URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
29. Juli 2024 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Abkommen über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits – Übergabe einer Person an das Vereinigte Königreich zur Strafverfolgung – Zuständigkeit der vollstreckenden Justizbehörde – Gefahr der Verletzung eines Grundrechts – Art. 49 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen – Für den Betroffenen nachteilige Änderung der für die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen geltenden Regelung“
In der Rechtssache C‑202/24 [Alchaster] ( i )
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) mit Entscheidung vom 7. März 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 2024, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung von Haftbefehlen gegen
MA,
Beteiligter:
Minister for Justice and Equality,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, T. von Danwitz, F. Biltgen und Z. Csehi, der Richter S. Rodin, A. Kumin und N. Jääskinen, der Richterin M. L. Arastey Sahún und des Richters M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
des Minister for Justice and Equality, Irland, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, D. Curley, S. Finnegan und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von J. Fitzgerald, SC, und A. Hanrahan, BL, |
– |
von MA, vertreten durch S. Brittain, BL, M. Lynam, SC, C. Mulholland, Solicitor, und R. Munro, SC, |
– |
der ungarischem Regierung, vertreten durch Z. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte, |
– |
der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Fuller als Bevollmächtigten im Beistand von V. Ailes, J. Pobjoy, Barristers, und J. Eadie, KC, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Leupold, F. Ronkes Agerbeek und J. Vondung als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. Juni 2024
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits (ABl. 2021, L 149, S. 10; im Folgenden: AHZ) in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). |
2 |
Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung von vier Haftbefehlen in Irland, die Gerichte des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland gegen MA zum Zweck der Strafverfolgung erlassen haben. |
Rechtlicher Rahmen
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
3 |
Art. 7 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) lautet: „Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Es darf auch keine schwerere als die zur Zeit der Begehung angedrohte Strafe verhängt werden.“ |
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2002/584/JI
4 |
Der sechste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) lautet: „Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“ |
5 |
Art. 1 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt: „Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.“ |
Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft
6 |
Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7) bestimmt: „Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“ |
Das AHZ
7 |
Der 23. Erwägungsgrund des AHZ lautet: „IN DER ERWÄGUNG, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und der [Europäischen] Union bei der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten und der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, eine Stärkung der Sicherheit des Vereinigten Königreichs und der Union ermöglichen wird.“ |
8 |
Art. 1 AHZ bestimmt: „Mit diesem Abkommen wird die Grundlage für umfassende Beziehungen zwischen den Vertragsparteien in einem Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft geschaffen, der sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet und die Autonomie und Souveränität der Vertragsparteien wahrt.“ |
9 |
In Art. 3 Abs. 1 AHZ heißt es: „Die Vertragsparteien unterstützen sich gegenseitig in vollem gegenseitigem Respekt und nach Treu und Glauben bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus diesem Abkommen und jedwedem Zusatzabkommen ergeben.“ |
10 |
Art. 522 Abs. 1 AHZ bestimmt: „Ziel dieses Teils ist es, eine Zusammenarbeit im Bereich der Polizei und der Justiz in strafrechtlichen Angelegenheiten zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits zur Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten sowie zur Verhütung und Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung vorzusehen.“ |
11 |
Art. 524 AHZ sieht vor: „(1) Die in diesem Teil vorgesehene Zusammenarbeit beruht auf der langjährigen Achtung der Vertragsparteien und der Mitgliedstaaten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen, wie sie unter anderem in der [von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündeten] Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der [EMRK] niedergelegt sind, sowie auf der Bedeutung der internen Umsetzung der in dieser Konvention verankerten Rechte und Freiheiten. (2) Dieser Teil ändert nichts an der Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und Rechtsgrundsätze, wie sie insbesondere in der [EMRK] und – im Falle der [Europäischen] Union und ihrer Mitgliedstaaten – in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck kommen.“ |
12 |
Art. 596 AHZ bestimmt: „Ziel dieses Titels ist es, sicherzustellen, dass das Auslieferungssystem zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits auf dem Mechanismus der Übergabe infolge eines Haftbefehls gemäß den Bestimmungen dieses Titels basiert.“ |
13 |
In Art. 599 Abs. 3 AHZ heißt es: „Vorbehaltlich des Artikels 600, des Artikels 601 Absatz 1 Buchstaben b bis h und der Artikel 602, 603 und 604 darf ein Staat nicht die Vollstreckung eines Haftbefehls verweigern, der im Zusammenhang mit dem nachstehend aufgeführten Verhalten ausgestellt wurde, sofern dieses mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist:
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14 |
In den Art. 600 und 601 AHZ sind die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Haftbefehls abzulehnen ist, bzw. andere Gründe für eine Ablehnung der Vollstreckung des Haftbefehls aufgeführt. |
15 |
Art. 602 Abs. 1 und 2 AHZ sieht vor: „(1) Die Vollstreckung eines Haftbefehls darf nicht mit der Begründung verweigert werden, dass eine strafbare Handlung vom Vollstreckungsstaat als politische Straftat, als eine mit einer solchen zusammenhängenden Straftat oder als eine auf politischen Beweggründen beruhende Straftat angesehen wird. (2) Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union im Namen eines ihrer Mitgliedstaaten können jedoch jeweils dem Sonderausschuss für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit notifizieren, dass Absatz 1 nur in Bezug auf Folgendes angewandt wird:
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16 |
Art. 603 Abs. 1 und 2 AHZ lautet: „(1) Die Vollstreckung eines Haftbefehls darf nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass die gesuchte Person Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats ist. (2) Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union im Namen eines ihrer Mitgliedstaaten können jeweils dem Sonderausschuss für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit notifizieren, dass die jeweils eigenen Staatsangehörigen nicht übergeben werden oder dass die Übergabe der jeweils eigenen Staatsangehörigen nur unter bestimmten angegebenen Bedingungen genehmigt wird. Diese Notifikation ist mit fundamentalen Grundsätzen oder der Praxis der innerstaatlichen Rechtsordnung im Vereinigten Königreich oder in dem Staat, in dessen Namen die Notifikation gemacht wurde, zu begründen. In diesem Fall kann die Union im Namen eines ihrer Mitgliedstaaten bzw. das Vereinigte Königreich innerhalb einer angemessenen Frist nach Eingang der Notifikation der anderen Vertragspartei, dass die vollstreckenden Justizbehörden des Mitgliedstaats bzw. des Vereinigten Königreichs die Übergabe ihrer Staatsangehörigen an diesen Staat verweigern können, oder die Übergabe nur unter bestimmten genau festgelegten Bedingungen genehmigt werden, den Sonderausschuss für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit notifizieren.“ |
17 |
Art. 604 Buchst. c AHZ bestimmt: „Die Vollstreckung des Haftbefehls durch die vollstreckende Justizbehörde kann an folgende Bedingungen geknüpft werden: …
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18 |
In Art. 613 Abs. 2 AHZ heißt es: „Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen insbesondere hinsichtlich des Artikels 597, der Artikel 600 bis 602 sowie der Artikel 604 und 606; sie kann … eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen.“ |
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
19 |
Der District Judge (Bezirksrichter) der Magistrates’ Courts of Northern Ireland (erstinstanzliches Gericht für Strafsachen, Nordirland, Vereinigtes Königreich) erließ vier Haftbefehle gegen MA wegen terroristischer Straftaten, die zwischen dem 18. und dem 20. Juli 2020 begangen worden sein sollen und von denen einige mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind. |
20 |
Mit Urteil vom 24. Oktober 2022 und Beschlüssen vom selben Tag und vom 7. November 2022 ordnete der High Court (Hohes Gericht, Irland) die Übergabe von MA an das Vereinigte Königreich an und lehnte zugleich die Zulassung eines Rechtsmittels zum Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) ab. |
21 |
Mit Entscheidung vom 17. Januar 2023 ließ der Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland), das vorlegende Gericht, ein Rechtsmittel von MA gegen das Urteil und die Beschlüsse des High Court (Hohes Gericht) zu. |
22 |
MA macht vor dem vorlegenden Gericht geltend, dass seine Übergabe an das Vereinigte Königreich mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unvereinbar sei. |
23 |
Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass das AHZ einen Übergabemechanismus zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten vorsehe. Da dieser Mechanismus mit dem Mechanismus, der durch den Rahmenbeschluss 2002/584 sowie die den Rahmenbeschluss und das AHZ umsetzenden irischen Rechtsvorschriften eingerichtet wurde, übereinstimme, sei das Vereinigte Königreich nach diesen irischen Rechtsvorschriften und dem Rahmenbeschluss so zu behandeln, als wäre es ein Mitgliedstaat. |
24 |
Würde MA an das Vereinigte Königreich übergeben und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, würde sich eine etwaige vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen nach Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs richten, die nach Begehung der mutmaßlichen Straftaten, derentwegen er strafrechtlich verfolgt werde, erlassen worden seien. |
25 |
Die Regelung, nach der eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen in Nordirland (Vereinigtes Königreich) zulässig sei, sei nämlich mit Wirkung vom 30. April 2021 geändert worden. Vor dieser Änderung habe für eine wegen bestimmter Straftaten im Zusammenhang mit dem Terrorismus verurteilte Person nach Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe automatisch die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen bestanden. Nach der ab dem genannten Zeitpunkt geltenden Regelung bedürfe eine solche vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen der Genehmigung durch eine spezielle Behörde und sei erst möglich, nachdem die betreffende Person zwei Drittel ihrer Strafe verbüßt habe. |
26 |
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe die Auffassung zurückgewiesen, dass rückwirkende Änderungen von Regelungen über einen Straferlass oder eine vorzeitige Entlassung einen Verstoß gegen Art. 7 EMRK darstellten. In seinem Urteil vom 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien (CE:ECHR:2013:1021JUD004275009), habe er jedoch darauf hingewiesen, dass während der Vollstreckung einer Strafe getroffene Maßnahmen Auswirkungen auf ihren Umfang haben könnten. Es sei daher für die Entscheidung über den Ausgangsrechtsstreit von wesentlicher Bedeutung, zu bestimmen, ob dieses Urteil eine Abkehr von der früheren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte darstelle. |
27 |
Mit Urteil vom 19. April 2023 habe der Supreme Court of the United Kingdom (Oberstes Gericht des Vereinigten Königreichs) entschieden, dass die Anwendung der neuen für die Haftentlassung unter Auflagen geltenden Regelung ab dem 30. April 2021 auf vor ihrem Inkrafttreten begangene Straftaten mit Art. 7 EMRK insoweit nicht unvereinbar sei, als die Regelung lediglich die Art und Weise ändere, wie die Freiheitsstrafen der Betroffenen zu vollstrecken seien, ohne die Dauer der Strafen zu verlängern. |
28 |
In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht das Vorbringen von MA, wonach die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK bestehe, unter Hinweis insbesondere darauf zurückgewiesen, dass im Justizsystem des Vereinigten Königreichs Garantien in Bezug auf die Anwendung der EMRK bestünden, dass MA keine systemischen Mängel dargetan habe, die vermuten ließen, dass es im Fall seiner Übergabe zu einem wahrscheinlichen und eklatanten Verstoß gegen die durch die EMRK garantierten Rechte käme, und dass ihm die Möglichkeit offenstehe, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen. |
29 |
Das vorlegende Gericht hält jedoch für klärungsbedürftig, ob dies entsprechend auch für die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta angenommen werden könne. |
30 |
In dieser Hinsicht müsse, soweit Art. 49 Abs. 1 der Charta Art. 7 Abs. 1 EMRK entspreche, beiden Bestimmungen nach Art. 52 Abs. 3 der Charta grundsätzlich die gleiche Tragweite zugemessen werden. Möglicherweise könne daher ohne weitere Prüfung auf die für Art. 7 Abs. 1 EMRK angeführte Begründung verwiesen werden. |
31 |
Der Gerichtshof habe jedoch zu den Auswirkungen von Art. 49 der Charta in Bezug auf eine Änderung der nationalen Bestimmungen über die vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen noch nicht Stellung genommen. |
32 |
Da ferner der Vollstreckungsstaat zur Übergabe der gesuchten Person verpflichtet sei, müsse geprüft werden, ob dieser Staat für die Entscheidung über das Vorbringen einer Unvereinbarkeit von Art. 49 Abs. 1 der Charta mit Bestimmungen über Strafen, die im Ausstellungsstaat verhängt werden könnten, zuständig sei, und zwar unter Berücksichtigung dessen, dass der Ausstellungsstaat nicht zur Einhaltung der Charta verpflichtet sei und der Gerichtshof hohe Anforderungen an die Berücksichtigung der Gefahr eines Verstoßes gegen Grundrechte im Ausstellungsmitgliedstaat gestellt habe. |
33 |
Das vorlegende Gericht hält es daher für erforderlich, den Gerichtshof nach den Kriterien zu befragen, nach denen die vollstreckende Justizbehörde zu prüfen hat, ob die Gefahr eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Strafen besteht, wenn der Übergabe weder die nationale Verfassung noch die EMRK entgegensteht. |
34 |
Vor diesem Hintergrund hat der Supreme Court (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Im Hinblick auf die Beantragung einer Übergabe von Personen im Zusammenhang mit der Verfolgung terroristischer Straftaten nach dem AHZ und in Bezug auf das Bemühen des Betroffenen, der Übergabe mit der Begründung zu widersprechen, es handele sich dabei um einen Verstoß gegen Art. 7 EMRK und Art. 49 Abs. 1 der Charta, da nach dem Zeitpunkt der mutmaßlichen Straftat, in Bezug auf die die Übergabe des Betroffenen verlangt werde, ein Rechtsetzungsakt erlassen worden sei, mit dem sowohl in Bezug auf den Teil der Strafe, der in Form von Haft zu verbüßen sei, als auch hinsichtlich der Bedingungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen Änderungen vorgenommen worden seien, und im Hinblick auf folgende Erwägungen:
Ist ein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV angefochten werden können, unter Berücksichtigung von Art. 52 Abs. 3 der Charta und der Verpflichtung zum gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und denjenigen, die nach dem AHZ verpflichtet sind, eine Übergabe nach den Bestimmungen zum Europäischen Haftbefehl zu bewirken, zu der Schlussfolgerung berechtigt, dass die gesuchte Person nicht nachgewiesen hat, dass ihre Übergabe die konkrete Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta birgt, oder ist ein solches Gericht verpflichtet, weitere Untersuchungen anzustellen, und, falls ja, welcher Art und in welchem Umfang? |
Verfahren vor dem Gerichtshof
35 |
Mit Beschluss vom 22. April 2024, Alchaster (C‑202/24, EU:C:2024:343), hat der Präsident des Gerichtshofs entschieden, das in Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehene beschleunigte Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten. |
Zur Vorlagefrage
36 |
Da sich das nationale Gericht sowohl in den Gründen der Vorlageentscheidung als auch in der Vorlagefrage auf den Rahmenbeschluss 2002/584 bezieht, ist vorab, wie der Generalanwalt in Nr. 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss nach seinem Art. 1 Abs. 1 nur für die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen gilt, die von Mitgliedstaaten erlassen wurden. Daraus folgt, dass er keine Anwendung auf die Vollstreckung von Haftbefehlen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen findet, die vom Vereinigten Königreich nach Ablauf des Übergangszeitraums erlassen wurden, der gemäß Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft am 31. Dezember 2020 endete. |
37 |
Es ist somit davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob das AHZ in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine vollstreckende Justizbehörde in dem Fall, dass eine Person, gegen die auf der Grundlage dieses Abkommens ein Haftbefehl erlassen wurde, geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich wegen einer für sie ungünstigen und nach der mutmaßlichen Begehung der in Rede stehenden Straftat erfolgten Änderung der Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe, prüfen muss, ob eine solche Gefahr besteht, bevor sie über die Vollstreckung dieses Haftbefehls entscheidet, und zwar auch dann, wenn sie die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK unter Verweis auf die Garantien, die das Vereinigte Königreich im Allgemeinen in Bezug auf die Einhaltung der EMRK bietet, und auf die Möglichkeit der betroffenen Person, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen, bereits verneint hat. |
38 |
Der Gerichtshof ist, auch wenn das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht ausdrücklich auf eine bestimmte Vorschrift des AHZ Bezug genommen hat, dadurch nicht daran gehindert, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es diese Punkte in seiner Frage ausdrücklich angesprochen hat oder nicht (vgl. entsprechend Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. [Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 29). |
39 |
Nach Art. 1 AHZ wird mit diesem Abkommen die Grundlage für umfassende Beziehungen zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich in einem Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft geschaffen, der sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet und die Autonomie und Souveränität der Vertragsparteien wahrt. |
40 |
Dementsprechend hat das AHZ, wie sich aus seinem 23. Erwägungsgrund ergibt, u. a. zum Ziel, die Sicherheit des Vereinigten Königreichs und der Union zu stärken, indem es die Zusammenarbeit bei der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten und der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen, einschließlich des Schutzes vor und der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit, ermöglicht. |
41 |
Dieses spezifische Ziel, das Teil des allgemeinen in Art. 1 AHZ festgelegten Ziels ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. November 2021, Governor of Cloverhill Prison u. a.,C‑479/21 PPU, EU:C:2021:929, Rn. 67), wird gemäß Art. 522 Abs. 1 AHZ in Teil Drei des Abkommens umgesetzt. |
42 |
In Bezug auf die allgemeinen Voraussetzungen für die Anwendung von Teil Drei bestimmt Art. 524 Abs. 1 AHZ, dass die in Teil Drei vorgesehene Zusammenarbeit auf der langjährigen Achtung der Union, des Vereinigten Königreichs und der Mitgliedstaaten der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen, wie sie u. a. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der EMRK niedergelegt sind, sowie auf der Bedeutung der internen Umsetzung der in der EMRK verankerten Rechte und Freiheiten beruht. |
43 |
Im Hinblick auf diese Zusammenarbeit ist es nach Art. 596 AHZ Ziel von Teil Drei Titel VII, sicherzustellen, dass das Auslieferungssystem zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und dem Vereinigten Königreich andererseits auf dem Mechanismus der Übergabe infolge eines Haftbefehls gemäß den Bestimmungen dieses Titels basiert. |
44 |
In den Art. 600 und 601 AHZ sind die Gründe aufgeführt, aus denen die Vollstreckung eines auf Grundlage dieses Abkommens erlassenen Haftbefehls abgelehnt werden muss oder kann. |
45 |
Ferner enthalten die Art. 602 und 603 AHZ Bestimmungen zur Ausnahme politischer Straftaten bzw. zur Ausnahme eigener Staatsangehöriger, während in Art. 604 AHZ die vom Ausstellungsstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien geregelt sind. |
46 |
Zwar sieht keine Bestimmung des AHZ ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einem vom Vereinigten Königreich auf der Grundlage dieses Abkommens erlassenen Haftbefehl Folge zu leisten, doch ergibt sich aus dem Aufbau von Teil Drei Titel VII des Abkommens und insbesondere aus dem Zweck der Art. 600 bis 604 AHZ, dass ein Mitgliedstaat, wie der Generalanwalt in Nr. 69 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls nur aus Gründen ablehnen kann, die sich aus dem AHZ ergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 48). |
47 |
Was insbesondere eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anbelangt, so sieht Art. 599 Abs. 3 AHZ im Übrigen ausdrücklich vor, dass ein Staat vorbehaltlich des Art. 600, Art. 601 Abs. 1 Buchst. b bis h und der Art. 602 bis 604 AHZ nicht die Vollstreckung eines Haftbefehls verweigern darf, der u. a. im Zusammenhang mit Terrorismus ausgestellt wurde, sofern die betreffenden Straftaten mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht sind. |
48 |
Zwar ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass eine vollstreckende Justizbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, einen Haftbefehl wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu vollstrecken, doch ändern nach Art. 524 Abs. 2 AHZ die Bestimmungen von Teil Drei dieses Abkommens nichts an der Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und Rechtsgrundsätze, wie sie insbesondere in der EMRK und – im Fall der Union und ihrer Mitgliedstaaten – in der Charta zum Ausdruck kommen. |
49 |
Die Mitgliedstaaten unterliegen der Verpflichtung zur Einhaltung der Charta, auf die in Art. 524 Abs. 2 AHZ hingewiesen wird, bei der Entscheidung über die Übergabe einer Person an das Vereinigte Königreich, weil die Entscheidung über eine solche Übergabe eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta darstellt. Die vollstreckenden Justizbehörden der Mitgliedstaaten müssen daher, wenn sie diese Entscheidung erlassen, dafür Sorge tragen, dass die Grundrechte, die die Charta einer Person gewährt, gegen die sich ein auf der Grundlage des AHZ erlassener Haftbefehl richtet, gewahrt werden; dabei ist es unerheblich, dass die Charta für das Vereinigte Königreich nicht gilt (vgl. entsprechend Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin,C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 52 und 53). |
50 |
Zu diesen Rechten gehören insbesondere die Rechte, die sich aus Art. 49 Abs. 1 der Charta ergeben, der u. a. vorsieht, dass keine schwerere Strafe als die zur Zeit der Begehung der betreffenden Straftat angedrohte Strafe verhängt werden darf. |
51 |
Besteht die Gefahr einer Verletzung dieser Rechte, kann es der vollstreckenden Justizbehörde daher gestattet sein, nach einer angemessenen Prüfung davon abzusehen, einem auf der Grundlage des AHZ ausgestellten Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. entsprechend Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 59, vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 43). |
52 |
Hinsichtlich der Modalitäten einer solchen Prüfung ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Rahmenbeschluss 2002/584, dass die Frage, ob die Gefahr einer Verletzung der in den Art. 4, 7, 24 und 47 der Charta gewährleisteten Grundrechte besteht, im Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls grundsätzlich im Rahmen einer Prüfung in zwei getrennten Schritten zu beurteilen ist, die sich nicht überschneiden dürfen, weil sie eine Analyse auf der Grundlage verschiedener Kriterien beinhalten, und daher nacheinander vorzunehmen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89 bis 94, vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 60, 61 und 68, vom 18. April 2023, E. D. L. [Ablehnung aus gesundheitlichen Gründen], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 55, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
53 |
Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde in einem ersten Schritt ermitteln, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben gibt, die nahelegen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel oder aufgrund von Mängeln, die speziell eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen, eine echte Gefahr der Verletzung eines dieser Grundrechte besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89, vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 102, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 47). |
54 |
In einem zweiten Schritt muss die vollstreckende Justizbehörde konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die Mängel, die im ersten Schritt der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Prüfung festgestellt wurden, auf die Person auswirken können, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, und ob es in Anbetracht ihrer persönlichen Situation ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr der Verletzung dieser Grundrechte ausgesetzt wäre (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 94, vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 106, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 48). |
55 |
Allerdings kann das Erfordernis, eine solche zweistufige Prüfung durchzuführen, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 76 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht auf die Beurteilung der Frage, ob die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht, im Verfahren zur Vollstreckung eines auf der Grundlage des AHZ erlassenen Haftbefehls übertragen werden. |
56 |
Das durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführte vereinfachte und wirksame System der Übergabe von verurteilten oder verdächtigten Personen setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus und beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie sich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses ergibt, einen „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im strafrechtlichen Bereich darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 40 und 41, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 35 und 36). |
57 |
Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens verlangt, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 191, und Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 93). |
58 |
Bei der Durchführung des Unionsrechts können die Mitgliedstaaten somit unionsrechtlich verpflichtet sein, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 192, und Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 94). |
59 |
In diesem Zusammenhang dient die Verpflichtung, festzustellen, ob Mängel wie die in Rn. 53 des vorliegenden Urteils erwähnten bestehen, bevor konkret und genau geprüft werden kann, ob die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, einer echten Gefahr der Verletzung eines Grundrechts ausgesetzt ist, gerade dazu, zu verhindern, dass eine solche Prüfung nicht nur ausnahmsweise erfolgt, und beruht somit auf der sich aus dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ergebenden Unterstellung, dass der Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte beachtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 114 bis 116). |
60 |
Die Einhaltung dieser Verpflichtung ermöglicht es insbesondere, die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Ausstellungsmitgliedstaat und dem Vollstreckungsmitgliedstaat in Bezug auf die Wahrung der den Grundrechten innewohnenden Anforderungen sicherzustellen, die sich aus der vollen Anwendung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung ergibt, auf denen die Funktionsweise des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 46, vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a.,C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 72 und 96, und vom 21. Dezember 2023, GN [Ablehnung aus Gründen des Kindeswohls], C‑261/22, EU:C:2023:1017, Rn. 43). |
61 |
Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens prägt speziell die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. |
62 |
Dieser Grundsatz beruht nämlich auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 168). |
63 |
Er hat für die Union und ihre Mitgliedstaaten auch insoweit fundamentale Bedeutung, als er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines europäischen Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 191). |
64 |
Der Gerichtshof hat überdies klargestellt, dass sich die Beschränkung der Möglichkeit, zu prüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Charta gewährleisteten Grundrechte beachtet hat, auf Ausnahmefälle aus dem Wesen der Union ergibt und zu dem Gleichgewicht beiträgt, auf dem die Union beruht (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Europäischen Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 193 und 194). |
65 |
Zwar ist nicht auszuschließen, dass eine internationale Übereinkunft ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und bestimmten Drittstaaten schaffen kann. |
66 |
So hat der Gerichtshof entschieden, dass dies auf die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und dem Königreich Norwegen zutrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. September 2023, Sofiyska gradska prokuratura [Aufeinanderfolgende Haftbefehle], C‑71/21, EU:C:2023:668, Rn. 32 und 39). |
67 |
Dieser Drittstaat befindet sich allerdings insoweit in einer besonderen Situation, als er privilegierte Beziehungen zur Union unterhält, die über den Rahmen einer wirtschaftlichen und handelspolitischen Zusammenarbeit hinausgehen, da er Vertragspartei des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum ist, sich am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligt, den Schengen-Besitzstand umsetzt und anwendet und mit der Union das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Union und Island und Norwegen über das Übergabeverfahren geschlossen hat, das am 1. November 2019 in Kraft getreten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. März 2021, JR [Haftbefehl – Verurteilung in einem EWR-Drittstaat], C‑488/19, EU:C:2021:206, Rn. 60). |
68 |
Der Gerichtshof hat ferner darauf hingewiesen, dass erstens die Vertragsparteien in der Präambel dieses Übereinkommens das gegenseitige Vertrauen auf die Struktur und die Funktionsweise ihrer Rechtssysteme und ihre Fähigkeit, ein faires Verfahren zu gewährleisten, zum Ausdruck gebracht haben und dass zweitens die Bestimmungen dieses Übereinkommens den entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 sehr ähnlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Ruska Federacija, C‑897/19 PPU, EU:C:2020:262, Rn. 73 und 74). |
69 |
Die oben in Rn. 66 angeführte Erwägung, die auf den besonderen Beziehungen zwischen der Union und bestimmten EWR-Mitgliedstaaten beruht, kann jedoch nicht für alle Drittstaaten gelten. |
70 |
Was speziell die mit dem AHZ eingeführte Regelung betrifft, ist zunächst festzustellen, dass das Abkommen keine Beziehungen zwischen der Union und dem Vereinigten Königreich schafft, die ebenso privilegiert sind wie die Beziehungen, die in der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung beschrieben sind. Vor allem ist das Vereinigte Königreich nicht Teil des europäischen Raums ohne Binnengrenzen, dessen Aufbau insbesondere durch den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens ermöglicht wird. |
71 |
Sodann ergibt sich zwar aus dem Wortlaut des in Rn. 42 des vorliegenden Urteils genannten Art. 524 Abs. 1 AHZ, dass die Zusammenarbeit zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten auf der langjährigen Achtung des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen beruht, doch wird diese Zusammenarbeit nicht so dargestellt, als beruhe sie auf dem Erhalt des gegenseitigen Vertrauens zwischen den betreffenden Staaten, das vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 31. Januar 2020 bestand. |
72 |
Schließlich bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Bestimmungen des AHZ über den mit diesem Abkommen geschaffenen Übergabemechanismus und den entsprechenden Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584. |
73 |
In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss keine Ausnahmen vorsieht, die sich auf die politische Natur der Straftaten oder die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person beziehen und es in Fällen, die den in Art. 602 Abs. 2 und Art. 603 Abs. 2 AHZ genannten vergleichbar sind, zulassen, die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle abzulehnen. Derartige Ausnahmen verdeutlichen aber die Grenzen des zwischen den Vertragsparteien aufgebauten Vertrauens. |
74 |
Auch enthält der Rahmenbeschluss keine Art. 604 Buchst. c AHZ vergleichbare Bestimmung, die ausdrücklich vorsieht, dass die vollstreckende Justizbehörde gegebenenfalls zusätzliche Garantien für die Behandlung der gesuchten Person nach der Übergabe verlangen kann, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet, falls stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine tatsächliche Gefahr für den Schutz der Grundrechte der gesuchten Person besteht. |
75 |
Art. 604 Buchst. c AHZ erlaubt es somit, zusätzliche Garantien einzuholen, um zu versuchen, Zweifel an der Achtung der Grundrechte im Ausstellungsstaat zu zerstreuen, die nicht allein auf Basis des zwischen dem Vereinigten Königreich und den Mitgliedstaaten bestehenden Vertrauens ausgeräumt werden können, ohne dass die Anwendung dieses Mechanismus davon abhinge, dass zuvor entweder systemische oder allgemeine Mängel oder aber Mängel, die speziell eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen, festgestellt wurden. |
76 |
Zwar sieht Art. 604 Buchst. c AHZ nicht ausdrücklich vor, dass die vollstreckende Justizbehörde es ablehnen kann, einem Haftbefehl Folge zu leisten, wenn sie keine zusätzlichen Garantien erhalten hat oder diese Garantien nicht ausreichen, um die Gründe von der Hand zu weisen, die sie ursprünglich zu der Annahme veranlasst hatten, dass eine tatsächliche Gefahr für den Schutz der Grundrechte der gesuchten Person besteht. |
77 |
Eine andere Auslegung dieser Bestimmung würde dem mit ihr geschaffenen Mechanismus jedoch seine praktische Bedeutung nehmen. |
78 |
Daraus folgt, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über einen auf der Grundlage des AHZ erlassenen Haftbefehl zu entscheiden hat, nicht die Übergabe der gesuchten Person anordnen kann, wenn sie nach einer konkreten und genauen Prüfung der Situation dieser Person zu der Auffassung gelangt, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass im Fall ihrer Übergabe an das Vereinigte Königreich eine tatsächliche Gefahr für den Schutz ihrer Grundrechte besteht. |
79 |
Daraus folgt, dass die ausstellende Justizbehörde in dem Fall, dass sich die Person, gegen die sich ein auf der Grundlage des AHZ erlassener Haftbefehl richtet, ihr gegenüber geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe, diese Übergabe nicht anordnen darf, ohne nach einer angemessenen Prüfung im Sinne von Rn. 51 des vorliegenden Urteils konkret bestimmt zu haben, ob stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass diese Person einer echten Gefahr eines solchen Verstoßes ausgesetzt ist, da die Behörde sonst gegen ihre Verpflichtung gemäß Art. 524 Abs. 2 AHZ zur Achtung der Grundrechte verstoßen würde. |
80 |
Im Hinblick auf eine solche Bestimmung ist erstens hervorzuheben, dass die Existenz von Erklärungen und der Abschluss völkerrechtlicher Verträge, die grundsätzlich die Beachtung der Grundrechte gewährleisten, zwar für sich genommen nicht ausreichen, um einen angemessenen Schutz vor der Gefahr von Verstößen gegen Grundrechte und ‑freiheiten sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 57), dass die vollstreckende Justizbehörde jedoch die langjährige Achtung – durch das Vereinigte Königreich – des Schutzes der Grundrechte und ‑freiheiten des Einzelnen, wie sie u. a. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in der EMRK, auf die in Art. 524 Abs. 1 AHZ ausdrücklich Bezug genommen wird, sowie in den Vorschriften niedergelegt sind, die im Recht des Vereinigten Königreichs vorgesehen und umgesetzt werden, um die Achtung der in der EMKR verankerten Grundrechte zu gewährleisten, berücksichtigen muss (vgl. entsprechend Urteil vom 19. September 2018, RO,C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 52). |
81 |
Dass die vollstreckende Justizbehörde die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK unter Verweis auf die vom Vereinigten Königreich im Allgemeinen in Bezug auf die Einhaltung der EMRK gebotenen Garantien und die Möglichkeit der gesuchten Person, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen, bereits verneint hat, kann allerdings für sich genommen nicht ausschlaggebend sein. |
82 |
Wie in Rn. 78 des vorliegenden Urteils ausgeführt, verlangen Art. 524 Abs. 2 und Art. 604 Buchst. c AHZ in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta nämlich, dass die vollstreckende Justizbehörde alle relevanten Faktoren prüft, um beurteilen zu können, in welcher Situation sich die gesuchte Person bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich voraussichtlich befinden wird. Dies setzt im Gegensatz zu der in Rn. 52 bis 54 des vorliegenden Urteils beschriebenen zweistufigen Prüfung voraus, dass zugleich sowohl die in diesem Land allgemein geltenden Rechtsvorschriften und Praktiken als auch – falls die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung nicht zur Anwendung kommen – die Besonderheiten der individuellen Situation der gesuchten Person berücksichtigt werden. |
83 |
Daher muss, wie der Generalanwalt in Nr. 78 und 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die vollstreckende Justizbehörde anhand der Bestimmungen der Charta eine eigenständige Prüfung vornehmen und darf sich nicht darauf beschränken, die in Rn. 27 des vorliegenden Urteils erwähnte Rechtsprechung des Supreme Court of the United Kingdom (Oberstes Gericht des Vereinigten Königreichs) oder die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils genannten allgemeinen Garantien, die im Justizsystem dieses Staates bestehen, zu berücksichtigen. |
84 |
In diesem Zusammenhang muss eine etwaige Feststellung, dass im Fall der Übergabe der betreffenden Person an das Vereinigte Königreich eine echte Gefahr der Verletzung von Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht, auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 60 und 61). |
85 |
Folglich darf die vollstreckende Justizbehörde es nur dann auf der Grundlage von Art. 524 Abs. 2 und Art. 604 Buchst. c AHZ in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta ablehnen, einem Haftbefehl Folge zu leisten, wenn sie sich im Hinblick auf die individuelle Situation der gesuchten Person auf objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben stützen kann, nach denen stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine echte Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht (vgl. entsprechend Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 59, und vom 19. September 2018, RO, C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 61). |
86 |
Zweitens muss die vollstreckende Justizbehörde entsprechend ihrer Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung nach Treu und Glauben gemäß Art. 3 Abs. 1 AHZ bei der Prüfung, ob die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht, alle Instrumente nutzen, die dieses Abkommen vorsieht, um die Zusammenarbeit zwischen ihr und der ausstellenden Justizbehörde zu fördern. |
87 |
Insoweit sieht Art. 613 Abs. 2 AHZ zum einen vor, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie der Ansicht ist, dass die vom Ausstellungsstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen insbesondere hinsichtlich des Art. 604 AHZ bittet. |
88 |
Die vollstreckende Justizbehörde muss daher um die unverzügliche Übermittlung aller zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für erforderlich hält, um eine Entscheidung über die Übergabe der Person, gegen die sich ein auf Grundlage des AHZ erlassener Haftbefehl richtet, treffen zu können. |
89 |
Da also die Feststellung, dass eine ernsthafte Gefahr des Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta zwangsläufig auf einer Analyse des Rechts des ausstellenden Staates beruht, kann die vollstreckende Justizbehörde diese Feststellung nur dann treffen, wenn sie zuvor von der ausstellenden Justizbehörde Informationen zu den entsprechenden Rechtsvorschriften sowie der Art und Weise, in der sie auf die individuelle Situation der gesuchten Person Anwendung finden können, angefordert hat, da sie andernfalls gegen ihre in Art. 3 Abs. 1 AHZ geregelte Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung nach Treu und Glauben verstieße. |
90 |
Zum anderen obliegt es nach Art. 604 Buchst. c AHZ der vollstreckenden Justizbehörde, zusätzliche Garantien zu verlangen, falls sie der Ansicht ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass eine tatsächliche Gefahr des Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta besteht. |
91 |
Die vollstreckende Justizbehörde kann daher die Vollstreckung eines auf der Grundlage des AHZ erlassenen Haftbefehls nur dann mit der Begründung verweigern, dass eine solche Gefahr bestehe, wenn sie zwar um zusätzliche Garantien ersucht, jedoch keine ausreichenden Garantien erhalten hat, um die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta, die sie zunächst bejaht hatte, zu verneinen. |
92 |
Drittens ergibt sich, was konkret die Tragweise von Art. 49 Abs. 1 der Charta angeht, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Art. 49 der Charta zumindest die gleichen Garantien wie die in Art. 7 EMRK vorgesehenen enthält, die gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 164, vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 54, vom 2. Februar 2021, Consob, C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 37, und vom 10. November 2022, DELTA STROY 2003, C‑203/21, EU:C:2022:865, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
93 |
Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach einer Regelung des Vereinigten Königreichs, die nach der mutmaßlichen Begehung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Straftaten erlassen worden sei, Personen, die bestimmte terroristische Straftaten wie diejenigen, deren MA beschuldigt werde, begangen hätten, nur dann gegen Auflagen vorzeitig aus der Haft entlassen werden könnten, wenn dies von einer speziellen Behörde genehmigt werde, und auch nur nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe, während die frühere Regelung eine automatische vorzeitige Haftentlassung gegen Auflagen vorgesehen habe, wenn der Verurteilte die Hälfte seiner Strafe verbüßt habe. |
94 |
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist bei der Anwendung von Art. 7 EMRK zwischen einer Maßnahme, die im Wesentlichen eine Strafe darstellt, und einer Maßnahme, die deren „Vollstreckung“ oder „Vollzug“ betrifft, zu unterscheiden. Wenn sich folglich die Art und der Zweck einer Maßnahme auf einen Straferlass oder die Änderung einer Regelung über eine vorzeitige Entlassung beziehen, ist dies nicht Teil der „Strafe“ im Sinne von Art. 7 EMRK (EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, § 83). |
95 |
Da die Abgrenzung zwischen einer Maßnahme, die eine „Strafe“ darstellt, und einer solchen, die sich auf die „Vollstreckung“ einer Strafe bezieht, in der Praxis nicht immer klar gezogen ist, muss, um festzustellen, ob eine während der Vollstreckung einer Strafe getroffene Maßnahme lediglich die Art der Vollstreckung der Strafe betrifft oder vielmehr Auswirkungen auf ihren Umfang hat, in jedem Einzelfall geprüft werden, was die verhängte „Strafe“ nach dem zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden innerstaatlichen Recht tatsächlich beinhaltete, oder, mit anderen Worten, welcher Art sie war (EGMR, 21. Oktober 2013, Del Río Prada/Spanien, CE:ECHR:2013:1021JUD004275009, §§ 85 und 90). |
96 |
Insoweit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kürzlich bestätigt, dass die Vollstreckung der Strafe und nicht die Strafe selbst betroffen ist, wenn sich die Haftsituation möglicherweise dadurch verschärft, dass nach der Verurteilung die zeitliche Schwelle für die Zulässigkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen angehoben wird, und dass daraus nicht abgeleitet werden kann, dass die verhängte Strafe schwerer ist als die vom Tatrichter verhängte Strafe (EGMR, 31. August 2021, Devriendt/Belgien, CE:ECHR:2021:0831DEC003556719, § 29). |
97 |
Eine sich auf die Vollstreckung der Strafe beziehende Maßnahme ist daher nur dann mit Art. 49 Abs. 1 der Charta unvereinbar, wenn sie rückwirkend den Umfang der Strafe ändert, die zum Zeitpunkt der Begehung der in Rede stehenden Straftat verwirkt wurde, und somit eine schwerere Strafe verhängt wird als sie zunächst verwirkt wurde. Das ist zwar jedenfalls dann nicht der Fall, wenn diese Maßnahme lediglich die zeitliche Schwelle für die Zulässigkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen anhebt, doch mag sich die Situation insbesondere dann anders darstellen, wenn diese Maßnahme die Möglichkeit einer vorzeitigen Haftentlassung unter Auflagen im Wesentlichen aufhebt oder wenn sie Teil einer Reihe von Maßnahmen ist, die dazu führen, dass die ursprünglich verwirkte Strafe ihrer Art nach schwerer wird. |
98 |
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 524 Abs. 2 und Art. 604 Buchst. c AHZ in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass eine vollstreckende Justizbehörde in dem Fall, dass eine Person, gegen die auf Grundlage dieses Abkommens ein Haftbefehl erlassen wurde, geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich wegen einer für sie ungünstigen und nach der mutmaßlichen Begehung der in Rede stehenden Straftat erfolgten Änderung der Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe, das Vorliegen dieser Gefahr eigenständig prüfen muss, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet, und zwar auch dann, wenn sie die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 EMRK unter Verweis auf die Garantien, die das Vereinigte Königreich im Allgemeinen in Bezug auf die Einhaltung der EMRK bietet, und auf die Möglichkeit der betroffenen Person, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen, bereits verneint hat. Am Ende dieser Prüfung darf die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Haftbefehls nur dann ablehnen, wenn sie, nachdem sie die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen und Garantien ersucht hat, über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, nach denen eine echte Gefahr besteht, dass der Umfang der Strafe, die zum Zeitpunkt der Begehung der in Rede stehenden Straftat verwirkt wurde, geändert und somit eine schwerere Strafe verhängt wird als sie ursprünglich verwirkt wurde. |
Kosten
99 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt: |
Art. 524 Abs. 2 und Art. 604 Buchst. c des Abkommens über Handel und Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland andererseits in Verbindung mit Art. 49 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union |
sind dahin auszulegen, dass |
eine vollstreckende Justizbehörde in dem Fall, dass eine Person, gegen die auf Grundlage dieses Abkommens ein Haftbefehl erlassen wurde, geltend macht, dass bei einer Übergabe an das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland wegen einer für sie ungünstigen und nach der mutmaßlichen Begehung der in Rede stehenden Straftat erfolgten Änderung der Voraussetzungen für eine vorzeitige Haftentlassung unter Auflagen die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 49 Abs. 1 der Charta bestehe, das Vorliegen dieser Gefahr eigenständig prüfen muss, bevor sie über die Vollstreckung des Haftbefehls entscheidet, und zwar auch dann, wenn sie die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 7 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unter Verweis auf die Garantien, die das Vereinigte Königreich im Allgemeinen in Bezug auf die Einhaltung dieser Konvention bietet, und auf die Möglichkeit der betroffenen Person, eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einzulegen, bereits verneint hat. Am Ende dieser Prüfung darf die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Haftbefehls nur dann ablehnen, wenn sie, nachdem sie die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen und Garantien ersucht hat, über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben verfügt, nach denen eine echte Gefahr besteht, dass der Umfang der Strafe, die zum Zeitpunkt der Begehung der in Rede stehenden Straftat verwirkt wurde, geändert und somit eine schwerere Strafe verhängt wird als sie ursprünglich verwirkt wurde. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.
( i ) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.