URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

7. Juli 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Pflicht der Mitgliedstaaten zur Schaffung der erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist – Art. 267 AEUV – Verpflichtung des vorlegenden Gerichts, der durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts volle Wirksamkeit zu verschaffen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht – Urteil eines nach Vorabentscheidung des Gerichtshofs in letzter Instanz entscheidenden nationalen Gerichts – Angebliche Unvereinbarkeit dieses Urteils mit der durch den Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts – Nationale Regelung, wonach gegen dieses Urteils kein Wiederaufnahmeantrag eröffnet ist“

In der Rechtssache C‑261/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 18. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 21. April 2021, in den Verfahren

F. Hoffmann-La Roche Ltd,

Novartis AG,

Novartis Farma SpA,

Roche SpA

gegen

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,

Beteiligte:

Società Oftalmologica Italiana (SOI) – Associazione Medici Oculisti Italiani (AMOI),

Regione Emilia-Romagna,

Regione Lombardia,

Altroconsumo,

Novartis Farma SpA,

Roche SpA,

Novartis AG,

F. Hoffmann-La Roche Ltd,

Associazione Italiana delle Unità Dedicate Autonome Private di Day Surgery e dei Centri di Chirurgia Ambulatoriale (Aiudapds),

Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons),

Ministero della Salute – Agenzia Italiana del Farmaco,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, des Richters C. Lycourgos (Berichterstatter) und der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der F. Hoffmann-La Roche Ltd, vertreten durch P. Merlino, M. Siragusa und M. Zotta, Avvocati,

der Novartis AG und der Novartis Farma SpA, vertreten durch P. Bertolini, L. D’Amario und A. Villani, Avvocati,

der Roche SpA, vertreten durch F. Elefante und E. Raffaelli, Avvocati,

der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, vertreten durch G. Galluzzo und P. Gentili, Avvocati dello Stato,

der Società Oftalmologica Italiana (SOI) – Associazione Medici Oculisti Italiani (AMOI), vertreten durch R. La Placa, Avvocato,

der Regione Emilia-Romagna, vertreten durch R. Bonatti und R. Russo Valentini, Avvocati,

der Regione Lombardia, vertreten durch M. L. Tamborino, Avvocata,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Cherubini, Procuratore dello Stato, sowie C. Colelli und M. Russo, Avvocate dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Conte und C. Sjödin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie von Art. 2 Abs. 1 und 2 und Art. 267 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen von vier Rechtsstreitigkeiten zwischen der F. Hoffmann-La Roche Ltd, der Roche SpA (im Folgenden zusammen: Roche-Gruppe) sowie der Novartis AG und der Novartis Farma SpA (im Folgenden zusammen: Novartis-Gruppe) einerseits und der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: AGCM) andererseits wegen des Wiederaufnahmeantrags der Roche-Gruppe und der Novartis-Gruppe gegen ein Urteil des Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), weil dieses Urteil nicht mit der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts in einem auf ein Vorabentscheidungsersuchen dieses Gerichts hin ergangenen Urteil vereinbar sei.

Rechtlicher Rahmen

3

Art. 6 Abs. 1 des Codice del processo amministrativo (Verwaltungsprozessordnung) bestimmt:

„Der Staatsrat ist das letztinstanzliche Organ der Verwaltungsgerichtsbarkeit.“

4

Art. 91 der Verwaltungsprozessordnung sieht vor:

„Rechtsmittel zur Anfechtung von Urteilen [der Verwaltungsgerichte] sind die Berufung, die Wiederaufnahme, der Drittwiderspruch und aus Gründen, die ausschließlich die Gerichtsbarkeit betreffen, die Kassationsbeschwerde.“

5

Nach Art. 106 Abs. 1 der Verwaltungsprozessordnung „… können Urteile der Regionalen Verwaltungsgerichte und des Staatsrates mittels Wiederaufnahme in den Fällen und auf die Art, wie sie in den Artikeln 395 und 396 der Zivilprozessordnung vorgesehen sind, angefochten werden.“

6

Art. 395 des Codice di procedura civile (Zivilprozessordnung) bestimmt:

„In der Berufungsinstanz oder in erster und letzter Instanz ergangene Urteile können mit einem Wiederaufnahmeantrag angefochten werden,

1.

wenn sie auf das vorsätzliche Verschulden einer Partei zulasten der anderen zurückzuführen sind;

2.

wenn sie aufgrund von nach Ergehen des Urteils als falsch erkannten oder sogar für falsch erklärten Beweismitteln ergangen sind oder die unterlegene Partei nicht wusste, dass sie vor der Urteilsverkündung als falsch erkannt oder für falsch erachtet worden waren;

3.

wenn nach Verkündung des Urteils eine oder mehrere entscheidungserhebliche Unterlagen aufgefunden werden, die die Partei aufgrund von höherer Gewalt oder infolge des Verhaltens der Gegenpartei nicht zu den Akten hatte reichen können;

4.

wenn das Urteil auf einer Verkennung von Tatsachen beruht, die auf Unterlagen oder Urkunden zurückgeht, die zu den Akten gereicht wurden. Dies ist dann der Fall, wenn die Entscheidung auf der Annahme einer Tatsache beruht, deren Vorliegen unbestreitbar ausgeschlossen ist, oder wenn vom Nichtvorliegen einer Tatsache ausgegangen wurde, deren Vorliegen positiv feststeht, und wenn in beiden Fällen die fragliche Tatsache keinen streitigen Punkt darstellte, über den in dem Urteil zu entscheiden war;

5.

wenn das Urteil im Widerspruch zu einem anderen früheren Urteil steht, das in Rechtskraft erwachsen ist, sofern darin nicht über die Einrede der Rechtskraft entschieden wurde;

6.

wenn das Urteil die Folge eines rechtskräftig durch ein Urteil festgestellten vorsätzlichen Verschuldens des Gerichts ist.“

7

In Art. 396 der Zivilprozessordnung heißt es:

„Ist für ein Urteil die Berufungsfrist abgelaufen, so kann es in den Fällen der Nrn. 1, 2, 3 und 6 des vorstehenden Artikels mit dem Wiederaufnahmeantrag angefochten werden, sofern die Entdeckung des vorsätzlichen Verschuldens oder der Fehlerhaftigkeit, die Wiederbeschaffung der Urkunden oder die Verkündung des Urteils im Sinne von Nr. 6 nach Ablauf dieser Frist erfolgte.

Tritt einer der im vorstehenden Absatz genannten Fälle während der Berufungsfrist ein, wird diese ab dem Eintritt dieses Ereignisses um 30 Tage verlängert.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8

Die AGCM verhängte mit Bescheid vom 27. Februar 2014 (im Folgenden: Bescheid der AGCM) zwei Geldbußen, von denen sich die eine in Höhe von etwa 90,6 Mio. Euro gegen die Roche-Gruppe und die andere in Höhe von etwa 92 Mio. Euro gegen die Novartis-Gruppe wegen einer gegen Art. 101 AEUV verstoßenden Absprache dieser Unternehmen richtete, deren Ziel darin bestehe, eine künstliche Unterscheidung zwischen den Arzneimitteln Avastin und Lucentis dadurch zu erreichen, dass die Wahrnehmung der Risiken bei der Anwendung von Avastin in der Augenheilkunde manipuliert werde.

9

Diese Arzneimittel wurden beide von einer in den USA ansässigen und nur in diesem Drittstaat geschäftstätigen Gesellschaft entwickelt. Diese übertrug die gewerbliche Verwertung außerhalb der Vereinigten Staaten für Avastin auf die Roche-Gruppe und für Lucentis auf die Novartis-Gruppe.

10

Am 12. Januar 2005 wurde Avastin in der Europäischen Union zur Behandlung bestimmter Tumorerkrankungen zugelassen. Am 22. Januar 2007 wurde für Lucentis eine Zulassung zur Behandlung von Augenkrankheiten erteilt.

11

Vor der Markteinführung von Lucentis hatten manche Ärzte damit begonnen, ihren an Augenkrankheiten leidenden Patienten Avastin zu verordnen, mithin für Indikationen, die nicht denjenigen entsprachen, die in der Zulassung von Avastin aufgeführt waren (im Folgenden: Off-label-Einsatz). Diese Praxis dauerte auch noch fort, nachdem das teurere Lucentis auf den Markt kam.

12

Ausweislich des Bescheids der AGCM trafen die Roche-Gruppe und die Novartis-Gruppe eine Vereinbarung zur Marktaufteilung, worin eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung liege. Avastin und Lucentis seien gleichwertige Arzneimittel zur Behandlung von Augenkrankheiten. Avastin sei aufgrund seines weit verbreiteten Off-label-Einsatzes für diese Art von Krankheiten das wichtigste Konkurrenzprodukt von Lucentis gewesen. Die zwischen der Roche-Gruppe und der Novartis-Gruppe getroffene Absprache habe darin bestanden, die Öffentlichkeit in Bezug auf die Anwendungssicherheit von Avastin in der Augenheilkunde durch die Verbreitung von Gutachten zu verunsichern. Daraufhin sei der Absatz von Avastin zurückgegangen, und die Nachfrage habe sich zugunsten von Lucentis verlagert.

13

Die Roche-Gruppe und die Novartis-Gruppe fochten die Entscheidung des Tribunale amministrativo regionale per il Lazio (Regionales Verwaltungsgericht Latium, Italien), mit der ihre Klagen gegen diesen Bescheid abgewiesen worden waren, beim Consiglio di Stato (Staatsrat), dem vorlegenden Gericht, an; dieser legte dem Gerichtshof mehrere Vorlagefragen zur Auslegung von Art. 101 AEUV vor.

14

In Beantwortung dieser Fragen hat der Gerichtshof in Rn. 67 des Urteils vom 23. Januar 2018, F. Hoffmann-La Roche u. a. (C‑179/16, im Folgenden: Urteil Hoffmann-La Roche, EU:C:2018:25), entschieden, dass für die Zwecke der Anwendung von Art. 101 AEUV eine nationale Wettbewerbsbehörde außer den für die Behandlung der betreffenden Erkrankungen zugelassenen Arzneimitteln ein anderes Arzneimittel in den relevanten Markt einbeziehen kann, dessen Zulassung eine solche Behandlung nicht deckt, das aber zu diesem Zweck eingesetzt wird und so in einem konkreten Substituierbarkeitsverhältnis zu den erstgenannten Arzneimitteln steht. Für die Feststellung, ob ein solches Substituierbarkeitsverhältnis besteht, muss die Wettbewerbsbehörde, sofern eine Prüfung der Konformität des in Rede stehenden Erzeugnisses mit den für seine Herstellung oder Vermarktung geltenden Vorschriften seitens der hierfür zuständigen Behörden oder Gerichte stattgefunden hat, das Ergebnis dieser Prüfung berücksichtigen, indem sie beurteilt, wie es sich möglicherweise auf die Struktur von Nachfrage und Angebot auswirkt.

15

Weiter hat der Gerichtshof in Rn. 95 des Urteils Hoffmann-La Roche ausgeführt, dass eine Absprache zwischen Unternehmen, die miteinander in Wettbewerb stehende Arzneimittel vermarkten, über die Verbreitung irreführender Informationen zu den Nebenwirkungen der Anwendung eines dieser Arzneimittel bei nicht von seiner Zulassung gedeckten Indikationen an die Europäische Arzneimittel-Agentur (im Folgenden: EMA), die Angehörigen der Heilberufe und die Öffentlichkeit zu dem Zweck, den Wettbewerbsdruck zu verringern, der sich aus diesem Einsatz für den des anderen Arzneimittels ergibt, eine nach Art. 101 AEUV verbotene „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkung ist.

16

Infolge dieser Vorabentscheidung hat das vorlegende Gericht mit einem Urteil unter dem Aktenzeichen 4990/2019 (im Folgenden: Urteil Nr. 4990/2019) die Rechtsmittel zurückgewiesen.

17

Die Roche-Gruppe und die Novartis-Gruppe haben dieses Urteil beim vorlegenden Gericht mit einem Wiederaufnahmeantrag nach Art. 106 der Verwaltungsprozessordnung angefochten. Sie machen geltend, dass ein Tatsachenfehler im Sinne von Art. 395 Nr. 4 der Zivilprozessordnung vorliege.

18

Sie tragen u. a. vor, dass die Begründung des Urteils Nr. 4990/2019, wonach „vorliegend – bei der Anwendung von Art. 101 AEUV durch die AGCM – die für die Überwachung der Einhaltung der arzneimittelrechtlichen Vorschriften zuständigen Behörden oder nationalen Gerichte nicht festgestellt [hätten], dass das Umverpacken und Verschreiben von zum Off-label-Einsatz bestimmtem Avastin womöglich unter rechtswidrigen Voraussetzungen“ erfolgt sei, sachlich falsch sei, denn die zuständigen Behörden und Gerichte hätten in zahlreichen offiziellen Stellungnahmen festgestellt, dass es rechtswidrig sei, Avastin für Indikationen anzubieten, die nicht der Zulassung dieses Medikaments entsprächen. Indem das Urteil Nr. 4990/2019 die entsprechenden Konformitätsprüfungen nicht berücksichtige, habe es die vom Gerichtshof im Urteil Hoffmann‑La Roche vorgenommene Auslegung verkannt, wonach die Ergebnisse solcher Prüfungen zu berücksichtigen seien.

19

Außerdem enthalte das Urteil Nr. 4990/2019 keine Beurteilung der Frage, ob die von den betroffenen Unternehmen mitgeteilten Informationen irreführend seien. Aus dem Urteil Hoffmann-La Roche ergebe sich aber die Notwendigkeit, eine solche Beurteilung durchzuführen. Nach der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung könne in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens eine bezweckte Wettbewerbsbeschränkung nur unter der Voraussetzung vorliegen, dass die von den betreffenden Unternehmen mitgeteilten Informationen irreführend seien. Der Gerichtshof habe klargestellt, dass dieser Aspekt vom vorlegenden Gericht zu prüfen sei.

20

Die Roche-Gruppe macht zudem geltend, dass das durch Art. 106 der Verwaltungsprozessordnung in Verbindung mit den Art. 395 und 396 der Zivilprozessordnung eingeführte System der gerichtlichen Kontrolle lückenhaft sei, weil es keine Möglichkeit vorsehe, ein Urteil eines nationalen Verwaltungsgerichts, wenn es eine offensichtliche Verletzung der vom Gerichtshof im Rahmen einer Vorabentscheidung festgelegten Rechtsgrundsätze enthalte, mit einem Wiederaufnahmeantrag anzufechten. Diese Regelungslücke habe zur Folge, dass unionsrechtswidrige Gerichtsentscheidungen rechtskräftig werden könnten. Eine solche Situation beeinträchtige die Bindungs- und die Erga-omnes-Wirkung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofs und bringe die Gefahr mit sich, dass die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Italienische Republik einleite.

21

Das vorlegende Gericht führt aus, dass es im italienischen Recht keine Rechtsschutzmöglichkeit gebe, anhand deren überprüft werden könne, ob eine in letzter Instanz ergangene Entscheidung eines nationalen Gerichts unvereinbar mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei.

22

Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob eine solche Situation mit Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie mit Art. 2 Abs. 1 und 2 und Art. 267 AEUV – insbesondere im Licht von Art. 47 der Charta – vereinbar ist.

23

Zwar habe der Gerichtshof u. a. in den Rn. 22 bis 24 des Urteils vom 3. September 2009, Fallimento Olimpiclub (C‑2/08, EU:C:2009:506), entschieden, dass nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten die Modalitäten der Umsetzung des Grundsatzes der Rechtskraft Sache ihrer innerstaatlichen Rechtsordnungen seien, wobei lediglich das Äquivalenzprinzip und der Grundsatz der Effektivität zu beachten seien, da das Unionsrecht einem nationalen Gericht selbst dann nicht gebiete, von der Anwendung innerstaatlicher Verfahrensvorschriften abzusehen, aufgrund deren eine gerichtliche Entscheidung Rechtskraft erlange, wenn dadurch ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht abgestellt werden könne.

24

Allerdings hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob diese Rechtsprechung in einer Situation einschlägig ist, in der ein Rechtsuchender geltend macht, dass das nationale Gericht beim Erlass einer letztinstanzlichen Entscheidung in der Rechtssache, die dieser nicht mehr anfechtbaren nationalen Entscheidung zugrunde liege, die Vorabentscheidung des Gerichtshofs verkannt habe.

25

Insoweit vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, dass die Möglichkeit, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen, bevor diese in Rechtskraft erwachse, um einen Verstoß gegen das Unionsrecht zu verhindern, einer späteren Abhilfe vorzuziehen sei, die gemäß der aus dem Urteil vom 30. September 2003, Köbler (C‑224/01, EU:C:2003:513), hervorgegangenen Rechtsprechung darin bestehe, dass die Person, die dadurch einen Schaden erlitten habe, für diesen Ersatz verlangen könne. Bei dieser nachträglichen Abhilfe sei diese Person nämlich gezwungen, ein neues Verfahren anzustrengen, in dem sie nicht nur nachweisen müsse, dass der Verstoß gegen das Unionsrecht vorliege, sondern auch, dass er offensichtlich sei.

26

Allerdings entspreche im vorliegenden Fall das Urteil Nr. 4990/2019 der im Urteil Hoffmann-La Roche vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts. Somit stehe das Urteil Nr. 4990/2019 nicht im Widerspruch zum Unionsrecht. Allenfalls habe der Consiglio di Stato (Staatsrat) das Unionsrecht auf den dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalt falsch angewandt. Doch selbst wenn eine solche falsche Anwendung erwiesen wäre, würde dadurch nicht die Bindungswirkung des Urteils Hoffmann‑La Roche verletzt. Der Mechanismus des Art. 267 AEUV lasse die dem nationalen Gericht vorbehaltene justizielle Tätigkeit unberührt, die in der Anwendung der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens bestehe.

27

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es nicht ihm, sondern dem Gerichtshof obliege, über die Vereinbarkeit des Urteils Nr. 4990/2019 mit dem Urteil Hoffmann-La Roche zu entscheiden. Insoweit weist es darauf hin, dass der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und über die Auslegung der „Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union“ entscheidet. Möglicherweise seien die Entscheidungen des Gerichtshofs zu diesen Handlungen zu zählen, und daher bestehe insoweit keine endgültige Gewissheit über die Vereinbarkeit des Urteils Nr. 4990/2019 mit dem Urteil Hoffmann-La Roche.

28

Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann das nationale Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, in einem Verfahren, in dem der Antrag der Partei – um die Aufhebung des angefochtenen Urteils zu erreichen – unmittelbar darauf gerichtet ist, einen Verstoß gegen die vom Gerichtshof in demselben Verfahren zum Ausdruck gebrachten Grundsätze geltend zu machen, prüfen, ob die vom Gerichtshof in demselben Verfahren zum Ausdruck gebrachten Grundsätze im konkreten Fall richtig angewandt wurden, oder ist diese Beurteilung Sache des Gerichtshofs?

2.

Verstößt das Urteil Nr. 4990/2019 des Consiglio di Stato (Staatsrat) in dem von den Parteien angeführten Sinne gegen die Grundsätze, die der Gerichtshof in seinem Urteil Hoffmann-La Roche in Bezug auf a) die Einbeziehung der beiden Arzneimittel in denselben relevanten Markt ohne Berücksichtigung der Stellungnahmen von Behörden, die die Nachfrage nach und das Angebot von Avastin außerhalb der zugelassenen Indikationen (off-label) für rechtswidrig befunden haben, und b) die unterbliebene Überprüfung des angeblich irreführenden Charakters der von den Gesellschaften verbreiteten Informationen zum Ausdruck gebracht hat?

3.

Stehen Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 2 Abs. 1 und 2 und Art. 267 AEUV, auch im Licht von Art. 47 der Charta, einem System wie dem des Art. 106 der Verwaltungsprozessordnung und der Art. 395 und 396 der Zivilprozessordnung entgegen, soweit dieses nicht den Rückgriff auf einen Antrag auf Wiederaufnahme zulässt, um gegen Urteile des Consiglio di Stato (Staatsrat) vorzugehen, die Urteilen des Gerichtshofs und insbesondere den vom Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens dargelegten Rechtsgrundsätzen zuwiderlaufen?

Zu den Anträgen auf Eröffnung des mündlichen Verfahrens

29

Am 16. und 17. März 2022 stellte die Roche-Gruppe gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs Anträge auf Eröffnung des mündlichen Verfahrens und berief sich dabei auf eine neue Tatsache, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs sei.

30

Diese neue Tatsache liege in der von der EMA am 24. Februar 2022 erlassenen Stellungnahme, in der einer Anwendung des Wirkstoffs Bevacizumab für die Behandlung von Augenkrankheiten mit der Begründung entgegengetreten werde, dass die Risiken einer solchen Anwendung gegenüber dem therapeutischen Nutzen überwögen.

31

Die Roche-Gruppe trägt vor, bei Bevacizumab handele es sich um den Wirkstoff von Avastin. Die ablehnende Stellungnahme der EMA zur Anwendung von Bevacizumab für die Behandlung von Augenkrankheiten zeige, dass Lucentis nicht durch Avastin ersetzt werden könne und dass diese beiden Medikamente daher nicht zum selben Markt gehörten. Darüber hinaus untermauere diese Stellungnahme der EMA, dass die von der Roche-Gruppe und von der Novartis-Gruppe verbreiteten Informationen zu den Risiken der Anwendung von Avastin in der Augenheilkunde nicht irreführend seien.

32

Der Bescheid der AGCM sei folglich fehlerhaft. Die Roche-Gruppe ist der Ansicht, dass das vorlegende Gericht dies festgestellt hätte, wenn die zu den Risiken einer Anwendung von Avastin in der Augenheilkunde verfügbaren Daten von ihm entsprechend den Erkenntnissen aus dem Urteil Hoffmann-La Roche geprüft worden wären. Das vorlegende Gericht hätte u. a. feststellen müssen, dass die angebliche therapeutische Gleichwertigkeit von Avastin und Lucentis, auf die sich die AGCM gestützt habe, nie durch eine hierfür zuständige Behörde festgestellt worden sei. Das vorlegende Gericht hätte daher zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die AGCM das Vorliegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens nicht ordnungsgemäß nachgewiesen habe.

33

Die ablehnende Stellungnahme der EMA sei insbesondere entscheidend für die Beantwortung der zweiten Frage, ob nämlich das Urteil Nr. 4990/2019 die vom Gerichtshof im Urteil Hoffmann-La Roche zum Ausdruck gebrachten Grundsätze verkenne.

34

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Eröffnung oder Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

35

Die von der Roche-Gruppe angeführte Tatsache, auf die sie ihren Antrag auf Eröffnung des mündlichen Verfahrens stützt und bei der es sich um die ablehnende Stellungnahme der EMA vom 24. Februar 2022 betreffend die Anwendung des Wirkstoffs Bevacizumab für die Behandlung der in dieser Stellungnahme beschriebenen Augenkrankheit handelt, vermag sich nicht auf die vom Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zu erlassende Entscheidung erheblich auszuwirken.

36

Es ist nämlich nicht Sache des Gerichtshofs, zu beurteilen, ob der Inhalt dieser Stellungnahme der EMA Fehler im Bescheid der AGCM aufzeigt, die das vorlegende Gericht in seinem Urteil Nr. 4990/2019 hätte feststellen müssen. Insoweit genügt der Hinweis, dass allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig ist (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Der Gerichtshof hält sich nach Anhörung des Generalanwalts auf der Grundlage des Vorabentscheidungsersuchens und der Aktenstücke des schriftlichen Verfahrens für hinreichend unterrichtet, um das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zu beantworten. Folglich besteht kein Anlass, das mündliche Verfahren zu eröffnen.

Zu den Vorlagefragen

Zur dritten Frage

38

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

In der dritten Frage, die zuerst zu prüfen ist, wird u. a. Art. 2 Abs. 1 und 2 AEUV genannt. Diese Vorschrift ist für die Beantwortung dieser Frage jedoch irrelevant.

40

Art. 2 AEUV betrifft nämlich die Aufteilung der Zuständigkeit für die gesetzgeberische Tätigkeit und den Erlass verbindlicher Rechtsakte zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten. Die insoweit in den Abs. 1 und 2 dieses Artikels aufgestellten Regeln haben nichts mit der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Frage nach den innerhalb eines Mitgliedstaats zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe zu tun (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 45).

41

Daher ist die dritte Frage so umzuformulieren, dass für ihren Gegenstand auf Art. 2 Abs. 1 und 2 AEUV nicht eingegangen wird.

42

Diese Frage zielt im Wesentlichen darauf ab, ob Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 267 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie verfahrensrechtlichen Bestimmungen eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach im Fall einer Entscheidung des obersten Verwaltungsgerichts dieses Mitgliedstaats über einen Rechtsstreit, in dessen Rahmen der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst worden war, die an diesem Rechtsstreit beteiligten Parteien diese Entscheidung des nationalen Gerichts nicht mit einem Wiederaufnahmeantrag anfechten dürfen, der damit begründet wird, dass in dieser Entscheidung die vom Gerichtshof in Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens vorgenommene Auslegung des Unionsrechts verkannt worden sei.

43

Vorab ist hierbei darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verpflichtet sind, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit den Rechtsuchenden die Wahrung ihres Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Vorbehaltlich des Bestehens einschlägiger Unionsregeln ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten dieser Rechtsbehelfe festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass diese Modalitäten, wenn sie dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte regeln, nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 58).

45

Was die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes betrifft, so ist nach Maßgabe der Angaben im Vorabentscheidungsersuchen und vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht ersichtlich, dass die Möglichkeit des Rechtsuchenden, ein Urteil des Consiglio di Stato (Staatsrat) mit einem Wiederaufnahmeantrag anzufechten, unabhängig davon, ob dieser Antrag auf Vorschriften des nationalen oder des Unionsrechts beruht, durch Art. 106 Abs. 1 der Verwaltungsprozessordnung in Verbindung mit den Art. 395 und 396 der Zivilprozessordnung nach denselben Modalitäten beschränkt wird.

46

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die verfahrensrechtlichen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts nicht gegen den Äquivalenzgrundsatz verstoßen.

47

Zum Effektivitätsgrundsatz ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht dazu zwingt, neben den nach innerstaatlichem Recht bestehenden Rechtsbehelfen neue zu schaffen, es sei denn, es gibt nach dem System der betreffenden nationalen Rechtsordnung keinen gerichtlichen Rechtsbehelf, mit dem wenigstens inzident die Wahrung der den Rechtsuchenden aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden könnte, oder die einzige Möglichkeit, Zugang zu einem Gericht zu erlangen, bestünde darin, eine Rechtsverletzung begehen zu müssen (vgl. u. a. Urteile vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 143, und vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 62).

48

Im vorliegenden Fall deutet im Vorabentscheidungsersuchen oder in den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen nichts darauf hin, dass infolge des italienischen Verfahrensrechts als solchem die Wahrnehmung der den Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte in diesem Bereich des Wettbewerbsrechts unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert würde. Unter diesen Umständen beeinträchtigt eine Bestimmung wie Art. 106 Abs. 1 der Verwaltungsprozessordnung in Verbindung mit den Art. 395 und 396 der Zivilprozessordnung auch nicht den Effektivitätsgrundsatz und verstößt folglich nicht gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

49

In einer Situation, die durch das Bestehen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gekennzeichnet ist, mit dem die Wahrung der dem Rechtsuchenden aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden kann, steht es somit dem betreffenden Mitgliedstaat, wie sich aus der in Rn. 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, aus unionsrechtlicher Sicht vollkommen frei, seinem obersten Verwaltungsgericht die Zuständigkeit für eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht letztinstanzliche Entscheidung über den betreffenden Rechtsstreit zu übertragen (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 64).

50

Werden wie im vorliegenden Fall Vorschriften des Unionsrechts vor einem nationalen Gericht geltend gemacht, das seine Entscheidung erlässt, nachdem es die Antwort auf seine an den Gerichtshof gerichteten Fragen zur Auslegung dieser Vorschriften erhalten hat, ist die Voraussetzung, dass im betreffenden Mitgliedstaat eine Rechtsschutzmöglichkeit bestehen muss, mit der die Wahrung der dem Rechtsuchenden aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleistet werden kann, notwendigerweise erfüllt. Folglich kann dieser Mitgliedstaat die Möglichkeit, ein Urteil seines obersten Verwaltungsgerichts mit einem Wiederaufnahmeantrag anzufechten, auf streng eingegrenzte Ausnahmesituationen beschränken, die nicht den Fall umfassen, dass ein vor diesem Gericht unterlegener Rechtsuchender geltend macht, es habe die vom Gerichtshof in Beantwortung seines Vorabentscheidungsersuchens vorgenommene Auslegung des Unionsrechts verkannt.

51

Nach alledem sind die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV nicht verpflichtet, dem Rechtsuchenden die Möglichkeit einzuräumen, eine in letzter Instanz ergangene gerichtliche Entscheidung mit einem Wiederaufnahmeantrag anzufechten, der damit begründet wird, dass in dieser Entscheidung die vom Gerichtshof in Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens in derselben Rechtssache vorgenommene Auslegung des Unionsrechts verkannt worden sei.

52

Dieses Ergebnis kann nicht nach Maßgabe von Art. 4 Abs. 3 EUV in Frage gestellt werden, dem zufolge die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen haben, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben. Was das System der Rechtsbehelfe betrifft, die erforderlich sind, um in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, kann Art. 4 Abs. 3 EUV nämlich nicht dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten neue Rechtsbehelfe zu schaffen haben, obwohl Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gar keine entsprechende Pflicht vorsieht (Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 66).

53

Ebenso wenig kann dieses Ergebnis im Hinblick auf Art. 267 AEUV in Frage gestellt werden.

54

Zwar verlangt diese Vorschrift von einem vorlegenden Gericht, der Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof im Vorabentscheidungsurteil volle Wirksamkeit zu verschaffen (Urteil vom 12. Februar 2020, Kolev u. a., C‑704/18, EU:C:2020:92, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der Consiglio di Stato (Staatsrat) musste sich also, als er das Urteil Nr. 4990/2019 erließ, vergewissern, dass das Urteil mit der Auslegung von Art. 101 AEUV in Einklang stand, die der Gerichtshof auf das Ersuchen dieses nationalen Gerichts hin im Urteil Hoffmann-La Roche vorgenommen hatte.

55

Indessen obliegt es, wie in Rn. 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt, allein dem nationalen Gericht, den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens festzustellen und zu beurteilen. Folglich ist es nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen eines neuen Vorabentscheidungsersuchens eine Kontrolle vorzunehmen, um sich darüber zu vergewissern, dass das Gericht, nachdem es den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften befasst hat, die auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit Anwendung finden, diese Vorschriften entsprechend ihrer Auslegung durch den Gerichtshof angewandt hat. Zwar können die nationalen Gerichte im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihnen und dem Gerichtshof diesen erneut anrufen, um vor der Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits weitere Ausführungen zur vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung), doch darf diese Vorschrift nicht dahin ausgelegt werden, dass ein nationales Gericht den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zu der Frage befassen kann, ob es auf das Ausgangsverfahren die Auslegung zutreffend angewandt hat, die vom Gerichtshof in Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens vorgenommen worden war, das das genannte nationale Gericht ihm zuvor in derselben Rechtssache unterbreitet hatte.

56

Somit verlangt der mit dieser Bestimmung des AEU-Vertrags geschaffene Mechanismus der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof keineswegs von den Mitgliedstaaten, dass sie eine Rechtsschutzmöglichkeit vorsehen, die es einem Rechtsuchenden erlaubt, gegen eine in einem bestimmten Rechtsstreit in letzter Instanz ergangene Entscheidung eines nationalen Gerichts Wiederaufnahmeanträge zu stellen, um dieses Gericht dadurch zu zwingen, den Gerichtshof mit einem Ersuchen zu der Frage zu befassen, ob diese Entscheidung mit der Auslegung vereinbar ist, die vom Gerichtshof in Beantwortung eines ihm zuvor von diesem nationalen Gericht in derselben Rechtssache unterbreiteten Vorabentscheidungsersuchens vorgenommen worden ist.

57

Die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils gezogene Schlussfolgerung kann auch durch Art. 47 der Charta nicht in Frage gestellt werden. Insoweit genügt der Hinweis, dass, wenn die Rechtsuchenden im betreffenden Bereich des Unionsrechts Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht haben – was vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht in der italienischen Rechtsordnung der Fall zu sein scheint –, das in der Charta verankerte Recht auf Zugang zu einem solchen Gericht gewahrt wird, ohne dass die nationale Rechtsvorschrift, die die Möglichkeit, ein Urteil des obersten Verwaltungsgerichts mit einem Wiederaufnahmeantrag anzufechten, auf streng eingegrenzte Ausnahmesituationen beschränkt, als eine Einschränkung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta dieses in deren Art. 47 niedergelegten Rechts angesehen werden könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 69).

58

Ungeachtet dessen steht es Einzelnen, die durch eine Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts infolge eines Verstoßes gegen ihnen durch das Unionsrecht verliehene Rechte gegebenenfalls geschädigt worden sind, frei, den Mitgliedstaat haftbar zu machen, sofern der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen diesem Verstoß und dem Schaden, der ihnen entstanden ist, ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 59, und vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 80).

59

Der Grundsatz der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, folgt nämlich aus dem Wesen des Vertrags, ohne dass danach unterschieden würde, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Judikative oder der Exekutive zuzurechnen ist. In Anbetracht der entscheidenden Rolle, die die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen zustehenden Rechte spielt, wäre die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert, wenn der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen dann keine Entschädigung erlangen könnte, wenn seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht verletzt werden, der einer Entscheidung eines letztinstanzlich entscheidenden Gerichts eines Mitgliedstaats zuzurechnen ist (Urteil vom 4. März 2020, Telecom Italia, C‑34/19, EU:C:2020:148, Rn. 67 und 68).

60

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 267 AEUV im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie verfahrensrechtlichen Bestimmungen eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die das Äquivalenzprinzip beachten und infolge deren im Fall einer Entscheidung des obersten Verwaltungsgerichts dieses Mitgliedstaats über einen Rechtsstreit, in dessen Rahmen der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst worden war, die an diesem Rechtsstreit beteiligten Parteien diese Entscheidung des nationalen Gerichts nicht mit einem Wiederaufnahmeantrag anfechten dürfen, der damit begründet wird, dass in dieser Entscheidung die vom Gerichtshof in Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens vorgenommene Auslegung des Unionsrechts verkannt worden sei.

Zur ersten und zur zweiten Frage

61

In Anbetracht der Antwort auf die dritte Frage sind die erste und die zweite Frage nicht zu beantworten.

Kosten

62

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV sowie Art. 267 AEUV sind im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie verfahrensrechtlichen Bestimmungen eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die das Äquivalenzprinzip beachten und infolge deren im Fall einer Entscheidung des obersten Verwaltungsgerichts dieses Mitgliedstaats über einen Rechtsstreit, in dessen Rahmen der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst worden war, die an diesem Rechtsstreit beteiligten Parteien diese Entscheidung des nationalen Gerichts nicht mit einem Wiederaufnahmeantrag anfechten dürfen, der damit begründet wird, dass in dieser Entscheidung die vom Gerichtshof in Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens vorgenommene Auslegung des Unionsrechts verkannt worden sei.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.