann gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta eingeschränkt werden, sofern diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt der in Rede stehenden Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (Urteil vom 16. November 2023, Ligue des droits humains [Prüfung der Datenverarbeitung durch die Aufsichtsbehörde], C‑333/22, EU:C:2023:874, Rn. 59). |
120 |
Somit ergibt sich aus den oben in den Rn. 115 bis 119 angeführten Bestimmungen, dass die zuständigen nationalen Behörden, denen von einem Gericht oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle der Zugang zu gespeicherten Daten gestattet wurde, die betroffenen Personen im Rahmen der einschlägigen nationalen Verfahren über die Gründe, auf denen die Gestattung beruht, informieren müssen, sobald dies die von diesen Behörden durchgeführten Ermittlungen nicht mehr beeinträchtigen kann, und ihnen sämtliche in Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2016/680 genannten Informationen zur Verfügung stellen müssen. Diese Informationen sind nämlich erforderlich, damit die betroffenen Personen u. a. das in Art. 54 der Richtlinie 2016/680 ausdrücklich vorgesehene Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs ausüben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Spetsializirana prokuratura [Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten], C‑350/21, EU:C:2022:896, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
121 |
Dagegen wäre eine nationale Regelung, die generell jeden Anspruch auf Erlangung solcher Informationen ausschlösse, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. November 2022, Spetsializirana prokuratura [Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten], C‑350/21, EU:C:2022:896, Rn. 71). |
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Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass CG von der Sicherstellung seines Mobiltelefons wusste, als die österreichischen Polizeibehörden vergeblich versuchten, es zu entsperren, um auf die darauf gespeicherten Daten zuzugreifen. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, dass die Unterrichtung von CG darüber, dass die Polizeibehörden versuchen würden, auf diese Daten zuzugreifen, geeignet gewesen wäre, die Ermittlungen zu beeinträchtigen, so dass er davon vorab in Kenntnis hätte gesetzt werden müssen. |
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Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Art. 13 und 54 der Richtlinie 2016/680 im Licht von Art. 47 und von Art. 52 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es den zuständigen Behörden gestattet, zu versuchen, auf Daten zuzugreifen, die auf einem Mobiltelefon gespeichert sind, ohne die betroffene Person im Rahmen der einschlägigen nationalen Verfahren über die Gründe, auf denen die von einem Gericht oder einer unabhängigen Verwaltungsstelle erteilte Gestattung des Zugriffs auf die Daten beruht, zu informieren, sobald die Übermittlung dieser Informationen die den Behörden nach der Richtlinie obliegenden Aufgaben nicht mehr beeinträchtigen kann. |
Kosten
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Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: |
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Lenaerts Bay Larsen Jürimäe Lycourgos Regan von Danwitz Csehi Spineanu-Matei Xuereb Jarukaitis Kumin Jääskinen Gavalec Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 4. Oktober 2024. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident K. Lenaerts |
( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.