URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

13. Oktober 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 86/653/EWG – Art. 7 Abs. 1 Buchst. b – Selbständige Handelsvertreter – Mit einem Dritten, den der Handelsvertreter bereits vorher als Kunden geworben hat, abgeschlossenes Geschäft – Vergütung – Zwingender oder dispositiver Charakter des Provisionsanspruchs des Handelsvertreters“

In der Rechtssache C‑64/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 17. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Februar 2021, in dem Verfahren

Rigall Arteria Management sp. z o.o. sp.k.

gegen

Bank Handlowy w Warszawie S.A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter N. Jääskinen, M. Safjan, N. Piçarra und M. Gavalec,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Rigall Arteria Management sp. z o.o. sp.k., vertreten durch M. Skrycki, Adwokat, und A. Springer, Radca prawny,

der Bank Handlowy w Warszawie S.A., vertreten durch G. Pietras und M. Rzepka, Adwokaci,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, U. Bartl, J. Heitz und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, Avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Armati, S. L. Kalėda und B. Sasinowska als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 9. Juni 2022

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter (ABl. 1986, L 382, S. 17).

2

Das vorliegende Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Rigall Arteria Management sp. z o.o. sp.k. und der Bank Handlowy w Warszawie S.A. (im Folgenden: Bank Handlowy) wegen Erteilung der Auskünfte, deren Rigall Arteria Management bedarf, um die Provision berechnen zu können, die ihr in Bezug auf diejenigen Verträge zustehen soll, die Bank Handlowy mit durch Vermittlung der Rigall Arteria bereits vorher geworbenen Kunden abgeschlossen hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 2 und 3 der Richtlinie 86/653 lauten wie folgt:

„Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Handelsvertretungen beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen und die Berufsausübung innerhalb der Gemeinschaft spürbar und beeinträchtigen den Umfang des Schutzes der Handelsvertreter in ihren Beziehungen zu ihren Unternehmen sowie die Sicherheit im Handelsverkehr. Diese Unterschiede erschweren im übrigen auch erheblich den Abschluß und die Durchführung von Handelsvertreterverträgen zwischen einem Unternehmer und einem Handelsvertreter, die in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.

Der Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten muss unter Bedingungen erfolgen, die denen eines Binnenmarktes entsprechen, weswegen die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in dem zum guten Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlichen Umfang angeglichen werden müssen. Selbst vereinheitlichte Kollisionsnormen auf dem Gebiet der Handelsvertretung können die erwähnten Nachteile nicht beseitigen und lassen daher einen Verzicht auf die vorgeschlagene Harmonisierung nicht zu.“

4

In Art. 1 Abs. 2 der genannten Richtlinie heißt es:

„Handelsvertreter im Sinne dieser Richtlinie ist, wer als selbständiger Gewerbetreibender ständig damit betraut ist, für eine andere Person (im folgenden Unternehmer genannt) den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder diese Geschäfte im Namen und für Rechnung des Unternehmers abzuschließen.“

5

Kapitel III der Richtlinie trägt die Überschrift „Vergütung“. Das Kapitel umfasst die Art. 6 bis 12. Art. 6 sieht vor:

„(1)   Bei Fehlen einer diesbezüglichen Vereinbarung zwischen den Parteien und unbeschadet der Anwendung der verbindlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Höhe der Vergütungen hat der Handelsvertreter Anspruch auf eine Vergütung, die an dem Ort, an dem er seine Tätigkeit ausübt, für die Vertretung von Waren, die den Gegenstand des Handelsvertretervertrags bilden, üblich ist. Mangels einer solchen Üblichkeit hat der Handelsvertreter Anspruch auf eine angemessene Vergütung, bei der alle mit dem Geschäft zusammenhängenden Faktoren berücksichtigt sind.

(2)   Jeder Teil der Vergütung, der je nach Zahl oder Wert der Geschäfte schwankt, gilt als Provision im Sinne dieser Richtlinie.

(3)   Die Artikel 7 bis 12 gelten nicht, soweit der Handelsvertreter nicht ganz oder teilweise in Form einer Provision vergütet wird.“

6

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„(1)   Für ein während des Vertragsverhältnisses abgeschlossenes Geschäft hat der Handelsvertreter Anspruch auf die Provision,

a)

wenn der Geschäftsabschluss auf seine Tätigkeit zurückzuführen ist oder

b)

wenn das Geschäft mit einem Dritten abgeschlossen wurde, den er bereits vorher für Geschäfte gleicher Art als Kunden geworben hatte.“

7

Art. 10 der Richtlinie 86/653 bestimmt:

„(1)   Der Anspruch auf Provision besteht, sobald und soweit eines der folgenden Ereignisse eintritt:

a)

der Unternehmer hat das Geschäft ausgeführt;

b)

der Unternehmer hätte nach dem Vertrag mit dem Dritten das Geschäft ausführen sollen;

c)

der Dritte hat das Geschäft ausgeführt.

(2)   Der Anspruch auf Provision besteht spätestens, wenn der Dritte seinen Teil des Geschäfts ausgeführt hat oder ausgeführt haben müsste, falls der Unternehmer seinen Teil des Geschäfts ausgeführt hätte.

(3)   Die Provision ist spätestens am letzten Tag des Monats zu zahlen, der auf das Quartal folgt, in welchem der Anspruch des Handelsvertreters auf Provision erworben worden ist.

(4)   Von den Absätzen 2 und 3 darf nicht durch Vereinbarung zum Nachteil des Handelsvertreters abgewichen werden.“

8

Art. 11 der Richtlinie lautet:

„(1)   Der Anspruch auf Provision erlischt nur, wenn und soweit

feststeht, dass der Vertrag zwischen dem Dritten und dem Unternehmer nicht ausgeführt wird, und

die Nichtausführung nicht auf Umständen beruht, die vom Unternehmer zu vertreten sind.

(2)   Vom Handelsvertreter bereits empfangene Provisionen sind zurückzuzahlen, falls der Anspruch darauf erloschen ist.

(3)   Von Absatz 1 darf nicht durch Vereinbarung zum Nachteil des Handelsvertreters abgewichen werden.“

9

In Art. 12 der Richtlinie heißt es:

„(1)   Der Unternehmer hat dem Handelsvertreter eine Abrechnung über die geschuldeten Provisionen zu geben, und zwar spätestens am letzten Tag des Monats, der auf das Quartal folgt, in dem der Provisionsanspruch erworben worden ist. Diese Abrechnung muss alle für die Berechnung der Provision wesentlichen Angaben enthalten.

(2)   Der Handelsvertreter kann verlangen, dass ihm alle Auskünfte, insbesondere ein Auszug aus den Büchern, gegeben werden, über die der Unternehmer verfügt und die der Handelsvertreter zur Nachprüfung des Betrags der ihm zustehenden Provisionen benötigt.

(3)   Von den Absätzen 1 und 2 darf nicht durch Vereinbarung zum Nachteil des Handelsvertreters abgewichen werden.

…“

Polnisches Recht

10

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 ist durch Art. 761 § 1 des Ustawa – Kodeks cywilny (Gesetz über das Zivilgesetzbuch) vom 23. April 1964 (Dz. U. 2019, Pos. 1145) (im Folgenden: Zivilgesetzbuch) in polnisches Recht umgesetzt worden. Diese Vorschrift lautet:

„Für während der Laufzeit des Handelsvertretervertrags abgeschlossene Verträge kann der Handelsvertreter eine Provision fordern, wenn sie auf seine Tätigkeit zurückzuführen sind oder mit Kunden abgeschlossen wurden, die vom Handelsvertreter bereits vorher für Verträge gleicher Art geworben worden waren.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

11

Zwischen Rigall Arteria Management und Bank Handlowy bestanden zwischen dem 1. Juni 1999 und dem 30. Juni 2015 Handelsvertreterverträge. Der letzte dieser Verträge hatte die Form eines Rahmenvertrags, der durch spezifische Handelsvertreterverträge ergänzt wurde. Die zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens geschlossenen Verträge betrafen die Durchführung einer Tätigkeit auf dem Gebiet der Finanzvermittlung. Hierzu gehörten die Vermittlung bei der Ausübung von Hilfs- und Werbetätigkeiten, die sich auf den Service für und die Anschaffung von Kreditkarten bezogen, sowie die Vermittlung bei anderen von Bank Handlowy angebotenen Finanzdienstleistungen.

12

Diese Verträge legten die Art der Vergütung des Handelsvertreters fest und machten deren Berechnung insbesondere von der Zahl der abgeschlossenen Verträge abhängig. In den meisten Fällen handelte es sich um einen bestimmten Betrag je ausgestellter Kreditkarte oder je bewilligtem Darlehensantrag. In keinem dieser Verträge war eine andere Form der Provisionsvergütung festgelegt als die Provision für Verträge, die unter direkter Beteiligung des Handelsvertreters geschlossen wurden. Darüber hinaus hatte der Vertreter bei Beendigung des Vertretervertrags Anspruch auf eine Ausgleichszahlung in der im Vertrag festgelegten Höhe. Der Vertrag sah außerdem vor, dass mit diesem Betrag der gesamte Umfang des Ausgleichs, auf den der Handelsvertreter Anspruch hat, abgegolten ist.

13

Nachdem Bank Handlowy den Rahmenvertrag am 17. Dezember 2014 gekündigt hatte, forderte Rigall Arteria Management die Bank auf, Auskunft über die ihr zustehende Provision für den Zeitraum vom 1. Juni 1999 bis zum 31. Januar 2015 zu erteilen. Auf wiederholte Nachfrage behauptete Bank Handlowy, dass die bisher erteilten Auskünfte die Berechnung der Gesamtvergütung aus den abgeschlossenen Handelsvertreterverträgen ermöglichten und daher kein Anlass bestehe, weitere Auskünfte zu erteilen. Des Weiteren trug Bank Handlowy vor, dass die vom Handelsvertreter angeforderten Informationen unter das Bankgeheimnis fielen.

14

Angesichts der Weigerung der Bank beantragte Rigall Arteria Management beim Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) die Offenlegung der Informationen, die für die Berechnung der für die Vertragslaufzeit zustehenden Provision erforderlich seien.

15

Der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) wies die Klage mit Urteil vom 20. Juni 2016 ab und führte zur Begründung aus, dass die vom Unternehmer während der Laufzeit des Handelsvertretungsvertrags abgegebenen Erklärungen vollständig gewesen seien und dass der Handelsvertreter keine Einwände gegen die Höhe der vom Unternehmer berechneten Provision erhoben habe. Das Regionalgericht vertrat außerdem die Auffassung, dass aus dem Wortlaut der Verträge zwischen den Parteien nicht hervorgehe, dass der Handelsvertreter berechtigt gewesen sei, Provisionen für Verträge zu verlangen, die die Bank mit bereits vorher von ihm geworbenen Kunden abgeschlossen habe. Das Gericht bestätigte auch den Standpunkt von Bank Handlowy, dass ein Teil der vom Handelsvertreter angeforderten Informationen unter das Bankgeheimnis falle.

16

Mit Urteil vom 28. Februar 2018 wies der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) die Berufung von Rigall Arteria Management zurück. Das Berufungsgericht teilte im Wesentlichen die Argumentation des erstinstanzlichen Gerichts und betonte zusätzlich, dass die Klage von Rigall Arteria Management nur insoweit begründet sei, als der Handelsvertreter einen Anspruch auf Zahlung des Vergütungstypus haben könne, auf den sich die begehrte Auskunft beziehe. Hiervon sei unter den Umständen des vorliegenden Falls nicht auszugehen.

17

Die in Art. 761 § 1 des Zivilgesetzbuchs genannte Vergütung für Verträge, die mit bereits vorher vom Vertreter geworbenen Kunden geschlossen worden seien, beruhe auf einer dispositiven Regelung. Insoweit ergebe sich sowohl aus der fehlenden Bezugnahme auf diese Form der Provision im Text des Vertrags als auch aus dem Verhalten der Parteien bei dessen Durchführung, dass diese den Anspruch des Handelsvertreters auf die fragliche Provision stillschweigend ausgeschlossen hätten.

18

Rigall Arteria Management legte gegen das Urteil des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau) Kassationsbeschwerde beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) ein, das im vorliegenden Fall das vorlegende Gericht ist.

19

Rigall Arteria Management machte vor diesem Gericht im Rahmen der zur Stützung ihres Rechtsmittels angeführten Kassationsgründe einen Verstoß gegen Art. 761 § 1 des Zivilgesetzbuchs, ausgelegt im Licht von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653, geltend, der darin bestehe, dass diese Bestimmung für dispositiv erachtet worden sei. Die sich aus dieser Bestimmung ergebende Norm könne nicht durch einen Handelsvertretervertrag zum Nachteil des Vertreters ausgeschlossen werden. In ihrer Antwort auf die Kassationsbeschwerde trat Bank Handlowy diesem Vorbringen entgegen und trug dabei vor, dass Art. 761 § 1 des Zivilgesetzbuchs seinem Wesen nach uneingeschränkt abdingbar sei.

20

Der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) hegt Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653. Zum einen könnte der Wortlaut der Bestimmungen dieser Richtlinie darauf hindeuten, dass diese Bestimmungen ihrem Wesen nach nur dann nicht abdingbar seien, wenn dies in ihnen ausdrücklich zum Ausdruck komme. Zum anderen lege das Ziel der Richtlinie, das den Schutz des Handelsvertreters bezwecke, nahe, dass sie in ihrer Gesamtheit so auszulegen sei, dass eine vertragliche Änderung der dem Vertreter eingeräumten Rechte zu seinem Nachteil ausgeschlossen sei.

21

Außerdem bildeten die Art. 7 bis 12 der Richtlinie ein kohärentes und „geschlossenes“ System von Bestimmungen über die Vergütung des Vertreters, das nur in seiner Gesamtheit aufgehoben und durch ein anderes, von den Parteien selbst formuliertes System ersetzt werden könne. Diese Bestimmungen erlaubten es den Parteien lediglich, das Provisionssystem durch ein anderes System für die Vergütung des Handelsvertreters zu ersetzen, nicht aber, bestimmte einzelne Elemente dieses Systems auszuschließen.

22

Die Schlussfolgerung, dass der Provisionsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653 nicht zum Nachteil des Handelsvertreters ausgeschlossen oder abgeändert werden könne, sei auch aus funktionaler Sicht im Hinblick darauf überzeugend, dass es in der Praxis Handelsvertretern unmöglich sei, Verträge auszuhandeln, die einseitig von den Unternehmern ausgearbeitet worden seien.

23

Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) entschieden, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653 nach seinem Wortlaut und seinem Zweck dahin auszulegen, dass er dem selbständigen Handelsvertreter einen absoluten Provisionsanspruch für einen während der Dauer des Handelsvertretervertrags mit einem Dritten, den er bereits vorher für Geschäfte gleicher Art als Kunden geworben hatte, geschlossenen Vertrag einräumt, oder kann dieser Anspruch vertraglich ausgeschlossen werden?

Zuständigkeit des Gerichtshofs

24

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag den Vertrieb von Finanzdienstleistungen betrifft. Diese Art von Verträgen fällt zwar nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 86/653, da diese gemäß der Definition des Begriffs „Handelsvertreter“ in ihrem Art. 1 Abs. 2 nur auf solche Handelsvertreter anwendbar ist, die ständig damit betraut sind, den Verkauf oder den Ankauf von Waren zu vermitteln oder derartige Geschäfte abzuschließen.

25

Nach ständiger Rechtsprechung besteht jedoch dann, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten sollen, um u. a. zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, oder um sicherzustellen, dass in vergleichbaren Fällen ein einheitliches Verfahren angewandt wird, ein klares Interesse daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (Urteil vom 17. Mai 2017, ERGO Poist’ovňa, C‑48/16, EU:C:2017:377, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Insoweit ergibt sich aus den Angaben, die das vorlegende Gericht in Beantwortung eines Ersuchens um Klarstellung des Gerichtshofs übermittelt hat, dass der polnische Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie 86/653 in nationales Recht den Handelsvertretervertrag ohne Bezugnahme auf den Verkauf oder den Ankauf von Waren definiert hat und damit seine Absicht kundgetan hat, Handelsvertreterverträge über den Verkauf oder den Ankauf von Waren und solche über den Vertrieb oder den Erwerb von Dienstleistungen einheitlich zu behandeln.

27

Folglich ist der Gerichtshof für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zuständig.

Zur Vorlagefrage

28

Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass von dem dem selbständigen Handelsvertreter durch diese Bestimmung eingeräumten Recht, eine Provision für ein Geschäft zu erhalten, das während des Vertragsverhältnisses mit einem Dritten abgeschlossen wurde, den dieser Handelsvertreter bereits vorher für Geschäfte gleicher Art als Kunden geworben hatte, vertraglich nicht abgewichen werden darf.

29

Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 86/653 hat der Handelsvertreter für ein während des Vertragsverhältnisses abgeschlossenes Geschäft Anspruch auf Provision, wenn der Geschäftsabschluss auf seine Tätigkeit zurückzuführen ist oder wenn das Geschäft mit einem Dritten abgeschlossen wurde, den er bereits vorher für Geschäfte gleicher Art als Kunden geworben hatte.

30

Wie die Generalanwältin in Nr. 45 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, deutet der Wortlaut dieser Bestimmung durch die Verwendung der Konjunktion „oder“ darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber den Parteien eine Wahlmöglichkeit bieten wollte. Dieser Formulierung lässt sich jedoch nicht entnehmen, ob die Bestimmung dispositiven Charakter hat oder nicht.

31

Da weder in Art. 7 noch in den anderen Bestimmungen dieser Richtlinie ausdrücklich klargestellt wird, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653 eine zwingende Vorschrift wäre, sind bei ihrer Auslegung der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der genannten Richtlinie verfolgt werden. Die Entstehungsgeschichte der Bestimmung kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, A u. a. [Windkraftanlagen in Aalter und Nevele], C‑24/19, EU:C:2020:503, Rn. 37).

32

Was zunächst den Kontext dieser Bestimmung betrifft, so ergibt sich aus der allgemeinen Systematik der Richtlinie 86/653, dass der Unionsgesetzgeber, wenn von einer ihrer Bestimmungen nicht abgewichen werden darf, darauf hingewiesen hat. Dies gilt namentlich für Art. 10 Abs. 4, Art. 11 Abs. 3 oder Art. 12 Abs. 3 dieser Richtlinie, die ebenso wie ihr Art. 7 alle zu dem die Vergütung des Vertreters betreffenden Kapitel III der Richtlinie gehören.

33

Im Übrigen kann zwar Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 86/653 im Umkehrschluss nahelegen, dass dann, wenn der Handelsvertreter ganz oder teilweise in Form einer Provision vergütet wird, notwendigerweise die Art. 7 bis 12 dieser Richtlinie anwendbar sind. Indessen lässt sich Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie entnehmen, dass die Höhe der Vergütung des Handelsvertreters in erster Linie von der Vereinbarung der Parteien abhängt. Somit ergibt sich bei einer systematischen Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 86/653, dass der Unionsgesetzgeber, falls er von dem in Art. 6 Abs. 1 aufgestellten Grundsatz in einem der nachfolgenden Absätze hätte abweichen wollen, darauf ausdrücklich hingewiesen hätte.

34

Was sodann die mit der Richtlinie 86/653 verfolgten Ziele betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie, wie aus ihren Erwägungsgründen 2 und 3 hervorgeht, die Handelsvertreter in ihren Beziehungen zu ihren Unternehmern schützen, die Sicherheit des Handelsverkehrs fördern und den Warenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern soll, indem deren Rechtsordnungen auf dem Gebiet der Handelsvertretung angeglichen werden (Urteile vom 23. März 2006, Honyvem Informazioni Commerciali, C‑465/04, EU:C:2006:199, Rn. 19, und vom 16. Februar 2017, Agro Foreign Trade & Agency, C‑507/15, EU:C:2017:129, Rn. 29).

35

Hierzu ist jedoch festzustellen, dass eine Auslegung von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653, die dieser Vorschrift einen zwingenden Charakter beimäße, nicht zwangsläufig zu einem verstärkten Schutz der Handelsvertreter führen würde. Wie die Generalanwältin in Nr. 66 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass in einem solchen Fall bestimmte Unternehmer die Kosten für die Provision – die notwendigerweise für Geschäfte anfiele, die während des Vertragsverhältnisses mit einem Dritten abgeschlossen werden, den der Handelsvertreter bereits vorher für Geschäfte gleicher Art als Kunden geworben hatte – dadurch ausgleichen, dass sie den Satz der Basisprovision herabsetzen, zuvor erstattete Aufwendungen oder andere Vergütungsbestandteile beschränken bzw. ausschließen oder gar davon absehen, mit einem Handelsvertreter ein Vertragsverhältnis zu begründen.

36

Schließlich wird diese Auslegung durch die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 86/653 bestätigt. Aus dem Vorschlag einer Richtlinie des Rates zur Koordinierung der Rechte der Mitgliedstaaten die (selbständigen) Handelsvertreter betreffend (ABl. 1977, C 13, S. 2) geht nämlich hervor, dass die Europäische Kommission ursprünglich vorgeschlagen hatte, diejenigen Bestimmungen, von denen die Parteien nicht abweichen könnten, in ein und demselben Artikel, nämlich in Art. 35 dieses Vorschlags, aufzuführen. Während die Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie entsprechende Bestimmung in dieser Auflistung enthalten war, wurde sie im weiteren Verlauf aus ihr entfernt. Außerdem hat der Unionsgesetzgeber zwar letztlich bereits den Grundsatz der einheitlichen Auflistung zugunsten eines fallspezifisch festgelegten Abweichungsverbots aufgegeben, doch hat er dergleichen für Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653 nicht vorgesehen.

37

Wie die Generalanwältin in Nr. 75 ihrer Schlussanträge ausführt, bestätigen die Entfernung der Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653 entsprechenden Vorschrift aus der oben genannten Auflistung, in der in Art. 35 des in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Richtlinienvorschlags die zwingenden Bestimmungen aufgeführt wurden, sowie die Entscheidung dafür, den etwaigen zwingenden Charakter der Bestimmungen der Richtlinie 86/653 im jeweiligen Artikel anzugeben, in Anbetracht dessen, dass es in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie an einem ausdrücklichen dahin gehenden Hinweis fehlt, dass diese Vorschrift ihrem Wesen nach dispositiv ist.

38

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653 dahin auszulegen ist, dass von dem dem selbständigen Handelsvertreter durch diese Bestimmung eingeräumten Recht, eine Provision für ein Geschäft zu erhalten, das während des Vertragsverhältnisses mit einem Dritten abgeschlossen wurde, den dieser Handelsvertreter bereits vorher für Geschäfte gleicher Art als Kunden geworben hatte, vertraglich abgewichen werden darf.

Kosten

39

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter

 

ist dahin auszulegen, dass

 

von dem dem selbständigen Handelsvertreter durch diese Bestimmung eingeräumten Recht, eine Provision für ein Geschäft zu erhalten, das während des Vertragsverhältnisses mit einem Dritten abgeschlossen wurde, den dieser Handelsvertreter bereits vorher für Geschäfte gleicher Art als Kunden geworben hatte, vertraglich abgewichen werden darf.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.