SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 26. Januar 2023 ( 1 )

Rechtssache C‑689/21

X

gegen

Udlændinge- og Integrationsministeriet

(Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret [Landgericht für Ostdänemark, Dänemark])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats – Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes im Alter von 22 Jahren wegen Fehlens einer echten Bindung, sofern vor diesem Zeitpunkt kein Antrag auf Beibehaltung gestellt wurde – Verlust der Unionsbürgerschaft – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht“

I. Einleitung

1.

Die nationalen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats sehen vor, dass Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats ihre Staatsangehörigkeit unter bestimmten Voraussetzungen kraft Gesetzes mit Vollendung des 22. Lebensjahrs wegen Fehlens einer echten Bindung verlieren, sofern sie vor diesem Zeitpunkt keinen Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt haben. Für die betroffene Person führt dies somit zum Verlust ihres Unionsbürgerstatus, ohne dass die nationalen Behörden die Verhältnismäßigkeit der Folgen, die dieser Verlust für die Situation dieser Person mit sich bringt, aus unionsrechtlicher Sicht überprüfen, wenn der Antrag nach Vollendung dieses Lebensjahrs gestellt wird.

2.

Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob eine solche nationale Regelung mit Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) vereinbar ist.

3.

Die vorliegende Rechtssache ist der vierte Abschnitt des Kapitels, das die unionsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Bereich des Erwerbs und Verlusts der Staatsangehörigkeit betrifft und das mit der Rechtssache, in der das Urteil Rottmann ( 2 ) ergangen ist, eingeleitet wurde. Der Gerichtshof hat die aus diesem Urteil hervorgegangene Rechtsprechung in den Urteilen Tjebbes u. a. ( 3 ) und Wiener Landesregierung (Widerruf einer Einbürgerungszusicherung) ( 4 ) bestätigt. Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof die Gelegenheit, erneut die Voraussetzungen für den kraft Gesetzes eintretenden Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, der den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, im Hinblick auf die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen zu prüfen, wie sie vom Gerichtshof im Urteil Tjebbes u. a. ausgelegt wurden.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

4.

Art. 20 Abs. 1 AEUV führt eine Unionsbürgerschaft ein und sieht vor, dass Unionsbürger ist, „wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“. Nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. a haben die Unionsbürger „das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“.

5.

Nach Art. 7 der Charta hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.

B. Dänisches Recht

6.

§ 8 Abs. 1 des Lov nr. 422 om dansk indfødsret, lovbekendtgørelse (Gesetz über die dänische Staatsangehörigkeit, Gesetzesbekanntmachung Nr. 422) vom 7. Juni 2004 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Staatsangehörigkeitsgesetz) sieht vor:

„Eine Person, die im Ausland geboren wurde und nie in Dänemark gewohnt hat und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten hat, die auf eine Bindung zu Dänemark schließen lassen, verliert die dänische Staatsangehörigkeit bei Vollendung des 22. Lebensjahrs, es sei denn, dass die Person dadurch staatenlos wird. Der Minister für Flüchtlinge, Einwanderer und Integration oder der von ihm hierzu Ermächtigte können jedoch auf vor diesem Zeitpunkt gestellten Antrag genehmigen, dass die Staatsangehörigkeit beibehalten wird.“

7.

Das Cirkulæreskrivelse nr. 10873 om naturalisation (Runderlass zur Einbürgerung Nr. 10873) vom 13. Oktober 2015 wurde durch den Runderlass Nr. 9248 vom 16. März 2016 geändert (im Folgenden: Einbürgerungsrunderlass).

8.

Nach dem Einbürgerungsrunderlass müssen ehemalige dänische Staatsangehörige, die ihre dänische Staatsangehörigkeit gemäß § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes verloren haben, grundsätzlich die gesetzlich vorgeschriebenen allgemeinen Voraussetzungen für den Erwerb der dänischen Staatsangehörigkeit erfüllen. Dies bedeutet, dass die Personen, die die in diesem Runderlass vorgesehenen Voraussetzungen in Bezug auf Aufenthalte, Alter, gute Führung, Schulden gegenüber den Behörden, wirtschaftliche Unabhängigkeit, Beschäftigung, Kenntnis der dänischen Sprache und Kenntnis der dänischen Gesellschaft, Kultur und Geschichte erfüllen, vom Gesetzentwurf der dänischen Regierung zur Verleihung der Staatsangehörigkeit erfasst werden. Nach § 5 Abs. 1 dieses Runderlasses muss der Antragsteller zum Zeitpunkt der Beantragung der Einbürgerung im Inland ansässig sein. Nach § 7 des Runderlasses wird vom Antragsteller ein ununterbrochener Aufenthalt von neun Jahren verlangt.

9.

Nach § 13 in Verbindung mit Anhang 1 Nr. 3 des Runderlasses können die allgemeinen Aufenthaltsanforderungen für Personen, die vorher die dänische Staatsangehörigkeit besaßen oder dänischer Abstammung sind, gelockert werden.

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

10.

Die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits, die am 5. Oktober 1992 in den Vereinigten Staaten von Amerika geboren wurde, besitzt seit ihrer Geburt die dänische und die US-amerikanische Staatsangehörigkeit und hat nie in Dänemark gewohnt. Sie hat zwei Geschwister, die in den Vereinigten Staaten leben und von denen eines die dänische Staatsangehörigkeit besitzt, und keine Eltern oder Geschwister in Dänemark.

11.

Am 17. November 2014 beantragte die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits beim Udlændinge- og Integrationsministeriet (Ministerium für Ausländer und Integration, Dänemark) eine Bescheinigung über die Beibehaltung ihrer dänischen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs. Auf der Grundlage der in diesem Antrag enthaltenen Angaben ging das Ministerium davon aus, dass sie sich vor Vollendung ihres 22. Lebensjahrs höchstens 44 Wochen in Dänemark aufgehalten hatte. Außerdem gab die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits an, sich nach Vollendung ihres 22. Lebensjahrs fünf Wochen in Dänemark aufgehalten zu haben und im Jahr 2015 Mitglied der dänischen Basketball-Nationalmannschaft der Frauen gewesen zu sein. Sie gab außerdem an, dass sie sich im Lauf des Jahres 2005 ca. drei bis vier Wochen in Frankreich aufgehalten habe. Es liegen keine Erkenntnisse vor, dass sie sich darüber hinaus im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats der Union aufgehalten hätte.

12.

Mit Bescheid vom 31. Januar 2017 (im Folgenden: streitiger Bescheid) teilte das Ministerium für Ausländer und Integration der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits mit, dass sie ihre dänische Staatsangehörigkeit gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes mit Vollendung des 22. Lebensjahrs verloren habe und dass sie die Ausnahmeregelung des § 8 Abs. 1 Satz 2 dieses Gesetzes nicht in Anspruch nehmen könne, weil sie ihren Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt habe. In diesem Bescheid heißt es u. a., dass die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits ihre dänische Staatsangehörigkeit mit Vollendung des 22. Lebensjahrs verloren habe, weil sie nie in Dänemark gewohnt habe und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten habe, die auf eine Bindung zu diesem Mitgliedstaat hindeuteten, weil die Gesamtdauer ihrer Aufenthalte im Inland vor Vollendung des 22. Lebensjahrs nur höchstens 44 Wochen betragen habe.

13.

Am 9. Februar 2018 erhob die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits beim Københavns byret (Gericht Kopenhagen, Dänemark) Klage auf Aufhebung des streitigen Bescheids und erneute Prüfung der Sache. Mit Beschluss vom 3. April 2020 wurde der Rechtsstreit an das Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark) verwiesen, das beschloss, die Rechtssache im ersten Rechtszug zu prüfen.

14.

Unter diesen Umständen hat das Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark) mit Entscheidung vom 11. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2021, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wonach Personen, die außerhalb des Mitgliedstaats geboren wurden, nie in dem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die auf eine Bindung zu dem Mitgliedstaat schließen lassen, die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats grundsätzlich kraft Gesetzes mit Vollendung des 22. Lebensjahrs verlieren, was für Personen, die nicht zugleich die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, den Verlust ihres Status als Unionsbürger und der damit verbundenen Rechte bedeutet, entgegen, wenn man berücksichtigt, dass aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung folgt,

a)

dass von einer Bindung zum Mitgliedstaat insbesondere bei einem Aufenthalt von insgesamt einem Jahr in dem Mitgliedstaat ausgegangen wird,

b)

dass die Genehmigung für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats unter weniger strengen Bedingungen erlangt werden kann und die zuständigen Behörden in diesem Zusammenhang die Folgen eines Verlusts der Staatsangehörigkeit prüfen, wenn der Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit vor Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt wird,

c)

und dass die Wiedererlangung der verloren gegangenen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs ausschließlich durch Einbürgerung erfolgen kann, die einer Reihe von Voraussetzungen wie z. B. dem Erfordernis eines längeren ununterbrochenen Aufenthalts im Mitgliedstaat unterliegt, wobei es für ehemalige Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats allerdings gewisse Erleichterungen in Bezug auf die erforderliche Aufenthaltsdauer geben kann?

15.

Die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits, die dänische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der französischen Regierung haben diese Beteiligten an der mündlichen Verhandlung vom 4. Oktober 2022 teilgenommen und die Fragen zur mündlichen Beantwortung beantwortet, die der Gerichtshof an sie gerichtet hatte.

IV. Rechtliche Würdigung

16.

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 AEUV im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die unter bestimmten Voraussetzungen den kraft Gesetzes eintretenden Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats mit Vollendung des 22. Lebensjahrs wegen des Fehlens einer echten Bindung vorsieht, sofern vor diesem Zeitpunkt kein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde, was bei Personen, die nicht zugleich die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Status als Unionsbürger und der damit verbundenen Rechte führt, ohne dass, wenn dieser Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt wird, eine Einzelfallprüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen eines solchen Verlusts für ihre Situation aus unionsrechtlicher Sicht vorgenommen wird.

17.

Die Zweifel des vorlegenden Gerichts, die sich darauf beziehen, ob die in § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgesehene Regelung über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit, der mit Vollendung des 22. Lebensjahrs eintritt, mit Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta vereinbar ist, betreffen zum einen den Umstand, dass der Verlust dieser Staatsangehörigkeit und damit des Unionsbürgerstatus automatisch eintritt und dass diese Bestimmung keine Ausnahme vorsieht, und zum anderen die Schwierigkeit, die Staatsangehörigkeit nach Vollendung dieses Lebensjahrs durch Einbürgerung wiederzuerlangen.

18.

In meiner Würdigung werde ich zunächst die Aspekte des Ausgangsrechtsstreits darlegen, die ich für die Rechtssache vor dem Gerichtshof für relevant halte (Abschnitt A). Sodann werde ich den Leitgedanken aufzeigen, der die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verlust des Unionsbürgerstatus durchzieht und insbesondere aus dem Urteil Tjebbes u. a. hervorgeht, auf das sich das vorlegende Gericht bei der Darlegung seiner Zweifel an der Vereinbarkeit der Regelung über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit mit dem Unionsrecht bezogen hat (Abschnitt B). Schließlich werde ich die Vorlagefrage im Licht dieser Rechtsprechung analysieren und mich dabei darauf konzentrieren, zum einen die Legitimität des Ziels des Allgemeininteresses zu prüfen, das mit dem in der in Rede stehenden Regelung vorgesehenen Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit verfolgt wird, und zum anderen die Verhältnismäßigkeit dieses Verlusts, der den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen (Abschnitt C).

A. Zu den für die vorliegende Rechtssache relevanten Aspekten des Ausgangsrechtsstreits

1.   Zu den Besonderheiten der dänischen Regelung über den Verlust der Staatsangehörigkeit, um die es im Ausgangsrechtsstreit geht

19.

Aus dem vom vorlegenden Gericht dargelegten rechtlichen Rahmen geht hervor, dass die Regelung über den kraft Gesetzes eintretenden Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit zum einen durch § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes und die Verwaltungspraxis des Ministeriums für Ausländer und Integration bei der Anwendung dieser Bestimmung ( 5 ) und zum anderen durch den Einbürgerungsrunderlass eingeführt wurde, in dem die Voraussetzungen der Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit für ehemalige dänische Staatsangehörige festgelegt sind, die ihre dänische Staatsangehörigkeit nach dieser Bestimmung verloren haben.

20.

Was als Erstes das Staatsangehörigkeitsgesetz betrifft, weise ich darauf hin, dass dessen § 8 Abs. 1 Satz 1 vorsieht, dass jeder dänische Staatsangehörige, der „im Ausland geboren wurde, nie in Dänemark gewohnt hat und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten hat, die auf eine Bindung zu Dänemark schließen lassen“, mit Vollendung des 22 Lebensjahrs kraft Gesetzes die dänische Staatsangehörigkeit verliert, „es sei denn, dass [er] dadurch staatenlos wird“ ( 6 ). § 8 Abs. 1 Satz 2 dieses Gesetzes sieht jedoch eine Ausnahme von dieser Regel vor, nämlich dass ein solcher Staatsangehöriger vor Vollendung des 22. Lebensjahrs beim Ministerium für Ausländer und Integration einen Antrag auf Beibehaltung seiner dänischen Staatsangehörigkeit stellen kann.

21.

Was als Zweites die Verwaltungspraxis des Ministeriums für Ausländer und Integration bei der Anwendung von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes betrifft, führt das vorlegende Gericht Folgendes aus.

22.

Was zunächst die Regelung in § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes angeht, wird nach Angaben des vorlegenden Gerichts im Hinblick auf das in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende Kriterium des Aufenthalts danach unterschieden, ob die Dauer des Aufenthalts in Dänemark vor Vollendung des 22. Lebensjahrs mindestens ein Jahr oder weniger als ein Jahr betragen hat. Im ersten Fall erkennt das Ministerium für Ausländer und Integration eine für die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit „ausreichende Bindung“ zu Dänemark an. Im zweiten Fall sind die Anforderungen an die Bindung, die sich aus dieser Verwaltungspraxis ergeben, jedoch strenger ( 7 ). Der Antragsteller muss nämlich nachweisen, dass Aufenthalte von weniger als einem Jahr gleichwohl Ausdruck einer „besonderen Bindung zu Dänemark“ sind. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass als derartige Aufenthalte nach den Vorarbeiten zum Staatsangehörigkeitsgesetz ( 8 ) Zeiten des Wehrdiensts, eines Hochschulstudiums, der Ausbildung oder wiederkehrende Urlaubsaufenthalte bestimmter Dauer in Betracht kommen.

23.

Was sodann die in § 8 Abs. 1 Satz 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgesehene Ausnahme betrifft, erläutert das vorlegende Gericht, dass nach der Verwaltungspraxis des Ministeriums für Ausländer und Integration in Fällen, in denen die Voraussetzungen des Wohnsitzes oder des Aufenthalts nicht erfüllt sind, und sofern der Antrag vor Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt worden ist ( 9 ), der Schwerpunkt auf eine Reihe anderer Umstände gelegt wird, wie z. B. auf die Gesamtdauer des Aufenthalts des Antragstellers in Dänemark, auf die Anzahl der Aufenthalte in diesem Mitgliedstaat, darauf, ob die Aufenthalte kurz vor dem Alter von 22 Jahren stattfanden oder mehrere Jahre zurückliegen, sowie auf den Umstand, dass der Antragsteller fließend Dänisch spricht und darüber hinaus eine Bindung zu diesem Mitgliedstaat hat.

24.

Was schließlich die Anträge auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit betrifft, geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass das Ministerium für Ausländer und Integration bei der Behandlung dieser Anträge zwischen drei Fällen unterscheidet, je nachdem, ob das Alter des Antragstellers zum Zeitpunkt der Antragstellung unter 21 Jahren, zwischen 21 und 22 Jahren oder über 22 Jahren liegt. Ist der Antragsteller jünger als 21 Jahre, stellt dieses Ministerium dem Antragsteller lediglich eine Bescheinigung über die Staatsangehörigkeit vorbehaltlich des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit gemäß § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes aus, was nach Ansicht des vorlegenden Gerichts bedeutet, dass das Ministerium nicht zu der Frage Stellung nimmt, ob der Antragsteller die dänische Staatsangehörigkeit beibehält, sondern nur zu der Frage, ob er diese Staatsangehörigkeit besitzt. Dies hängt nach Angaben dieses Gerichts damit zusammen, dass die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit nach der Praxis des Ministeriums in größtmöglicher zeitlicher Nähe zum 22. Lebensjahr beurteilt werden müsse.

25.

Das vorlegende Gericht präzisiert außerdem, dass diese dänische Verwaltungspraxis zwar ungeachtet des Urteils Tjebbes u. a., das nach Erlass des streitigen Bescheids im Ausgangsrechtsstreit verkündet worden sei, fortbestanden habe, jedoch § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes geändert worden sei. Diese Änderung bedeute, dass das Ministerium für Ausländer und Integration bei einem Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit, der vor Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt werde, nunmehr eine Reihe zusätzlicher Gesichtspunkte berücksichtigen müsse, um eine Einzelfallprüfung der Auswirkungen des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit und damit der Unionsbürgerschaft aus unionsrechtlicher Sicht vorzunehmen. Insoweit habe das Ministerium zu prüfen, ob diese Auswirkungen in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden Regelung verfolgten Ziel stünden, nämlich dem Bestehen einer echten Bindung der dänischen Staatsangehörigen zu Dänemark.

26.

Was als Drittes den Einbürgerungsrunderlass betrifft, erläutert das vorlegende Gericht, dass ehemalige dänische Staatsangehörige, die die dänische Staatsangehörigkeit gemäß § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes verloren hätten, die Möglichkeit hätten, die dänische Staatsangehörigkeit im Wege der Einbürgerung zu beantragen, und dass sie in diesem Fall grundsätzlich eine Reihe von allgemeinen Voraussetzungen für den Erwerb der dänischen Staatsangehörigkeit erfüllen müssten, die in diesem Gesetz vorgesehen seien ( 10 ). Für diese ehemaligen Staatsangehörigen könne jedoch das Erfordernis einer ununterbrochenen Aufenthaltsdauer von neun Jahren in Dänemark gelockert werden ( 11 ). Allerdings geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass diese Lockerung zum einen einen sehr begrenzten Anwendungsbereich hat und zum anderen nichts an der Tatsache ändert, dass der Antragsteller nach § 5 Abs. 1 dieses Runderlasses zum Zeitpunkt der Antragstellung im Inland ansässig sein muss ( 12 ).

2.   Zur Situation der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits

27.

Zur Situation der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits führt das vorlegende Gericht folgende Tatsachenfeststellungen an: Sie besitzt sowohl die dänische als auch die US-amerikanische Staatsangehörigkeit; sie wurde in den USA geboren und hatte nie einen Wohnsitz in Dänemark; sie hielt sich jedoch vor ihrem 22. Lebensjahr 44 Wochen und danach fünf Wochen in diesem Mitgliedstaat auf; sie stellte beim Ministerium für Ausländer und Integration 43 Tage nach Vollendung des 22. Lebensjahrs einen Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit; sie wurde durch den streitigen Bescheid darüber informiert, dass sie zum einen ihre dänische Staatsangehörigkeit nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes mit Vollendung des 22. Lebensjahrs aufgrund des Fehlens einer echten Bindung kraft Gesetzes verloren habe, weil sie vor diesem Zeitpunkt keinen Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt habe, und dass sie zum anderen nicht in den Genuss der Ausnahmeregelung nach § 8 Abs. 1 Satz 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes kommen könne, weil sie ihren Antrag erst nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt habe.

B. Zum Leitgedanken, der die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verlust des Unionsbürgerstatus durchzieht

28.

In den folgenden Ausführungen werde ich die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verlust des Unionsbürgerstatus und die für die Prüfung der vorliegenden Rechtssache wichtigen Aspekte ihrer Entwicklung darlegen.

1.   Urteil Rottmann: Festschreibung des Grundsatzes der gerichtlichen Kontrolle aus unionsrechtlicher Sicht

29.

Im Urteil Rottmann ( 13 ), das die Prüfung einer von den deutschen Behörden erlassenen Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung betraf, hat der Gerichtshof zunächst den in den 1990er Jahren ( 14 ) aufgestellten Grundsatz bestätigt, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Erwerbs und Verlusts der Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Unionsrechts ausgeübt werden muss ( 15 ). Anschließend hat er die Tragweite dieses Grundsatzes klargestellt, indem er feststellte, dass der Umstand, „[d]ass für ein Rechtsgebiet die Mitgliedstaaten zuständig sind, … aber nicht aus[schließt], dass die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen“ ( 16 ). So hat er festgestellt, dass die Situation eines Unionsbürgers, gegen den eine Entscheidung der Behörden eines Mitgliedstaats über die Rücknahme seiner Einbürgerung ergangen ist, die ihn – nachdem er die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats, die er ursprünglich besessen hatte, verloren hat – in eine Lage versetzt, die zum Verlust des durch Art. 20 AEUV verliehenen Status eines Unionsbürgers und der damit verbundenen Rechte führen kann, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt ( 17 ).

30.

Der Gerichtshof hat auch den Grundsatz aufgestellt, dass im Fall von Unionsbürgern die Ausübung dieser Zuständigkeit, soweit sie die von der Rechtsordnung der Union verliehenen und geschützten Rechte berührt – wie dies insbesondere bei einer Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung der Fall ist –, der gerichtlichen Kontrolle im Hinblick auf das Unionsrecht unterliegt ( 18 ). So hat er im Anschluss an die Feststellung, dass eine Entscheidung über die Rücknahme der Einbürgerung wegen betrügerischer Handlungen grundsätzlich rechtmäßig ist ( 19 ), eine solche Entscheidung gleichwohl für einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zugänglich erklärt, um „die möglichen Folgen zu berücksichtigen, die diese Entscheidung für den Betroffenen und gegebenenfalls für seine Familienangehörigen in Bezug auf den Verlust der Rechte, die jeder Unionsbürger genießt, mit sich bringt“ ( 20 ).

31.

Der Gerichtshof hat schließlich entschieden, dass Art. 20 AEUV es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, einem Unionsbürger die durch Einbürgerung erworbene Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats wieder zu entziehen, falls die Einbürgerung durch Täuschung erschlichen wurde, vorausgesetzt, dass die Rücknahmeentscheidung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt ( 21 ).

32.

Diese Rechtsprechung ist in zwei späteren Urteilen des Gerichtshofs bestätigt und in einigen Punkten ergänzt worden.

2.   Urteil Tjebbes u. a.: Bedeutung der Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung

33.

Im Urteil Tjebbes u. a., in dem es um die unionsrechtliche Prüfung einer allgemeinen Voraussetzung für den kraft Gesetzes eintretenden Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit ( 22 ) und damit des Unionsbürgerstatus der Betroffenen ( 23 ) ging, war die Bestätigung des in der früheren Rechtsprechung aufgestellten Grundsatzes Ausgangspunkt der Erwägungen des Gerichtshofs ( 24 ). So hat der Gerichtshof unter Hinweis auf die Rn. 42 und 45 des Urteils Rottmann festgestellt, dass die Situation von Unionsbürgern, die die Staatsangehörigkeit nur eines einzigen Mitgliedstaats besitzen und die durch den Verlust dieser Staatsangehörigkeit auch mit dem Verlust des durch Art. 20 AEUV verliehenen Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte konfrontiert werden, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt und die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit somit das Unionsrecht zu beachten haben ( 25 ).

34.

Genauer gesagt hat der Gerichtshof in einem ersten Schritt unter Hinweis u. a. darauf, dass ein Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit davon ausgehen darf, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zwischen ihm und seinen Staatsbürgern ist, und folglich das Fehlen oder den Wegfall einer solchen echten Bindung mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit verbinden darf ( 26 ), festgestellt, dass das Unionsrecht es grundsätzlich nicht verbietet, dass in Situationen wie den von der betreffenden nationalen Regelung erfassten ein Mitgliedstaat aus Gründen des Allgemeininteresses den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsieht, auch wenn dieser Verlust für die betreffende Person den Verlust ihres Unionsbürgerstatus nach sich zieht ( 27 ).

35.

In einem zweiten Schritt hat der Gerichtshof jedoch unter Hinweis auf die Bedeutung der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch die zuständigen Behörden und Gerichte in diesen Fällen entschieden, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes gegen diesen Grundsatz verstieße, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten ( 28 ).

36.

Folglich müssen die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte nach Auffassung des Gerichtshofs in einer Situation, in der der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes erfolgt und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, in der Lage sein, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Person rückwirkend wiederherzustellen ( 29 ). Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt, dass sich die zuständigen nationalen Behörden und nationalen Gerichte im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung Gewissheit darüber verschaffen müssen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist, im Einklang steht ( 30 ).

37.

Die auf die Urteile Rottmann und Tjebbes u. a. zurückgehende Rechtsprechung ist durch das Urteil Wiener Landesregierung bestätigt worden, in dem der Gerichtshof eindeutig festgestellt hat, dass der in jener Rechtssache in Rede stehende Bescheid nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar war.

3.   Urteil Wiener Landesregierung: Unvereinbarkeit des in dieser Rechtssache in Rede stehenden streitigen Bescheids mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

38.

Ich erlaube mir, auf die Erwägungen in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Wiener Landesregierung ( 31 ) zu verweisen, und beschränke mich hier der Klarheit halber auf eine kurze Zusammenfassung der Aspekte des Urteils Wiener Landesregierung, die für die Prüfung der vom vorlegenden Gericht im Rahmen der vorliegenden Rechtssache gestellten Fragen sachdienlich sind.

39.

In jener Rechtssache wollte ein österreichisches Gericht wissen, ob die Situation einer Person, die die Staatsangehörigkeit nur eines Mitgliedstaats besitzt und diese mit der Folge des Verlusts ihres Unionsbürgerstatus zwecks Erwerbs der österreichischen Staatsangehörigkeit aufgibt, nachdem ihr die österreichischen Behörden die Verleihung dieser Staatsbürgerschaft zugesichert haben, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt, wenn diese Zusicherung widerrufen wird und die betroffene Person infolgedessen daran gehindert wird, den Unionsbürgerstatus wiederzuerlangen. Der Gerichtshof hat diese Frage bejaht und damit die Anwendbarkeit des Unionsrechts auf eine solche Situation bestätigt ( 32 ).

40.

Das österreichische Gericht wollte außerdem wissen, ob die zuständigen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats zu prüfen haben, ob die Entscheidung über den Widerruf der Zusicherung der Verleihung der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats, die zum endgültigen Verlust des Unionsbürgerstatus der betroffenen Person führt, im Hinblick auf die Folgen, die sie für die Situation dieser Person mit sich bringt, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Der Gerichtshof hat diese Frage ebenfalls bejaht und die Verpflichtung der nationalen Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats bestätigt, die Vereinbarkeit der in Rede stehenden nationalen Entscheidung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu prüfen ( 33 ).

41.

Ich möchte auf einige Aspekte dieses Urteils aufmerksam machen.

42.

Erstens hat der Gerichtshof auf die Bedeutung der Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie gegebenenfalls derjenigen ihrer Familie im Rahmen der Prüfung der Einhaltung des im Unionsrecht verankerten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hingewiesen ( 34 ). Insoweit hat er insbesondere seine ständige Rechtsprechung bekräftigt, wonach sich die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte Gewissheit darüber verschaffen müssen, dass die betreffende nationale Entscheidung mit den in der Charta garantierten Grundrechten und insbesondere mit dem in Art. 7 der Charta niedergelegten Recht auf Achtung des Familienlebens im Einklang steht ( 35 ).

43.

Zweitens hat der Gerichtshof im Anschluss an die Prüfung der von der österreichischen Regierung angeführten Rechtfertigungsgründe für die nationale Entscheidung, die zum Verlust des Unionsbürgerstatus führte ( 36 ), festgestellt, dass diese Entscheidung in Anbetracht der erheblichen Folgen für die Situation der betroffenen Person und insbesondere für die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens, die mit der Entscheidung über den Widerruf der Zusicherung der österreichischen Staatsangehörigkeit einhergehen, die zum endgültigen Verlust des Unionsbürgerstatus führte, nicht in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der von dieser Person begangenen Verstöße stand ( 37 ). Folglich hat er entschieden, dass „[dem] Erfordernis der Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit … nicht Genüge getan [ist], wenn der Widerruf mit straßenverkehrsrechtlichen Verwaltungsübertretungen begründet wird, die nach dem anwendbaren nationalen Recht rein finanziell geahndet werden“. Mit anderen Worten hat der Gerichtshof im Rahmen dieser Rechtsprechung eine solche nationale Entscheidung erstmals rundheraus für mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar erklärt ( 38 ).

4.   Die Rechtsprechungsgrundsätze zur Prüfung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit im Hinblick auf das Unionsrecht

44.

Der Leitgedanke, der sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verlust des Unionsbürgerstatus ergibt, besteht im Wesentlichen aus zwei Rechtsprechungsgrundsätzen.

45.

Der erste Grundsatz lautet, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Erwerbs und Verlusts der Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben ist. Das Verständnis dieses Grundsatzes setzt voraus, dass man die Unterscheidung zwischen dieser ausschließlichen Zuständigkeit und ihrer Ausübung unter Beachtung der Rechtsordnung der Union richtig versteht. Hierzu weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof diese Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nie in Frage gestellt hat. Wie Generalanwalt Poiares Maduro ausgeführt hat, werden „Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit (und damit der Unionsbürgerschaft) … nicht als solche vom [Unionsr]echt geregelt, doch müssen die Voraussetzungen dafür mit den Regeln der [Union] vereinbar sein und die Rechte der Unionsbürger beachten“ ( 39 ). Folglich geht es weder darum, aus diesem Grundsatz abzuleiten, dass der Entzug der Staatsangehörigkeit für den Fall vollkommen unmöglich wäre, dass er auch den Verlust der Unionsbürgerschaft bedeutete, noch darum, die Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit als der Kontrolle des Unionsrechts entzogen anzusehen ( 40 ). Der Status des Unionsbürgers darf nämlich nicht seiner praktischen Wirkung beraubt werden, und folglich dürfen die Rechte, die er verleiht, nicht durch den Erlass einer nationalen Regelung verletzt werden, die das Unionsrecht und insbesondere die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebenden und oben angeführten Grundsätze nicht beachtet ( 41 ).

46.

Der zweite Grundsatz besagt, dass die gerichtliche Kontrolle anhand des Unionsrechts und insbesondere im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfolgt. Im Zusammenhang mit der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sind mehrere Gesichtspunkte zu beachten: zunächst die Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus für die betroffene Person und ihre Familienangehörigen in Bezug auf den Verlust der Rechte, die jeder Unionsbürger genießt, sodann das Erfordernis, dass diese Folgen mit den durch die Charta garantierten Grundrechten vereinbar sein müssen, und schließlich gegebenenfalls die Verpflichtung, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Person rückwirkend wiederherzustellen. Diese Gesichtspunkte sind für die gerichtliche Kontrolle anhand des Unionsrechts von wesentlicher Bedeutung, und die vom Gerichtshof geforderte Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Verlusts der Staatsangehörigkeit, der den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, muss von den zuständigen nationalen Behörden und den nationalen Gerichten umfassend und sorgfältig durchgeführt werden.

47.

Folglich unterliegt es kaum einem Zweifel, dass der in der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden Regelung vorgesehene Verlust der Staatsangehörigkeit, der zum Verlust des Unionsbürgerstatus führt, im Licht dieser Grundsätze zu prüfen ist.

C. Zur Anwendung der Rechtsprechungsgrundsätze auf die vorliegende Rechtssache

48.

Zunächst weise ich darauf hin, dass die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes ihre dänische Staatsangehörigkeit mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes wegen des Fehlens einer echten Bindung zu Dänemark verloren hat und dass sie, da ihr Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt wurde, nicht in den Genuss der in § 8 Abs. 1 Satz 2 dieses Gesetzes vorgesehenen Ausnahme kommen konnte.

49.

Die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits sieht sich daher mit dem Verlust ihres Unionsbürgerstatus konfrontiert, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein ( 42 ).

50.

In Anbetracht des oben ( 43 ) dargelegten Rechtsprechungsrahmens und insbesondere des Urteils Tjebbes u. a. liegt auf der Hand, dass die Situation eines Unionsbürgers, der nur die Staatsangehörigkeit eines einzigen Mitgliedstaats besitzt und mit dem Verlust des durch Art. 20 AEUV verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte konfrontiert ist, ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht fällt ( 44 ). Daraus folgt, da die Situation der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, dass das Königreich Dänemark bei der Ausübung seiner Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit dieses Recht zu beachten hat und dass diese Situation einer Kontrolle im Hinblick auf dieses Recht unterzogen werden muss ( 45 ).

51.

Angesichts dieser Feststellung stellt sich die Frage, ob der in § 8 Abs. 1 des dänischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgesehene Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Ich weise darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der in einer nationalen Regelung vorgesehene Verlust der Staatsangehörigkeit nur dann mit diesem Recht vereinbar ist, wenn er einem im Allgemeininteresse liegenden Grund entspricht, was bedeutet, dass er zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und der Verlust der Staatsangehörigkeit, den diese Regelung nach sich zieht, keine willkürliche Maßnahme ist ( 46 ).

52.

Die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits macht geltend, dass der in § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgesehene automatische und ausnahmslose Verlust der Staatsangehörigkeit zwar einen legitimen Zweck und das Ziel der Aufrechterhaltung einer echten Bindung sowie des Schutzes des besonderen Verbundenheits- und Loyalitätsverhältnisses zwischen dem Mitgliedstaat und seinen Bürgern verfolge, aber nicht geeignet sei, dieses Ziel zu gewährleisten. Außerdem sei der in dieser Bestimmung vorgesehene automatische Verlust nicht verhältnismäßig und verstoße daher gegen Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta.

53.

Dagegen macht die dänische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass die Prüfung der Rechtmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes in Bezug auf Personen, die zum Zeitpunkt des Antrags auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit das 22. Lebensjahr vollendet hätten, auf einer Gesamtbeurteilung der dänischen Regelung über den Verlust und die Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit beruhen müsse. Die Verhältnismäßigkeit des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes für Personen, die das 22. Lebensjahr vollendet hätten, sei auch im Licht der Regelung über die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit bis zu diesem Alter zu beurteilen, die insgesamt sehr großzügig sei. Darüber hinaus ist diese Regierung der Auffassung, dass die Rechtmäßigkeit und die Verhältnismäßigkeit der Vorschriften über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit dadurch untermauert würden, dass sie auf der Grundlage einer Einzelfallbeurteilung die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit bewilligen könne, wenn der Antrag vor Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt worden sei.

54.

Ich werde daher im Licht der dargelegten Rechtsprechung prüfen, ob die in Rede stehende nationale Regelung, die den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit vorsieht und den Verlust des Unionsbürgerstatus der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits nach sich zieht, einen legitimen Zweck verfolgt und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und ob die Regelung über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Folgen beachtet, die sie für die Situation der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits mit sich bringt.

1.   Zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des mit der Regelung des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit verfolgten Ziels des Allgemeininteresses

55.

Als Erstes weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof es bereits für legitim befunden hat, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will ( 47 ). Demnach darf ein Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit davon ausgehen, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zwischen ihm und seinen Staatsbürgern ist, und folglich das Fehlen oder den Wegfall einer solchen echten Bindung mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit verbinden ( 48 ).

56.

Als Zweites weise ich auch darauf hin, dass der Gerichtshof bereits Gelegenheit hatte, im Urteil Tjebbes u. a. klarzustellen, dass ein Kriterium, das auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats während eines hinreichend langen Zeitraums „außerhalb [des betreffenden] Mitgliedstaats und der Gebiete, auf die der EU-Vertrag Anwendung findet“, abstellt, als ein Faktor angesehen werden kann, der das Fehlen dieser echten Bindung widerspiegelt ( 49 ).

57.

Im vorliegenden Fall soll § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, verhindern, dass die dänische Staatsangehörigkeit über Generationen hinweg an Personen weitergegeben wird, bei denen eine echte Bindung zu Dänemark nicht oder nicht mehr besteht. Der dänischen Regierung zufolge soll der dänische Gesetzgeber der Auffassung gewesen sein, dass im Ausland geborene Personen, die weder in Dänemark gelebt noch sich in erheblichem Umfang in diesem Mitgliedstaat aufgehalten hätten, mit zunehmendem Alter ihre Loyalität gegenüber diesem Mitgliedstaat, ihre Verbundenheit mit ihm und ihre Bindung zu ihm nach und nach verlören ( 50 ).

58.

Unter diesen Umständen bin ich der Ansicht, dass es, wie die dänische und die französische Regierung sowie die Kommission geltend machen, grundsätzlich legitim ist, wenn ein Mitgliedstaat davon ausgeht, dass im Ausland geborene Personen, die in diesem Mitgliedstaat nicht in einer Weise gewohnt oder sich dort aufgehalten haben, die eine echte Bindung zu diesem Mitgliedstaat aufzeigt, ihr Loyalitäts- und Verbundenheitsverhältnis sowie ihre Bindung zu diesem Mitgliedstaat allmählich verlieren können. Insoweit weise ich darauf hin, dass nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. e des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit das Fehlen einer echten Bindung zwischen dem Staat und einem Staatsangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland zum Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes führen kann ( 51 ).

59.

Daher erscheint es mir grundsätzlich legitim, wenn ein Mitgliedstaat zum einen entscheidet, dass Kriterien wie der Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet für Zeiträume, deren kumulierte Dauer weniger als ein Jahr beträgt, keine echte Bindung zu diesem Mitgliedstaat erkennen lassen, und zum anderen für die Prüfung, ob die Voraussetzungen für den Verlust der Staatsangehörigkeit erfüllt sind, ein bestimmtes Alter – wie im vorliegenden Fall das 22. Lebensjahr – festlegt.

60.

Dies vorausgeschickt, muss ich der Vollständigkeit halber eine wichtige, von der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen aufgeworfene Frage ansprechen, die in der mündlichen Verhandlung anlässlich einer Frage des Gerichtshofs erörtert wurde und über das Problem hinausgeht, mit dem das vorlegende Gericht konfrontiert ist. Es handelt sich um die Frage, ob ein Kriterium für den Verlust der Staatsangehörigkeit, das darauf beruht, dass ein dänischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz außerhalb Dänemarks hat, und bei dem nicht zwischen einem Wohnsitz innerhalb der Union und einem Wohnsitz in einem Drittstaat unterschieden wird, als ein aus unionsrechtlicher Sicht legitimes Kriterium angesehen werden kann, wenn dieser Verlust den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht ( 52 ).

61.

Wie die Kommission in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen zu Recht hervorgehoben hat, hätte die Anwendung eines solchen Wohnsitzkriteriums nämlich zur Folge, dass eine Person mit dänischer Staatsangehörigkeit und der Staatsangehörigkeit eines Drittstaats, die als Kind eines dänischen Elternteils, der sein Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV ausgeübt hat, in einem anderen Mitgliedstaat geboren wurde, infolgedessen kraft Gesetzes ihre dänische Staatsangehörigkeit und damit ihren Status als Unionsbürgerin verlieren würde, sofern sie bei Vollendung des 22. Lebensjahrs die kumulativen Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes erfüllt und nicht unter die Ausnahmeregelung des § 8 Abs. 1 Satz 2 dieses Gesetzes fällt. Mit anderen Worten würde die Ausübung der mit dem Unionsbürgerstatus ihrer Eltern verbundenen Rechte paradoxerweise dazu führen, dass diese Person alle mit ihrem Status als Unionsbürgerin verbundenen Rechte verlöre ( 53 ). Darüber hinaus würde dieser Verlust auch eintreten, wenn diese in einem anderen Mitgliedstaat geborene Person zwischen ihrem 18. und 22. Lebensjahr von ihrem Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt Gebrauch gemacht hätte, insbesondere um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten oder sich dort aufzuhalten ( 54 ).

62.

In dieser Hinsicht teile ich zwar die Zweifel der Kommission an der Rechtmäßigkeit eines solchen Wohnsitzkriteriums und seiner allgemeinen Auswirkungen auf die Freizügigkeit der Bürger innerhalb der Union, halte aber im vorliegenden Fall eine spezifische und vertiefte Analyse, die sich auf diesen Gesichtspunkt konzentriert, für nicht erforderlich, um die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zu beantworten. Aus der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass sich die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits mit Ausnahme eines Aufenthalts von drei oder vier Wochen in Frankreich ( 55 ) nicht in einem anderen Mitgliedstaat als Dänemark aufgehalten und stets in den Vereinigten Staaten gewohnt hat. Für den Fall, dass der Gerichtshof anderer Auffassung sein sollte, werde ich gleichwohl folgende Anmerkungen machen.

63.

Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass sich das in den vorhergehenden Nummern dargelegte Problem in der Rechtssache, in der das Urteil Tjebbes u. a. ergangen ist, nicht stellte, weil das auf den Wohnsitz abstellende Kriterium, das die in jener Rechtssache streitige niederländische Regelung vorsah, nicht zwischen einem Wohnsitz in den Niederlanden und einem Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat unterschied ( 56 ). So trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof in diesem Urteil ein solches Kriterium dahin aufgefasst hat, dass es das Fehlen einer echten Bindung widerspiegelt; er hat jedoch Wert auf die Klarstellung gelegt, dass es sich um einen Wohnsitz „außerhalb [des betreffenden] Mitgliedstaats und der Gebiete, auf die der EU-Vertrag Anwendung findet“ handelte ( 57 ).

64.

Sodann darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Gerichtshof in Bezug auf Unionsbürger, die im Aufnahmemitgliedstaat geboren sind und nie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, bereits entschieden hat, dass sich solche Unionsbürger auf Art. 21 Abs. 1 AEUV und die zu seiner Durchführung erlassenen Bestimmungen berufen können ( 58 ).

65.

Schließlich liegt es meines Erachtens auf der Hand, dass ein Kriterium, das in Bezug auf den Verlust der Staatsangehörigkeit mit Vollendung des 22. Lebensjahrs, der für die betroffene Person den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, nicht zwischen einem Wohnsitz oder Aufenthalt in einem Drittstaat und einem Wohnsitz oder Aufenthalt in einem Mitgliedstaat unterscheidet, eine klare Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten darstellt, die den dänischen Staatsangehörigen davon abhalten kann, dieses Recht auszuüben ( 59 ). Insoweit ist für mich nicht ersichtlich, wie man die Auffassung vertreten kann, dass eine solche Beschränkung des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts der Unionsbürger verhältnismäßig sei. Der Umstand, dass ein Unionsbürger seine Staatsangehörigkeit verlieren kann, weil er seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat als denjenigen verlegt hat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, stellt nämlich meines Erachtens eine unverhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt dieses Bürgers dar. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung zu Recht ausgeführt hat, sollten der Wohnsitz und der Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Union nicht als Auflösung der echten Bindung zwischen einem Unionsbürger und seinem Herkunftsmitgliedstaat angesehen werden.

66.

Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung meiner Vorbehalte hinsichtlich der Auswirkungen, die ein Wohnsitzkriterium wie das in § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgesehene auf die Freizügigkeit der Bürger innerhalb der Union hat, bin ich der Auffassung, dass das Unionsrecht es einem Mitgliedstaat unter den Umständen des Ausgangsrechtsstreits grundsätzlich nicht verwehrt, in den in dieser Bestimmung genannten Situationen aus Gründen des Allgemeininteresses den Verlust der Staatsangehörigkeit vorzusehen, selbst wenn dieser Verlust für die betroffene Person den Verlust ihres Status als Unionsbürger nach sich zieht.

2.   Zur Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden nationalen Regelung unter Berücksichtigung der Folgen, die sie für den Betroffenen mit sich bringt

67.

Im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere der Rn. 40 bis 42 des Urteils Tjebbes u. a. ( 60 ), hege ich Zweifel daran, dass die Regelung über den mit Vollendung des 22. Lebensjahrs eintretenden Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit, wie er in § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgesehen ist und in der Verwaltungspraxis von den dänischen Behörden angewandt wird, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet. Meine Zweifel ergeben sich nicht aus einem einzigen Aspekt der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden Regelung, sondern aus mehreren grundlegenden Merkmalen dieser Regelung, die darin bestehen, dass sie für alle Personen, die ihren Antrag nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt haben, zum einen keine Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus aus unionsrechtlicher Sicht und zum anderen keine rückwirkende Wiedererlangung der verlorenen Staatsangehörigkeit vorsieht.

a)   Zum systematischen Fehlen einer Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts des Unionsbürgerstatus aus unionsrechtlicher Sicht für alle Personen, die ihren Antrag nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt haben

68.

Ich weise darauf hin, dass die Zweifel des vorlegenden Gerichts darauf beruhen, dass der Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit und damit des Unionsbürgerstatus automatisch eintritt und dass das Staatsangehörigkeitsgesetz keine Ausnahme vorsieht. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, ist die im Ausgangsrechtsstreit von diesem Verlust betroffene Person nie in den Genuss einer Einzelfallprüfung ihrer Situation und gegebenenfalls der Situation ihrer Familie gekommen. Darin besteht meines Erachtens der Kern der Schwierigkeiten, die sich aus der in der vorliegenden Rechtssache in Frage gestellten Regelung über den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes ergeben.

69.

Als Erstes stelle ich fest, dass der einzige Weg, den ein dänischer Staatsangehöriger beschreiten kann, um in den Genuss einer Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit und des damit einhergehenden Verlusts des Unionsbürgerstatus aus unionsrechtlicher Sicht kommen zu können, darin besteht, einen Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit zu stellen, bevor er das 22. Lebensjahr vollendet hat ( 61 ), genauer gesagt im Alter zwischen 21 und 22 Jahren ( 62 ), was meines Erachtens ein sehr kurzer Zeitraum ist. Wird sein Antrag nach diesem Zeitpunkt gestellt, wird dieser nur daraufhin geprüft, ob die Voraussetzungen nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes erfüllt sind. Ist dies der Fall, wird der Antrag automatisch abgelehnt ( 63 ), und die betroffene Person verliert nicht nur ihre dänische Staatsangehörigkeit und damit ihren Unionsbürgerstatus, sondern kommt auch zu keinem Zeitpunkt in den Genuss einer Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht.

70.

Als Zweites stelle ich fest, dass aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervorgeht, dass nach der Verkündung des Urteils Tjebbes u. a. das Ministerium für Ausländer und Integration entschieden hat, dass ehemalige dänische Staatsangehörige, die das 22. Lebensjahr am oder nach dem 1. November 1993 vollendet und die Beibehaltung ihrer dänischen Staatsangehörigkeit beantragt hatten, bevor sie das 22. Lebensjahr vollendet hatten, und gegen die eine Entscheidung über den Verlust der Staatsangehörigkeit gemäß § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes ergangen war, die den Verlust ihrer Unionsbürgerschaft zur Folge hatte, eine Überprüfung dieser Entscheidung beantragen konnten ( 64 ). Während diese Staatsangehörigen Anspruch auf eine solche Überprüfung aus unionsrechtlicher Sicht hatten, konnte die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits, die das 22. Lebensjahr nach dem 1. November 1993 vollendet hatte, nicht in den Genuss einer solchen Überprüfung kommen, weil sie ihren Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit 43 Tage nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt hatte.

1) Zu den von der dänischen Regierung vorgebrachten Einwänden

71.

Was den Grund für die Aufrechterhaltung des in § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorgesehenen Erfordernisses angeht, wonach der Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit vor Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt worden sein muss, führt das vorlegende Gericht aus, dass sich aus den Vorarbeiten zu dieser Bestimmung ergebe, dass der dänische Gesetzgeber bei seiner Änderung dieser Bestimmung, mit der er dem Urteil Tjebbes u. a. habe nachkommen wollen, davon ausgegangen sei, dass „dieses Urteil die systematische Möglichkeit einer solchen [individuellen] Prüfung nicht vorzuschreiben scheint“.

72.

Hierzu hat die dänische Regierung in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen geltend gemacht, aus dem Urteil Tjebbes u. a. ergebe sich nicht, dass eine Einzelfallprüfung jederzeit möglich sein müsse, wenn die betroffene Person dies wünsche. Nach ihrer Auslegung dieses Urteils reiche es aus, dass eine solche Einzelfallprüfung vorgenommen werden könne, was der Fall sei, wenn der Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit vor Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt werde.

73.

Im vorliegenden Fall würden sich, wenn man dieser Auslegung folgte, folgende Fragen stellen: Ist in bestimmten Situationen davon auszugehen, dass eine Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats verlieren kann, was zum Verlust des Unionsbürgerstatus führt, ohne dass jemals eine Einzelfallprüfung dieses Verlusts und der damit für diese Person verbundenen Folgen aus unionsrechtlicher Sicht vorgenommen wird? Und ist davon auszugehen, wie diese Regierung vorschlägt, dass die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs festgelegte Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Durchführung dieser Einzelfallprüfung durch eine Ausschlussfrist begrenzt werden kann?

74.

Diese Fragen veranlassen mich zu der eindeutigen Schlussfolgerung, dass dieser Auslegung des Urteils Tjebbes u. a. durch den dänischen Gesetzgeber und die dänische Regierung nicht gefolgt werden kann, weil sie auf einem falschen Verständnis dieses Urteils beruht.

75.

Erstens verkennt eine solche Auslegung meines Erachtens die Verpflichtung der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte, zum einen in Bezug auf den Verlust des Unionsbürgerstatus den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten und zum anderen im Rahmen der Beachtung dieses Grundsatzes eine Einzelfallprüfung der Folgen des Verlusts dieses Status aus unionsrechtlicher Sicht vorzunehmen.

76.

Zweitens liefe eine solche Auslegung darauf hinaus, den Mitgliedstaaten zu gestatten, Art. 20 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof in Situationen wie der des Ausgangsrechtsstreits seiner praktischen Wirksamkeit zu berauben. Ich weise darauf hin, dass der Unionsbürgerstatus nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. Dieser Status darf daher nicht seiner praktischen Wirksamkeit beraubt werden, und die Rechte, die er verleiht, dürfen folglich nicht durch den Erlass einer nationalen Regelung verletzt werden, die das Unionsrecht nicht beachtet.

2) Zur zutreffenden Lesart des Urteils Tjebbes u. a.

77.

Ich weise darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Grundsatz, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Erwerbs und Verlusts der Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben ist, nicht die Annahme zulässt, dass die Voraussetzungen für den Verlust der Staatsangehörigkeit, der den Verlust des Status eines Unionsbürgers nach sich zieht, der Kontrolle durch das Unionsrecht entzogen sind ( 65 ). Hierzu hat der Gerichtshof im Urteil Tjebbes u. a. festgestellt, dass der kraft Gesetzes eintretende Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieße, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten ( 66 ).

78.

Es ist festzustellen, dass die dänischen Behörden in einer Situation wie der der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits, in der der Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes eintritt und zum Verlust des Unionsbürgerstatus führt, entgegen den vom Gerichtshof in den Rn. 41 und 42 des Urteils Tjebbes u. a. aufgestellten Anforderungen nicht in der Lage sind, die Folgen dieses Verlusts für alle dänischen Staatsangehörigen, die ihren Antrag auf Beibehaltung ihrer dänischen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt haben, inzident zu prüfen. Diese Staatsangehörigen kommen nämlich zu keinem Zeitpunkt in den Genuss einer Einzelfallprüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen, mit denen dieser Verlust für sie einhergeht, aus unionsrechtlicher Sicht. Das Fehlen einer solchen Prüfung ist meines Erachtens nicht nur automatisch, wie das vorlegende Gericht feststellt, sondern auch systematisch.

79.

Eine zutreffende Lesart des Urteils Tjebbes u. a. impliziert das Erfordernis, dass alle Fälle des Verlusts der Staatsangehörigkeit, die den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich ziehen, im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie ihn der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung zu Art. 20 AEUV ausgelegt hat, geprüft werden können, was die Verpflichtung zur Folge hat, auch für Personen, die sich in einer Situation wie der der Klägerin des Ausgangsrechtsstreits befinden, eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. In Anbetracht der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden Regelung können bestimmte Situationen, in denen der Verlust des Unionsbürgerstatus potenziell unverhältnismäßige Folgen hat, zu keinem Zeitpunkt aus unionsrechtlicher Sicht geprüft werden, obwohl die betroffenen Personen alle mit diesem Status verbundenen Rechte verlieren.

80.

Können wir das akzeptieren? Meines Erachtens nein.

81.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass der Gerichtshof bereits im Urteil Wiener Landesregierung entschieden hat, dass jeder Verlust des Unionsbürgerstatus, und sei er auch nur vorübergehend, bedeutet, dass der betroffenen Person die Möglichkeit des Genusses aller mit diesem Status verliehenen Rechte für unbestimmte Zeit genommen wird ( 67 ). Folglich ist der betreffende Mitgliedstaat in einer Situation wie der des Ausgangsrechtsstreits, in der eine Person mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes ihre Staatsangehörigkeit – und damit ihren Unionsbürgerstatus – bereits verloren hat, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, diesen Verlust anzufechten, in Anbetracht der Folgen, die dieser Verlust für sie nach sich zieht, im Hinblick auf das Unionsrecht verpflichtet, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV sicherzustellen.

82.

Auch wenn die Gründe für den Verlust der Staatsangehörigkeit, der den des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, wie im vorliegenden Fall grundsätzlich legitim sind, darf dieser Verlust nur eintreten, wenn die zuständigen nationalen Behörden und nationalen Gerichte den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Dass eine nationale Regelung eine Bestimmung über den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes vorsehen kann, wobei eine solche gesetzgeberische Entscheidung in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, ist eine Sache. Eine ganz andere Sache ist es jedoch, wenn das in dieser Regelung vorgesehene nationale Verfahren es der betroffenen Person nicht erlaubt, diesen Verlust im Rahmen einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit ( 68 ) anzufechten und damit in den Genuss einer Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts zu kommen. Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat rechtmäßig den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes vorsehen kann, ist daher von der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht zu unterscheiden.

83.

Unter diesen Umständen ließe sich argumentieren, dass ein solches vollständiges und systematisches Fehlen einer Einzelfallprüfung für Personen, die ihren Antrag nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt haben, nicht geeignet wäre, das mit der Verpflichtung zur Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung verfolgte Ziel zu erreichen, nämlich es ihnen zu ermöglichen, die Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats und damit den Unionsbürgerstatus beizubehalten, und dass der Entzug der Staatsangehörigkeit, den die streitige Bestimmung mit sich bringt, ein willkürlicher und inkohärenter Akt wäre.

84.

Zur Veranschaulichung mag das Beispiel der Situation von zwei Schwestern mit dänischer Staatsangehörigkeit, AA und BB, dienen. AA ist in Dänemark geboren, zog aber wenige Monate nach ihrer Geburt mit ihren Eltern in die Vereinigten Staaten. BB ist hingegen in den Vereinigten Staaten geboren und befindet sich in der gleichen Situation wie die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits. In diesem Fall hätte die Anwendung von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes auf diese beiden Schwestern zur Folge, dass AA aufgrund ihrer Geburt in Dänemark ihre dänische Staatsangehörigkeit beibehält, während ihre Schwester BB, die ihren Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit kurz nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt hat, automatisch ihre Staatsangehörigkeit und damit den Unionsbürgerstatus verliert, ohne die Möglichkeit zu haben, einen solchen Verlust anzufechten.

85.

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung erklärt, ihre Geschwister hätten ihre dänische Staatsangehörigkeit und folglich ihren Status als Unionsbürger behalten können, weil sie den Antrag rechtzeitig gestellt hätten. Wir haben es also mit einer Situation zu tun, in der die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits innerhalb ihrer Familie als Einzige die dänische Staatsangehörigkeit und damit ihren Unionsbürgerstatus verloren hat.

86.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Einzelfallprüfung der Situation der betroffenen Person gegebenenfalls die Prüfung der Situation ihrer Familie einschließt, um zu bestimmen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, Folgen hat, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens – gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel – aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. ( 69 ). Ohne eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung werden die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte nicht in der Lage sein, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den in der Charta garantierten Grundrechten und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, wie es in Art. 7 der Charta niedergelegt ist, im Einklang steht ( 70 ).

87.

Ich bin daher der Ansicht, dass die zuständigen Behörden oder gegebenenfalls die nationalen Gerichte unabhängig von der legitimen Entscheidung des nationalen Gesetzgebers, einen Stichtag für den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes einzuführen oder nicht, in der Lage sein müssen, jeden Verlust der Staatsangehörigkeit, der den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit einer Einzelfallprüfung zu unterziehen. In diesem Fall stellt sich die Frage, welcher Zeitraum bei der Durchführung einer solchen Prüfung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist. Insoweit hat die Kommission zu Recht geltend gemacht, dass diese Prüfung unter Berücksichtigung der Situation der betroffenen Person im Alter von 22 Jahren durchgeführt werden könnte. Sofern eine Einzelfallprüfung auch dann möglich wäre, wenn der Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt wird, würde eine solche Begrenzung des bei dieser Prüfung berücksichtigten Zeitraums meines Erachtens sowohl den Grundsatz der Rechtssicherheit als auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. In diesem Zusammenhang ist hinzuzufügen, dass in einem Fall, in dem diese Prüfung unter Berücksichtigung der Situation der betroffenen Person im Alter von 22 Jahren vorgenommen wird, das etwaige Vorliegen neuer Tatsachen in bestimmten Fällen dennoch eine erneute Prüfung dieser Tatsachen erfordern könnte.

b)   Zum Fehlen einer rückwirkenden Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit in einer Regelung über den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes mit der Möglichkeit ihrer späteren Wiedererlangung im Rahmen eines allgemeinen Einbürgerungsverfahrens

88.

Wie bereits erwähnt, hat das vorlegende Gericht auch Bedenken wegen der Schwierigkeit, die Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs durch Einbürgerung wiederzuerlangen. Hierzu macht die dänische Regierung geltend, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Verlusts der Staatsangehörigkeit gemäß § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes in Bezug auf Personen, die zum Zeitpunkt des Antrags auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit das 22. Lebensjahr vollendet hätten, auf einer Gesamtbeurteilung der dänischen Regelung über den Verlust und die Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit beruhen müsse.

89.

Wie bereits erwähnt, gibt die Regelung über den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes den ehemaligen dänischen Staatsangehörigen die Möglichkeit, diese Staatsangehörigkeit später im Rahmen des allgemeinen Einbürgerungsverfahrens wiederzuerlangen, sofern sie eine Reihe von Anforderungen erfüllen, darunter die, dass sie zum Zeitpunkt des Einbürgerungsantrags im Inland ansässig sein und sich neun Jahre lang ununterbrochen in Dänemark aufgehalten haben müssen ( 71 ).

90.

Reicht diese Möglichkeit der Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit aus, um davon auszugehen, dass die Regelung über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes den Anforderungen entspricht, die sich aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Tjebbes u. a. ergeben?

91.

Meines Erachtens nein.

92.

Erstens hat der Gerichtshof, wie ich bereits ausgeführt habe, in seiner Rechtsprechung den Grundsatz aufgestellt, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Erwerbs und Verlusts der Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben ist ( 72 ).

93.

Zweitens hat der Gerichtshof, wie ich ebenfalls ausgeführt habe, bereits entschieden, dass in einer Situation, in der der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes erfolgt und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in der Lage sein müssen, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person nicht nur inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen, sondern gegebenenfalls auch die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen ( 73 ).

94.

Es ist festzustellen, dass die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende Regelung über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit diese Möglichkeit im Gegensatz zu dem, was der Gerichtshof im Urteil Tjebbes u. a. entschieden hat, nicht vorsieht. Ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit, selbst wenn er – wie im vorliegenden Fall – für eine begrenzte Dauer von einigen Jahren einträte, bedeutet jedoch, dass der betroffenen Person während dieses gesamten Zeitraums die Möglichkeit des Genusses aller mit dem Status eines Unionsbürgers verliehenen Rechte genommen wird ( 74 ). Daher halte ich diese Möglichkeit, die Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen, selbst bei einer Lockerung der allgemeinen Anforderungen an den Aufenthalt für nicht ausreichend, um davon auszugehen, dass die Regelung über den kraft Gesetzes eintretenden Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit den Anforderungen entspricht, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. 20 AEUV ergeben.

95.

Unter diesen Umständen bin ich der Auffassung, dass eine unionsrechtliche Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der Folgen eines zum Verlust des Unionsbürgerstatus führenden Verlusts der Staatsangehörigkeit, die nur dann durchgeführt wird, wenn die betroffene Person sie vor Vollendung des 22. Lebensjahrs beantragt hat, und die dieser Person keine Möglichkeit bietet, die Staatsangehörigkeit rückwirkend wiederzuerlangen, nicht ausreicht, um den Anforderungen des Unionsrechts in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Tjebbes u. a. gerecht zu werden.

V. Ergebnis

96.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark) wie folgt zu beantworten:

Art. 20 AEUV ist im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegensteht, die unter bestimmten Voraussetzungen den kraft Gesetzes eintretenden Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats mit Vollendung des 22. Lebensjahrs wegen fehlender echter Bindung vorsehen, wenn vor diesem Zeitpunkt kein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde, was für Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, den Verlust ihres Status als Unionsbürger und der damit verbundenen Rechte zur Folge hat, ohne dass, wenn dieser Antrag nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt wird, eine Einzelfallprüfung der Folgen eines solchen Verlusts für ihre Situation aus unionsrechtlicher Sicht im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der Möglichkeit der rückwirkenden Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit durchgeführt wird, wenn sie ein Reisedokument oder ein anderes Dokument beantragen, das ihre Staatsangehörigkeit bescheinigt.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Urteil vom 2. März 2010 (C‑135/08, im Folgenden: Urteil Rottmann, EU:C:2010:104).

( 3 ) Urteil vom 12. März 2019 (C‑221/17, im Folgenden: Urteil Tjebbes u. a., EU:C:2019:189).

( 4 ) Urteil vom 18. Januar 2022 (C‑118/20, im Folgenden: Urteil Wiener Landesregierung, EU:C:2022:34).

( 5 ) Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass sich die Verwaltungspraxis des Ministeriums für Ausländer und Integration bei der Anwendung von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes auf die Vorarbeiten zu dieser Bestimmung stützt.

( 6 ) Zum Kriterium des Wohnsitzes, um das es in der vorliegenden Rechtssache nicht geht, führt das vorlegende Gericht aus, dass dieses Kriterium nach der Verwaltungspraxis des Ministeriums für Ausländer und Integration erfüllt sei, wenn es sich entweder um einen im zentralen Personenregister (CPR) eingetragenen Wohnsitz während mindestens drei Monaten vor Vollendung des 22. Lebensjahrs handele oder wenn die betreffende Person nachweisen könne, dass sie vor diesem Zeitpunkt während mindestens drei aufeinanderfolgenden Monaten eine Wohnanschrift in Dänemark gehabt habe, die von Anfang an auf eine Dauer von mindestens drei Monaten ausgelegt gewesen sei. Nach Angaben dieses Gerichts steht ein mindestens sieben Jahre währender Aufenthalt u. a. in Finnland oder Schweden einem Wohnsitz in Dänemark gleich.

( 7 ) Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass in diesem Fall nach der Verwaltungspraxis des Ministeriums für Ausländer und Integration der Schwerpunkt u. a. darauf abgestellt werden kann, ob die Aufenthalte kurz vor Vollendung des 22. Lebensjahrs stattgefunden haben oder viele Jahre zurückliegen und ob sie den eigenen Willen des Antragstellers, Dänemark zu besuchen, zum Ausdruck bringen oder u. a. auf Entscheidungen der Eltern oder des Arbeitgebers beruhen.

( 8 ) Das vorlegende Gericht bezieht sich auf Abschnitt 2.2.2 der Begründung des Gesetzesentwurfs Nr. L 138 vom 28. Januar 2004 zu § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes.

( 9 ) Diese Voraussetzung ergibt sich aus § 8 Abs. 1 Satz 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes.

( 10 ) Zu diesen allgemeinen Voraussetzungen siehe Nr. 8 der vorliegenden Schlussanträge. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass ein Ausländer nach § 44 Abs. 1 der Verfassung die dänische Staatsangehörigkeit nur kraft Gesetzes erlangen könne. So müsse die Einbürgerung durch ein Gesetz erfolgen, in dem der Name jeder einzelnen eingebürgerten Person ausdrücklich genannt werde.

( 11 ) Siehe hierzu Nr. 9 der vorliegenden Schlussanträge.

( 12 ) Zur Verwaltungspraxis des Ministeriums für Ausländer und Integration in Bezug auf das Kriterium des „Wohnsitzes“ siehe Fn. 10 der vorliegenden Schlussanträge.

( 13 ) Zur Erinnerung: Herr Rottmann hatte die durch Einbürgerung erworbene deutsche Staatsangehörigkeit erschlichen.

( 14 ) Vgl. Urteil vom 7. Juli 1992, Micheletti u. a. (C‑369/90, EU:C:1992:295, Rn. 10): „Die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit unterliegt nach dem internationalen Recht der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten; von dieser Zuständigkeit ist unter Beachtung des [Unions]rechts Gebrauch zu machen.“ Hervorhebung nur hier. Ich weise darauf hin, dass der Gerichtshof diesen Gedanken bereits in den Urteilen vom 7. Februar 1979, Auer (136/78, EU:C:1979:34, Rn. 28), und vom 12. November 1981, Airola/Kommission (72/80, EU:C:1981:267, Rn. 8 ff.), skizziert hatte. Es handelt sich nämlich um einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, der im Bereich der Unionsbürgerschaft Anwendung findet.

( 15 ) Urteil Rottmann (Rn. 39 und 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Urteil Rottmann (Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ich möchte darauf hinweisen, dass sich der Gerichtshof in Rn. 41 dieses Urteils auf eine ständige Rechtsprechung in Bezug auf Situationen gestützt hat, in denen Rechtsvorschriften, die auf einem in die nationale Zuständigkeit fallenden Rechtsgebiet erlassen worden sind, im Licht des Unionsrechts beurteilt werden. Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro in dieser Rechtssache (C‑135/08, EU:C:2009:588, Nr. 20).

( 17 ) Rn. 42 und 43.

( 18 ) Urteil Rottmann (Rn. 48).

( 19 ) Urteil Rottmann (Rn. 54). Vgl. auch Rn. 51 bis 53.

( 20 ) Urteil Rottmann (Rn. 56). Hervorhebung nur hier.

( 21 ) Urteil Rottmann (Rn. 59 und Tenor).

( 22 ) Nämlich des Umstands, dass sich ein niederländischer Staatsangehöriger, der auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt, während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren außerhalb der Niederlande und der Gebiete, auf die der EU-Vertrag Anwendung findet, aufhält.

( 23 ) In der Rechtssache, in der das Urteil Rottmann ergangen ist, handelte es sich um eine Einzelfallentscheidung über den Entzug der Staatsangehörigkeit, die auf das Verhalten des Betroffenen gestützt war.

( 24 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 25 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 32).

( 26 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 35). Vgl. auch Urteil Rottmann (Rn. 51).

( 27 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 39).

( 28 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 40 und 41).

( 29 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 42 und Tenor).

( 30 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 45 und Tenor).

( 31 ) C‑118/20, EU:C:2021:530. Vgl. Nrn. 47 ff.

( 32 ) Urteil Wiener Landesregierung (Rn. 44 und Tenor 1).

( 33 ) Urteil Wiener Landesregierung (Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen der Prüfung der zweiten Vorlagefrage in Rn. 49 dieses Urteils unter Bezugnahme auf Rn. 62 des Urteils Rottmann ausgeführt hat, dass die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Grundsätze zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Staatsangehörigkeit und zu ihrer Verpflichtung, diese Zuständigkeit unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben, sowohl für den Aufnahmemitgliedstaat als auch für den Herkunftsmitgliedstaat gelten.

( 34 ) Urteil Wiener Landesregierung (Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 35 ) Urteil Wiener Landesregierung (Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 36 ) Urteil Wiener Landesregierung (Rn. 60 und 62 bis 72).

( 37 ) Urteil Wiener Landesregierung (Rn. 73).

( 38 ) Urteil Wiener Landesregierung (Rn. 74 und Nr. 2 des Tenors).

( 39 ) Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro in der Rechtssache Rottmann (C‑135/08, EU:C:2009:588, Nr. 23). Hervorhebung nur hier.

( 40 ) Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro in der Rechtssache Rottmann (C‑135/08, EU:C:2009:588, Nr. 23).

( 41 ) Vgl. hierzu Urteile Rottmann (Rn. 41 bis 43, 45, 48, 56 und 59), Tjebbes u. a. (Rn. 30, 32, 40 bis 42 und 45) sowie Wiener Landesregierung (Rn. 44, 59, 61 und 73). Siehe auch Nrn. 29 bis 43 und insbesondere Nr. 45 der vorliegenden Schlussanträge.

( 42 ) Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk (C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31) und Wiener Landesregierung (Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 43 ) Siehe Nrn. 29, 30 und 33 der vorliegenden Schlussanträge.

( 44 ) Vgl. Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 32).

( 45 ) Vgl. hierzu Urteile Rottmann (Rn. 42 und 45) sowie Tjebbes u. a. (Rn. 32). Die dänische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, aus dem Beschluss der im Europäischen Rat von Edinburgh vom 11. und 12. Dezember 1992 vereinigten Staats- und Regierungschefs ergebe sich, dass das Königreich Dänemark bei der Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit über ein weites Ermessen verfüge und in Bezug auf die Unionsbürgerschaft eine besondere Stellung einnehme. Die Kommission hat jedoch darauf hingewiesen, dass die einschlägigen Passagen dieses Beschlusses, die sich auf die Unionsbürgerschaft beziehen, denselben Wortlaut haben wie in der Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, die die Mitgliedstaaten der Schlussakte des EU-Vertrags beigefügt haben. Vgl. hierzu Urteil Rottmann (Rn. 40). Sie hat ferner darauf hingewiesen, dass die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich des Erwerbs und Verlusts der Staatsangehörigkeit unter Beachtung des Unionsrechts auszuüben ist. Vgl. u. a. Urteil Rottmann (Rn. 41).

( 46 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Rottmann (Rn. 51 bis 54).

( 47 ) Urteile Rottmann (Rn. 51), Tjebbes u. a. (Rn. 32) und Wiener Landesregierung (Rn. 52).

( 48 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 35). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2018:572, Nr. 53).

( 49 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 36). Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2018:572, Nr. 54). Hervorhebung nur hier.

( 50 ) Obwohl ich mich frage, ob dieser allmähliche Verlust der echten Bindung dahin verallgemeinert werden kann, dass er alle Personen betrifft, die in den Anwendungsbereich der streitigen Bestimmung fallen, stimme ich der Auffassung zu, dass grundsätzlich eine Gefahr bestehen kann, dass ein solcher allmählicher Verlust einer echten Bindung in bestimmten Fällen eintritt. Darüber hinaus halte ich es für durchaus möglich, davon auszugehen, dass einige Unionsbürger eine echte Bindung zu mehr als einem Mitgliedstaat haben können. Dies in Zweifel zu ziehen, liefe darauf hinaus, das eigentliche Wesen der Unionsbürgerschaft in Frage zu stellen. Es wäre meines Erachtens paradox, die möglichen Folgen, die sich für die eigenen Staatsangehörigen aus der Ausübung insbesondere einer der Grundfreiheiten der Union – nämlich der Freizügigkeit – ergeben, nicht zu akzeptieren.

( 51 ) Das am 6. November 1997 im Rahmen des Europarats geschlossene und am 1. März 2000 in Kraft getretene Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit wurde vom Königreich Dänemark am 24. Juli 2002 ratifiziert. Im Erläuternden Bericht zu diesem Übereinkommen heißt es, dass diese Bestimmung einen Staat, der dies wünscht, ermächtigen soll, zu verhindern, dass seine Staatsangehörigen, die seit Langem im Ausland leben, die Staatsangehörigkeit dieses Staates behalten, obwohl die Bindung zu diesem Staat nicht mehr besteht oder durch eine Verbindung zu einem anderen Land ersetzt wurde, wobei vorausgesetzt wird, dass es sich wie im vorliegenden Fall um Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit handelt und daher keine Gefahr der Staatenlosigkeit besteht. Vgl. Rn. 70 dieses Berichts.

( 52 ) Das Fehlen einer solchen Unterscheidung ist von der dänischen Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs bestätigt worden. Was die in der dänischen Regelung getroffene Unterscheidung zwischen einem Wohnsitz u. a. in Finnland oder Schweden und einem Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat betrifft, hat die dänische Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass § 8 Abs. 3 des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorsieht, dass ein Aufenthaltszeitraum von sieben Jahren in diesen beiden Mitgliedstaaten als Nachweis einer echten Bindung zu Dänemark angesehen wird. Hierzu hat die Kommission in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs ausgeführt, dass diese Regel eine Diskriminierung aufgrund des Wohnsitzmitgliedstaats darstelle, die im Hinblick auf das mit der dänischen Regelung verfolgte Ziel des Allgemeininteresses als inkohärent angesehen werden könne. Vgl. auch Fn. 6 der vorliegenden Schlussanträge.

( 53 ) In Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs hat die Kommission betont, dass sich aus der Anwendung eines solchen Kriteriums ergebe, dass die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt durch den betreffenden dänischen Staatsangehörigen zum Verlust dieses Rechts führe.

( 54 ) Dies wäre meines Erachtens bei einem dänischen Staatsangehörigen der Fall, der als Kind eines dänischen Vaters und einer US-amerikanischen Mutter in den Niederlanden geboren wurde und im Alter von 18 Jahren von seinem Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt Gebrauch macht, indem er sich bis zur Vollendung des 22. Lebensjahrs in Italien aufhält, um dort zu arbeiten oder zu studieren. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass, wie die Kommission in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs erläutert hat, auch die Situation, in der ein solcher dänischer Staatsangehöriger zugleich die italienische Staatsangehörigkeit besitzt, in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. In diesem Fall würde es sich nicht um den Verlust des Unionsbürgerstatus handeln, sondern um eine Einschränkung des Rechts, sich innerhalb der Union frei zu bewegen und aufzuhalten.

( 55 ) Die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits hat in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass es sich um einen Urlaub handelte.

( 56 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 10).

( 57 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 36). Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2018:572, Nr. 54). Hervorhebung nur hier.

( 58 ) Urteile vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen (C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 26), vom 13. September 2016, Rendón Marín (C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 42 und 43), sowie vom 2. Oktober 2019, Bajratari (C‑93/18, EU:C:2019:809, Rn. 26).

( 59 ) Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro in der Rechtssache Rottmann (C‑135/08, EU:C:2009:588, Nr. 32): „So wäre eine staatliche Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit für den Fall der Verlagerung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat vorsähe, zweifellos ein Verstoß gegen das jedem Unionsbürger nach Art. [21 AEUV] zustehende Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.“

( 60 ) Siehe Nrn. 35 und 36 der vorliegenden Schlussanträge.

( 61 ) Zur Änderung von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes nach Verkündung des Urteils Tjebbes u. a. siehe Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge.

( 62 ) Ich weise erneut darauf hin, dass das vorlegende Gericht erläutert, dass das Ministerium für Ausländer und Integration im Fall eines vor Vollendung des 21. Lebensjahrs gestellten Antrags auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit nicht zu der Frage Stellung nimmt, ob der Antragsteller die dänische Staatsangehörigkeit beibehalten hat, sondern nur eine Bescheinigung über die dänische Staatsangehörigkeit vorbehaltlich ihres Verlusts mit Vollendung des 22. Lebensjahrs gemäß § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes ausstellt. Ich gebe zu, dass mir das Argument, wonach die Beurteilung der Beibehaltung der Staatsangehörigkeit so nah wie möglich am 22. Lebensjahr erfolgen müsse, damit die dänischen Behörden zur Beibehaltung der Staatsangehörigkeit Stellung nehmen könnten, nicht überzeugend erscheint. Siehe Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge.

( 63 ) In der mündlichen Verhandlung hat die dänische Regierung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs erklärt, dass die dänischen Behörden die dänischen Staatsangehörigen zwar nicht systematisch über die Voraussetzungen für den Verlust ihrer Staatsangehörigkeit mit Vollendung des 22. Lebensjahrs unterrichten, dass die Regelung über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit aber auf S. 2 der Reisepässe wiedergegeben sei. Darüber hinaus hat diese Regierung auch klargestellt, dass der Reisepass der Person, die vom Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit betroffen ist, ab dem Alter von 22 Jahren nicht mehr gültig ist. Zu diesem Aspekt bin ich der Ansicht, dass die Erwähnung dieser Regelung auf S. 2 des Reisepasses ohne Belang für das Kernproblem der vorliegenden Rechtssache ist, nämlich das Fehlen jeglicher Möglichkeit für die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits, gegen den Verlust ihrer Staatsangehörigkeit anzugehen, die den Verlust ihres Unionsbürgerstatus nach sich zieht, und somit in den Genuss einer Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht zu gelangen.

( 64 ) Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf das Dokument des Ministeriums für Ausländer und Integration mit dem Titel „Orientering om behandlingen af ansøgninger om bevis for bevarelse af dansk indfødsret efter EU-Domstolens dom i sag C‑221/17, Tjebbes“ (Informationen über die Behandlung von Anträgen auf Erteilung von Bescheinigungen über die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit im Anschluss an das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes).

( 65 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile Rottmann (Rn. 41 bis 43, 45, 48, 56 und 59), Tjebbes u. a. (Rn. 30, 32, 40 bis 42 und 45) sowie Wiener Landesregierung (Rn. 44, 59, 61 und 73). Siehe auch Nrn. 29 bis 43 und insbesondere Nr. 45 der vorliegenden Schlussanträge.

( 66 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 41). Ich weise darauf hin, dass es dem Gerichtshof in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, nicht darum ging, sich zu der Befugnis zu äußern, in der nationalen Regelung eine Voraussetzung für den Verlust der Staatsangehörigkeit festzulegen (wie etwa den Aufenthalt der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren außerhalb dieses Mitgliedstaats und der Union), sondern zur Unvereinbarkeit dieser Regelung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn sie es zu keinem Zeitpunkt ermöglicht, die Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen. Zu dieser Unterscheidung siehe meine Ausführungen in Nr. 45 der vorliegenden Schlussanträge.

( 67 ) Rn. 48 dieses Urteils.

( 68 ) Beispielsweise im Rahmen des Verfahrens zum Widerruf des Reisedokuments oder anlässlich eines Antrags auf Ausstellung eines neuen Passes.

( 69 ) Urteile Tjebbes u. a. (Rn. 44) und Wiener Landesregierung (Rn. 59).

( 70 ) Urteile Tjebbes u. a. (Rn. 45) und Wiener Landesregierung (Rn. 61).

( 71 ) Siehe Nrn. 8 und 26 der vorliegenden Schlussanträge.

( 72 ) Vgl. Urteile vom 7. Juli 1992, Micheletti u. a. (C‑369/90, EU:C:1992:295, Rn. 10), Rottmann (Rn. 39 und 41), Tjebbes u. a. (Rn. 30), vom 14. Dezember 2021, Stolichna obshtina, rayonPancharevo (C‑490/20, EU:C:2021:1008, Rn. 38), und Wiener Landesregierung (Rn. 37).

( 73 ) Urteil Tjebbes u. a. (Rn. 42 und Tenor).

( 74 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Wiener Landesregierung (Rn. 48).