BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

17. Juli 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Antwort, die klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann – Zuständigkeit, anzuwendendes Recht, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses – Verordnung (EU) Nr. 650/2012 – Art. 10 Abs. 1 Buchst. a – Subsidiäre Zuständigkeit – Art. 267 AEUV – Pflicht zur Befolgung der Vorgaben eines übergeordneten Gerichts“

In der Rechtssache C‑55/23 [Jurtukała] ( i )

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy Szczecin – Prawobrzeże i Zachód w Szczecinie (Rayongericht Szczecin [Stettin] – Szczecin-Rechtes Ufer und -West, Polen) mit Entscheidung vom 6. Dezember 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Februar 2023, in dem Verfahren

PA,

Beteiligte:

MO,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter M. Ilešič (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

folgenden

Beschluss

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl. 2012, L 201, S. 107, berichtigt in ABl. 2012, L 344, S. 3, ABl. 2013, L 41, S. 16, ABl. 2013, L 60, S. 140, und ABl. 2014, L 363, S. 186) und von Art. 267 AEUV.

2

Es ergeht im Rahmen eines auf Antrag von PA eingeleiteten Gerichtsverfahrens zur Feststellung der Erben ihres Bruders, der am 9. Mai 2020 in Hamburg (Deutschland) verstorben ist.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 23 und 30 der Verordnung Nr. 650/2012 heißt es:

„(23)

In Anbetracht der zunehmenden Mobilität der Bürger sollte die Verordnung zur Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege in der [Europäischen] Union und einer wirklichen Verbindung zwischen dem Nachlass und dem Mitgliedstaat, in dem die Erbsache abgewickelt wird, als allgemeinen Anknüpfungspunkt zum Zwecke der Bestimmung der Zuständigkeit und des anzuwendenden Rechts den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im Zeitpunkt des Todes vorsehen. …

(30)

Um zu gewährleisten, dass die Gerichte aller Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit in Bezug auf den Nachlass von Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt ihres Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatten, auf derselben Grundlage ausüben können, sollte diese Verordnung die Gründe, aus denen diese subsidiäre Zuständigkeit ausgeübt werden kann, abschließend und in einer zwingenden Rangfolge aufführen.“

4

Kapitel II („Zuständigkeit“) dieser Verordnung umfasst u. a. die Art. 4 bis 10 und 15.

5

Art. 4 („Allgemeine Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 650/2012 lautet:

„Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.“

6

Art. 5 („Gerichtsstandsvereinbarung“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Ist das vom Erblasser nach Artikel 22 zur Anwendung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen gewählte Recht das Recht eines Mitgliedstaats, so können die betroffenen Parteien vereinbaren, dass für Entscheidungen in Erbsachen ausschließlich ein Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats zuständig sein sollen.“

7

Die Art. 6 bis 9 der Verordnung Nr. 650/2012 legen die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung fest.

8

Art. 10 („Subsidiäre Zuständigkeit“) der Verordnung lautet:

„(1)   Hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Mitgliedstaat, so sind die Gerichte eines Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass zuständig, wenn

a)

der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats im Zeitpunkt seines Todes besaß … oder, wenn dies nicht der Fall ist,

b)

der Erblasser seinen vorhergehenden gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat hatte, sofern die Änderung dieses gewöhnlichen Aufenthalts zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts nicht länger als fünf Jahre zurückliegt.

(2)   Ist kein Gericht in einem Mitgliedstaat nach Absatz 1 zuständig, so sind dennoch die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, für Entscheidungen über dieses Nachlassvermögen zuständig.“

9

Art. 15 („Prüfung der Zuständigkeit“) dieser Verordnung sieht vor:

„Das Gericht eines Mitgliedstaats, das in einer Erbsache angerufen wird, für die es nach dieser Verordnung nicht zuständig ist, erklärt sich von Amts wegen für unzuständig.“

10

Art. 22 („Rechtswahl“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 650/2012, der Teil des Kapitels III („Anzuwendendes Recht“) ist, bestimmt:

„Eine Person kann für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates wählen, dem sie im Zeitpunkt der Rechtswahl oder im Zeitpunkt ihres Todes angehört.

…“

Polnisches Recht

11

Art. 386 Abs. 6 der Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz über die Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung (Dz. U. 2021, Pos. 1805, im Folgenden: Zivilprozessordnung) bestimmt:

„Die rechtliche Beurteilung, die in der Urteilsbegründung des zweitinstanzlichen Gerichts zum Ausdruck kommt, bindet sowohl das Gericht, an das die Rechtssache verwiesen wurde, als auch das zweitinstanzliche Gericht, wenn es in der Rechtssache erneut entscheidet. Dies gilt jedoch nicht, wenn sich die Rechtslage oder der Sachverhalt geändert hat oder wenn nach dem Erlass des Urteils der zweiten Instanz der Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht, Polen)] in einem Beschluss, der eine Rechtsfrage klärt, eine andere rechtliche Beurteilung zum Ausdruck gebracht hat.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12

BF (im Folgenden: Erblasser), ein polnischer Staatsangehöriger, verstarb am 9. Mai 2020 in Hamburg.

13

PA, die Schwester des Erblassers, hat beim Sąd Rejonowy Szczecin – Prawobrzeże i Zachód w Szczecinie (Rayongericht Szczecin, Szczecin-Rechtes Ufer und -West, Polen), dem vorlegenden Gericht, die Feststellung der Erben des Erblassers beantragt.

14

In ihrem Antrag führte PA aus, dass ihr Bruder seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Hamburg gehabt habe, dass er in Polen Immobilien besessen und kein auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbares Recht gewählt habe. Sie legte außerdem dar, dass sie selbst, der Sohn, die Ehefrau, die Mutter und die Nichte des Erblassers die Erbschaft vor einem deutschen Gericht ausgeschlagen hätten.

15

Mit Beschluss vom 30. August 2022 wies das vorlegende Gericht den Antrag von PA mit der Begründung zurück, dass die polnischen Gerichte nicht für Entscheidungen über die Rechtsnachfolge eines Erblassers zuständig seien, der seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen hatte. Es schloss die Anwendbarkeit der Bestimmung zur subsidiären Zuständigkeit gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 aus, da diese nur Erblasser betreffe, die ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt nicht in einem Mitgliedstaat gehabt hätten.

16

Mit Beschluss vom 14. November 2022 hob der Sąd Okręgowy w Szczecinie (Regionalgericht Szczecin, Polen) aufgrund einer Beschwerde den Beschluss vom 30. August 2022 mit der Begründung auf, dass das vorlegende Gericht Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 falsch ausgelegt habe. Dem Sąd Okręgowy w Szczecinie (Regionalgericht Szczecin) zufolge räumt diese Bestimmung dem Mitgliedstaat, in dem der Erblasser Vermögen hinterlassen hat und dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, eine subsidiäre Zuständigkeit ein, auch wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in diesem Mitgliedstaat hatte.

17

Das vorlegende Gericht, das nun erneut mit dem Ausgangsrechtsstreit befasst ist, schließt sich der durch den Sąd Okręgowy w Szczecinie (Regionalgericht Szczecin) vorgenommenen Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 nicht an, da diese seiner Ansicht nach sowohl dem Wortsinn der Bestimmung widerspricht als auch den Zielen der Verordnung Nr. 650/2012 zuwiderläuft.

18

Das vorlegende Gericht macht geltend, dass ein angerufenes Gericht nach nationalem Recht an die Auslegung von Unionsrecht durch ein übergeordnetes Gericht gebunden sei, selbst wenn diese falsch sei, so dass der Konflikt hinsichtlich der in Rede stehenden Auslegung des Unionsrechts nur mittels Beantwortung einer Vorlagefrage durch den Gerichtshof gelöst werden könne. Im nationalen Recht gebe es keine Bestimmung, die ausdrücklich besage, dass eine Antwort des Gerichtshofs ein Gericht berechtige, von der fehlerhaften Auslegung des übergeordneten Gerichts abzuweichen. Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass es, um zur Erreichung der mit Art. 267 AEUV verfolgten Ziele beizutragen, befugt sein müsse, der durch ein Vorabentscheidungsurteil erfolgten Auslegung des Unionsrechts umfassend Rechnung zu tragen, selbst wenn sich diese von der durch das im Ausgangsrechtsstreit übergeordnete nationale Gericht vorgenommenen Auslegung unterscheide.

19

Vor diesem Hintergrund hat der Sąd Rejonowy Szczecin – Prawobrzeże i Zachód w Szczecinie (Rayongericht Szczecin – Szczecin-Rechtes Ufer und -West) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen, dass er nur dann anwendbar ist, wenn der Erblasser seinen Wohnsitz in keinem der durch die Verordnung gebundenen Mitgliedstaaten hatte, oder räumt er dem Mitgliedstaat, in dem der Erblasser Vermögen hinterlassen und dessen Staatsangehörigkeit er zum Zeitpunkt seines Todes besessen hat, eine subsidiäre Zuständigkeit ein, auch wenn der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen durch die Verordnung gebundenen Mitgliedstaat hatte?

2.

Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Gericht an eine rechtliche Beurteilung eines übergeordneten Gerichts, die die Auslegung des Unionsrechts betrifft, gebunden ist, die der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsurteils auch in diesem konkreten Fall widerspricht?

Zu den Vorlagefragen

20

Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn diese Antwort keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt.

21

Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof zur ersten Frage fest, dass der Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. Zur zweiten Frage weist er darauf hin, dass die vom vorlegenden Gericht erbetene Auslegung des Unionsrechts klar aus dem Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581), abgeleitet werden kann. Folglich ist in der vorliegenden Rechtssache Art. 99 der Verfahrensordnung anzuwenden.

Zur ersten Frage

22

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehene Regelung zur subsidiären Zuständigkeit nur anwendbar ist, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes in einem nicht durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hatte.

23

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 650/2012 eine allgemeine Zuständigkeitsregel begründet, wonach für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

24

Hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat, können nach den Art. 5 bis 9 der Verordnung Nr. 650/2012 die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Erblasser besessen hat, zuständig sein, wenn der Erblasser nach Art. 22 dieser Verordnung für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht dieses Mitgliedstaats gewählt hat.

25

Im Übrigen stellt Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 eine Regelung über die subsidiäre Zuständigkeit für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass zugunsten der Gerichte des Mitgliedstaats auf, in dem sich Nachlassvermögen befindet, wenn der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besaß. Aus dem Wortlaut des ersten Teils von Art. 10 Abs. 1 dieser Verordnung ergibt sich jedoch, dass die subsidiäre Zuständigkeit nach dieser Bestimmung nur für den Fall vorgesehen ist, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatte.

26

In dieser Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof durch die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 im Urteil vom 7. April 2022, V A und Z A (Subsidiäre Zuständigkeit in Erbsachen) (C‑645/20, EU:C:2022:267), klargestellt hat, dass sowohl Art. 4 dieser Verordnung als auch ihr Art. 10 Abs. 1 das alleinige Ziel verfolgen, einheitliche Kriterien der gerichtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung über den gesamten Nachlass zu definieren. Art. 10 dieser Verordnung, der zu deren Kapitel II gehört, in dem eine Reihe von Zuständigkeitsregeln in Erbsachen aufgestellt wird, sieht eine subsidiäre Zuständigkeit gegenüber der allgemeinen Zuständigkeit vor, die durch die in Art. 4 der Verordnung aufgestellte Regel festgelegt wird, nach der für Entscheidungen in Erbsachen die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats für den gesamten Nachlass zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Urteil vom 7. April 2022, V A und Z A [Subsidiäre Zuständigkeit in Erbsachen], C‑645/20, EU:C:2022:267, Rn. 30).

27

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass zwischen dem in Art. 4 der Verordnung Nr. 650/2012 bestimmten Gerichtsstand und dem in deren Art. 10 bestimmten Gerichtsstand keine Rangfolge besteht, da sich ein jeder auf unterschiedliche Fallgestaltungen bezieht. Ebenso bedeutet der Umstand, dass die in Art. 10 der Verordnung genannten Zuständigkeiten als „subsidiär“ eingestuft werden, nicht, dass diese Bestimmung weniger verbindlich wäre als diejenige in Art. 4 der Verordnung zur allgemeinen Zuständigkeit. Insoweit legt die adversative Formulierung in Art. 10 Abs. 1 dieser Verordnung nahe, dass sich diese Bestimmung auf eine Zuständigkeitsregel bezieht, die der allgemeinen von Art. 4 gleichwertig ist und sie ergänzt, so dass im Fall der Unanwendbarkeit des zuletzt genannten Artikels zu prüfen ist, ob die in Art. 10 der Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitskriterien erfüllt sind (Urteil vom 7. April 2022, V A und Z A [Subsidiäre Zuständigkeit in Erbsachen], C‑645/20, EU:C:2022:267, Rn. 33 und 34).

28

Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Regeln zur gerichtlichen Zuständigkeit für die Entscheidung in Erbsachen für den gesamten Nachlass den Beteiligten – vorbehaltlich der Anwendung von Art. 5 der Verordnung im Fall einer Wahl des auf den Nachlass anwendbaren Rechts durch den Erblasser – nicht die Möglichkeit geben, nach Maßgabe ihrer Interessen eine Wahl zugunsten der Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats zu treffen (Urteil vom 7. April 2022, V A und Z A [Subsidiäre Zuständigkeit in Erbsachen], C‑645/20, EU:C:2022:267, Rn. 32).

29

Zum Hintergrund dieser Auslegung durch den Gerichtshof ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 25 des Urteils vom 7. April 2022, V A und Z A (Subsidiäre Zuständigkeit in Erbsachen) (C‑645/20, EU:C:2022:267), von der Prämisse ausgegangen ist, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Vereinigten Königreich hatte, also in einem Mitgliedstaat, der bereits vor dem Austritt aus der Union nicht an die Verordnung Nr. 650/2012 gebunden war. Er führte im Hinblick auf die Auslegung von Art. 10 dieser Verordnung aus, dass die in diesem Artikel vorgesehenen Zuständigkeitsregeln auch zur Anwendung kommen können, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat der Union hatte, der nicht an diese Verordnung gebunden ist.

30

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte und dass er kein auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbares Recht gewählt hat.

31

Vor diesem Hintergrund ist dem eindeutigen Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 klar zu entnehmen, dass diese Bestimmung nicht auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anzuwenden ist, in der der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat hatte.

32

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 650/2012 dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehene Regelung zur subsidiären Zuständigkeit nur anzuwenden ist, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes in einem nicht durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hatte.

Zur zweiten Frage

33

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen ist, dass es dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, das nach Aufhebung seiner Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht erneut entscheidet, nach dem nationalen Verfahrensrecht an die rechtliche Beurteilung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist.

34

Nach ständiger Rechtsprechung haben die nationalen Gerichte gemäß Art. 267 AEUV ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die diese Gerichte im konkreten Fall entscheiden müssen (Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass ein Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren das nationale Gericht hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit der in Rede stehenden Rechtsakte der Unionsorgane bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens bindet (vgl. Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Insoweit ist das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, durch die Auslegung der fraglichen Vorschriften durch den Gerichtshof für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens gebunden und muss gegebenenfalls von der Beurteilung des höheren Gerichts abweichen, wenn es angesichts dieser Auslegung der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht (Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 30, und vom 9. September 2021, Dopravní podnik hl. m. Prahy, C‑107/19, EU:C:2021:722, Rn. 46).

37

Im Übrigen ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, verpflichtet, dann, wenn es eine nationale Regelung nicht den Anforderungen des Unionsrechts entsprechend auslegen kann, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. September 2021, Dopravní podnik hl. m. Prahy, C‑107/19, EU:C:2021:722, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Insbesondere hinsichtlich innerstaatlicher Vorschriften, nach denen ein nationales Gericht vorbehaltlos an die Auslegung des Unionsrechts durch ein anderes nationales Gericht gebunden ist, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist, dass ein nationales Gericht nach einer nationalen Vorschrift an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten nationalen Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung des übergeordneten Gerichts nicht dem Unionsrecht entspricht (Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 32)

39

Unter diesen Umständen umfasst das Erfordernis, für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts Sorge zu tragen, die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist (Urteil vom 9. September 2021, Dopravní podnik hl. m. Prahy, C‑107/19, EU:C:2021:722, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Daher ist das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall verpflichtet, für die volle Wirksamkeit von Art. 267 AEUV Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls die nationalen Verfahrensvorschriften – hier Art. 386 Abs. 6 der Zivilprozessordnung –, die es verpflichten, der Auslegung durch den Sąd Okręgowy w Szczecinie (Regionalgericht Szczecin) zu folgen, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, wenn diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist.

41

Nach alledem ist die zweite Frage so zu beantworten, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV, dahin auszulegen ist, dass es dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, das nach Aufhebung seiner Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht erneut entscheidet, nach dem nationalen Verfahrensrecht an die rechtliche Beurteilung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist.

Kosten

42

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) beschlossen:

 

1.

Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses

ist dahin auszulegen, dass

die darin vorgesehene Regelung zur subsidiären Zuständigkeit nur anzuwenden ist, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes in einem nicht durch diese Verordnung gebundenen Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat hatte.

 

2.

Das Unionsrecht, insbesondere Art. 267 AEUV,

ist dahin auszulegen, dass

es dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, das nach Aufhebung seiner Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht erneut entscheidet, nach dem nationalen Verfahrensrecht an die rechtliche Beurteilung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese Beurteilung nicht mit dem Unionsrecht in der Auslegung des Gerichtshofs vereinbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

( i ) Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.