URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

18. November 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 – Technische Vorschriften und Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt – Anhang I Anlage 3 Teil A Nrn. 9 und 10 – Ausbildungslehrgänge für die Erteilung einer Lizenz für Berufspiloten – Flugausbildung – Instrumentenbodenzeit – Berechnung – Ausbildung an einem Simulator – Praktische Prüfung – Grundsatz der Rechtssicherheit – Zeitliche Beschränkung der Wirkungen einer Vorabentscheidung“

In der Rechtssache C‑413/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 12. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 2. September 2020, in dem Verfahren

État belge

gegen

LO,

OG,

SH,

MB,

JD,

OP,

Bluetail Flight School SA (BFS)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Neunten Kammer sowie der Richter S. Rodin und N. Piçarra,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von LO, OG, SH, MB, JD und OP, vertreten durch S. Golinvaux, T. Godener und P. Frühling, avocats,

der Bluetail Flight School SA (BFS), vertreten durch J. d’Oultremont, avocat,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Van Regemorter, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von L. Delmotte und B. Van Hyfte, advocaten,

der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und G. Kunnert als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Sasinowska, C. Vrignon und W. Mölls als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Anhang I Anlage 3 Teil A Nrn. 9 und 10 der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 der Kommission vom 3. November 2011 zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt gemäß der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 311, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) 2018/1119 der Kommission vom 31. Juli 2018 (ABl. 2018, L 204, S. 13) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1178/2011) sowie des Grundsatzes der Rechtssicherheit.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem belgischen Staat sowie LO, OG, SH, MB, JD und OP (im Folgenden: ehemalige Flugschüler) und der Bluetail Flight School SA (im Folgenden: BFS) wegen des Anspruchs der ehemaligen Flugschüler auf Erteilung einer Lizenz für Berufspiloten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1178/2011 bestimmt:

„Ziel der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europäischen Agentur für Flugsicherheit, zur Aufhebung der Richtlinie 91/670/EWG des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1592/2002 und der Richtlinie 2004/36/EG (ABl. 2008, L 79, S. 1)] ist die Schaffung und die Aufrechterhaltung eines einheitlichen, hohen Sicherheitsniveaus der Zivilluftfahrt in Europa. Diese Verordnung sieht die zum Erreichen dieses Ziels sowie anderer Ziele auf dem Gebiet der Sicherheit der Zivilluftfahrt notwendigen Mittel vor.“

4

In Art. 1 der Verordnung Nr. 1178/2011 heißt es:

„Diese Verordnung legt Einzelbestimmungen fest für

1.

verschiedene Berechtigungen von Pilotenlizenzen, die Bedingungen für die Ausstellung, Aufrechterhaltung, Änderung, Einschränkung, Aussetzung oder den Widerruf von Lizenzen …;

…“

5

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

1.

‚Teil‑FCL‑Lizenz‘ bezeichnet eine Flugbesatzungslizenz, die den Anforderungen von Anhang I entspricht;

16.

‚zugelassene Ausbildungsorganisation‘ (approved training organisation, ATO) bezeichnet eine Organisation, die berechtigt ist, auf der Grundlage einer nach Artikel 10a Absatz 1 erster Unterabsatz erteilten Zulassung Piloten auszubilden;

…“

6

Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Unbeschadet Artikel 8 der vorliegenden Verordnung haben Piloten von Luftfahrzeugen, auf die in Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben b und c und in Artikel 4 Absatz 5 der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 Bezug genommen wird, die in Anhang I und Anhang IV der vorliegenden Verordnung festgelegten technischen Vorschriften und Verwaltungsverfahren zu erfüllen.“

7

Anhang I („Teil‑FCL“) der Verordnung Nr. 1178/2011 enthält u. a. Abschnitt A („Allgemeine Vorschriften“), der die Punkte FCL.001 bis FCL.070 umfasst.

8

In Punkt FCL.005 („Geltungsbereich“) dieses Anhangs heißt es:

„In diesem Teil sind die Anforderungen für die Erteilung von Pilotenlizenzen und damit verbundenen Berechtigungen und Zeugnisse sowie die Bedingungen für ihre Gültigkeit und Verwendung festgelegt.“

9

Punkt FCL.010 („Begriffsbestimmungen“) dieses Anhangs sieht vor:

„Für die Zwecke dieses Teils gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

‚Flugsimulator (Full Flight Simulator, FFS)‘ bezeichnet eine vollständige Nachbildung eines Cockpits eines bestimmten Typs, einer bestimmten Bauweise, eines bestimmten Modells oder einer bestimmten Serie einschließlich der Ausrüstung und Computerprogramme, die zur Darstellung der Funktionen der Flugzeugsysteme am Boden und im Fluge notwendig sind, und einschließlich eines optischen Systems, das den Blick aus dem Cockpit simuliert, sowie eines Systems zur Simulation auftretender Kräfte.

‚Flugübungsgerät (Flight Training Device, FTD)‘ bezeichnet eine vollständige Nachbildung der Instrumente, Ausrüstung, Konsolen und Bedienelemente eines bestimmten Luftfahrzeugmusters in einem offenen Cockpitbereich oder einem geschlossenen Luftfahrzeug-Cockpit einschließlich der Ausrüstung und Computerprogramme, die zur Darstellung des Flugzeugs am Boden und im Fluge erforderlich sind, im Umfang der im Gerät installierten Systeme. Nicht erforderlich ist ein System zur Simulation von Kräften oder ein optisches System, außer bei Hubschrauber-FTD der Ebene 2 und 3, für die optische Systeme erforderlich sind.

‚Flug- und Navigationsverfahrentrainer (Flight and Navigation Procedures Trainer, FNPT)‘ bezeichnet ein Übungsgerät, das die Cockpit-Umgebung nachbildet, einschließlich der Ausrüstung und Computerprogramme, die erforderlich sind, um ein(e) sich im Flugbetrieb befindliche(s) Flugzeugmuster oder Flugzeugklasse so nachzubilden, dass die Systeme wie in einem Luftfahrzeug zu arbeiten scheinen.

‚Instrumentenflugzeit‘ bezeichnet die Zeit, während der ein Pilot ein fliegendes Luftfahrzeug ausschließlich unter Verwendung von Instrumenten steuert.

‚Instrumentenbodenzeit‘ bezeichnet die Zeit, während der ein Pilot im simulierten Instrumentenflug in Flugsimulationstrainingsgeräten (Flight Simulation Training Devices, FSTD) ausgebildet wird.

‚Instrumentenzeit‘ bezeichnet Instrumentenflugzeit oder Instrumentenbodenzeit.

‚Zusammenarbeit einer mehrköpfigen Besatzung (Multi-crew cooperation, MCC)‘ bezeichnet die Funktionsweise der Flugbesatzung als Team zusammenarbeitender Mitglieder unter Führung des verantwortlichen Piloten.

‚Verantwortlicher Pilot (Pilot-in-Command, PIC)‘ bezeichnet den Piloten, dem das Kommando übertragen wurde und der mit der sicheren Durchführung des Fluges beauftragt ist.

‚Praktische Prüfung‘ bezeichnet den Nachweis der Befähigung für die Erteilung einer Lizenz oder Berechtigung, gegebenenfalls einschließlich einer entsprechenden mündlichen Prüfung.

‚Verantwortlicher Pilot in Ausbildung (Student Pilot-in-Command, SPIC)‘ bezeichnet einen Flugschüler, der bei einem Flug mit einem Lehrberechtigten als verantwortlicher Pilot handelt, wobei der Lehrberechtigte den Flugschüler nur beobachtet und keinen Einfluss auf den Flug des Luftfahrzeugs nimmt oder diesen kontrolliert.

…“

10

In Punkt FCL.030 („Praktische Prüfung“) dieses Anhangs heißt es:

„a)

Vor Ablegung einer praktischen Prüfung für die Erteilung einer Lizenz, einer Berechtigung oder eines Zeugnisses muss der Bewerber die Prüfung der theoretischen Kenntnisse bestanden haben, es sei denn, er hat einen Kurs für durchgehende Flugausbildung absolviert.

In jedem Fall muss immer erst die theoretische Ausbildung abgeschlossen sein, bevor die praktischen Prüfungen abgelegt werden.

b)

Außer bei der Erteilung einer Lizenz für Verkehrspiloten muss derjenige, der eine praktische Prüfung ablegen möchte, nach Abschluss der Ausbildung von der Organisation/Person, die für die Ausbildung verantwortlich ist, für die Prüfung empfohlen werden. Die Schulungsaufzeichnungen müssen dem Prüfer vorgelegt werden.“

11

In Anhang I Anlage 3 Nr. 1 der Verordnung Nr. 1178/2011 werden „die Anforderungen für die verschiedenen Ausbildungsgänge für die Erteilung einer CPL und einer ATPL [airline transport pilot licence] mit und ohne IR [Instrumentenflugberechtigung]“ beschrieben.

12

Teil A dieser Anlage („Integrierter ATP-Lehrgang – Flugzeuge“) enthält die folgende Passage:

„ALLGEMEINES

4.

Der Lehrgang muss Folgendes umfassen:

a)

theoretischen Unterricht bis auf ATPL(A)-Kenntnisstand;

b)

Ausbildung in Sicht- und Instrumentenflug und

c)

Ausbildung in MCC für den Betrieb von Flugzeugen mit mehreren Piloten.

FLUGAUSBILDUNG

9.

Die Flugausbildung ohne die Ausbildung für die Musterberechtigung muss mindestens 195 Stunden umfassen und alle Fortschrittsprüfungen beinhalten, von denen bis zu 55 Stunden für den gesamten Lehrgang Instrumentenbodenzeit sein können. Innerhalb der insgesamt 195 Stunden müssen Bewerber mindestens Folgendes absolvieren:

a)

95 Stunden Ausbildung mit einem Lehrberechtigten, wovon bis zu 55 Stunden Instrumentenbodenzeit sein dürfen;

b)

70 Stunden als PIC einschließlich [Visual Flight Rule (VFR)]-Flug- und Instrumentenflug-Ausbildungszeit als verantwortlicher Pilot (Student Pilot‑in‑Command, SPIC). Die Instrumentenflugzeit als SPIC kann nur bis zu höchstens 20 Stunden als PIC‑Flugzeit gerechnet werden;

c)

50 Stunden Überlandflug als PIC einschließlich eines VFR‑Überlandflugs von mindestens 540 km (300 NM), wobei Landungen bis zum vollständigen Stillstand auf 2 anderen Flugplätzen als dem Startflugplatz durchgeführt werden müssen;

d)

5 Flugstunden müssen bei Nacht absolviert werden; diese umfassen 3 Stunden Ausbildung mit einem Lehrberechtigten, die mindestens 1 Stunde Überlandflug-Navigation und 5 Alleinstarts und 5 Alleinlandungen bis zum vollständigen Stillstand einschließen müssen; und

e)

115 Stunden Instrumentenflugzeit, die mindestens Folgendes beinhalten müssen:

(1)

20 Stunden als SPIC;

(2)

15 Stunden MCC, wofür ein FFS oder ein FNPT II verwendet werden kann;

(3)

50 Stunden Instrumentenflug-Ausbildung, wovon bis zu:

i)

25 Stunden Instrumentenbodenzeit in einem FNPT I sein können, oder

ii)

40 Stunden Instrumentenbodenzeit in einem FNPT II, FTD 2 oder FFS sein können, wovon bis zu 10 Stunden in einem FNPT I durchgeführt werden können.

Einem Bewerber, der Inhaber eines Zeugnisses über den Abschluss des Instrumentenflug-Grundmoduls ist, werden bis zu 10 Stunden auf die erforderliche Instrumentenausbildungszeit angerechnet. In einem [Übungsgerät für die Grundlagen des Instrumentenflugs (Basic Instrument Training Device – BITD)] absolvierte Stunden werden nicht angerechnet.

f)

5 Stunden müssen in einem für die Beförderung von mindestens 4 Personen zugelassenen Flugzeug mit Verstellpropeller und Einziehfahrwerk durchgeführt werden.

PRAKTISCHE PRÜFUNG

10.

Nach Abschluss der entsprechenden Flugausbildung muss der Bewerber die praktische CPL(A)‑Prüfung entweder auf einem einmotorigen oder einem mehrmotorigen Flugzeug und die praktische IR‑Prüfung auf einem mehrmotorigen Flugzeug ablegen.“

Belgisches Recht

13

Art. 1 des Königlichen Erlasses vom 25. Oktober 2013 zur Durchführung der [Verordnung Nr. 1178/2011] (Moniteur belge vom 16. Dezember 2013, S. 98879) bestimmt:

„Für die Zwecke der Anwendung des vorliegenden Erlasses bezeichnet der Ausdruck

Nr. 12 DGTA: Generaldirektion Luftverkehr des FÖD Mobilität und Verkehr;

…“

14

Art. 4 dieses Königlichen Erlasses sieht vor:

„Die DGTA wird als zuständige Behörde im Sinne von Art. 11b der [Verordnung Nr. 1178/2011] benannt.“

15

Art. 5 dieses Königlichen Erlasses bestimmt:

„Die DGTA wird als zuständige Behörde im Sinne von FCL.001 des Anhangs I der [Verordnung Nr. 1178/2011] benannt.“

16

Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts im Vorabentscheidungsersuchen besitzt die DGTA keine vom belgischen Staat getrennte Rechtspersönlichkeit.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt begannen die ehemaligen Flugschüler mit einer Flugausbildung bei der BFS, einer von der DGTA zugelassenen Ausbildungsorganisation, deren Ausbildungshandbücher für die Jahre 2014 und 2016 von der DGTA genehmigt wurden. Diese Ausbildung sollte es ihnen ermöglichen, die Lizenz für Berufspiloten, die sogenannte CPL(A) (Commercial Pilot Licence [Airplane]) zu erlangen.

18

Nachdem sie die in Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 10 der Verordnung Nr. 1178/2011 vorgesehene praktische Prüfung bestanden hatten, stellten die ehemaligen Flugschüler mit Ausnahme von OP Ende 2018 bei der DGTA einen Antrag auf Erteilung der CPL(A)‑Lizenz.

19

Jeweils mit Bescheid vom 15. Januar 2019 verweigerte die DGTA den ehemaligen Flugschülern die Erteilung der beantragten Lizenz. Nachdem der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) diese Bescheide im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ausgesetzt und die DGTA sie zurückgenommen hatte, übermittelte diese Behörde den ehemaligen Flugschülern mit Ausnahme von OP am 22. Februar 2019 erneut jeweils einen ablehnenden Bescheid.

20

Im Bescheid vom 22. Februar 2019 stellte die DGTA fest, dass die Anzahl der von den ehemaligen Flugschülern absolvierten Stunden Instrumentenflugzeit unter den nach Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e der Verordnung Nr. 1178/2011 erforderlichen 115 Stunden liege. Die in einem FNPT II absolvierten Stunden, die über die in dieser Nr. 9 Satz 1 festgelegte Höchstanzahl von 55 Stunden hinausgingen, könnten nämlich bei der Berechnung der in Nr. 9 Buchst. e vorgesehenen Mindestanforderung von 115 Stunden Instrumentenflugzeit nicht berücksichtigt werden.

21

Der Präsident des Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien), bei dem die ehemaligen Flugschüler mit Ausnahme von OP vorläufigen Rechtsschutz beantragt hatten, gab der DGTA am 18. April 2019 auf, ihnen die CPL(A)‑Lizenz zu erteilen. Dieser Beschluss, der von der DGTA durchgeführt wurde, wurde am8. August 2019 von der Cour d’appel de Bruxelles (Berufungsgericht Brüssel, Belgien) bestätigt, wobei diese u. a. feststellte, dass sich die DGTA auf eine neue, noch nicht etablierte Auslegung der in Rede stehenden Regelung gestützt habe.

22

In der Zwischenzeit, und zwar am 31. Mai 2019, erhob der belgische Staat vor dem Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen die ehemaligen Flugschüler mit Ausnahme von OP sowie gegen die BFS u. a. mit dem Antrag, die ehemaligen Flugschüler zur Rückgabe der ihnen gemäß dem Beschluss vom 18. April 2019 erteilten CPL(A)‑Lizenzen zu verurteilen. Nachdem die DGTA OP später eine vorläufige CPL(A)‑Lizenz erteilt hatte, wurde auch gegen ihn vor diesem Gericht mit Klageschrift vom 20. Dezember 2019 eine Klage mit demselben Antrag erhoben.

23

Nach Ansicht des belgischen Staates müssen die ehemaligen Flugschüler ihre Ausbildung durch Instrumentenflugzeit in einem Flugzeug ergänzen und anschließend erneut die praktische Prüfung ablegen. Die ehemaligen Flugschüler und die BFS sind gegenteiliger Ansicht.

24

Unter diesen Umständen hat das Tribunal de première instance francophone de Bruxelles (französischsprachiges Gericht erster Instanz Brüssel, Belgien) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1)

Gestattet es Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 der Verordnung Nr. 1178/2011, zur Berechnung der in Nr. 9 Buchst. e festgelegten 115 Stunden Instrumentenflugzeit die an einem FNPT‑II‑Flugsimulator absolvierten Ausbildungsstunden (Instrumentenbodenzeit) zusätzlich zu den in Nr. 9 Buchst. e Nr. 2 vorgesehenen 15 Stunden MCC sowie zusätzlich zur in Nr. 9 Buchst. e Nr. 3 Ziff. ii festgelegten Höchstanzahl von 40 Stunden Instrumentenflug‑Ausbildung in einem FNPT II, d. h. mehr als 55 Stunden Instrumentenbodenzeit, zu berücksichtigen?

2)

Ändert sich die Antwort auf die erste Vorlagefrage, wenn es sich bei den zusätzlich zu den oben genannten absolvierten 15 und 40 Stunden um MCC‑Stunden oder eine andere Art von Ausbildung an einem Simulator handelt?

3)

Für den Fall, dass die beiden vorstehenden Fragen zu verneinen sind, gestattet Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 10 dieser Verordnung die Erteilung einer CPL(A)‑Lizenz, nachdem die Bewerber ihre Ausbildung mit einer ausreichenden Anzahl von in einem Flugzeug absolvierten Stunden abgeschlossen haben, ohne dass die praktische Prüfung (Skill Test) hinsichtlich des Instrumentenflugs zu wiederholen ist?

4)

Für den Fall, dass die drei vorstehenden Fragen zu verneinen sind, verpflichtet der allgemeine Grundsatz der Rechtssicherheit dazu, die Auslegung der in Rede stehenden Rechtsvorschrift durch den Gerichtshof zeitlich zu begrenzen, z. B. dahin, dass diese Vorschrift nur auf Bewerber angewandt werden darf, die erst nach dem Urteil des Gerichtshofs eine CPL(A)‑Lizenz beantragen oder sogar erst nach diesem Urteil ihre Ausbildung zur Erlangung einer solchen Lizenz beginnen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten und zur zweiten Frage

25

Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e der Verordnung Nr. 1178/2011 dahin auszulegen ist, dass es möglich ist, für die in dieser Bestimmung vorgesehenen 115 Stunden Instrumentenflugzeit mehr als 55 Stunden Instrumentenbodenzeit anzurechnen, also mehr als die 40 Stunden Instrumentenflug‑Ausbildung und die 15 Stunden für am Boden absolvierte Zusammenarbeit einer mehrköpfigen Besatzung.

26

Bei der Auslegung einer Unionsvorschrift sind nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 12. Oktober 2017, Tigers, C‑156/16, EU:C:2017:754, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Anhang I Anlage 3 Teil A der Verordnung Nr. 1178/2011 enthält eine Auflistung der Ausbildungslehrgänge, die für die Erteilung einer CPL(A)‑Lizenz und einer Instrumentenflugberechtigung erforderlich sind. Nach Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 4 dieser Verordnung müssen diese Lehrgänge theoretischen Unterricht und eine praktische Ausbildung, eine sogenannte „Flugausbildung“, umfassen.

28

Der Inhalt der Flugausbildung ist in Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 dieser Verordnung geregelt.

29

Gemäß dieser Bestimmung umfasst diese Ausbildung „mindestens 195 Stunden … und [beinhaltet] alle Fortschrittsprüfungen …, von denen bis zu 55 Stunden für den gesamten Lehrgang Instrumentenbodenzeit sein können“. In den Buchst. a bis f dieser Bestimmung sind sodann die Stunden und die Art der Lehrgänge aufgeführt, die die Bewerber im Rahmen dieser 195 Stunden „mindestens“ zu absolvieren haben.

30

Dazu gehört gemäß Buchst. e die Anforderung, mindestens „115 Stunden Instrumentenflugzeit“ zu absolvieren.

31

Nach Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e Nrn. 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1178/2011 müssen diese 115 Stunden Instrumentenflugzeit ihrerseits „mindestens“ Folgendes beinhalten: erstens 20 Stunden als verantwortlicher Pilot in Ausbildung, zweitens 15 Stunden Zusammenarbeit einer mehrköpfigen Besatzung, wofür ein FFS oder ein FNPT II verwendet werden kann, und drittens 50 Stunden Instrumentenflug-Ausbildung, wovon „bis zu“ 25 Stunden Instrumentenbodenzeit in einem FNPT I sein können oder 40 Stunden Instrumentenbodenzeit in einem FNPT II, FTD 2 oder FFS sein können (wovon bis zu 10 Stunden in einem FNPT I durchgeführt werden können).

32

Was erstens die wörtliche Auslegung von Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e der Verordnung Nr. 1178/2011 betrifft, ist festzustellen, dass die Verwendung des Ausdrucks „mindestens“ darauf hindeutet, dass sowohl die 115 Stunden Instrumentenflugzeit als auch die 20 Stunden als verantwortlicher Pilot in Ausbildung, die 15 Stunden Zusammenarbeit einer mehrköpfigen Besatzung und die 50 Stunden Instrumentenflug‑Ausbildung Mindestanforderungen darstellen. Der Umstand, dass die Summe dieser 20, 15 und 50 Stunden unter den erforderlichen 115 Stunden Instrumentenflugzeit liegt, bestätigt die Erwägung, dass es sich bei diesen 20, 15 und 50 Stunden um Mindestanforderungen handelt, was bedeutet, dass sie durch zusätzliche Ausbildungsstunden zu ergänzen sind, um die erforderlichen 115 Stunden Instrumentenflugzeit zu erreichen.

33

Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht im Licht der Definition des Begriffs „Instrumentenzeit“ in Punkt FCL.010 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 außerdem hervor, dass die erforderlichen 115 Stunden Instrumentenflugzeit zum einen als „Instrumentenflugzeit“, während der ein Pilot ein fliegendes Luftfahrzeug ausschließlich unter Verwendung von Instrumenten steuert, und zum anderen als „Instrumentenbodenzeit“, während der ein Pilot im simulierten Instrumentenflug in Flugsimulationstrainingsgeräten (d. h. in einem FFS, einem FNPT oder einem FTD) ausgebildet wird, verstanden werden können.

34

Hierzu geht aus dem Wortlaut von Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e Nr. 2 der Verordnung Nr. 1178/2011 hervor, dass die 15 Stunden Zusammenarbeit einer mehrköpfigen Besatzung vollständig am Boden in einem FFS oder in einem FNPT II absolviert werden können. Angesichts dieses Wortlauts, der Erwägungen in Rn. 32 des vorliegenden Urteils und des Fehlens jeglicher gegenteiligen Hinweise in dieser Bestimmung und in dieser Verordnung ist festzustellen, dass ein Bewerber nicht nur mehr als 15 Stunden Zusammenarbeit einer mehrköpfigen Besatzung, sondern grundsätzlich auch die übrigen Stunden am Boden absolvieren kann. Somit ist es folglich grundsätzlich möglich, mehr als 15 Stunden Instrumentenbodenzeit anzurechnen.

35

Was hingegen die Instrumentenflug-Ausbildung betrifft, geht aus dem Wortlaut von Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e Nr. 3 der Verordnung Nr. 1178/2011 und insbesondere aus der Verwendung des Ausdrucks „bis zu“ eindeutig hervor, dass der Bewerber zwar mindestens 50 Stunden Instrumentenflug‑Ausbildung absolvieren muss, er aber nicht mehr als 40 dieser Stunden am Boden in einem FNPT II, einem FTD 2 oder einem FFS absolvieren kann. Daraus folgt, dass die am Boden absolvierten Stunden Instrumentenflug‑Ausbildung, die über diese 40 Stunden hinausgehen, bei der Berechnung der erforderlichen Ausbildungsstunden nicht berücksichtigt werden können.

36

Zweitens ist im Zusammenhang mit der Bestimmung in Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e Nrn. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1178/2011 darauf hinzuweisen, dass – wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils festgestellt – in dieser Nr. 9, zu der diese Bestimmung gehört, festgelegt ist, dass die Flugausbildung „mindestens 195 Stunden umfassen [muss] …, von denen bis zu 55 Stunden für den gesamten Lehrgang Instrumentenbodenzeit sein können“.

37

Daraus folgt eindeutig, dass sich ein Bewerber nicht mehr als 55 Stunden Instrumentenbodenzeit anrechnen lassen darf, um die Gesamtstundenzahl seiner Flugausbildung zu vervollständigen. Mit anderen Worten können etwaige über diese 55 Stunden hinausgehende Stunden Instrumentenbodenzeit bei der Berechnung der absolvierten Ausbildungsstunden nicht berücksichtigt werden, um die insgesamt erforderlichen 195 Stunden zu erreichen.

38

Somit kann Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e Nrn. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1178/2011 nicht dahin ausgelegt werden, dass mehr als 55 Stunden Instrumentenbodenzeit berücksichtigt werden dürfen. Dem stehen die Systematik und die innere Widerspruchsfreiheit dieser Nr. 9 entgegen.

39

Folglich kann sich ein Bewerber, wenn er, wie es ihm Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e Nr. 3 Ziff. ii der Verordnung Nr. 1178/2011 gestattet, 40 Ausbildungsstunden Instrumentenbodenzeit absolviert hat, gemäß Nr. 9 Buchst. e Nr. 2 höchstens 15 Stunden Zusammenarbeit einer mehrköpfigen Besatzung am Boden anrechnen lassen.

40

Dagegen kann sich ein Bewerber, der weniger als 40 Ausbildungsstunden Instrumentenbodenzeit absolviert hat, mehr als 15 Stunden Zusammenarbeit einer mehrköpfigen Besatzung am Boden anrechnen lassen, sofern er in seiner Ausbildung insbesondere nicht die Höchstanzahl von 55 Stunden Instrumentenbodenzeit für den gesamten Lehrgang überschreitet.

41

Entgegen dem Vorbringen der ehemaligen Flugschüler und der BFS in ihren schriftlichen Erklärungen wird durch diese Auslegung von Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e Nr. 2 der Verordnung Nr. 1178/2011 die darin enthaltene Mindestanforderung nicht in eine Obergrenze umgedeutet.

42

Drittens wird die Auslegung, dass sich ein Bewerber gemäß Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e der Verordnung Nr. 1178/2011 nicht mehr als 55 Stunden Instrumentenbodenzeit anrechnen lassen darf, durch den mit dieser Verordnung verfolgten Zweck bestätigt.

43

Diese Verordnung fügt sich nämlich, wie aus ihrem ersten Erwägungsgrund hervorgeht, in einen Regelungskomplex ein, der die Sicherheit der Zivilluftfahrt gewährleisten soll.

44

Dieses Ziel erfordert, dass jeder Bewerber tatsächliche Flugerfahrung erwirbt, indem er in einem Flugzeug eine beträchtliche Anzahl von Ausbildungsstunden unter realen Bedingungen absolviert. Die Ausbildung am Boden stellt zwar eine Ergänzung zur Flugausbildung dar, kann diese jedoch nicht ersetzen.

45

Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e der Verordnung Nr. 1178/2011 dahin auszulegen ist, dass es bei der Berechnung der in dieser Bestimmung vorgesehenen 115 Stunden Instrumentenflugzeit nicht möglich ist, mehr als 55 Stunden Instrumentenbodenzeit anzurechnen.

Zur dritten Frage

46

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 10 der Verordnung Nr. 1178/2011 dahin auszulegen ist, dass einem Bewerber, wenn er die praktische Prüfung abgelegt hat, bevor er sämtliche erforderlichen Ausbildungsstunden absolviert hat, die CPL(A)‑Lizenz erteilt werden kann, sobald er seine Ausbildung abgeschlossen hat, ohne dass er die entsprechende praktische Prüfung erneut ablegen muss.

47

Gemäß Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 10 der Verordnung Nr. 1178/2011 „[muss der Bewerber n]ach Abschluss der entsprechenden Flugausbildung … die praktische … Prüfung … ablegen“.

48

Der Wortlaut dieser Bestimmung sieht somit – u. a. in der deutschen („[n]ach Abschluss“), der spanischen („[t]ras la finalización“), der französischen („[à] l’issue“), der italienischen („[i]n seguito al completamento“) oder der englischen („[u]pon completion“) Fassung – ausdrücklich vor, dass ein Bewerber die praktische Prüfung erst nach Absolvierung der Flugausbildung ablegen kann.

49

Eine andere Auslegung lässt sich weder aus der Definition der praktischen Prüfung in Punkt FCL.010 des Anhangs I der Verordnung Nr. 1178/2011 noch aus den allgemeinen Anforderungen hinsichtlich dieser Prüfung in Punkt FCL.030 dieses Anhangs ableiten. Diese enthalten nämlich keinen Anhaltspunkt, aus dem klar abgeleitet werden könnte, dass die praktische Prüfung vor Absolvierung sämtlicher Flugausbildungsstunden abgelegt werden kann.

50

Daraus folgt, dass ein Bewerber, der die praktische Prüfung abgelegt hat, bevor er die erforderliche Anzahl von Ausbildungsstunden absolviert hat, nicht nur seine Ausbildung vervollständigen, sondern auch die am Ende einer vollständigen Ausbildung stehende praktische Prüfung wiederholen muss.

51

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 10 der Verordnung Nr. 1178/2011 dahin auszulegen ist, dass einem Bewerber, wenn er die praktische Prüfung abgelegt hat, bevor er sämtliche erforderlichen Ausbildungsstunden absolviert hat, die CPL(A)‑Lizenz erst dann erteilt werden kann, wenn er seine Ausbildung abgeschlossen und die entsprechende praktische Prüfung erneut abgelegt hat.

Zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des vorliegenden Urteils

52

In Anbetracht der Antworten auf die Fragen 1 bis 3 ist über die vom vorlegenden Gericht im Rahmen seiner vierten Frage geäußerten Bedenken zu entscheiden, ob die Wirkungen des vorliegenden Urteils zeitlich beschränkt werden können.

53

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden können und müssen, die vor dem Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung der Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Nur ganz ausnahmsweise kann der Gerichtshof aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass weder das Vorabentscheidungsersuchen noch die beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen einen Anhaltspunkt dafür enthalten, dass die vom Gerichtshof im vorliegenden Urteil vorgenommene Auslegung die Gefahr schwerwiegender Störungen nach sich zieht, da keine genauen Angaben dazu gemacht werden, wie viele im guten Glauben begründete Rechtsverhältnisse von dieser Auslegung betroffen sein könnten.

56

Diese Beurteilung wird nicht durch das Vorbringen der ehemaligen Flugschüler und der BFS in ihren schriftlichen Erklärungen in Frage gestellt, dass die Antworten auf die Fragen 1 bis 3 notwendigerweise und automatisch zum rückwirkenden Entzug sämtlicher in allen Mitgliedstaaten nach einer nicht vorschriftsgemäßen Ausbildung erteilten CPL(A)‑Lizenzen führen würden.

57

Dieses Vorbringen scheint nämlich auf der Annahme zu beruhen, dass durch bestandskräftige Entscheidungen erteilte CPL(A)‑Lizenzen entzogen werden müssten. Unbeschadet der in Rn. 53 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit nicht verlangt, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet ist, eine Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen, die nach Ablauf angemessener Fristen oder durch Erschöpfung des Rechtswegs bestandskräftig geworden ist. Durch die Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit lässt sich verhindern, dass Handlungen der Verwaltung, die Rechtswirkungen entfalten, unbegrenzt in Frage gestellt werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz, C‑453/00, EU:C:2004:17, Rn. 22 und 24, und vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél‑alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 186 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Unter diesen Umständen ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, wodurch eine Ausnahme von dem Grundsatz gerechtfertigt werden könnte, dass ein Auslegungsurteil seine Wirkungen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift entfaltet.

59

Nach alledem sind die Wirkungen des vorliegenden Urteils zeitlich nicht zu beschränken.

60

Überdies ist, um dem vorlegenden Gericht eine vollständige Antwort zu geben, zu ergänzen, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts und der wirksame Schutz der dem Einzelnen nach dem Unionsrecht zustehenden Rechte gegebenenfalls durch den dem System der Verträge, auf denen die Union beruht, innewohnenden Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, gewährleistet werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 20, 39 und 52, und vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 54).

Kosten

61

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 9 Buchst. e der Verordnung (EU) Nr. 1178/2011 der Kommission vom 3. November 2011 zur Festlegung technischer Vorschriften und von Verwaltungsverfahren in Bezug auf das fliegende Personal in der Zivilluftfahrt gemäß der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates in der durch die Verordnung (EU) 2018/1119 der Kommission vom 31. Juli 2018 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass es bei der Berechnung der in dieser Bestimmung vorgesehenen 115 Stunden Instrumentenflugzeit nicht möglich ist, mehr als 55 Stunden Instrumentenbodenzeit anzurechnen.

 

2.

Anhang I Anlage 3 Teil A Nr. 10 der Verordnung Nr. 1178/2011 in der durch die Verordnung 2018/1119 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass einem Bewerber, wenn er die praktische Prüfung abgelegt hat, bevor er sämtliche erforderlichen Ausbildungsstunden absolviert hat, die CPL(A)‑Lizenz erst dann erteilt werden kann, wenn er seine Ausbildung abgeschlossen und die entsprechende praktische Prüfung erneut abgelegt hat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.