URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

6. Oktober 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Verkehrspolitik – Richtlinie 2006/126/EG – Art. 11 Abs. 2 und 4 – Aussetzung der Erlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs – Führerschein, der vom Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes im Umtausch gegen einen von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ausgehändigt wird – Weigerung des ersten Mitgliedstaats, eine vom zweiten Mitgliedstaat erlassene Entscheidung über die Aussetzung der Fahrerlaubnis zu vollstrecken – Verpflichtung des zweiten Mitgliedstaats, in seinem Hoheitsgebiet die Gültigkeit eines ausgesetzten Führerscheins nicht anzuerkennen“

In der Rechtssache C‑266/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 26. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen

HV,

Beteiligte:

Sofiyska gradska prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Jääskinen, M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, A. Hoesch und D. Klebs als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, P. Messina und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 4 und Art. 4 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen (ABl. 2008, L 337, S. 102) sowie von Art. 11 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. 2006, L 403, S. 18).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die Vollstreckung einer Entscheidung in Spanien, mit der in Bulgarien die Aussetzung der Fahrerlaubnis gegen eine Person mit Wohnsitz in Spanien verhängt wurde, bei der es sich um den Inhaber eines Führerscheins handelt, der von Spanien im Umtausch gegen einen von Bulgarien ausgestellten ausgehändigt worden war.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rahmenbeschluss 2008/947

3

Art. 1 („Ziele und Anwendungsbereich“) des Rahmenbeschlusses 2008/947 bestimmt in Abs. 2:

„Der Rahmenbeschluss gilt nur für:

a)

die Anerkennung von Urteilen und gegebenenfalls Bewährungsentscheidungen;

b)

die Übernahme der Zuständigkeit für die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen;

im Sinne dieses Rahmenbeschlusses.“

4

In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses heißt es:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

4.

‚alternative Sanktion‘ eine Sanktion, die keine Freiheitsstrafe, freiheitsentziehende Maßnahme oder Geldstrafe ist und mit der eine Auflage oder Weisung ergeht;

…“

5

Art. 4 („Arten der Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen“) des Rahmenbeschlusses sieht in Abs. 1 vor:

„Dieser Rahmenbeschluss gilt für folgende Bewährungsmaßnahmen und alternative Sanktionen:

d)

Weisungen, die das Verhalten, den Aufenthalt, die Ausbildung und Schulung oder die Freizeitgestaltung betreffen oder die Beschränkungen oder Modalitäten der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit beinhalten;

…“

6

Art. 6 („Verfahren für die Übermittlung eines Urteils und gegebenenfalls einer Bewährungsentscheidung“) des Rahmenbeschlusses bestimmt in Abs. 1:

„Übermittelt die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats in Anwendung von Artikel 5 Absätze 1 oder 2 ein Urteil und gegebenenfalls eine Bewährungsentscheidung an einen anderen Mitgliedstaat, so sorgt sie dafür, dass eine Bescheinigung beigefügt wird, für die das in Anhang I wiedergegebene Formblatt zu verwenden ist.“

Richtlinie 2006/126

7

Der 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/126 lautet:

„Die Mitgliedstaaten sollten aus Gründen der Verkehrssicherheit die Möglichkeit haben, ihre innerstaatlichen Bestimmungen über den Entzug, die Aussetzung, die Erneuerung und die Aufhebung einer Fahrerlaubnis auf jeden Führerscheininhaber anzuwenden, der seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet begründet hat.“

8

Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 werden „[d]ie von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine … gegenseitig anerkannt.“

9

Art. 11 („Bestimmungen über den Umtausch, den Entzug, die Ersetzung und die Anerkennung von Führerscheinen“) der Richtlinie 2006/126 bestimmt in seinen Abs. 1, 2 und 4:

„(1)   Hat der Inhaber eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat begründet, so kann er einen Antrag auf Umtausch seines Führerscheins gegen einen gleichwertigen Führerschein stellen. …

(2)   Vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsgrundsatzes kann der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen.

(4)   Ein Mitgliedstaat lehnt es ab, einem Bewerber, dessen Führerschein in einem anderen Mitgliedstaat eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen wurde, einen Führerschein auszustellen.

Ein Mitgliedstaat lehnt die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ab, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, deren Führerschein im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen worden ist.

Ein Mitgliedstaat kann es ferner ablehnen, einem Bewerber, dessen Führerschein in einem anderen Mitgliedstaat aufgehoben wurde, einen Führerschein auszustellen.“

10

Art. 12 („Ordentlicher Wohnsitz“) der Richtlinie 2006/126 sieht in Abs. 1 vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie gilt als ordentlicher Wohnsitz der Ort, an dem ein Führerscheininhaber wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder – im Falle eines Führerscheininhabers ohne berufliche Bindungen – wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen dem Führerscheininhaber und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d. h. während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr, wohnt.“

11

Art. 15 („Amtshilfe“) Satz 1 der Richtlinie 2006/126 lautet:

„Die Mitgliedstaaten unterstützen einander bei der Durchführung dieser Richtlinie und tauschen Informationen über die von ihnen ausgestellten, umgetauschten, ersetzten, erneuerten oder entzogenen Führerscheine aus.“

Bulgarisches Recht

12

Art. 78a des Nakazatelen kodeks (Strafgesetzbuch, im Folgenden: NK) bestimmt:

„(1)   Das [zuständige] Gericht befreit die volljährige Person von ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit und verhängt gegen sie eine Geldstrafe in Höhe von 1000 bis 5000 [bulgarische Lewa (BGN) (etwa 500 bis 2500 Euro)], wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

a)

Die Straftat ist bei vorsätzlicher Begehung mit Freiheitsstrafe von höchstens drei Jahren oder einer milderen Strafe bzw. bei fahrlässiger Begehung mit Freiheitsstrafe von höchstens fünf Jahren oder einer milderen Strafe bedroht;

b)

der Täter ist nicht wegen eines Offizialdelikts verurteilt und nicht von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach diesem Kapitel befreit worden;

c)

die durch die Straftat verursachten materiellen Schäden sind ersetzt worden.

(4)   Das Gericht, das die Geldstrafe nach Abs. 1 verhängt, kann auch eine Verwaltungsstrafe in Form der Aussetzung des Rechts auf Ausübung eines Berufes oder einer Tätigkeit für die Dauer von bis zu drei Jahren verhängen, wenn für die betreffende Straftat eine Aussetzung dieses Rechts vorgesehen ist.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13

Mit Urteil vom 26. Juni 2018, das am 20. November 2019 in Rechtskraft erwuchs, erkannte der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien), das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache, HV für schuldig, im bulgarischen Hoheitsgebiet ein Kraftfahrzeug unter Verstoß gegen die Straßenverkehrsvorschriften geführt und fahrlässig mehr als einer Person mittelschwere Körperverletzungen zugefügt zu haben. Auf der Grundlage von Art. 78a Abs. 1 NK befreite dieses Gericht HV von seiner strafrechtlichen Verantwortlichkeit für diese Straftat und verhängte gegen ihn eine Verwaltungsgeldstrafe in Höhe von 1000 BGN (etwa 500 Euro). Außerdem entschied dieses Gericht gemäß Art. 78a Abs. 4 NK, die Erlaubnis von HV zur Führung eines Kraftfahrzeugs für einen Zeitraum von sechs Monaten ab dem Tag auszusetzen, an dem das Urteil in Rechtskraft erwuchs.

14

Der Staatsanwalt beim vorlegenden Gericht teilte diesem mit, dass diese Aussetzung im bulgarischen Hoheitsgebiet nicht vollzogen werden könne, da HV seinen ständigen Wohnsitz in Spanien habe und sein von den bulgarischen Behörden ausgestellter Führerschein gegen einen gleichwertigen, von den spanischen Behörden ausgehändigten Führerschein umgetauscht worden sei.

15

Am 27. Oktober 2020 stellte das vorlegende Gericht eine Bescheinigung nach dem Rahmenbeschluss 2008/947 aus, die dem Juzgado Central de lo Penal (Zentrales Strafgericht, Spanien) übermittelt wurde. In Abschnitt j Nr. 4 („Art der Bewährungsmaßnahme[n] bzw. alternativen Sanktion[en]“) dieser Bescheinigung war das Feld „Weisungen, die das Verhalten, den Aufenthalt, die Ausbildung und Schulung oder die Freizeitgestaltung betreffen oder die Beschränkungen oder Modalitäten der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit beinhalten“ angekreuzt. Nach Nr. 5 dieses Abschnitts bestand die alternative Sanktion in einer Aussetzung der Erlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs für einen Zeitraum von sechs Monaten.

16

Mit Entscheidung vom 17. Februar 2021 lehnte der Juzgado Central de lo Penal (Zentrales Strafgericht) die Anerkennung des übermittelten Urteils und die Vollstreckung der gegen HV verhängten Strafe mit der Begründung ab, dass diese nicht zu den Strafen gehöre, die in der Ley 23/2014 de reconocimiento mutuo de resoluciones penales en la Unión Europea (Gesetz Nr. 23/2014 über die gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen in der Europäischen Union) vom 20. November 2014 (BOE Nr. 282 vom 21. November 2014, S. 1) und in den Rahmenbeschlüssen über die Vollstreckung von Strafen oder Bewährungsentscheidungen in der Europäischen Union vorgesehen seien. Dieses Gericht begründete seine Weigerung der Anerkennung auch mit der Richtlinie 2006/126.

17

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass diese Weigerung die tatsächliche Vollstreckung der gegen HV verhängten Aussetzung der Fahrerlaubnis unmöglich mache, was de facto auf seine Straflosigkeit hinauslaufe. Eine solche Entscheidung falle jedoch unter den Rahmenbeschluss 2008/947, da sie eine „alternative Sanktion“ darstelle, mit der eine „Weisung, die das Verhalten … [betrifft]“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 und Art. 4 Abs. 1 Buchst. d dieses Rahmenbeschlusses ergehe.

18

Auch der in Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126 erwähnte straf- und polizeirechtliche Territorialitätsgrundsatz stehe im Widerspruch zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Urteile in Strafsachen, wie er durch den Rahmenbeschluss 2008/947 konkretisiert worden sei. Es stelle sich die Frage, welcher dieser beiden Unionsrechtsakte zur Anwendung komme, um festzustellen, ob dem Juzgado Central de lo Penal (Zentrales Strafgericht) eine neue Bescheinigung nach diesem Rahmenbeschluss zu übermitteln sei.

19

Unter diesen Umständen hat der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Fallen gerichtliche Entscheidungen in Strafverfahren, mit denen bei Straftaten wegen Verstoßes gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften und fahrlässig verursachter mittelschwerer Körperverletzung gegen den Täter die verwaltungsrechtliche Sanktion einer Aussetzung der Erlaubnis, ein Kraftfahrzeug zu führen, für eine bestimmte Dauer verhängt wird, in den Anwendungsbereich von Art. 2 Nr. 4 und Art. 4 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2008/947?

2.

Stellen die Bestimmungen von Art. 11 Abs. 2 und Abs. 4 Unterabs. 1 bis 3 der Richtlinie 2006/126 für den Mitgliedstaat, in dem sich der Inhaber eines von diesem Staat ausgestellten Führerscheins gewöhnlich aufhält, eine Grundlage dar, die Anerkennung und Vollstreckung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion abzulehnen, die in einem anderen Mitgliedstaat wegen der Straftat des Verstoßes gegen straßenverkehrsrechtliche Vorschriften und fahrlässig verursachter mittelschwerer Körperverletzung anderer Personen in Form einer vorübergehenden Aussetzung der Erlaubnis, ein Kraftfahrzeug zu führen, verhängt wurde, einer Tat, die zu einem Zeitpunkt begangen wurde, in dem der Täter nach einem Umtausch des ursprünglich vom Urteilsstaat ausgestellten Führerscheins einen vom Staat seines Aufenthalts ausgestellten Führerschein besaß?

Zulässigkeit

20

Die deutsche Regierung äußert Zweifel an der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens und trägt vor, dass beim vorlegenden Gericht kein Verfahren anhängig sei und dieses offenbar die Bestätigung erhalten wolle, dass die spanischen Behörden gegen das Unionsrecht verstoßen hätten, was nicht Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein könne.

21

Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 23. November 2021, IS [Rechtswidrigkeit des Vorlagebeschlusses], C‑564/19, EU:C:2021:949, Rn. 60 und 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22

Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das von der Staatsanwaltschaft angerufene vorlegende Gericht über die Art und Weise zu entscheiden hat, in der die Entscheidung über die Aussetzung der Erlaubnis, ein Kraftfahrzeug zu führen, die gegen HV im Rahmen eines bei ihm anhängigen Verfahrens verhängt wurde, zu vollstrecken ist. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht, wie in Rn. 18 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wissen, ob es sich für die Frage, ob dem Juzgado Central de lo Penal (Zentrales Strafgericht) eine neue Bescheinigung nach diesem Rahmenbeschluss zu übermitteln ist, auf die Richtlinie 2006/126 oder den Rahmenbeschluss 2008/947 stützen muss.

24

Die erbetene Auslegung des Unionsrechts ist daher erforderlich, damit das vorlegende Gericht sein Urteil erlassen kann.

25

Demzufolge ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zu den Vorlagefragen

Zur zweiten Frage

26

Mit dieser Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 11 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 dahin auszulegen ist, dass er es dem Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes des Inhabers eines von diesem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins auch dann erlaubt, in seinem Hoheitsgebiet eine Entscheidung über die Aussetzung der Erlaubnis, ein Kraftfahrzeug zu führen, nicht anzuerkennen und nicht zu vollstrecken, die von einem anderen Mitgliedstaat gegen diesen Führerscheininhaber wegen eines in dessen Hoheitsgebiet begangenen Verkehrsdelikts erlassen wurde, wenn dieser Führerschein im Umtausch gegen einen zuvor von dem Mitgliedstaat, in dem dieses Verkehrsdelikt begangen wurde, ausgestellten Führerschein ausgehändigt worden war.

27

Erstens geht aus Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126 im Licht ihres 15. Erwägungsgrundes hervor, dass aus Gründen der Verkehrssicherheit und vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsgrundsatzes der Mitgliedstaat, in dem sich der im Sinne des Art. 12 dieser Richtlinie ordentliche Wohnsitz des Inhabers eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins befindet, auf diese Person seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen kann. Diese Bestimmung betrifft somit einen Fall, in dem der Inhaber eines Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Ausstellermitgliedstaat dieses Führerscheins hat (vgl. entsprechend Urteil vom 23. April 2015, Aykul, C‑260/13, EU:C:2015:257, Rn. 52).

28

Im vorliegenden Fall wurde der Führerschein, über den HV verfügt, von dem Mitgliedstaat seines ordentlichen Wohnsitzes im Umtausch gegen den Führerschein ausgehändigt, der ihm von dem Mitgliedstaat ausgestellt worden war, in dem gegen HV die Entscheidung über die Aussetzung seiner Fahrerlaubnis wegen eines im Hoheitsgebiet des letztgenannten Mitgliedstaats begangenen Verkehrsdelikts ergangen war, um die es im Ausgangsverfahren geht. Diese Situation fällt daher nicht unter Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126. Sobald nämlich der in einem ersten Mitgliedstaat erlangte Führerschein einer Person in einen vom Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes ausgehändigten Führerschein umgetauscht worden ist, ist sie nicht mehr als „Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen.

29

Was zweitens Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut von Unterabs. 2 dieses Absatzes ein Mitgliedstaat die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins ablehnt, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, deren Führerschein im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats eingeschränkt, ausgesetzt oder entzogen worden ist. Aus der Wendung „lehnt die Anerkennung … ab“ ergibt sich, dass diese Bestimmung keine Befugnis, sondern eine Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats regelt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. April 2012, Hofmann, C‑419/10, EU:C:2012:240, Rn. 53, und vom 28. Oktober 2020, Kreis Heinsberg, C‑112/19, EU:C:2020:864, Rn. 37).

30

Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 betrifft Maßnahmen, die in Anwendung der straf- und polizeirechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats getroffen werden und die die Gültigkeit – im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats – eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins berühren (Urteil vom 23. April 2015, Aykul, C‑260/13, EU:C:2015:257, Rn. 61). Die in dieser Bestimmung vorgesehene Verpflichtung soll somit den effektiven Vollzug einer Entscheidung über die Aussetzung der Fahrerlaubnis im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der diese Entscheidung erlassen hat, im Einklang mit dem in Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie niedergelegten straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsgrundsatz gewährleisten. Nach diesem Grundsatz ist nämlich ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet ein Verkehrsdelikt begangen wird, allein dafür zuständig, dieses zu ahnden, indem er gegebenenfalls eine Entscheidung über die Aussetzung der Fahrerlaubnis erlässt (vgl. entsprechend Urteile vom 20. November 2008, Weber, C‑1/07, EU:C:2008:640, Rn. 38, und vom 23. April 2015, Aykul, C‑260/13, EU:C:2015:257, Rn. 62).

31

Daher bedeutet Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 im Licht des straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsgrundsatzes nicht, dass die Entscheidung über die Aussetzung der Fahrerlaubnis im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in anderen Mitgliedstaaten, insbesondere dem des im Sinne von Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie ordentlichen Wohnsitzes des Inhabers des Führerscheins, gegen den eine solche Entscheidung verhängt wurde, anerkannt und vollstreckt werden muss. Nur der Mitgliedstaat, der die Entscheidung über die Aussetzung der Fahrerlaubnis erlassen hat, ist nämlich dafür zuständig, die Vollstreckung einer solchen Entscheidung in seinem Hoheitsgebiet selbst dann sicherzustellen, wenn ihr Adressat seinen ordentlichen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.

32

Daraus folgt, dass der vom vorlegenden Gericht angeführte Umstand, dass HV Inhaber eines von den bulgarischen Behörden ausgestellten Führerscheins gewesen war, bevor ihm der Mitgliedstaat, in dem er seinen ordentlichen Wohnsitz begründet hat, aufgrund eines Umtauschs gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 einen Führerschein aushändigte, über den er zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens verfügte, für die Beantwortung der Frage, ob die gegen HV erlassene Entscheidung über die Aussetzung der Fahrerlaubnis aufgrund seines strafrechtswidrigen Verhaltens im bulgarischen Hoheitsgebiet im spanischen Hoheitsgebiet vollstreckt zu werden vermag, unerheblich ist.

33

In diesem Zusammenhang ist jedoch hinzuzufügen, dass Art. 15 Satz 1 der Richtlinie 2006/126 die Mitgliedstaaten verpflichtet, einander bei der Durchführung dieser Richtlinie zu unterstützen und Informationen über die von ihnen ausgestellten, umgetauschten, ersetzten, erneuerten oder entzogenen Führerscheine auszutauschen.

34

Diese Bestimmung kann zum effektiven Vollzug einer Entscheidung über die Aussetzung der Fahrerlaubnis beitragen, die in dem Mitgliedstaat ergangen ist, der nicht derjenige ist, in dem die betreffende Person ihren ordentlichen Wohnsitz hat. Auf Antrag dieses Mitgliedstaats und in Einklang mit Anhang I Nr. 3 Satz 3 Buchst. a Felder 13 und 14 sowie Nr. 4 Buchst. a der Richtlinie 2006/126 kann nämlich der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf dem Führerschein etwaige Vermerke über das Verbot, im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats zu fahren, eintragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2021, Stadt Pforzheim [Vermerke auf dem Führerschein], C‑56/20, EU:C:2021:333, Rn. 45 und 46).

35

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 dahin auszulegen ist, dass er es dem Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes des Inhabers eines von diesem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins auch dann erlaubt, in seinem Hoheitsgebiet eine Entscheidung über die Aussetzung der Erlaubnis, ein Kraftfahrzeug zu führen, nicht anzuerkennen und nicht zu vollstrecken, die von einem anderen Mitgliedstaat gegen diesen Führerscheininhaber wegen eines in dessen Hoheitsgebiet begangenen Verkehrsdelikts erlassen wurde, wenn dieser Führerschein im Umtausch gegen einen zuvor von dem Mitgliedstaat, in dem dieses Verkehrsdelikt begangen wurde, ausgestellten Führerschein ausgehändigt worden war.

Zur ersten Frage

36

In Anbetracht der Antwort auf die zweite Frage und des Umstands, dass nur die Richtlinie 2006/126 den Fall regelt, dass ein Mitgliedstaat die Fahrerlaubnis des Inhabers eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins nach seinem innerstaatlichen Recht und aufgrund eines strafrechtswidrigen Verhaltens in seinem Hoheitsgebiet aussetzt, indem die Richtlinie festlegt, dass die Wirkung einer solchen Aussetzung allein auf dieses Gebiet beschränkt ist, ist die erste Frage nicht zu beantworten.

Kosten

37

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 11 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein

 

ist dahin auszulegen, dass

 

er es dem Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes des Inhabers eines von diesem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins auch dann erlaubt, in seinem Hoheitsgebiet eine Entscheidung über die Aussetzung der Erlaubnis, ein Kraftfahrzeug zu führen, nicht anzuerkennen und nicht zu vollstrecken, die von einem anderen Mitgliedstaat gegen diesen Führerscheininhaber wegen eines in dessen Hoheitsgebiet begangenen Verkehrsdelikts erlassen wurde, wenn dieser Führerschein im Umtausch gegen einen zuvor von dem Mitgliedstaat, in dem dieses Verkehrsdelikt begangen wurde, ausgestellten Führerschein ausgehändigt worden war.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.