URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)
7. April 2022 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Beihilferegelung für den Bau kleiner Wasserkraftwerke – Alpine Berghütten ohne Stromnetz – Genehmigung durch die Europäische Kommission – Ablauf“
In den verbundenen Rechtssachen C‑102/21 und C‑103/21
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht, Autonome Sektion für die Provinz Bozen (Italien), mit Entscheidungen vom 9. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Februar 2021, in den Verfahren
KW (C‑102/21),
SG (C‑103/21)
gegen
Autonome Provinz Bozen
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin sowie des Richters J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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von KW, vertreten durch Rechtsanwälte S. Pittracher und H. Wild, |
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von SG, vertreten durch Rechtsanwalt M. Durnwalder, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, C. Kovács und C.‑M. Carrega als Bevollmächtigte, |
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssachen zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 |
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und Art. 20 der Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9) sowie des Beschlusses C(2012) 5048 final der Kommission vom 25. Juli 2012 über die staatliche Beihilfe SA.32113 (2010/N) – Italien: Beihilferegelung betreffend Energieeinsparungen, Fernheizsysteme und die Elektrifizierung abgelegener Gebiete in Alto Adige/Südtirol (ABl. 2013, C 1, S. 7) (im Folgenden: Beschluss der Kommission vom 25. Juli 2012). |
2 |
Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen KW (Rechtssache C‑102/21) und SG (Rechtssache C‑103/21) auf der einen Seite und der Autonomen Provinz Bozen (Italien) auf der anderen Seite über die Rückzahlung von Beihilfen für den Bau von kleinen Wasserkraftwerken, die von dieser im Rahmen einer mit dem Beschluss der Kommission vom 25. Juli 2012 genehmigten Beihilferegelung (im Folgenden: streitige Beihilferegelung) gewährt wurden. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EU) Nr. 651/2014
3 |
Art. 41 („Investitionsbeihilfen zur Förderung erneuerbarer Energien“) der Verordnung (EU) Nr. 651/2014 der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 [AEUV] (ABl. 2014, L 187, S. 1) sieht vor: „1. Investitionsbeihilfen zur Förderung erneuerbarer Energien sind im Sinne des Artikels 107 Absatz 3 AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar und von der Anmeldepflicht des Artikels 108 Absatz 3 AEUV freigestellt, sofern die in diesem Artikel und in Kapitel I festgelegten Voraussetzungen erfüllt sind. … 7. Die Beihilfeintensität darf folgende Sätze nicht überschreiten:
8. Bei Beihilfen für kleine Unternehmen kann die Intensität um 20 Prozentpunkte, bei Beihilfen für mittlere Unternehmen um 10 Prozentpunkte erhöht werden. …“ |
Verordnung 2015/1589
4 |
Im 28. Erwägungsgrund der Verordnung 2015/1589 heißt es: „Die missbräuchliche Anwendung von Beihilfen kann sich auf die Funktionsweise des Binnenmarkts in ähnlicher Weise wie eine rechtswidrige Beihilfe auswirken und sollte demnach in ähnlicher Weise behandelt werden. Im Gegensatz zu rechtswidrigen Beihilfen handelt es sich bei Beihilfen, die gegebenenfalls in missbräuchlicher Weise angewandt worden sind, um Beihilfen, die die Kommission zu einem früheren Zeitpunkt genehmigt hat. Deswegen sollte die Kommission bei der missbräuchlichen Anwendung von Beihilfen keine Rückforderungsanordnung erlassen können.“ |
5 |
Art. 1 („Definitionen“) der Verordnung 2015/1589 bestimmt: „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck: …
…
…
…
…“ |
6 |
Art. 4 („Vorläufige Prüfung der Anmeldung und Beschlüsse der Kommission“) Abs. 3 der Verordnung 2015/1589 sieht vor: „Stellt die Kommission nach einer vorläufigen Prüfung fest, dass die angemeldete Maßnahme, insoweit sie in den Anwendungsbereich des Artikels 107 Absatz 1 AEUV fällt, keinen Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gibt, so beschließt sie, dass die Maßnahme mit dem Binnenmarkt vereinbar ist (im Folgenden ‚Beschluss, keine Einwände zu erheben‘). In dem Beschluss wird angeführt, welche Ausnahmevorschrift des [Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union] zur Anwendung gelangt ist.“ |
7 |
Art. 13 („Anordnung zur Aussetzung oder einstweiligen Rückforderung der Beihilfe“) Abs. 2 der Verordnung 2015/1589 sieht vor: „Die Kommission kann, nachdem sie dem betreffenden Mitgliedstaat Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat, einen Beschluss erlassen, mit dem dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen einstweilig zurückzufordern, bis die Kommission einen Beschluss über die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt erlassen hat (im Folgenden ‚Rückforderungsanordnung‘), sofern folgende Kriterien erfüllt sind: …“ |
8 |
Art. 16 („Rückforderung von Beihilfen“) Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 bestimmt: „In Negativbeschlüssen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen entscheidet die Kommission, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern (im Folgenden ‚Rückforderungsbeschluss‘). Die Kommission verlangt nicht die Rückforderung der Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts verstoßen würde.“ |
9 |
Art. 20 („Missbräuchliche Anwendung von Beihilfen“) der Verordnung 2015/1589 sieht vor: „Unbeschadet des Artikels 28 kann die Kommission bei missbräuchlicher Anwendung von Beihilfen das förmliche Prüfverfahren nach Artikel 4 Absatz 4 eröffnen. Die Artikel 6 bis 9, 11 und 12 sowie Artikel 13 Absatz 1 und die Artikel 14 bis 17 gelten entsprechend.“ |
Italienisches Recht
10 |
Die streitige Beihilferegelung beruht auf dem Landesgesetz Nr. 9, Bestimmungen im Bereich der Energieeinsparung, der erneuerbaren Energiequellen und des Klimaschutzes vom 7. Juli 2010, das u. a. die Gewährung von Beiträgen im Höchstausmaß von 80 % der Investitionskosten für den Bau von kleinen Wasserkraftwerken zur Erzeugung elektrischer Energie aus erneuerbaren Energiequellen zum Eigenverbrauch vorsieht, wenn wegen der geografischen Lage ein Anschluss an das Stromnetz ohne einen angemessenen technischen und finanziellen Aufwand nicht durchführbar ist. |
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen
11 |
Am 17. Dezember 2010 unterrichtete die Italienische Republik die Kommission gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV über die streitige Beihilferegelung. Mit ihrem Beschluss vom 25. Juli 2012 genehmigte die Kommission diese Regelung. |
Rechtssache C‑102/21
12 |
KW ist Eigentümerin einer Alm in einem Berggebiet der Autonomen Provinz Bozen, das aufgrund seiner geografischen Lage nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen ist. |
13 |
Mit Dekret vom 29. Jänner 2018 gewährte die Autonome Provinz Bozen KW gemäß der streitigen Beihilferegelung einen Beitrag in Höhe von 144634 Euro, der 80 % der zulässigen Kosten eines Projekts zum Bau eines kleinen Wasserkraftwerks zur Eigenversorgung entsprach. |
14 |
In der Folge informierte die Autonome Provinz Bozen KW darüber, dass, da die streitige Beihilferegelung am 31. Dezember 2016 ausgelaufen sei, die Gewährung eines Beitrags zu ihrem Vorhaben mit der Verordnung Nr. 651/2014 in Einklang stehen müsse, nach der die zulässige Höhe der Beihilfen auf 65 % der zulässigen Kosten begrenzt sei. |
15 |
Mit Dekret vom 27. Jänner 2020 widerrief die Autonome Provinz Bozen teilweise ihre Entscheidung, einen Beitrag an KW zu gewähren, und reduzierte dessen Betrag gemäß der Verordnung Nr. 651/2014 auf 113257,09 Euro. |
16 |
Am 14. Februar 2020 forderte die Autonome Provinz Bozen KW zur Rückzahlung des überzahlten Betrags zuzüglich Zinsen auf. |
17 |
KW erhob beim Verwaltungsgericht, Autonome Sektion für die Provinz Bozen (Italien), Klage auf Aufhebung dieser Maßnahmen. |
18 |
Nach Auffassung dieses Gerichts wirft der Ausgangsrechtsstreit die Frage auf, ob der KW gewährte Beitrag eine „bestehende“ Beihilfe im Sinne des Beihilfenrechts der Union darstellt. Zur Beantwortung dieser Frage müsse geklärt werden, ob zum Zeitpunkt der Gewährung dieses Beitrags die sich aus dem Beschluss der Kommission vom 25. Juli 2012 ergebende Genehmigung der streitigen Beihilferegelung noch in Kraft gewesen sei. |
19 |
Wenn dies nicht der Fall sei, stelle der KW gewährte Beitrag einen Fall einer missbräuchlichen Anwendung einer Beihilfe dar, und es müsse dann geklärt werden, ob Art. 20 der Verordnung 2015/1589 dahin auszulegen sei, dass die Kommission ihre Rückforderung verlangen müsse. |
20 |
Auch müsse geprüft werden, ob der KW gewährte Beitrag gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sei. |
21 |
Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht, Autonome Sektion für die Provinz Bozen, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
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Rechtssache C‑103/21
22 |
SG ist Eigentümer einer Alm in einem Berggebiet der Autonomen Provinz Bozen, das aufgrund seiner geografischen Lage nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen ist. |
23 |
Mit Dekret vom 31. August 2018 gewährte die Autonome Provinz Bozen SG gemäß der streitigen Beihilferegelung einen Beitrag in Höhe von 115011 Euro für ein Vorhaben zum Bau eines kleinen Wasserkraftwerks zur Eigenversorgung, der 80 % der zulässigen Kosten entsprach. |
24 |
Mit Dekret vom 27. April 2020 widerrief die Autonome Provinz Bozen teilweise ihre Entscheidung über die Gewährung des Beitrags an SG mit der Begründung, dass die streitige Beihilferegelung am 31. Dezember 2016 ausgelaufen sei. Sie nahm eine Neuberechnung des Beitrags vor, auf den SG auf Grundlage der von der Verordnung Nr. 651/2014 vorgesehenen Vergabekriterien Anspruch hatte – nunmehr 92604 Euro – und forderte SG auf, den darüber hinaus erhaltenen Betrag zuzüglich Zinsen zurückzuzahlen. |
25 |
SG erhob beim Verwaltungsgericht, Autonome Sektion für die Provinz Bozen, Klage auf Aufhebung dieser Maßnahmen. |
26 |
Nach Ansicht dieses Gerichts wirft diese Rechtssache dieselben Rechtsfragen auf wie die Rechtssache C‑102/21. |
27 |
Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht, Autonome Sektion für die Provinz Bozen, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
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Zur Verbindung der Rechtssachen C‑102/21 und C‑103/21
28 |
Durch Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 17. März 2021 sind die Rechtssachen C‑102/21 und C‑103/21 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamem Urteil verbunden worden. |
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
29 |
Eingangs ist festzustellen, dass die von dem vorlegenden Gericht gestellten Fragen von der Prämisse ausgehen, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilfen staatliche Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen und zudem teilweise mit der Verordnung Nr. 651/2014 in Einklang stehen. Es scheint auch davon auszugehen, dass auf sie nicht die De-minimis-Regel anzuwenden ist, was es zu überprüfen haben wird. |
Zur ersten Frage
30 |
Mit seiner ersten Frage in den Rechtssachen C‑102/21 und C‑103/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die sich aus dem Beschluss der Kommission vom 25. Juli 2012 ergebende Genehmigung der streitigen Beihilferegelung noch in Kraft war, als die Autonome Provinz Bozen Beiträge an KW und SG gewährte (im Folgenden: in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Beihilfen). |
31 |
Im Beschluss der Kommission vom 25. Juli 2012 heißt es unter Punkt 2.2 („Laufzeit und Budget“), dass gemäß der streitigen Beihilferegelung ein Gesamtbetrag von 187,25 Mio. Euro „im Zeitraum 2011–2016“ gewährt werde. Ferner wird in der im Amtsblatt der Europäischen Union vom 4. Jänner 2013 veröffentlichten Zusammenfassung dieses Beschlusses eine „Laufzeit“ dieser Regelung bis zum 31. Dezember 2016 angegeben. |
32 |
Daraus folgt, dass die streitige Beihilferegelung ab dem 1. Jänner 2017 nicht mehr vom Beschluss der Kommission vom 25. Juli 2012 genehmigt war. |
33 |
Des Weiteren geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass diese Beihilferegelung nach diesem Zeitpunkt nicht erneut von der Kommission genehmigt worden ist. |
34 |
Ferner steht fest, dass die Autonome Provinz Bozen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilfen nach dem 31. Dezember 2016 gewährt hat. |
35 |
Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass die sich aus dem Beschluss der Kommission vom 25. Juli 2012 ergebende Genehmigung der streitigen Beihilferegelung nicht mehr in Kraft war, als die Autonome Provinz Bozen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilfen gewährte. |
Zur zweiten Frage
36 |
Mit seiner zweiten Frage in den Rechtssachen C‑102/21 und C‑103/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 20 der Verordnung 2015/1589 dahin auszulegen ist, dass es bei der missbräuchlichen Anwendung von Beihilfen der Kommission obliegt, den Mitgliedstaat aufzufordern, diese zurückzufordern. |
37 |
Wie die Kommission vorgetragen hat, stellen individuelle Beihilfen, die gemäß einer Beihilferegelung nach Ablauf eines Beschlusses der Kommission gewährt werden, mit dem diese Regelung genehmigt wird, keine „missbräuchliche Anwendung von Beihilfen“ im Sinne von Art. 1 Buchst. g der Verordnung 2015/1589 dar. |
38 |
Art. 1 Buchst. g der Verordnung 2015/1589 bezieht sich nämlich auf Situationen, in denen der Empfänger eine Beihilfe unter Verstoß gegen einen Beschluss nach Art. 4 Abs. 3 oder Art. 9 Abs. 3 oder 4 dieser Verordnung oder Art. 4 Abs. 3 oder Art. 7 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 659/1999 verwendet (Beschlüsse, keine Einwände zu erheben, bzw. Positivbeschlüsse bzw. mit Bedingungen und Auflagen verbundene Beschlüsse). |
39 |
Im vorliegenden Fall geht aus der Antwort auf die erste Frage jedoch hervor, dass der Beschluss der Kommission vom 25. Juli 2012 nach dem 31. Dezember 2016 nicht mehr anwendbar war und die in Rede stehende Beihilferegelung nach diesem Zeitpunkt nicht erneut genehmigt wurde. |
40 |
Dieser Umstand genügt für die Feststellung, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilfen von ihren Empfängern nicht missbräuchlich angewendet wurden. |
41 |
Des Weiteren ist der Umstand, dass die streitige Beihilferegelung über den 31. Dezember 2016 hinaus verlängert worden sein soll – wenn man davon ausgeht, dass es sich so verhält –, nicht entscheidend, da mit der Verlängerung einer bestehenden Beihilferegelung eine neue Beihilfe eingeführt wird, die sich von der verlängerten Beihilfe unterscheidet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Dezember 2013, Kommission/Rat, C‑111/10, EU:C:2013:785, Rn. 58). |
42 |
Folglich sind Beihilfen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden als neue Beihilfen anzusehen, die, da sie unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV gewährt wurden, „rechtswidrige Beihilfen“ im Sinne von Art. 1 Buchst. f der Verordnung 2015/1589 darstellen. |
43 |
Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist daher die zweite Frage dahin umzuformulieren, dass sie in Wirklichkeit die Frage betrifft, ob Art. 108 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass es der Kommission obliegt, den Mitgliedstaat aufzufordern, eine rechtswidrige Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. f der Verordnung 2015/1589 zurückzufordern. |
44 |
Insoweit geht aus der ständigen Rechtsprechung hervor, dass das in Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV angeordnete Verbot der Durchführung von Beihilfevorhaben unmittelbare Wirkung hat und dass die unmittelbare Anwendbarkeit des in dieser Bestimmung enthaltenen Durchführungsverbots jede Beihilfemaßnahme betrifft, die durchgeführt wird, ohne dass sie angezeigt worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
45 |
Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass die nationalen Gerichte nach ihrem nationalen Recht sicherstellen müssen, dass sämtliche Konsequenzen aus einer Verletzung von Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV sowohl hinsichtlich der Gültigkeit der Durchführungsakte als auch hinsichtlich der Wiedereinziehung der unter Verletzung dieser Bestimmung gewährten finanziellen Unterstützungen gezogen werden, und dass Gegenstand ihrer Aufgabe somit die Anordnung von Maßnahmen ist, die geeignet sind, der Rechtswidrigkeit der Durchführung der Beihilfen abzuhelfen, damit der Empfänger in der bis zur Entscheidung der Kommission noch verbleibenden Zeit nicht weiterhin frei über sie verfügen kann (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
46 |
Darüber hinaus gilt jede Bestimmung des Unionsrechts, die die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, für alle Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, d. h. nicht nur für die nationalen Gerichte, sondern auch für alle Träger der Verwaltung, einschließlich der dezentralen Stellen, und diese Stellen sind verpflichtet, sie anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. Juni 1989, Costanzo, 103/88, EU:C:1989:256, Rn. 31, und vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 90 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
47 |
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind nämlich sowohl die nationalen Verwaltungsbehörden als auch die nationalen Gerichte, die im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden haben, gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 91 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
48 |
Wenn also eine nationale Stelle feststellt, dass eine Beihilfe unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV gewährt wurde, obliegt es ihr, die rechtswidrig gewährte Beihilfe aus eigener Initiative zurückzufordern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 92). |
49 |
Hinzuzufügen ist, dass in einem solchen Fall der betreffende Mitgliedstaat grundsätzlich nicht daran gehindert ist, die Rückzahlung auf den Teil der Beihilfe zu beschränken, der nicht die in der Verordnung Nr. 651/2014 festgelegten Kriterien erfüllt. |
50 |
Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass den nationalen Gerichten und der Kommission gemäß dem vom Vertrag geschaffenen System der Kontrolle staatlicher Beihilfen einander ergänzende, aber unterschiedliche Rollen zufallen (Urteil vom 2. Mai 2019, A-Fonds, C‑598/17, EU:C:2019:352, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
51 |
Somit kann die Kommission die Rückforderung einer Beihilfe nicht allein wegen ihrer Rechtswidrigkeit anordnen und muss daher ihre Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt vollständig und unabhängig davon prüfen, ob das Verbot der Durchführung ohne vorherige Genehmigung eingehalten wurde oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Februar 1990, Frankreich/Kommission, C‑301/87, EU:C:1990:67, Rn. 17 bis 23), wobei Art. 13 Abs. 2 der Verordnung 2015/1589 ihr allerdings ermöglicht, die vorläufige Rückforderung einer rechtswidrig gezahlten Beihilfe anzuordnen, bis sie über ihre Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt entscheidet. |
52 |
Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 108 Abs. 3 dahin auszulegen ist, dass es nicht der Kommission obliegt, den Mitgliedstaat aufzufordern, eine rechtswidrige Beihilfe im Sinne von Art. 1 Buchst. f der Verordnung 2015/1589 zurückzufordern. |
Zur dritten Frage
53 |
Mit seiner dritten Frage in den Rechtssachen C‑102/21 und C‑103/21 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilfen im Sinne von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, da sie der „Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftsgebiete“ dienen, oder ob sie „den Wettbewerb verfälschen und den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen können“. |
54 |
Aus dem Wortlaut dieser Frage geht allerdings nicht eindeutig hervor, ob das vorlegende Gericht mit der Frage, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilfen „den Wettbewerb verfälschen und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen können“, auf Art. 107 Abs. 1 AEUV abstellt, der das grundsätzliche Verbot staatlicher Beihilfen vorsieht, oder auf Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV, demzufolge Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden können, sofern „sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft“. |
55 |
Jedenfalls lassen sich den dem Gerichtshof in diesen Rechtssachen vorgelegten Akten nicht die tatsächlichen Angaben entnehmen, die erforderlich sind, damit er dem vorlegenden Gericht sachdienliche Hinweise zur Anwendung der in Art. 107 Abs. 1 AEUV vorgesehenen Kriterien hinsichtlich der Verfälschung des Wettbewerbs und der Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten in den Ausgangsverfahren geben kann, da der einzige in der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑102/21 genannte Umstand, wonach der von dem finanzierten kleinen Kraftwerk erzeugte Strom nur für die persönliche Versorgung einer Privatperson verwendet wird, jedenfalls für sich genommen keine Feststellung erlaubt, ob diese Kriterien erfüllt sind oder nicht. |
56 |
Folglich ist diese Frage als unzulässig anzusehen. |
57 |
In Bezug auf Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtfertigung für ein Vorabentscheidungsersuchen nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin liegt, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits über das Unionsrecht erforderlich ist (Urteil vom 3. Oktober 2019, A u. a., C‑70/18, EU:C:2019:823, Rn. 73 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
58 |
Nach ständiger Rechtsprechung sind die nationalen Gerichte indes nicht befugt, darüber zu befinden, ob eine staatliche Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2016, DEI und Kommission/Alouminion tis Ellados, C‑590/14 P, EU:C:2016:797, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
59 |
Für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen mit dem Binnenmarkt ist nämlich ausschließlich die Kommission zuständig, die dabei der Kontrolle der Unionsgerichte unterliegt, während die nationalen Gerichte über die Wahrung der Rechte des Einzelnen bei Verstößen gegen die nach Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV bestehende Verpflichtung wachen, staatliche Beihilfen der Kommission im Voraus zu melden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2019, A-Fonds, C‑598/17, EU:C:2019:352, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
60 |
Somit ist die Frage, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beihilfen nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, für die Entscheidung über die Ausgangsrechtsstreitigkeiten nicht erforderlich und daher als unzulässig anzusehen. |
Kosten
61 |
Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren sind die Verfahren Teil der bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt: |
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Rodin Bonichot Spineanu-Matei Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. April 2022. Der Kanzler A. Calot Escobar Der Präsident der Neunten Kammer S. Rodin |
( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.