URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

8. November 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Inhaftnahme Drittstaatsangehöriger – Grundrecht auf Freiheit – Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 15 – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 9 – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 28 – Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Inhaftnahme und der Aufrechterhaltung der Haft – Prüfung von Amts wegen – Grundrecht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz – Art. 47 der Charta der Grundrechte“

In den verbundenen Rechtssachen C‑704/20 und C‑39/21

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) und der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats’s-Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande), mit Entscheidungen vom 23. Dezember 2020 bzw. 26. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Dezember 2020 bzw. 26. Januar 2021, in den Verfahren

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

C,

B (C‑704/20),

und

X

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (C‑39/21)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos (Berichterstatter) und E. Regan, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot, I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen, N. Wahl, M. Gavalec und Z. Csehi sowie der Richterin O. Spineanu‑Matei,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. März 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von C und B, vertreten durch P. H. Hillen, Advocaat,

von X, vertreten durch C. F. Wassenaar, Advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. Juni 2022,

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98), der Art. 9 und 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013 L 180, S. 96) sowie der Art. 6 und 28 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31) in Verbindung mit den Art. 6, 24 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen den Drittstaatsangehörigen B, C und X und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssecretaris) über die Rechtmäßigkeit von diese Personen betreffenden Haftmaßnahmen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2008/115

3

Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des [Union]s- und des Völkerrechts, einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte, anzuwenden sind.“

4

Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

9.

‚schutzbedürftige Personen‘: Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben.“

5

Art. 4 („Günstigere Bestimmungen“) Abs. 3 der Richtlinie lautet:

„Diese Richtlinie berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die für Personen, auf die die Richtlinie Anwendung findet, günstiger sind, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie im Einklang stehen.“

6

Art. 15 („Inhaftnahme“) der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„(1)   Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)

Fluchtgefahr besteht oder

b)

die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(2)   Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet.

Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet.

Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes:

a)

entweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen,

b)

oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen.

Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.

(3)   Die Inhaftnahme wird in jedem Fall – entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen überprüft. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

(4)   Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

(5)   Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6)   Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)

mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)

Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“

Richtlinie 2013/33

7

Art. 1 („Zweck“) der Richtlinie 2013/33 bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist die Festlegung von Normen für die Aufnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz … in den Mitgliedstaaten.“

8

In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

h)

‚Haft‘ die räumliche Beschränkung eines Antragstellers durch einen Mitgliedstaat auf einen bestimmten Ort, an dem der Antragsteller keine Bewegungsfreiheit hat“.

9

Art. 8 („Haft“) der Richtlinie 2013/33 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie ein Antragsteller im Sinne der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes [(ABl. 2013, L 180, S. 60)] ist.

(2)   In Fällen, in denen es erforderlich ist, dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)   Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

a)

um seine Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder zu überprüfen;

b)

um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht;

c)

um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden;

d)

wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Richtlinie 2008/115… zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien, einschließlich der Tatsache, dass der Antragsteller bereits Gelegenheit zum Zugang zum Asylverfahren hatte, belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln;

e)

wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist,

f)

wenn dies mit Artikel 28 der Verordnung …Nr. 604/2013… in Einklang steht.

Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht geregelt.

(4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften Bestimmungen für Alternativen zur Inhaftnahme enthalten wie zum Beispiel Meldeauflagen, die Hinterlegung einer finanziellen Sicherheit oder die Pflicht, sich an einem zugewiesenen Ort aufzuhalten.“

10

Art. 9 („Garantien für in Haft befindliche Antragsteller“) der Richtlinie 2013/33 sieht vor:

„(1)   Ein Antragsteller wird für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind.

Die Verwaltungsverfahren in Bezug auf die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe für die Inhaftnahme werden mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt. Verzögerungen in den Verwaltungsverfahren, die nicht dem Antragsteller zuzurechnen sind, rechtfertigen keine Fortdauer der Haft.

(2)   Die Haft der Antragsteller wird von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde schriftlich angeordnet. In der Anordnung werden die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft angegeben.

(3)   Wird die Haft von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so sorgen die Mitgliedstaaten von Amts wegen und/oder auf Antrag des Antragstellers für eine zügige gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme. Findet eine derartige Überprüfung von Amts wegen statt, so wird so schnell wie möglich nach Beginn der Haft entschieden. Findet die Überprüfung auf Antrag des Antragstellers statt, so wird über sie so schnell wie möglich nach Einleitung des diesbezüglichen Verfahrens entschieden. Zu diesem Zweck legen die Mitgliedstaaten in ihrem einzelstaatlichen Recht die Frist fest, in der die gerichtliche Überprüfung von Amts wegen und/oder die gerichtliche Überprüfung auf Antrag des Antragstellers durchzuführen ist.

Falls sich die Haft infolge der gerichtlichen Überprüfung als unrechtmäßig herausstellt, wird der betreffende Antragsteller unverzüglich freigelassen.

(4)   In Haft befindliche Antragsteller werden unverzüglich schriftlich und in einer Sprache, die sie verstehen oder von der vernünftigerweise angenommen werden darf, dass sie sie verstehen, über die Gründe für die Haft und die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Verfahren für die Anfechtung der Haftanordnung sowie über die Möglichkeit informiert, unentgeltlich Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch zu nehmen.

(5)   Die Haft wird in angemessenen Zeitabständen von Amts wegen und/oder auf Antrag des betroffenen Antragstellers von einer Justizbehörde überprüft, insbesondere wenn sie von längerer Dauer ist oder sich maßgebliche Umstände ergeben oder neue Informationen vorliegen, die sich auf die Rechtmäßigkeit der Haft auswirken könnten.

(6)   Im Falle einer gerichtlichen Überprüfung der Haftanordnung nach Absatz 3 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass der Antragsteller unentgeltliche Rechtsberatung und ‑vertretung in Anspruch nehmen kann. Die Rechtsberatung und ‑vertretung umfasst zumindest die Vorbereitung der erforderlichen Verfahrensdokumente und die Teilnahme an der Verhandlung im Namen des Antragstellers vor den Justizbehörden.

…“

11

Art. 21 („Allgemeiner Grundsatz“) der Richtlinie 2013/33 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten berücksichtigen in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen…“

Verordnung Nr. 604/2013

12

Art. 1 („Gegenstand“) der Verordnung Nr. 604/2013 bestimmt:

„Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen …“

13

Art. 6 („Garantien für Minderjährige“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten.“

14

Art. 28 („Haft“) der Verordnung bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten nehmen eine Person nicht allein deshalb in Haft, weil sie dem durch diese Verordnung festgelegten Verfahren unterliegt.

(2)   Zwecks Sicherstellung von Überstellungsverfahren, dürfen die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Verordnung, wenn eine erhebliche Fluchtgefahr besteht, nach einer Einzelfallprüfung die entsprechende Person in Haft nehmen und nur im Falle dass Haft verhältnismäßig ist und sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.

(3)   Die Haft hat so kurz wie möglich zu sein und nicht länger zu sein, als bei angemessener Handlungsweise notwendig ist, um die erforderlichen Verwaltungsverfahren mit der gebotenen Sorgfalt durchzuführen, bis die Überstellung gemäß dieser Verordnung durchgeführt wird.

Wird eine Person nach diesem Artikel in Haft genommen, so darf die Frist für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs einen Monat ab der Stellung des Antrags nicht überschreiten. Der Mitgliedstaat, der das Verfahren gemäß dieser Verordnung durchführt, ersucht in derartigen Fällen um eine dringende Antwort. Diese Antwort erfolgt spätestens zwei Wochen nach Eingang des Gesuchs. Wird innerhalb der Frist von zwei Wochen keine Antwort erteilt, ist davon auszugehen, dass dem Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.

Befindet sich eine Person nach diesem Artikel in Haft, so erfolgt die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald diese praktisch durchführbar ist und spätestens innerhalb von sechs Wochen nach der stillschweigenden oder ausdrücklichen Annahme des Gesuchs auf Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person durch einen anderen Mitgliedstaat …

Hält der ersuchende Mitgliedstaat die Fristen für die Stellung eines Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs nicht ein oder findet die Überstellung nicht innerhalb des Zeitraums von sechs Wochen im Sinne des Unterabsatz 3 statt, wird die Person nicht länger in Haft gehalten. …“

(4)   Hinsichtlich der Haftbedingungen und der Garantien für in Haft befindliche Personen gelten zwecks Absicherung der Verfahren für die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat, die Artikel 9, 10 und 11 der Richtlinie 2013/33….“

Niederländisches Recht

Vw

15

Nach Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Wet tot algehele herziening van de Vreemdelingenwet (Vreemdelingenwet 2000) (Ausländergesetz 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 495) in der mit Wirkung vom 31. Dezember 2011 zur Umsetzung der Richtlinie 2008/115 in niederländisches Recht geänderten Fassung (im Folgenden: Vw) kann ein Ausländer, dessen Aufenthalt nicht rechtmäßig ist, vom Staatssecretaris zum Zweck der Abschiebung aus dem niederländischen Hoheitsgebiet in Haft genommen werden, wenn das öffentliche Interesse oder die nationale Sicherheit dies erfordern.

16

Nach Art. 59a Vw können Ausländer, für die die Verordnung Nr. 604/2013 gilt, unter Beachtung von Art. 28 dieser Verordnung im Hinblick auf ihre Überstellung in den für die Prüfung ihres im niederländischen Hoheitsgebiet gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat in Haft genommen werden.

17

Gemäß Art. 59b Vw können Ausländer, die einen Aufenthaltstitel beantragt haben, in Haft genommen werden, wenn dies zur Feststellung der Identität oder der Staatsangehörigkeit des Antragstellers oder zur Feststellung anderer für die Prüfung seines Antrags erforderlicher Gegebenheiten erforderlich ist, insbesondere wenn die Gefahr der Entziehung besteht.

18

Art. 91 Abs. 2 Vw sieht vor:

„Ist [der Raad van State (Staatsrat) als Berufungsgericht] der Ansicht, dass eine geltend gemachte Rüge nicht zur Nichtigerklärung führen kann, kann er sich in der Begründung seiner Entscheidung auf diese Würdigung beschränken“.

19

In Art. 94 Vw heißt es:

„(1)   Spätestens am achtundzwanzigsten Tag nach dem Erlass einer freiheitsentziehenden Maßnahme im Sinne der Art. … 59, 59a und 59b benachrichtigt der [Staatssecretaris das zuständige Gericht] davon, es sei denn, der Ausländer hat bereits selbst Klage erhoben. Mit dem Eingang der Benachrichtigung bei Gericht gilt eine Klage des Ausländers gegen die Entscheidung, mit der eine freiheitsentziehende Maßnahme angeordnet wird, als erhoben. Die Klage ist auch auf die Zuerkennung einer Entschädigung gerichtet.

(4)   Das Gericht beraumt unverzüglich den Termin für die mündliche Verhandlung an. Die Verhandlung findet spätestens am vierzehnten Tag nach Eingang der Klageschrift oder der Benachrichtigung statt. …

(6)   Ist das Gericht der Auffassung, dass die Anwendung oder die Durchführung der Maßnahme diesem Gesetz zuwiderläuft oder bei Abwägung aller betroffenen Belange nicht gerechtfertigt ist, so gibt es der Klage statt. In diesem Fall ordnet das Gericht die Aufhebung der Maßnahme oder eine Änderung der Art und Weise ihrer Durchführung an.

…“

Awb

20

Art. 8:69 der Wet houdende algemene regels van bestuursrecht (Algemene wet bestuursrecht) (Gesetz zur Festlegung der allgemeinen Vorschriften des Verwaltungsrechts [Allgemeines Gesetz über das Verwaltungsrecht]) vom 4. Juni 1992 (Stb. 1992, Nr. 315) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Awb) bestimmt:

„(1)   Das Verwaltungsgericht entscheidet auf der Grundlage der Klageschrift, der vorgelegten Unterlagen, der Voruntersuchung und der mündlichen Verhandlung.

(2)   Das Verwaltungsgericht ergänzt die Rechtsgründe von Amts wegen.

(3)   Das Verwaltungsgericht kann die Sachgründe von Amts wegen ergänzen.“

21

In Art. 8:77 Awb heißt es:

„(1)   Die schriftliche Entscheidung enthält:

b. die Entscheidungsgründe,

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Verfahren betreffend B und C (C‑704/20)

22

B, ein algerischer Staatsangehöriger, äußerte seine Absicht, in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Mit Beschluss vom 3. Juni 2019 nahm ihn der Staatssecretaris gemäß Art. 59b Vw in Haft, um seine Identität und die für die Prüfung seines Antrags erforderlichen Gegebenheiten festzustellen.

23

B erhob bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch, Niederlande) Klage gegen diesen Beschluss.

24

Mit Urteil vom 18. Juni 2019 gab dieses Gericht der Klage ohne Prüfung der geltend gemachten Klagegründe aus dem von B nicht geltend gemachten Grund statt, dass der Staatssecretaris nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt habe. Das Gericht ordnete deshalb die Aufhebung der Haft an und erkannte B eine Entschädigung zu.

25

C ist Staatsangehöriger von Sierra Leone. Mit Beschluss vom 5. Juni 2019 nahm ihn der Staatssecretaris gemäß Art. 59a Vw in Haft, um seine Überstellung nach Italien gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 sicherzustellen.

26

C erhob bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) Klage gegen diesen Beschluss.

27

Mit Urteil vom 19. Juni 2019 wies dieses Gericht die von C geltend gemachten Klagegründe als unbegründet zurück, gab der Klage aber mit der Begründung statt, dass der Staatssecretaris die Überstellung nach Italien nicht mit der gebotenen Sorgfalt organisiert habe. Das Gericht ordnete deshalb die Aufhebung der Haft an und erkannte C eine Entschädigung zu.

28

Der Staatssecretaris legte gegen die in den Rn. 24 und 27 des vorliegenden Urteils genannten Urteile Berufung beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) ein. Dieser ersucht den Gerichtshof, über die von B und C sowie von einigen niederländischen Gerichten vertretene These zu entscheiden, dass das Unionsrecht die Gerichte verpflichte, von Amts wegen sämtliche Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit einer Haftmaßnahme zu prüfen.

29

Gerade was das Unionsrecht anbelangt, stellt das vorlegende Gericht zunächst fest, dass sich B und C rechtmäßig in den Niederlanden aufgehalten hätten, bevor sie in Haft genommen worden seien. Folglich seien die für die Haft geltenden Regeln in den vorliegenden Fällen die der Richtlinie 2013/33 und der Verordnung Nr. 604/2013, gleichwohl möchte das vorlegende Gericht, dass bei der Prüfung der Vorlagefrage auch die Richtlinie 2008/115 berücksichtigt wird.

30

Die in den unionsrechtlichen Regelungen vorgesehene Haft unterliege in den Niederlanden dem Verwaltungsverfahrensrecht, nach dem die niederländischen Gerichte grundsätzlich nicht befugt seien, von Amts wegen zu prüfen, ob die betreffende Haftmaßnahme Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfülle, deren Missachtung die betroffene Person nicht geltend gemacht habe. Die einzige Ausnahme von diesem Grundsatz sei die Kontrolle, ob die Bestimmungen zwingenden Rechts wie etwa über die Zuständigkeit und den Zugang zu den Gerichten eingehalten worden seien.

31

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Rechtmäßigkeit einer Haftmaßnahme gegen einen Drittstaatsangehörigen an zahlreiche Voraussetzungen geknüpft sei. Diese beträfen u. a. die Festnahme der betroffenen Person, die Überprüfung ihrer Identität, ihrer Staatsangehörigkeit und ihres Aufenthaltsrechts, das Recht der betroffenen Person auf konsularischen, rechtlichen und sprachlichen Beistand, ihre Verteidigungsrechte, das Bestehen einer Fluchtgefahr oder der Gefahr, dass sich die betroffene Person Kontrollen entziehen werde, die Aussicht auf Abschiebung oder Überstellung der betroffenen Person, die Sorgfalt, die der Staatssecretaris hat walten lassen, die Unterzeichnung und das Datum des Erlasses dieser Haftmaßnahme sowie ihre Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

32

Aus dem Unionsrecht ergebe sich keine Pflicht zur Prüfung aller dieser Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen von Amts wegen. Aus dem Urteil vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a. (C‑222/05 bis C‑225/05, EU:C:2007:318), gehe hervor, dass das Unionsrecht die Gerichte nicht verpflichte, in einem Verfahren, das die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts betreffe, von Amts wegen zu prüfen, ob die Bestimmungen des Unionsrechts beachtet worden seien, es sei denn, deren Rang in der Rechtsordnung der Union sei mit dem der Regelungen vergleichbar, die der öffentlichen Ordnung zuzurechnen seien, oder die Parteien könnten in dem betreffenden Verfahren einen Klagegrund der Verletzung von Unionsrecht nicht geltend machen. Die für die Haft geltenden Voraussetzungen hätten aber nicht denselben Rang wie die nationalen Bestimmungen, die der öffentlichen Ordnung zuzurechnen seien, und in den Niederlanden könne ein Ausländer Klagegründe der Verletzung der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der gegen ihn verhängten Haft geltend machen.

33

Nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie seien die Mitgliedstaaten berechtigt, den nationalen Gerichten zu verbieten, im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle von Haftmaßnahmen gegen Drittstaatsangehörige Tatsachen oder Klagegründe von Amts wegen zu prüfen.

34

Dieses Verbot verletze nicht den Grundsatz der Effektivität, da diese Drittstaatsangehörigen einen schnellen und kostenlosen Zugang zu den Gerichten hätten und alle ihnen geeignet erscheinenden Gründe vortragen könnten.

35

Es verletze auch nicht den Grundsatz der Äquivalenz. Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass seine Auslegung von Art. 8:69 Abs. 2 und 3 Awb für alle Verwaltungsverfahren gelte und nicht speziell für solche, die Haftmaßnahmen beträfen. Nach dieser Auslegung folge aus Art. 8:69 Abs. 2 Awb, dass die Gerichte die von der betroffenen Person vorgetragenen Gründe in juristische Formulierungen übertragen müssten, und aus Art. 8:69 Abs. 3, dass die Gerichte nicht auf den von den Parteien dargestellten Sachverhalt beschränkt seien. Von den Parteien werde jedoch erwartet, dass sie einen Anfangsbeweis erbrächten, den die Gerichte dann ergänzen könnten, etwa indem sie Zeugen anhörten.

36

Zudem seien die durch die Richtlinie 2008/115, die Richtlinie 2013/33 und die Verordnung Nr. 604/2013 in Haftsachen besonders vorgesehenen Garantien vom niederländischen Gesetzgeber insbesondere in Art. 94 Vw umgesetzt worden. Diese Vorschrift gewährleiste nämlich, dass jede Haftmaßnahme der richterlichen Kontrolle unterliege.

37

Der Raad van State (Staatsrat) hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Verpflichtet das Unionsrecht, insbesondere Art. 15 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 und Art. 9 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Art. 6 der Charta, zu einer Prüfung von Amts wegen in dem Sinne, dass das Gericht verpflichtet ist, von sich aus (ex officio) zu beurteilen, ob alle Voraussetzungen für die Inhaftnahme erfüllt sind, einschließlich der Voraussetzungen, deren Vorliegen der Ausländer nicht in Abrede gestellt hat, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte?

Verfahren betreffend X (C‑39/21)

38

X ist ein 1973 geborener marokkanischer Staatsangehöriger. Mit Beschluss vom 1. November 2020 nahm ihn der Staatssecretaris gemäß Art. 59 Abs. 1 Buchst. a Vw in Haft, der zu den Vorschriften gehört, mit denen die Richtlinie 2008/115 im niederländischen Recht umgesetzt wurde. Diese Inhaftnahme sei zum Schutz der öffentlichen Ordnung erforderlich gewesen, weil die Gefahr bestanden habe, dass sich X den Kontrollen entziehe und die Abschiebung vereitle.

39

Mit Urteil vom 14. Dezember 2020 wies die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) die von X gegen diese Inhaftnahme erhobene Klage ab.

40

Am 8. Januar 2021 erhob X bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) Klage gegen die Aufrechterhaltung der Haft. Zur Stützung seiner Klage macht X das Fehlen einer Aussicht auf Abschiebung innerhalb angemessener Frist geltend.

41

Das vorlegende Gericht erläutert, dass es die Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der Haft nur für die Zeit ab 8. Dezember 2020 zu prüfen habe. Die Rechtmäßigkeit der Haft bis zu diesem Zeitpunkt habe es bereits in seinem Urteil vom 14. Dezember 2020 geprüft.

42

Das vorlegende Gericht bittet um Erläuterungen zu den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Intensität der richterlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Haftmaßnahmen.

43

Hierzu führt es aus, dass Klagen von Drittstaatsangehörigen gegen vom Staatssecretaris verhängte Haftmaßnahmen unter das niederländische Verwaltungsrecht fielen und die mit solchen Klagen befassten Gerichte nach Art. 8:69 Abs. 1 Awb auf der Grundlage der Klageschrift, der vorgelegten Unterlagen, der Voruntersuchung und der mündlichen Verhandlung zu entscheiden hätten.

44

Diese Regel werde zwar durch Art. 8:69 Abs. 2 und 3 Awb differenziert, wonach die Gerichte die Rechtsgründe vom Amts wegen zu ergänzen hätten und den Sachverhalt von Amts wegen ergänzen könnten. Der Raad van State (Staatsrat) vertrete jedoch eine besonders enge Auslegung dieser Absätze, wonach die einzige Befugnis der Gerichte zu Prüfung von Amts wegen darin bestehe, die Einhaltung der Vorschriften über die Zuständigkeit, den Zugang zu den Gerichten und das Recht auf ein faires Verfahren zu kontrollieren. Daher sei es den Gerichten im Rahmen der sachlichen Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Haftmaßnahme untersagt, Sach- oder Rechtsgründe von Amts wegen zu berücksichtigen. Dies gelte auch dann, wenn die betroffene Person schutzbedürftig sei, wie etwa Minderjährige.

45

Wenn ein Gericht, bei dem eine Klage gegen eine Haftmaßnahme anhängig sei, gleichwohl Sach- oder Rechtsgründe von Amts wegen prüfe, lege der Staatssecretaris systematisch Rechtsmittel zum Raad van State (Staatsrat) ein und habe damit stets Erfolg.

46

Das vorlegende Gericht gibt an, es verfüge im vorliegenden Fall für die Zeit ab 8. Dezember 2020 über ein Gesprächsprotokoll von einer halben Seite und einen Folgebericht vom 8. Januar 2021 in Gestalt eines Formblatts, in dem die konkreten Maßnahmen angegeben seien, die die niederländischen Behörden getroffen hätten, um die Abschiebung des Betroffenen durchzuführen.

47

Es sei unmöglich, derart summarischen Unterlagen alle Tatsachen zu entnehmen, die für die Beurteilung der Frage relevant seien, ob die Aufrechterhaltung der Haft rechtmäßig sei. Im Ausgangsverfahren möchte das vorlegende Gericht u. a. wissen, ob die niederländischen Behörden die Möglichkeit, eine weniger einschneidende Maßnahme zu treffen, gebührend geprüft haben. Es möchte auch wissen, welche Maßnahmen in der Hafteinrichtung angeboten werden, um X bei der Bewältigung seiner Suchterkrankung, die er in seiner Klage erwähnt habe, zu unterstützen.

48

Da es nicht befugt sei, derartige Gesichtspunkte von Amts wegen zu prüfen, sieht sich das vorlegende Gericht nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit der Aufrechterhaltung der Haft anhand sämtlicher relevanter Gesichtspunkte zu beurteilen. Dies sei möglicherweise unvereinbar mit dem in Art. 47 der Charta verbürgten Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, zumal gegen Urteile betreffend die Aufrechterhaltung von Haftmaßnahmen keine Berufung möglich sei. Damit in derartigen Rechtssachen ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz bestehe, müsse das angerufene Gericht in der Lage sein, die Beachtung des in Art. 6 der Charta verbürgten Grundrechts auf Freiheit in vollem Umfang sicherzustellen.

49

Von der Begründungspflicht nach Art. 8:77 Abs. 1 Buchst. b Awb sehe Art. 91 Abs. 2 Vw eine Ausnahme vor, wonach sich der Raad van State (Staatsrat) bei Berufungsentscheidungen über Urteile, die eine Inhaftnahme beträfen, mit einer abgekürzten Begründung begnügen könne, die sich im Wesentlichen auf die Angabe beschränke, dass die betroffene Person keine begründeten Rügen geltend gemacht habe.

50

Eine solche Ausnahme nehme den Betroffenen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Art. 47 der Charta sei dahin auszulegen, dass der Zugang zu den Gerichten auf dem Gebiet des Ausländerrechts auch das Recht auf eine mit einer Begründung versehene Sachentscheidung des in zweiter und letzter Instanz entscheidenden Gerichts umfasse.

51

Die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist es den Mitgliedstaaten in Anbetracht von Art. 47 der Charta in Verbindung mit deren Art. 6 und Art. 53 und vor dem Hintergrund von Art. 15 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2008/115, Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 sowie Art. 28 Abs. 4 der Verordnung Nr. 604/2013 gestattet, das gerichtliche Verfahren, in dem die durch die Behörden angeordnete Abschiebungshaft angefochten werden kann, so auszugestalten, dass es dem Gericht verboten ist, alle Aspekte der Rechtmäßigkeit der Haft von Amts wegen zu untersuchen, zu beurteilen und bei der von Amts wegen erfolgten Feststellung, dass die Haft rechtswidrig ist, diese rechtswidrige Haft unmittelbar zu beenden und die unmittelbare Freilassung des Ausländers anzuordnen? Wenn der Gerichtshof eine solche nationale Regelung für mit dem Unionsrecht unvereinbar hält, bedeutet dies dann auch, dass, wenn der Ausländer bei dem Gericht beantragt, freigelassen zu werden, dieses Gericht immer verpflichtet ist, alle relevanten Tatsachen und Gesichtspunkte der Rechtmäßigkeit der Haft von Amts wegen aktiv und gründlich zu untersuchen und zu beurteilen?

2.

Ist Frage 1 in Anbetracht von Art. 24 Abs. 2 der Charta in Verbindung mit Art. 3 Nr. 9 der Richtlinie 2008/115, Art. 21 der Richtlinie 2013/33 und Art. 6 der Verordnung Nr. 604/2013 anders zu beantworten, wenn der von den Behörden inhaftierte Ausländer minderjährig ist?

3.

Folgt aus dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, wie es in Art. 47 der Charta verbürgt ist, in Verbindung mit Art. 6 und Art. 53 der Charta und vor dem Hintergrund von Art. 15 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2008/115, Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 und Art. 28 Abs. 4 der Verordnung Nr. 604/2013, dass das Gericht in jeder Instanz, wenn der Ausländer bei diesem Gericht beantragt, die Abschiebungshaft aufzuheben und ihn freizulassen, jede Entscheidung über diesen Antrag mit einer tragfähigen inhaltlichen Begründung versehen muss, wenn der Rechtsbehelf im Übrigen so eingelegt wurde, wie dies in diesem Mitgliedstaat vorgesehen ist? Wenn der Gerichtshof eine nationale Rechtspraxis, wonach sich das Gericht in zweiter und damit letzter Instanz darauf beschränken kann, eine Entscheidung ohne jede inhaltliche Begründung hierfür zu erlassen, angesichts der Art und Weise, wie dieser Rechtsbehelf in diesem Mitgliedstaat im Übrigen ausgestaltet ist, für mit dem Unionsrecht unvereinbar hält, bedeutet dies dann, dass angesichts der Schutzbedürftigkeit des Ausländers, der in ausländerrechtlichen Verfahren betroffenen erheblichen Interessen und der Feststellung, dass diese Verfahren – hinsichtlich des Rechtsschutzes abweichend von allen anderen Verwaltungsverfahren – die gleichen geringen Verfahrensgarantien für den Ausländer wie das Inhaftnahmeverfahren vorsehen, eine solche Befugnis für das in zweiter und damit letzter Instanz in Asylsachen und regulären Ausländersachen entscheidende Gericht ebenfalls als mit dem Unionsrecht unvereinbar angesehen werden muss? Sind diese Fragen in Anbetracht von Art. 24 Abs. 2 der Charta anders zu beantworten, wenn der Ausländer, der eine ausländerrechtliche Entscheidung der Behörden anficht, minderjährig ist?

Verfahren vor dem Gerichtshof

52

Nach Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs kann eine Vorlage zur Vorabentscheidung, die eine oder mehrere Fragen zu Bereichen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufwirft, auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen einem Eilverfahren unterworfen werden.

53

In der Rechtssache C‑39/21 hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch), da sich X zum Zeitpunkt der Einreichung ihres Vorabentscheidungsersuchens in Haft befand, die Anwendung dieses Verfahrens beantragt.

54

Am 25. Februar 2021 hat die Fünfte Kammer des Gerichtshofs auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, diesem Antrag, die Rechtssache C‑39/21 dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

55

Wegen des teilweisen Zusammenhangs zwischen den Rechtssachen C‑704/20 und C‑39/21 hat sie von Amts wegen entschieden, auch die Rechtssache C‑704/20 diesem Verfahren zu unterwerfen.

56

Ferner hat sie beschlossen, diese Rechtssachen dem Gerichtshof vorzulegen, damit sie der Großen Kammer zugewiesen werden.

57

Die Rechtssachen sind außerdem zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

58

Am 31. März 2021 hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) dem Gerichtshof mitgeteilt, dass sie mit Zwischenentscheidung vom 26. März 2021 die Haft von X aufgehoben habe.

59

In Ansehung dieser Information hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Voraussetzungen für das Eilvorabentscheidungsverfahren nicht mehr erfüllt und die Rechtssachen C‑704/20 und C‑39/21 im ordentlichen Verfahren zu bearbeiten sind.

60

Die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch), hat dem Gerichtshof anschließend mitgeteilt, dass sie X mit Entscheidung vom 26. April 2021 eine Entschädigung mit der Begründung zugesprochen habe, dass seine Inhaftierung rechtswidrig gewesen sei und ihm einen Schaden zugefügt habe. Bis zum Eingang der Antwort des Gerichtshofs auf ihre Vorlagefragen hat sie das Verfahren hinsichtlich der Entscheidung über die Frage ausgesetzt, ob X eine höhere Entschädigung zuerkannt werden kann.

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit

61

Es spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 19. Mai 2022, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung gegen einen flüchtigen Angeklagten], C‑569/20, EU:C:2022:401, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

In der Rechtssache C‑39/21 ist die Problematik der Inhaftierung eines Minderjährigen, auf die die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch) in ihrer zweiten Vorlagefrage verweist, hypothetischer Natur. Aus der Vorlageentscheidung in dieser Rechtssache geht nämlich eindeutig hervor, dass X, der 1973 geboren und damit volljährig ist, die einzige Person ist, die von dem Verfahren betroffen ist, das zu der Vorlage zur Vorabentscheidung geführt hat.

63

Die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑39/21 wäre dem vorlegenden Gericht für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits daher nicht nützlich, sondern stellte ein beratendes Gutachten des Gerichtshofs dar. Folglich ist diese zweite Frage unzulässig.

64

Die dritte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑39/21 betrifft zudem im Wesentlichen die Frage, ob sich das nationale Gericht, das gegebenenfalls über die Berufung in einer Rechtssache entscheidet, die die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Inhaftnahme betrifft, damit begnügen kann, eine abgekürzte Begründung zu geben.

65

Wie sich aus den in den Rn. 40 und 48 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Informationen ergibt, die der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑39/21 entnommen sind, wird die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch), in erster und letzter Instanz über die Aufrechterhaltung der gegen X verhängten Haft entscheiden.

66

Zwar hat dieses Gericht in seinen in den Rn. 49 und 50 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Erläuterungen ausgeführt, dass nach niederländischem Recht gegen eine Haftentscheidung Berufung beim Raad van State (Staatsrat) eingelegt werden kann, doch ist die Frage, welchen Umfang die Begründungspflicht des letztgenannten Gerichts in einer solchen Situation hat, im Rahmen des bei der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats ’s‑Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort ’s‑Hertogenbosch), anhängigen Verfahrens, das die Aufrechterhaltung der betreffenden Haftmaßnahme in erster und letzter Instanz betrifft, rein hypothetischer Natur.

67

Folglich wäre eine Antwort des Gerichtshofs auf die dritte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑39/21 nicht durch die Erforderlichkeit für die tatsächliche Entscheidung des Rechtsstreits gerechtfertigt, der beim vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache anhängig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68

Zudem kann ungeachtet des teilweisen Zusammenhangs zwischen den Rechtssachen C‑704/20 und C‑39/21 sowie der Entscheidung, diese beiden Rechtssachen zu verbinden, die dritte in der Rechtssache C‑39/21 gestellte Frage nicht im Rahmen der Prüfung des Vorabentscheidungsersuchens in der Rechtssache C‑704/20 geprüft werden.

69

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese ständige Rechtsprechung würde missachtet, wenn der Gerichtshof sich bereit erklärte, eine Vorlagefrage zu beantworten, mit der das Gericht, das sie gestellt hat, nicht um eine Auslegung des Unionsrechts zur Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache ersucht, sondern ein von einem anderen Gericht eingereichtes Vorabentscheidungsersuchen zu ergänzen sucht.

70

Daher ist die dritte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑39/21 ebenfalls unzulässig.

Zur Beantwortung der Vorlagefragen

71

Mit der Frage in der Rechtssache C‑704/20 und der ersten Frage in der Rechtssache C‑39/21, die zusammen zu prüfen sind, möchten die vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/115, Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2013/33 sowie Art. 28 Abs. 4 der Verordnung Nr. 604/2013 in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass eine Justizbehörde im Rahmen ihrer Kontrolle, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen beachtet wurden, von Amts wegen zu prüfen hat, ob eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung missachtet wurde, auf die sich die betroffene Person nicht berufen hat.

72

Insoweit ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass jede Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen, sei es gemäß der Richtlinie 2008/115 im Rahmen eines Rückkehrverfahrens infolge eines illegalen Aufenthalts, gemäß der Richtlinie 2013/33 im Rahmen der Bearbeitung eines Antrags auf internationalen Schutz oder gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 im Rahmen der Überstellung einer Person, die einen solchen Schutz beantragt hat, in den für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat einen schwerwiegenden Eingriff in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 40, und vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 105).

73

Wie Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 vorsieht, ist Haft nämlich die räumliche Beschränkung einer Person auf einen bestimmten Ort. Aus dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und dem Kontext dieser Vorschrift, deren Inhalt im Übrigen auf den Begriff „Haft“ in der Richtlinie 2008/115 und der Verordnung Nr. 604/2013 übertragbar ist, ergibt sich, dass die Haft die betroffene Person zwingt, sich dauerhaft in einem eingeschränkten, geschlossenen Bereich aufzuhalten, wo sie von der übrigen Bevölkerung isoliert und ihr die Bewegungsfreiheit entzogen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 217 bis 225).

74

Zweck der Haft im Sinne der Richtlinie 2008/115, der Richtlinie 2013/33 und der Verordnung Nr. 604/2013 ist indessen nicht die Verfolgung oder Ahndung von Straftaten, sondern die Erreichung der mit diesem Instrument im Bereich der Rückkehr, der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz und der Überstellung von Drittstaatsangehörigen verfolgten Ziele.

75

Angesichts der Schwere dieses Eingriffs in das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit und der Bedeutung dieses Rechts ist die den zuständigen nationalen Behörden zuerkannte Befugnis, Drittstaatsangehörige in Haft zu nehmen, eng begrenzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Juni 2022, Valstybės sienos apsaugos tarnyba u. a., C‑72/22 PPU, EU:C:2022:505, Rn. 83 und 86 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Daher kann eine Inhaftierung nur unter Beachtung der allgemeinen und abstrakten Regeln, die deren Voraussetzungen und Modalitäten festlegen, angeordnet oder verlängert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C‑519/20, EU:C:2022:178, Rn. 62).

76

Die allgemeinen und abstrakten Regeln, die als gemeinsame Normen der Union die Voraussetzungen für eine Inhaftnahme festlegen, finden sich in Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Unterabs. 2, Abs. 4, 5 und 6 der Richtlinie 2008/115, Art. 8 Abs. 2 und 3, Art. 9 Abs. 1, 2 und 4 der Richtlinie 2013/33 sowie Art. 28 Abs. 2, 3 und 4 der Verordnung Nr. 604/2013. Diese Regeln bestehen unbeschadet der in anderen Vorschriften dieser Rechtsakte enthalten Regeln, die die Voraussetzungen für eine Inhaftierung in bestimmten Situationen näher bestimmen, die in den Ausgangsverfahren nicht einschlägig sind, etwa die Inhaftierung Minderjähriger.

77

Diese in der Richtlinie 2008/115, der Richtlinie 2013/33 und der Verordnung Nr. 604/2013 vorgesehenen Regeln sowie die nationalen Rechtsvorschriften zu ihrer Umsetzung, stellen die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Normen dar, die die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft, auch unter dem Blickwinkel von Art. 6 der Charta, festlegen.

78

Insbesondere kann der betreffende Drittstaatsangehörige, wie in Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115, Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 und Art. 28 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 präzisiert, nicht in Haft genommen werden, wenn eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam angewandt werden kann.

79

Stellt sich heraus, dass die in Rn. 77 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, ist die betroffene Person unverzüglich freizulassen, wie der Unionsgesetzgeber im Übrigen in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 4 und Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 sowie in Art. 9 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/33 ausdrücklich vorschreibt.

80

Dies gilt u. a. dann, wenn festgestellt wird, dass das Rückkehrverfahren, das Verfahren zur Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz oder das Überstellungsverfahren nicht mehr mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt wird.

81

Was als Zweites das Recht von Drittstaatsangehörigen, die von einem Mitgliedstaat in Haft genommen wurden, auf wirksamen gerichtlichen Schutz betrifft, müssen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 47 der Charta dafür Sorge tragen, dass ein wirksamer gerichtlicher Schutz der aus der Unionsrechtsordnung erwachsenden Rechte der Einzelnen gewährleistet ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 142).

82

In Bezug auf die Inhaftnahme sind gemeinsame Normen der Union über den gerichtlichen Schutz in Art. 15 Abs. 2 Unterabs. 3 der Richtlinie 2008/115 und in Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 enthalten. Die letztgenannte Vorschrift findet nach Art. 28 Abs. 4 der Verordnung Nr. 604/2013 auch im Rahmen der dieser Verordnung unterliegenden Überstellungsverfahren Anwendung.

83

Nach diesen Vorschriften, die in dem betreffenden Bereich eine Konkretisierung des in Art. 47 der Charta garantierten Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz darstellen (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 289), muss jeder Mitgliedstaat dafür sorgen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme von Amts wegen oder auf Antrag der betroffenen Person „innerhalb kurzer Frist“ gerichtlich überprüft wird, wenn die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet wurde.

84

In Bezug auf die Aufrechterhaltung der Haft schreiben Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 und Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33, der gemäß Art. 28 Abs. 4 der Verordnung Nr. 604/2013 im Rahmen der dieser Verordnung unterliegenden Überstellungsverfahren ebenfalls Anwendung findet, eine regelmäßige Überprüfung vor. Nach diesen Vorschriften muss eine solche Überprüfung „in angemessenen Zeitabständen“ stattfinden, um festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft noch gegeben sind. Bei einer Haft im Sinne der Richtlinie 2013/33 oder der Verordnung Nr. 604/2013 sind diese regelmäßigen Überprüfungen in allen Konstellationen von einer Justizbehörde durchzuführen, während nach der Richtlinie 2008/115 die Überprüfung im Fall der Verlängerung der Haft der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen muss.

85

Da der Unionsgesetzgeber ohne Ausnahme verlangt, dass eine Überprüfung der Erfüllung der Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft „in angemessenen Zeitabständen“ stattfindet, ist die zuständige Behörde verpflichtet, die Überprüfung von Amts wegen vorzunehmen, selbst wenn die betroffene Person sie nicht beantragt hat.

86

Wie sich aus allen diesen Vorschriften ergibt, hat sich der Unionsgesetzgeber nicht darauf beschränkt, gemeinsame materielle Normen festzulegen, sondern hat auch gemeinsame Verfahrensnormen eingeführt, die gewährleisten sollen, dass in jedem Mitgliedstaat eine Regelung besteht, die es der zuständigen Justizbehörde ermöglicht, die betroffene Person, gegebenenfalls nach einer Prüfung von Amts wegen, freizulassen, sobald sich erweist, dass ihre Inhaftierung nicht oder nicht mehr rechtmäßig ist.

87

Damit eine solche Schutzregelung wirksam gewährleistet, dass die strengen Voraussetzungen, denen die Rechtmäßigkeit einer Haft im Sinne der Richtlinie 2008/115, der Richtlinie 2013/33 oder der Verordnung Nr. 604/2013 unterliegt, eingehalten sind, muss die zuständige Justizbehörde in der Lage sein, über alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände zu befinden, die für die Überprüfung dieser Rechtmäßigkeit relevant sind. Hierfür muss sie die tatsächlichen Umstände und die Beweise berücksichtigen können, die von der Verwaltungsbehörde angeführt worden sind, die die ursprüngliche Inhaftnahme angeordnet hat. Sie muss auch die Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen berücksichtigen können, die ihr gegebenenfalls von der betroffenen Person vorgelegt werden. Außerdem muss sie in der Lage sein, jeden anderen für ihre Entscheidung relevanten Umstand zu ermitteln, falls sie dies für erforderlich hält. Ihre Befugnisse im Rahmen einer Überprüfung können keinesfalls auf die von der Verwaltungsbehörde angeführten Umstände und Beweise beschränkt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 62 und 64, sowie vom 10. März 2022, Landkreis Gifhorn, C‑519/20, EU:C:2022:178, Rn. 65).

88

Wie der Generalanwalt in Nr. 95 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, muss die zuständige Justizbehörde in Anbetracht der Bedeutung des Rechts auf Freiheit, der Schwere des Eingriffs in dieses Recht, den die Inhaftnahme von Personen aus anderen Gründen als der Verfolgung oder Ahndung von Straftaten darstellt, und des durch die vom Unionsgesetzgeber eingeführten gemeinsamen Normen hervorgehobenen Erfordernisses eines hohen gerichtlichen Schutzes, der es erlaubt, dem zwingenden Gebot nachzukommen, die betreffende Person freizulassen, wenn die Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Haft nicht oder nicht mehr erfüllt sind, sämtliche ihr zur Kenntnis gebrachten, insbesondere tatsächlichen Umstände berücksichtigen, wie sie im Rahmen von Prozessmaßnahmen ergänzt oder aufgeklärt werden, die sie gemäß ihrem nationalen Recht für geboten hält, und anhand dieser Umstände gegebenenfalls den Verstoß gegen eine sich aus dem Unionsrecht ergebende Rechtmäßigkeitsvoraussetzung feststellen, auch wenn dieser Verstoß von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde. Diese Verpflichtung besteht unbeschadet der Verpflichtung der Justizbehörde, die eine solche Rechtmäßigkeitsvoraussetzung somit von Amts wegen zu prüfen hat, die Parteien gemäß dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens aufzufordern, sich zu dieser Voraussetzung zu äußern.

89

Insoweit kann insbesondere nicht zugelassen werden, dass in den Mitgliedstaaten, in denen Haftentscheidungen von einer Verwaltungsbehörde getroffen werden, die gerichtliche Kontrolle nicht umfasst, dass die Justizbehörde anhand der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Umstände überprüft, ob eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung erfüllt ist, deren Missachtung von der betroffenen Person nicht geltend gemacht wurde, während in den Mitgliedstaaten, in denen Haftentscheidungen von einer Justizbehörde zu treffen sind, diese verpflichtet ist, von Amts wegen eine solche Überprüfung anhand dieser Umstände vorzunehmen.

90

Die in Rn. 88 des vorliegenden Urteils festgehaltene Auslegung stellt sicher, dass der gerichtliche Schutz des Grundrechts auf Freiheit in allen Mitgliedstaaten wirksam gewährleistet wird, gleich, ob sie eine Regelung vorsehen, nach der die Haftentscheidung von einer Verwaltungsbehörde getroffen wird und der gerichtlichen Kontrolle unterliegt, oder eine Regelung, nach der diese Entscheidung unmittelbar durch ein Gericht getroffen wird.

91

Dieser Auslegung steht nicht die vom Raad van State (Staatsrat) angeführte Rechtsprechung entgegen, wonach das Unionsrecht es den nationalen Gerichten in Anbetracht des Grundsatzes, dass die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht, nicht gebietet, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen Unionsvorschriften aufzuwerfen, wenn sie durch die Prüfung dieser Frage die Grenzen des von den Parteien festgelegten Streitgegenstands überschreiten müssten, indem sie sich auf andere Tatsachen und Umstände stützen, als sie die Partei, die ein Interesse an der Anwendung der betreffenden Vorschriften hat, ihrem Begehren zugrunde gelegt hat (vgl. u. a. Urteile vom 14. Dezember 1995, van Schijndel und van Veen, C‑430/93 und C‑431/93,EU:C:1995:441, Rn. 21 und 22, vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a., C‑222/05 bis C‑225/05, EU:C:2007:318, Rn. 35 und 36, sowie vom 7. September 2021, Klaipėdos regiono atliekų tvarkymo centras, C‑927/19, EU:C:2021:700, Rn. 145).

92

Der vom Unionsgesetzgeber eingeführte strenge Rahmen für die Inhaftnahme und die Aufrechterhaltung der Haft führt nämlich zu einer Situation, die einem Verwaltungsrechtsstreit, in dem die Initiative und die Bestimmung des Streitgegenstands den Parteien zustehen, nicht in jeder Hinsicht gleicht.

93

Somit besteht die Verpflichtung der mit der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Haftmaßnahmen betrauten Justizbehörden, die Missachtung einer sich aus dem Unionsrecht ergebenden Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer solchen Maßnahme anhand der in Rn. 88 des vorliegenden Urteils genannten Umstände von Amts wegen zu prüfen, unabhängig von der in Rn. 91 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung und der vom Raad van State (Staatsrat) im Licht des Urteils vom 7. Juni 2007, van der Weerd u. a. (C‑222/05 bis C‑225/05, EU:C:2007:318, Rn. 29 bis 31), aufgeworfenen Frage, ob es sich bei den einschlägigen Rechtsvorschriften um zwingendes Recht handelt.

94

Nach alledem ist auf die Frage in der Rechtssache C‑704/20 und die erste Frage in der Rechtssache C‑39/21 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/115, Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2013/33 sowie Art. 28 Abs. 4 der Verordnung Nr. 604/2013 in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass eine Justizbehörde im Rahmen ihrer Kontrolle, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen beachtet wurden, anhand der ihr zur Kenntnis gebrachten Umstände des Falles, wie sie im bei ihr anhängigen kontradiktorischen Verfahren ergänzt oder aufgeklärt wurden, von Amts wegen zu prüfen hat, ob eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung missachtet wurde, auf die sich die betroffene Person nicht berufen hat.

Kosten

95

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 15 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, Art. 9 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, sowie Art. 28 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in Verbindung mit den Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

 

sind dahin auszulegen, dass

 

eine Justizbehörde im Rahmen ihrer Kontrolle, ob die sich aus dem Unionsrecht ergebenden Voraussetzungen für die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme eines Drittstaatsangehörigen beachtet wurden, anhand der ihr zur Kenntnis gebrachten Umstände des Falles, wie sie im bei ihr anhängigen kontradiktorischen Verfahren ergänzt oder aufgeklärt wurden, von Amts wegen zu prüfen hat, ob eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung missachtet wurde, auf die sich die betroffene Person nicht berufen hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.