URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

18. Oktober 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Europäische Gesellschaft – Richtlinie 2001/86/EG – Beteiligung der Arbeitnehmer an der Beschlussfassung der Europäischen Gesellschaft – Art. 4 Abs. 4 – Durch Umwandlung gegründete Europäische Gesellschaft – Inhalt der ausgehandelten Vereinbarung – Wahl von Arbeitnehmervertretern in den Aufsichtsrat – Wahlverfahren, das einen gesonderten Wahlgang für die Gewerkschaftsvertreter vorsieht“

In der Rechtssache C‑677/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 18. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Dezember 2020, in dem Verfahren

Industriegewerkschaft Metall (IG Metall),

ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft

gegen

SAP SE,

SE‑Betriebsrat der SAP SE,

Beteiligte:

Konzernbetriebsrat der SAP SE,

Deutscher Bankangestellten-Verband e. V.,

Christliche Gewerkschaft Metall (CGM),

Verband angestellter Akademiker und leitender Angestellter der chemischen Industrie e. V.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten D. Gratsias und der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Richter S. Rodin, F. Biltgen (Berichterstatter), N. Piçarra und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Februar 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) und ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, vertreten durch Rechtsanwältin S. Birte Carlson,

der SAP SE, vertreten durch Rechtsanwältin K. Häferer-Duttiné sowie Rechtsanwälte P. Matzke und A. Schulz,

des Konzernbetriebsrats der SAP SE, vertreten durch Rechtsanwalt H.‑D. Wohlfarth,

der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM), vertreten durch G. Gerhardt als Bevollmächtigten,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der luxemburgischen Regierung, vertreten durch A. Rodesch, Avocat,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. April 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer (ABl. 2001, L 294, S. 22).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) und der ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft auf der einen und der SAP SE, einer Europäischen Gesellschaft (SE), sowie dem SE‑Betriebsrat von SAP auf der anderen Seite bezüglich der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb von SAP.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 3, 5, 10, 15 und 18 der Richtlinie 2001/86 heißt es:

„(3)

Um die Ziele der Gemeinschaft im sozialen Bereich zu fördern, müssen besondere Bestimmungen –- insbesondere auf dem Gebiet der Beteiligung der Arbeitnehmer – festgelegt werden, mit denen gewährleistet werden soll, dass die Gründung einer SE nicht zur Beseitigung oder zur Einschränkung der Gepflogenheiten der Arbeitnehmerbeteiligung führt, die in den an der Gründung einer SE beteiligten Gesellschaften herrschen. Dieses Ziel sollte durch die Einführung von Regeln in diesen Bereich verfolgt werden, mit denen die Bestimmungen der [Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) (ABl. 2001, L 294, S. 1)] ergänzt werden.

(5)

Angesichts der in den Mitgliedstaaten bestehenden Vielfalt an Regelungen und Gepflogenheiten für die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter an der Beschlussfassung in Gesellschaften ist es nicht ratsam, ein auf die SE anwendbares einheitliches europäisches Modell der Arbeitnehmerbeteiligung vorzusehen.

(10)

Die Abstimmungsregeln in dem besonderen Gremium, das die Arbeitnehmer zu Verhandlungszwecken vertritt, sollten – insbesondere wenn Vereinbarungen getroffen werden, die ein geringeres Maß an Mitbestimmung vorsehen, als es in einer oder mehreren der sich beteiligenden Gesellschaften gegeben ist – in einem angemessenen Verhältnis zur Gefahr der Beseitigung oder der Einschränkung der bestehenden Mitbestimmungssysteme und ‑praktiken stehen. Wenn eine SE im Wege der Umwandlung oder Verschmelzung gegründet wird, ist diese Gefahr größer, als wenn die Gründung im Wege der Errichtung einer Holdinggesellschaft oder einer gemeinsamen Tochtergesellschaft erfolgt.

(15)

Die Regeln dieser Richtlinie sollten andere bestehende Beteiligungsrechte nicht berühren und haben nicht notwendigerweise Auswirkungen auf andere bestehende Vertretungsstrukturen aufgrund gemeinschaftlicher oder einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten.

(18)

Die Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer über ihre Beteiligung an Unternehmensentscheidungen ist fundamentaler Grundsatz und erklärtes Ziel dieser Richtlinie. Die vor der Gründung von SE bestehenden Rechte der Arbeitnehmer sollten deshalb Ausgangspunkt auch für die Gestaltung ihrer Beteiligungsrechte in der SE (Vorher-Nachher-Prinzip) sein. Dieser Ansatz sollte folgerichtig nicht nur für die Neugründung einer SE, sondern auch für strukturelle Veränderungen einer bereits gegründeten SE und für die von den strukturellen Änderungsprozessen betroffenen Gesellschaften gelten.“

4

Art. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)   Diese Richtlinie regelt die Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Aktiengesellschaft …, die Gegenstand der Verordnung [Nr. 2157/2001] ist.

(2)   Zu diesem Zweck wird in jeder SE gemäß dem Verhandlungsverfahren nach den Artikeln 3 bis 6 oder unter den in Artikel 7 genannten Umständen gemäß dem Anhang eine Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer getroffen.“

5

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

e)

‚Arbeitnehmervertreter‘ die nach den Rechtsvorschriften und/oder den Gepflogenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten vorgesehenen Vertreter der Arbeitnehmer,

f)

‚Vertretungsorgan‘ das Organ zur Vertretung der Arbeitnehmer, das durch die Vereinbarung nach Artikel 4 oder entsprechend dem Anhang eingesetzt wird, um die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer der SE und ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe in der Gemeinschaft vorzunehmen und gegebenenfalls Mitbestimmungsrechte in Bezug auf die SE wahrzunehmen,

g)

‚besonderes Verhandlungsgremium‘ das gemäß Artikel 3 eingesetzte Gremium, das die Aufgabe hat, mit dem jeweils zuständigen Organ der beteiligten Gesellschaften die Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE auszuhandeln,

h)

‚Beteiligung der Arbeitnehmer‘ jedes Verfahren – einschließlich der Unterrichtung, der Anhörung und der Mitbestimmung –, durch das die Vertreter der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung innerhalb der Gesellschaft Einfluss nehmen können,

i)

‚Unterrichtung‘ die Unterrichtung des Organs zur Vertretung der Arbeitnehmer und/oder der Arbeitnehmervertreter durch das zuständige Organ der SE über Angelegenheiten, die die SE selbst oder eine ihrer Tochtergesellschaften oder einen ihrer Betriebe in einem anderen Mitgliedstaat betreffen oder die über die Befugnisse der Entscheidungsorgane auf der Ebene des einzelnen Mitgliedstaats hinausgehen, wobei Zeitpunkt, Form und Inhalt der Unterrichtung den Arbeitnehmervertretern eine eingehende Prüfung der möglichen Auswirkungen und gegebenenfalls die Vorbereitung von Anhörungen mit dem zuständigen Organ der SE ermöglichen müssen,

j)

‚Anhörung‘ die Einrichtung eines Dialogs und eines Meinungsaustauschs zwischen dem Organ zur Vertretung der Arbeitnehmer und/oder den Arbeitnehmervertretern und dem zuständigen Organ der SE, wobei Zeitpunkt, Form und Inhalt der Anhörung den Arbeitnehmervertretern auf der Grundlage der erfolgten Unterrichtung eine Stellungnahme zu den geplanten Maßnahmen des zuständigen Organs ermöglichen müssen, die im Rahmen des Entscheidungsprozesses innerhalb der SE berücksichtigt werden kann,

k)

‚Mitbestimmung‘ die Einflussnahme des Organs zur Vertretung der Arbeitnehmer und/oder der Arbeitnehmervertreter auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft durch

die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglieder des Aufsichts- oder des Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu wählen oder zu bestellen, oder

die Wahrnehmung des Rechts, die Bestellung eines Teils der oder aller Mitglieder des Aufsichts- oder des Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu empfehlen und/oder abzulehnen.“

6

Art. 3 in Teil II („Verhandlungsverfahren“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Wenn die Leitungs- oder die Verwaltungsorgane der beteiligten Gesellschaften die Gründung einer SE planen, leiten sie nach der Offenlegung des Verschmelzungsplans oder des Gründungsplans für eine Holdinggesellschaft oder nach der Vereinbarung eines Plans zur Gründung einer Tochtergesellschaft oder zur Umwandlung in eine SE so rasch wie möglich die erforderlichen Schritte – zu denen auch die Unterrichtung über die Identität der beteiligten Gesellschaften und der betroffenen Tochtergesellschaften oder betroffenen Betriebe sowie die Zahl ihrer Beschäftigten gehört – für die Aufnahme von Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern der Gesellschaften über die Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE ein.

(2)   Zu diesem Zweck wird ein besonderes Verhandlungsgremium als Vertretung der Arbeitnehmer der beteiligten Gesellschaften sowie der betroffenen Tochtergesellschaften oder betroffenen Betriebe gemäß folgenden Vorschriften eingesetzt:

b)

Die Mitgliedstaaten legen das Verfahren für die Wahl oder die Bestellung der Mitglieder des besonderen Verhandlungsgremiums fest, die in ihrem Hoheitsgebiet zu wählen oder zu bestellen sind. Sie ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass nach Möglichkeit jede beteiligte Gesellschaft, die in dem jeweiligen Mitgliedstaat Arbeitnehmer beschäftigt, durch mindestens ein Mitglied in dem Gremium vertreten ist. Die Gesamtzahl der Mitglieder darf durch diese Maßnahmen nicht erhöht werden.

Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass diesem Gremium Gewerkschaftsvertreter auch dann angehören können, wenn sie nicht Arbeitnehmer einer beteiligten Gesellschaft oder einer betroffenen Tochtergesellschaft oder eines betroffenen Betriebs sind.

(3)   Das besondere Verhandlungsgremium und das jeweils zuständige Organ der beteiligten Gesellschaften legen in einer schriftlichen Vereinbarung die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE fest.

…“

7

Art. 4 der Richtlinie 2001/86, der den Inhalt der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb der SE betrifft, bestimmt in Abs. 2 Buchst. g sowie in den Abs. 3 und 4:

„(2)   Unbeschadet der Autonomie der Parteien und vorbehaltlich des Absatzes 4 wird in der schriftlichen Vereinbarung nach Absatz 1 zwischen dem jeweils zuständigen Organ der beteiligten Gesellschaften und dem besonderen Verhandlungsgremium Folgendes festgelegt:

g)

der Inhalt einer Vereinbarung über die Mitbestimmung für den Fall, dass die Parteien im Laufe der Verhandlungen beschließen, eine solche Vereinbarung einzuführen, einschließlich (gegebenenfalls) der Zahl der Mitglieder des Verwaltungs- oder des Aufsichtsorgans der SE, welche die Arbeitnehmer wählen oder bestellen können oder deren Bestellung sie empfehlen oder ablehnen können, der Verfahren, nach denen die Arbeitnehmer diese Mitglieder wählen oder bestellen oder deren Bestellung empfehlen oder ablehnen können, und der Rechte dieser Mitglieder,

(3)   Sofern in der Vereinbarung nichts anderes bestimmt ist, gilt die Auffangregelung des Anhangs nicht für diese Vereinbarung.

(4)   Unbeschadet des Artikels 13 Absatz 3 Buchstabe a muss in der Vereinbarung im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll.“

8

In Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Zur Verwirklichung des in Artikel 1 festgelegten Ziels führen die Mitgliedstaaten unbeschadet des nachstehenden Absatzes 3 eine Auffangregelung zur Beteiligung der Arbeitnehmer ein, die den im Anhang niedergelegten Bestimmungen genügen muss.

…“

9

Art. 11 der Richtlinie 2001/86 lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen im Einklang mit den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften geeignete Maßnahmen, um zu verhindern, dass eine SE dazu missbraucht wird, Arbeitnehmern Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten.“

10

Art. 13 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie berührt nicht

a)

die den Arbeitnehmern nach einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zustehenden Beteiligungsrechte, die für die Arbeitnehmer der SE und ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe gelten, mit Ausnahme der Mitbestimmung in den Organen der SE“.

11

Der Anhang der Richtlinie 2001/86 enthält die in deren Art. 7 genannte Auffangregelung.

Deutsches Recht

MitbestG

12

§ 7 des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vom 4. Mai 1976 (BGBl. 1976 I S. 1153) in der durch das Gesetz vom 24. April 2015 (BGBl. 2015 I S. 642) geänderten Fassung (im Folgenden: MitbestG) bestimmt:

„(1)   Der Aufsichtsrat eines Unternehmens

1.

mit in der Regel nicht mehr als 10000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je sechs Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;

2.

mit in der Regel mehr als 10000, jedoch nicht mehr als 20000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;

3.

mit in der Regel mehr als 20000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je zehn Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer.

(2)   Unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer müssen sich befinden

1.

in einem Aufsichtsrat, dem sechs Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, vier Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften;

2.

in einem Aufsichtsrat, dem acht Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften;

3.

in einem Aufsichtsrat, dem zehn Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angehören, sieben Arbeitnehmer des Unternehmens und drei Vertreter von Gewerkschaften.

(5)   Die in Absatz 2 bezeichneten Gewerkschaften müssen in dem Unternehmen selbst oder in einem anderen Unternehmen vertreten sein, dessen Arbeitnehmer nach diesem Gesetz an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens teilnehmen.“

13

In Bezug auf die Wahl der Vertreter von Gewerkschaften in den Aufsichtsrat sieht § 16 dieses Gesetzes vor:

„(1)   Die Delegierten wählen die Aufsichtsratsmitglieder, die nach § 7 Abs. 2 Vertreter von Gewerkschaften sind, in geheimer Wahl und nach den Grundsätzen der Verhältniswahl …

(2)   Die Wahl erfolgt auf Grund von Wahlvorschlägen der Gewerkschaften, die in dem Unternehmen selbst oder in einem anderen Unternehmen vertreten sind, dessen Arbeitnehmer nach diesem Gesetz an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern des Unternehmens teilnehmen. …“

SEBG

14

§ 2 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft vom 22. Dezember 2004 (BGBl. 2004 I S. 3675, 3686) in der seit dem 1. März 2020 geltenden Fassung (im Folgenden: SEBG) bestimmt:

„…

(8)   Beteiligung der Arbeitnehmer bezeichnet jedes Verfahren – einschließlich der Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung –, durch das die Vertreter der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung in der Gesellschaft Einfluss nehmen können.

(12)   Mitbestimmung bedeutet die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft durch

1.

die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu wählen oder zu bestellen, oder

2.

die Wahrnehmung des Rechts, die Bestellung eines Teils oder aller Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu empfehlen oder abzulehnen.“

15

§ 21 dieses Gesetzes sieht vor:

„…

(3)   Für den Fall, dass die Parteien eine Vereinbarung über die Mitbestimmung treffen, ist deren Inhalt festzulegen. Insbesondere soll Folgendes vereinbart werden:

1.

die Zahl der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der SE, welche die Arbeitnehmer wählen oder bestellen können oder deren Bestellung sie empfehlen oder ablehnen können;

2.

das Verfahren, nach dem die Arbeitnehmer diese Mitglieder wählen oder bestellen oder deren Bestellung empfehlen oder ablehnen können[,] und

3.

die Rechte dieser Mitglieder.

(6)   Unbeschadet des Verhältnisses dieses Gesetzes zu anderen Regelungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen muss in der Vereinbarung im Fall einer durch Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Dies gilt auch bei einem Wechsel der Gesellschaft von einer dualistischen zu einer monistischen Organisationsstruktur und umgekehrt.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

16

Vor ihrer Umwandlung in eine SE hatte SAP die Rechtsform einer Aktiengesellschaft nach deutschem Recht und verfügte gemäß den nationalen Rechtsvorschriften über einen Aufsichtsrat, der aus acht Mitgliedern der Anteilseigner und acht Mitgliedern der Arbeitnehmer, davon sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften, bestand. Die beiden Gewerkschaftsvertreter waren gemäß § 16 Abs. 2 MitbestG von den im Konzern der SAP vertretenen Gewerkschaften vorgeschlagen worden und wurden in einem von den Wahlen der übrigen sechs Arbeitnehmervertreter getrennten Wahlgang gewählt.

17

Seit ihrer Umwandlung in eine SE im Jahr 2014 verfügt SAP über einen aus 18 Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat. Gemäß der zwischen SAP und dem dort gebildeten besonderen Verhandlungsgremium geschlossenen Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb von SAP (im Folgenden: Beteiligungsvereinbarung) sind neun Mitglieder des Aufsichtsrats Arbeitnehmervertreter. Diese Beteiligungsvereinbarung regelt u. a. die Vorgaben über die Bestellung der Arbeitnehmervertreter und sieht insoweit vor, dass die Gewerkschaften, die in dem Konzern, zu dem SAP gehört, vertreten sind, über ein ausschließliches Recht verfügen, Kandidaten für einen Teil der Sitze der Arbeitnehmervertreter in Deutschland vorzuschlagen, wobei die Wahl dieser Kandidaten durch die Arbeitnehmer in einem von dem der Wahl der übrigen Arbeitnehmervertreter getrennten Wahlgang erfolgt.

18

Die Beteiligungsvereinbarung enthält ferner Regelungen für die Bildung eines auf zwölf Mitglieder, darunter sechs Arbeitnehmervertreter, verkleinerten Aufsichtsrats (im Folgenden: verkleinerter Aufsichtsrat). Die von den ersten vier Sitzen auf die Bundesrepublik Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertreter werden von den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern gewählt. Die Gewerkschaften, die in dem Konzern, zu dem SAP gehört, vertreten sind, können Kandidaten für einen Teil der auf die Bundesrepublik Deutschland entfallenden Sitze vorschlagen; für die Wahl dieser Kandidaten ist jedoch kein von dem der Wahl der übrigen Arbeitnehmervertreter getrennter Wahlgang vorgesehen.

19

Die Antragstellerinnen des Ausgangsverfahrens wandten sich sowohl im ersten Rechtszug als auch in der Berufungsinstanz erfolglos gegen die Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung über die Bestellung der Arbeitnehmervertreter in einem verkleinerten Aufsichtsrat. Sie legten daraufhin Revision beim Bundesarbeitsgericht (Deutschland) ein und vertraten die Auffassung, dass die genannten Regeln gegen § 21 Abs. 6 SEBG verstießen und daher unwirksam seien, weil sie nicht vorsähen, dass den Gewerkschaften ein ausschließliches, d. h. durch einen getrennten Wahlgang abgesichertes Vorschlagsrecht für eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmervertretern im verkleinerten Aufsichtsrat zustehe.

20

SAP trägt vor, dass das in § 7 Abs. 2 in Verbindung mit § 16 Abs. 2 MitbestG vorgesehene ausschließliche Recht der Gewerkschaften, Kandidaten für die Wahl der Arbeitnehmervertreter im verkleinerten Aufsichtsrat vorzuschlagen, nicht durch § 21 Abs. 6 SEBG gedeckt sei.

21

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass der Antrag der Antragstellerinnen des Ausgangsverfahrens auf Feststellung der Unwirksamkeit der Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung über die Bestellung der Arbeitnehmervertreter im verkleinerten Aufsichtsrat Erfolg hätte, wenn ausschließlich die nationalen Rechtsvorschriften zugrunde gelegt würden. § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG verlange nämlich, dass die Parteien der Beteiligungsvereinbarung bei der Gründung einer SE durch Umwandlung sicherstellen müssten, dass die die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente eines Verfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer im Sinne des § 2 Abs. 8 SEBG in gleichwertigem Umfang auch in der zu gründenden SE erhalten blieben. Diese Elemente seien zunächst, jeweils bezogen auf die in der umzuwandelnden Aktiengesellschaft schon vorhandenen Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer im Sinne von § 2 Abs. 8 SEBG, auf der Grundlage des hierfür maßgebenden nationalen Rechts festzustellen. Sodann seien die für die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente in gleichem Ausmaß auch in der zu gründenden SE sicherzustellen. § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG ordne zwar keine vollständige Aufrechterhaltung der in der umzuwandelnden Gesellschaft vorhandenen Verfahren und des dort bestehenden Rechtszustands an, die Verfahrenselemente, die die Einflussnahme der Arbeitnehmervertreter in der umzuwandelnden Gesellschaft maßgebend kennzeichneten, müssten aber in der für die SE geltenden Beteiligungsvereinbarung in qualitativ gleichwertigem Maß gewährleistet sein. Nach nationalem Recht habe die Anwendung eines getrennten Wahlgangs für die Wahl der von den Gewerkschaften als Arbeitnehmervertreter im verkleinerten Aufsichtsrat vorgeschlagenen Kandidaten gerade den Zweck, den Einfluss der Arbeitnehmervertreter auf die Beschlussfassung innerhalb eines Unternehmens zu stärken, indem sichergestellt werde, dass zu diesen Vertretern Personen gehörten, die über ein hohes Maß an Vertrautheit mit den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens verfügten, und gleichzeitig externer Sachverstand vorhanden sei.

22

Im vorliegenden Fall genügten die Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung über die Bestellung der Arbeitnehmervertreter in einem verkleinerten Aufsichtsrat den Anforderungen des § 21 Abs. 6 SEBG nicht, da sie zwar den im Konzern der SAP vertretenen Gewerkschaften das Recht einräumten, Kandidaten für die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer vorzuschlagen, aber für die Wahl dieser Mitglieder keinen getrennten Wahlgang vorsähen, so dass nicht sichergestellt sei, dass sich unter den Vertretern der Arbeitnehmer in diesem Aufsichtsrat auch tatsächlich ein Gewerkschaftsvertreter befinde.

23

Für das vorlegende Gericht stellt sich jedoch die Frage, ob Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 nicht ein anderes Verständnis zugrunde liege, wonach ein – gegebenenfalls von allen Mitgliedstaaten in gleichem Maß sicherzustellendes – einheitliches Schutzniveau vorgesehen sei, das geringer sei als nach deutschem Recht. Sollte dies der Fall sein, sei es gehalten, § 21 Abs. 6 SEBG unionsrechtskonform auszulegen.

24

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist § 21 Abs. 6 SEBG, aus dem sich für den Fall der Gründung einer in Deutschland ansässigen SE durch Umwandlung ergibt, dass für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer ein gesondertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften Vorgeschlagene zu gewährleisten ist, mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 vereinbar?

Zur Vorlagefrage

Zum Gegenstand der Vorlagefrage

25

Nach Ansicht von SAP ist zunächst die Gültigkeit von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 zu prüfen und festzustellen, ob diese Bestimmung, indem sie vorschreibe, dass in die Beteiligungsvereinbarung im Fall der Gründung einer SE im Wege der Umwandlung strengere Vorschriften aufzunehmen seien als im Fall der Gründung einer solchen Gesellschaft auf einem der anderen im zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannten Wege, mit dem Primärrecht, insbesondere mit Art. 49 Abs. 1 Satz 1 und Art. 54 Abs. 1 AEUV, sowie mit den Art. 16, 17 und 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar sei.

26

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs allein Sache der mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichte ist, in deren Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im jeweiligen Einzelfall sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen (vgl. u. a. Urteil vom 29. Juli 2019, Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe, C‑620/17, EU:C:2019:630, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Im vorliegenden Fall betrifft die Vorlagefrage die Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86; das vorlegende Gericht hat keinen Zweifel an der Gültigkeit dieser Bestimmung geäußert.

28

Außerdem eröffnet Art. 267 AEUV nach gefestigter Rechtsprechung den Parteien eines bei einem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits keinen Rechtsbehelf, so dass der Gerichtshof nicht gehalten sein kann, die Gültigkeit des Unionsrechts allein deshalb zu beurteilen, weil eine dieser Parteien diese Frage in ihren schriftlichen Erklärungen vor ihm aufgeworfen hat (Urteile vom 5. Mai 2011, MSD Sharp & Dohme, C‑316/09, EU:C:2011:275, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 17. Dezember 2015, APEX, C‑371/14, EU:C:2015:828, Rn. 37).

29

Daraus folgt, dass der Gerichtshof im vorliegenden Fall zur Gültigkeit von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 nicht Stellung zu nehmen hat.

Zur Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86

30

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 dahin auszulegen ist, dass die für eine durch Umwandlung geschaffene SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer im Sinne dieser Bestimmung für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der SE in Bezug auf die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, sofern das anwendbare Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft vorschreibt.

31

Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, sowie gegebenenfalls ihre Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen (Urteil vom 19. Dezember 2019, Nederlands Uitgeversverbond und Groep Algemene Uitgevers, C‑263/18, EU:C:2019:1111, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Was erstens den Wortlaut von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 angeht, bestimmt dieser, dass unbeschadet des Art. 13 Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE in der für diese SE geltenden Beteiligungsvereinbarung „in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden [muss], das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll“.

33

Zu der in dieser Bestimmung enthaltenen Wendung „alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ ist festzustellen, dass die Richtlinie 2001/86 in ihrem Art. 2 Buchst. h die „Beteiligung der Arbeitnehmer“ definiert als „jedes Verfahren – einschließlich der Unterrichtung, der Anhörung und der Mitbestimmung –, durch das die Vertreter der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung innerhalb der Gesellschaft Einfluss nehmen können“. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Mitbestimmung“ in Art. 2 Buchst. k definiert wird als „die Einflussnahme des Organs zur Vertretung der Arbeitnehmer und/oder der Arbeitnehmervertreter auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft“ durch „die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglieder des Aufsichts- oder des Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu wählen oder zu bestellen,“ oder „die Bestellung eines Teils der oder aller Mitglieder des Aufsichts- oder des Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu empfehlen und/oder abzulehnen“.

34

So ergibt sich zum einen aus diesen Definitionen, dass die „Mitbestimmung“ als solche ein Verfahren darstellt, durch das die Vertreter der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung innerhalb der Gesellschaft Einfluss nehmen können, entweder durch die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglieder des Aufsichts- oder des Verwaltungsorgans der Gesellschaft zu wählen oder zu bestellen, oder des Rechts, diese Bestellung zu empfehlen oder abzulehnen. In Anbetracht des in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 verwendeten Ausdrucks „alle Komponenten“ ist daher davon auszugehen, dass sämtliche Komponenten, die die fragliche Art der Mitbestimmung kennzeichnen und es dem Organ zur Vertretung der Arbeitnehmer oder den Arbeitnehmervertretern ermöglichen können, auf die Angelegenheiten der Gesellschaft Einfluss zu nehmen, wie insbesondere die Modalitäten der Wahrnehmung der genannten Wahl‑, Bestellungs‑, Empfehlungs- oder Ablehnungsrechte, im Rahmen einer Vereinbarung zu berücksichtigen sind, die eine durch Umwandlung gegründete SE betrifft.

35

Zum anderen verweisen diese Definitionen auf den Begriff „Arbeitnehmervertreter“, der nach Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/86 „die nach den Rechtsvorschriften und/oder den Gepflogenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten vorgesehenen Vertreter der Arbeitnehmer“ erfasst. Der Unionsgesetzgeber hat diesen Begriff also nicht definiert, sondern sich darauf beschränkt, insoweit auf die nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten zu verweisen.

36

Dasselbe gilt für die Wendung „zumindest das gleiche Ausmaß, das in der Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll“ in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie.

37

Soweit sich diese Wendung auf das Ausmaß der Beteiligung bezieht, das in der Gesellschaft vor deren Umwandlung in eine SE bestand, verweist sie offensichtlich auf die nationalen Rechtsvorschriften und/oder die Gepflogenheiten im Mitgliedstaat des Sitzes dieser Gesellschaft, d. h. im vorliegenden Fall auf die deutschen Rechtsvorschriften. Daraus folgt, dass die Parteien der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb der SE zu prüfen haben, ob das in der Vereinbarung vorgesehene Ausmaß der Arbeitnehmerbeteiligung in Bezug auf alle Komponenten dieser Beteiligung dem in diesen Rechtsvorschriften festgelegten Ausmaß zumindest gleichkommt.

38

Die Analyse des Wortlauts von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 lässt somit bereits erkennen, dass der Unionsgesetzgeber hinsichtlich der Definition der Arbeitnehmervertreter und des Ausmaßes ihrer Beteiligung, das im Falle einer durch Umwandlung gegründeten SE zumindest gleich bleiben muss, auf die nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten des Mitgliedstaats des Sitzes der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft verwiesen hat. So ist insbesondere in Bezug auf die Mitbestimmung sowohl bei der Bestimmung der zur Vertretung der Arbeitnehmer berechtigten Personen als auch bei der Bestimmung der prägenden Elemente der Mitbestimmung, die es diesen Arbeitnehmervertretern ermöglichen, durch Ausübung der in Art. 2 Buchst. k dieser Richtlinie genannten Rechte Einfluss auf die im Unternehmen zu treffenden Entscheidungen zu nehmen, auf die insoweit vom nationalen Gesetzgeber vorgenommenen Wertungen sowie auf die relevanten nationalen Gepflogenheiten abzustellen. Im Übrigen war der Unionsgesetzgeber, wie aus dem fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/86 hervorgeht, gerade der Auffassung, dass es angesichts der in den Mitgliedstaaten bestehenden Vielfalt an Regelungen und Gepflogenheiten für die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter an der Beschlussfassung in Gesellschaften nicht ratsam ist, ein auf die SE anwendbares einheitliches europäisches Modell der Arbeitnehmerbeteiligung vorzusehen.

39

Wenn also ein im einzelstaatlichen Recht eingeführtes Verfahrenselement, wie im vorliegenden Fall der gesonderte Wahlgang für die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat einer Gesellschaft für eine bestimmte Anzahl von Sitzen in diesem Aufsichtsrat, ein prägendes Element der innerstaatlichen Regelung der Mitbestimmung der Arbeitnehmervertreter darstellt, das eingeführt wurde, um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen zu stärken, und ihm nach diesem Recht ein zwingender Charakter zukommt, gehört dieses Verfahrenselement zu „alle[n] Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86. Dieses Verfahrenselement ist somit für die Zwecke der Beteiligungsvereinbarung gemäß dieser Bestimmung zu berücksichtigen.

40

Zweitens stützt der Kontext, in den sich Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 einfügt, die wörtliche Auslegung dieser Bestimmung in dem Sinne, dass der Unionsgesetzgeber der durch Umwandlung gegründeten SE eine besondere Behandlung vorbehalten wollte, damit die Beteiligungsrechte, über die die Arbeitnehmer der Gesellschaft, die in die SE umgewandelt werden soll, nach den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten verfügen, nicht beeinträchtigt werden.

41

So zählt zunächst Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie die verschiedenen Komponenten auf, die die Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer innerhalb der SE enthalten muss, einschließlich gegebenenfalls der Zahl der Mitglieder des Verwaltungs- oder des Aufsichtsorgans der SE, welche die Arbeitnehmer wählen oder bestellen können oder deren Bestellung sie empfehlen oder ablehnen können, der Verfahren, nach denen die Arbeitnehmer diese Mitglieder wählen oder bestellen oder deren Bestellung empfehlen oder ablehnen können, und der Rechte dieser Mitglieder. Diese Bestimmung sieht jedoch vor, dass sie „vorbehaltlich des Absatzes 4“ dieses Artikels gilt, so dass dieser letztgenannte Absatz nicht als Ausnahmebestimmung angesehen werden kann, die eng auszulegen wäre.

42

Sodann geht aus dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervor, dass der Unionsgesetzgeber der Auffassung war, dass eine größere Gefahr der Beseitigung oder der Einschränkung der bestehenden Mitbestimmungssysteme und ‑praktiken besteht, wenn eine SE u. a. im Wege der Umwandlung gegründet wird.

43

Drittens steht die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils herausgearbeitete wörtliche Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 im Einklang mit dem mit dieser Richtlinie verfolgten Ziel. Nach dem 18. Erwägungsgrund der Richtlinie ist nämlich „[d]ie Sicherung erworbener Rechte der Arbeitnehmer über ihre Beteiligung an Unternehmensentscheidungen … fundamentaler Grundsatz und erklärtes Ziel dieser Richtlinie“. In diesem Erwägungsgrund heißt es weiter, dass die „vor der Gründung von SE bestehenden Rechte der Arbeitnehmer … deshalb Ausgangspunkt auch für die Gestaltung ihrer Beteiligungsrechte in der SE (Vorher-Nachher-Prinzip) sein“ sollten. Somit geht aus der Richtlinie 2001/86 hervor, dass die vom Unionsgesetzgeber gewollte Sicherung erworbener Rechte nicht nur die Aufrechterhaltung der erworbenen Rechte der Arbeitnehmer in der Gesellschaft impliziert, die in eine SE umgewandelt werden soll, sondern auch die Ausweitung dieser Rechte auf sämtliche Arbeitnehmer der SE (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2013, Kommission/Niederlande, C‑635/11, EU:C:2013:408, Rn. 40 und 41).

44

Hinzu kommt, wie sich auch aus den Erwägungsgründen 10 und 15 sowie aus Art. 11 der Richtlinie 2001/86 ergibt, dass der Unionsgesetzgeber die Gefahr ausschließen wollte, dass die Gründung einer SE, insbesondere im Wege der Umwandlung, zu einer Einschränkung oder sogar zur Beseitigung der Beteiligungsrechte führt, die die Arbeitnehmer der Gesellschaft, die in die SE umgewandelt werden soll, nach den nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten genossen haben.

45

Viertens schließlich wird die in den Rn. 32 bis 44 des vorliegenden Urteils dargelegte grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 noch durch die Entstehungsgeschichte dieser Richtlinie gestützt. Zum einen stellte nämlich, wie von allen Verfahrensbeteiligten, die Erklärungen eingereicht haben, anerkannt worden ist und wie aus dem Abschlussbericht der Sachverständigengruppe „European Systems of Worker Involvement“ (Davignon-Bericht) vom Mai 1997 (C4‑0455/97) hervorgeht, die für die durch Umwandlung gegründete SE anwendbare Regelung bei den Verhandlungen über den Erlass der Richtlinie den Hauptstreitpunkt dar. In diesem Zusammenhang waren insbesondere von der deutschen Regierung Bedenken hinsichtlich der Gefahr geäußert worden, dass die Schaffung einer SE durch Umwandlung zu einer Verringerung des Umfangs der Beteiligung der Arbeitnehmer des umzuwandelnden Unternehmens führt. Erst mit der Einführung einer Bestimmung, die speziell den Fall der Gründung einer SE durch Umwandlung erfasst und gewährleistet, dass eine solche Gründung nicht zu einer Schwächung der in der umzuwandelnden Gesellschaft bestehenden Arbeitnehmerbeteiligung führt, die schließlich in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 übernommen wurde, konnte das Verfahren zur Annahme dieser Richtlinie fortgeführt werden.

46

Nach alledem ist Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 dahin auszulegen, dass die für eine durch Umwandlung geschaffene SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der SE in Bezug auf die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, sofern das anwendbare nationale Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Gesellschaft, die in eine SE umgewandelt werden soll, vorschreibt.

47

Daher ist im vorliegenden Fall für die Beurteilung, ob die Beteiligungsvereinbarung eine mindestens gleichwertige Beteiligung der Arbeitnehmer an der Beschlussfassung innerhalb der SAP nach ihrer Umwandlung in eine SE gewährleistet, das deutsche Recht maßgebend, wie es für diese Gesellschaft vor ihrer Umwandlung in eine SE galt, insbesondere § 7 Abs. 2 in Verbindung mit § 16 Abs. 2 MitbestG.

48

Es ist noch klarzustellen, dass allen Arbeitnehmern der durch Umwandlung gegründeten SE dieselben Rechte zustehen müssen, die den Arbeitnehmern der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft zustanden, da, wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die vom Unionsgesetzgeber gewollte Garantie erworbener Rechte nicht nur die Aufrechterhaltung der erworbenen Rechte der Arbeitnehmer in der Gesellschaft, die in eine SE umgewandelt werden soll, sondern auch die Ausweitung dieser Rechte auf sämtliche Arbeitnehmer der durch Umwandlung gegründeten SE impliziert.

49

Daraus folgt, dass im vorliegenden Fall sämtliche Arbeitnehmer von SAP das Wahlverfahren nach deutschem Recht in Anspruch nehmen können müssen, und zwar auch dann, wenn dieses Recht insoweit nichts vorsieht. Wie sich aus der Vorlageentscheidung und aus Nr. 55 der Schlussanträge des Generalanwalts ergibt, darf, um die Rechte dieser Arbeitnehmer in vollem Umfang zu wahren, die im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/86 genannten sozialen Ziele der Union zu fördern und das Bestehen von Verfahren der grenzüberschreitenden Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer zu gewährleisten, das Recht, einen bestimmten Anteil der Kandidaten für die Wahlen der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat einer durch Umwandlung gegründeten SE wie der SAP vorzuschlagen, nicht nur den deutschen Gewerkschaften vorbehalten sein, sondern muss auf alle in der SE, ihren Tochtergesellschaften und Betrieben vertretenen Gewerkschaften ausgeweitet werden, so dass die Gleichheit dieser Gewerkschaften in Bezug auf dieses Recht gewährleistet ist.

50

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86 dahin auszulegen ist, dass die für eine durch Umwandlung geschaffene SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer im Sinne dieser Bestimmung für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der SE in Bezug auf die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, sofern das anwendbare nationale Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft vorschreibt; im Zusammenhang mit diesem Wahlgang muss die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer dieser SE, ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe sowie der in ihnen vertretenen Gewerkschaften gewahrt sein.

Kosten

51

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer

 

ist dahin auszulegen, dass

 

die für eine durch Umwandlung geschaffene SE geltende Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer im Sinne dieser Bestimmung für die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der SE in Bezug auf die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Kandidaten einen getrennten Wahlgang vorsehen muss, sofern das anwendbare nationale Recht einen solchen getrennten Wahlgang in Bezug auf die Zusammensetzung des Aufsichtsrats der in eine SE umzuwandelnden Gesellschaft vorschreibt; im Zusammenhang mit diesem Wahlgang muss die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer dieser SE, ihrer Tochtergesellschaften und Betriebe sowie der in ihnen vertretenen Gewerkschaften gewahrt sein.

 

Lenaerts

Bay Larsen

Arabadjiev

Prechal

Regan

Xuereb

Rossi

Gratsias

Arastey Sahún

Rodin

Biltgen

Piçarra

Wahl

Ziemele

Passer

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 18. Oktober 2022.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident

K. Lenaerts


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.