URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

16. November 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Nationale Regelung, nach der der Justizminister befugt ist, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung zu beenden – Spruchkörper in Strafsachen, denen vom Justizminister abgeordnete Richter angehören – Richtlinie (EU) 2016/343 – Unschuldsvermutung“

In den verbundenen Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19

betreffend sieben Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidungen vom 2. September 2019 (C‑749/19), vom 16. September 2019 (C‑748/19), vom 23. September 2019 (C‑750/19 und C‑754/19), vom 10. Oktober 2019 (C‑751/19) und vom 15. Oktober 2019 (C‑752/19 und C‑753/19), beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2019, in den Strafverfahren gegen

WB (C-748/19),

XA,

YZ (C-749/19),

DT (C-750/19),

ZY (C-751/19),

AX (C-752/19),

BV (C-753/19),

CU (C-754/19),

Beteiligte:

Prokuratura Krajowa,

vormals

Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim (C‑748/19),

Prokuratura Rejonowa Warszawa-Żoliborz w Warszawie (C‑749/19),

Prokuratura Rejonowa Warszawa-Wola w Warszawie (C‑750/19, C‑753/19 und C‑754/19),

Prokuratura Rejonowa w Pruszkowie (C‑751/19),

Prokuratura Rejonowa Warszawa-Ursynów w Warszawie (C‑752/19),

und Pictura sp. z o.o. (C‑754/19),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin und I. Jarukaitis (Berichterstatter), der Richter J.‑C. Bonichot, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi und des Richters A. Kumin,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim, vertreten durch J. Ziarkiewicz, Staatsanwalt der Region Lublin,

der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Żoliborz w Warszawie, der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Wola w Warszawie, der Prokuratura Rejonowa w Pruszkowie und der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Ursynów w Warszawie, vertreten durch A. Szeliga und F. Wolski, Staatsanwälte der Region Warschau,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. J. O. Van Nuffel, R. Troosters und H. Krämer als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Mai 2021

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und von Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) in Verbindung mit deren 22. Erwägungsgrund.

2

Sie ergehen in Strafverfahren gegen WB (C‑748/19), XA und YZ (C‑749/19), DT (C‑750/19), ZY (C‑751/19), AX (C‑752/19), BV (C‑753/19) und CU (C‑754/19).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 heißt es:

„Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person, läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. Derartige Vermutungen sollten unter Berücksichtigung der Bedeutung der betroffenen Belange und unter Wahrung der Verteidigungsrechte auf ein vertretbares Maß beschränkt werden, und die eingesetzten Mittel sollten in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten legitimen Ziel stehen. Diese Vermutungen sollten widerlegbar sein und sollten in jedem Fall nur angewendet werden, wenn die Verteidigungsrechte gewahrt sind.“

4

Art. 6 („Beweislast“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Strafverfolgungsbehörde liegt. Dies gilt unbeschadet einer Verpflichtung des Richters oder des zuständigen Gerichts, sowohl belastende als auch entlastende Beweise zu ermitteln, und unbeschadet des Rechts der Verteidigung, gemäß dem geltenden nationalen Recht Beweismittel vorzulegen.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jeglicher Zweifel hinsichtlich der Frage der Schuld dem Verdächtigen oder der beschuldigten Personen zugutekommt, einschließlich in Fällen, wenn das Gericht prüft, ob die betreffende Person freigesprochen werden sollte.“

Polnisches Recht

Gesetz über die Staatsanwaltschaft

5

Nach Art. 1 § 2 der Ustawa Prawo o prokuraturze (Gesetz über die Staatsanwaltschaft) vom 28. Januar 2016 (Dz. U. 2016, Pos. 177) in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung ist der Generalstaatsanwalt der erste Beamte der Staatsanwaltschaft; das Amt des Generalstaatsanwalts wird vom Justizminister ausgeübt.

6

Nach Art. 13 § 2 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft unterstehen dem Generalstaatsanwalt die Staatsanwälte der ordentlichen Gerichtsbarkeit und die Staatsanwälte des Instytut Pamięci Narodowej (Institut des Nationalen Gedenkens, Polen).

Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit

7

Nach Art. 47a § 1 der Ustawa Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit) vom 27. Juli 2001 in der auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (Dz. U. 2019, Pos. 52) (im Folgenden: Gesetz über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit) werden die Rechtssachen den Berufs- und den ehrenamtlichen Richtern im Losverfahren zugeteilt.

8

Nach Art. 47b § 1 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist eine Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers nur dann zulässig, wenn die Behandlung der Rechtssache in der gegebenen Besetzung unmöglich ist oder ihr ein dauerhaftes Hindernis entgegensteht. Für die Neuzuweisung der Rechtssache gilt in solchen Fällen Art. 47a des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Nach Art. 47b § 3 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit wird die Entscheidung über die Änderung der Besetzung eines Spruchkörpers vom Präsidenten des Gerichts oder von einem von diesem hierzu ermächtigten Richter getroffen.

9

Art. 77 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestimmt:

„§ 1.   Der Justizminister kann einen Richter mit dessen Zustimmung zur Wahrnehmung richterlicher oder administrativer Aufgaben abordnen

1.

unter Berücksichtigung der sachgerechten Verwendung des Personals der ordentlichen Gerichtsbarkeit und des je nach der Arbeitsbelastung der verschiedenen Gerichte bestehenden Bedarfs an ein anderes Gericht gleicher oder niederer Ordnung, in besonders begründeten Fällen auch an ein Gericht höherer Ordnung

für eine bestimmte Dauer, die zwei Jahre nicht überschreiten darf, oder auf unbestimmte Dauer.

§ 4.   Wird ein Richter gemäß § 1 Nrn. 2, 2a und 2b auf unbestimmte Dauer abgeordnet, kann die Abordnung beendet werden und kann der betreffende Richter auf die Abordnung verzichten; dabei ist jeweils eine Frist von drei Monaten einzuhalten. In den übrigen Fällen der Abordnung eines Richters ist bei der Beendigung der Abordnung oder dem Verzicht auf die Abordnung keine Frist einzuhalten.“

10

Nach Art. 112 § 3 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit ernennt der Justizminister den Rzecznik Dyscyplinarny Sędziów Sądów Powszechnych (Disziplinarbeauftragter der Richter der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Polen) (im Folgenden: Disziplinarbeauftragter) und seine beiden Stellvertreter für eine Amtszeit von vier Jahren, die verlängert werden kann. Im polnischen Recht ist nicht geregelt, nach welchen Kriterien der Disziplinarbeauftragte und seine beiden Stellvertreter zu ernennen sind.

Strafprozessordnung

11

Art. 29 § 1 des Kodeks postępowania karnego (Strafprozessordnung) bestimmt:

„In Verhandlungen über Berufungen und Kassationsbeschwerden entscheidet das Gericht in einer Besetzung mit drei Richtern, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.“

12

Nach Art. 519 der Strafprozessordnung kann gegen die das Verfahren beendende endgültige Entscheidung des Berufungsgerichts Kassationsbeschwerde eingelegt werden.

13

Art. 439 § 1 der Strafprozessordnung bestimmt:

„Das Berufungsgericht hebt die angefochtene Entscheidung in der Verhandlung unabhängig davon, inwieweit diese angefochten wurde und welche Gründe geltend gemacht werden, und unabhängig davon, inwieweit sich die Rechtsverletzung auf den Inhalt der Entscheidung auswirkt, auf, wenn

1.

bei der Entscheidung eine Person mitgewirkt hat, die hierzu nicht berufen oder nicht in der Lage oder gemäß Art. 40 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war;

2.

das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war oder ein Mitglied des Gerichts nicht während der gesamten mündlichen Verhandlung anwesend war;

…“

14

Nach Art. 523 § 1 der Strafprozessordnung kann eine Kassationsbeschwerde nur auf die in Art. 439 der Strafprozessordnung genannten Mängel oder auf eine andere offenkundige Rechtsverletzung, die sich maßgeblich auf den Inhalt der Entscheidung ausgewirkt haben kann, gestützt werden.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15

Die Vorabentscheidungsersuchen wurden vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) in Verfahren betreffend sieben Strafsachen, die der X. Berufungskammer in Strafsachen dieses Gerichts zugewiesen sind, eingereicht.

16

Als Erstes fragt sich das vorlegende Gericht, ob die Besetzung der Spruchkörper, die über diese Strafsachen zu entscheiden haben, mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vereinbar ist, da den Spruchkörpern ein Richter angehört, der mit einer Entscheidung des Justizministers gemäß Art. 77 § 1 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit abgeordnet wurde, in einigen der Strafsachen möglicherweise sogar von einem Rayongericht, d. h. von einem Gericht niederer Ordnung.

17

Die Regelung über die Abordnung von Richtern versetze den Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt und damit Vorgesetzter u. a. der Staatsanwälte der ordentlichen Gerichtsbarkeit sei, in die Lage, erheblichen Einfluss auf die Besetzung eines Strafgerichts auszuüben. Die Abordnung eines Richters an ein Gericht höherer Ordnung durch den Justizminister erfolge nach Kriterien, die offiziell nicht bekannt seien. Die Entscheidung über die Abordnung unterliege auch keiner gerichtlichen Kontrolle. Der Justizminister könne die Abordnung jederzeit beenden. Für die entsprechende Entscheidung seien keine im Voraus bestimmten Kriterien maßgeblich, und sie müsse nicht begründet werden. Es sei nicht sicher, ob die Entscheidung über die Beendigung der Abordnung einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden könne. Auf abgeordnete Richter in Spruchkörpern wie denen, die über die Ausgangsverfahren zu entscheiden hätten, könne der Justizminister daher in zweifacher Weise Einfluss ausüben. Zum einen könne er den betreffenden Richter, indem er ihn an ein Gericht höherer Ordnung abordne, für sein Verhalten auf früheren Dienstposten „belohnen“ und hinsichtlich der Art und Weise, wie er in Zukunft entscheide, sogar bestimmte Erwartungen äußern, so dass die Abordnung eine Ersatzbeförderung darstelle. Zum anderen könne er einen abgeordneten Richter, indem er seine Abordnung beende, dafür „bestrafen“, dass er eine Entscheidung erlassen habe, die er nicht gutheiße. Derzeit bestehe ein erhöhtes Risiko, dass eine solche Bestrafung erfolge, wenn der betreffende Richter entschieden habe, beim Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen einzureichen oder polnisches Recht, das nicht mit dem Unionsrecht in Einklang stehe, unangewendet zu lassen. Ein solches System schaffe daher für die abgeordneten Richter einen Anreiz, in Einklang mit dem Willen des Justizministers zu entscheiden, auch wenn dieser Wille nicht ausdrücklich formuliert werde. Dadurch werde letztlich das Recht der beschuldigten Person auf einen fairen Prozess verletzt, bei dem es sich um eine Ausprägung des Grundsatzes eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes handele.

18

Für den Fall, dass gegen die Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) Kassationsbeschwerde eingelegt werden sollte, fragt sich das vorlegende Gericht als Zweites, ob die Besetzung der Spruchkörper der Strafkammer dieses Gerichts mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Einklang steht.

19

Als Drittes fragt sich das vorlegende Gericht, ob die nationale Regelung, um die es in den Ausgangsverfahren geht, vor dem beschriebenen Hintergrund gegen die Unschuldsvermutung gemäß der Richtlinie 2016/343 verstößt.

20

Der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) hat die Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die in den Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19 jeweils nahezu gleichlautend formuliert sind:

1.

Sind Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 2 EUV und dem darin verankerten Rechtsstaatsprinzip sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass der wirksame gerichtliche Rechtsschutz, insbesondere die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, und die Anforderungen, die sich aus der Unschuldsvermutung ergeben, verletzt sind, wenn ein gerichtliches Verfahren wie ein Strafverfahren gegen einen wegen der Begehung einer Straftat nach den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs oder des Steuerstrafgesetzbuchs Angeklagten oder ein Strafverfahren gegen einen Verurteilten, der den Erlass eines Gesamturteils beantragt hat, in der Weise gestaltet ist, dass

dem Spruchkörper ein Richter angehört, der auf der Grundlage einer persönlichen Entscheidung des Justizministers von einem Gericht abgeordnet wurde, das eine Hierarchieebene tiefer liegt, wobei die Kriterien unbekannt sind, von denen sich der Justizminister leiten ließ, als er diesen Richter abordnete, und das nationale Recht keine gerichtliche Kontrolle dieser Entscheidung vorsieht und es dem Justizminister ermöglicht, die Abordnung des Richters jederzeit zu widerrufen?

2.

Liegt eine Verletzung der in der Frage 1 genannten Anforderungen vor, wenn die Beteiligten gegen die in einem Gerichtsverfahren wie dem in Frage 1 beschriebenen erlassene Entscheidung einen außerordentlichen Rechtsbehelf bei einem Gericht wie dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einlegen können, dessen Entscheidungen nach innerstaatlichem Recht nicht angefochten werden können, das nationale Recht den Vorsitzenden einer Organisationseinheit dieses Gerichts (Kammer), die für die Entscheidung über den Rechtsbehelf zuständig ist, dazu verpflichtet, die Verfahren den Richtern dieser Kammer in einer alphabetischen Reihenfolge zuzuweisen, wobei die Übergehung irgendeines Richters ausdrücklich untersagt ist, und an dem Zuweisungsverfahren auch eine Person beteiligt ist, die auf Antrag eines Kollegialorgans wie der Krajowa Rada Sądownictwa (Landesjustizrat, Polen) (im Folgenden: KRS) zum Richter ernannt wurde, das in der Weise zusammengesetzt ist, dass ihm Richter angehören,

die durch eine Kammer des Parlaments gewählt werden, die über eine Liste der Bewerber im Ganzen abstimmt, die zuvor durch einen Parlamentsausschuss aus Bewerbern zusammengestellt wurde, die eine Fraktion von Parlamentariern oder ein Organ dieser Kammer auf der Grundlage von Empfehlungen einer Gruppe von Richtern oder Bürgern vorgeschlagen hat, woraus folgt, dass die Bewerber an drei Stellen des Auswahlverfahrens durch Politiker bestätigt werden;

die die Mehrheit der Mitglieder dieser Einrichtung ausmachen, wobei diese Mehrheit hinreichend groß ist, um die Besetzung der Richterposten zu beantragen und andere bindende Entscheidungen nach dem nationalen Recht zu treffen?

3.

Welche Wirkung hat aus der Sicht des Unionsrechts, insbesondere in Bezug auf die in Frage 1 angeführten Bestimmungen und Anforderungen, eine Entscheidung, die in einem Gerichtsverfahren erlassen wird, das derart gestaltet ist wie in der Frage 1 beschrieben, und eine Entscheidung in einem Verfahren vor dem Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), wenn daran eine Person beteiligt ist wie die, von der in Frage 2 die Rede ist?

4.

Hängen nach dem Unionsrecht, insbesondere nach den in Frage 1 angeführten Bestimmungen, die Wirkungen von Entscheidungen, von denen in Frage 3 die Rede ist, davon ab, ob das betreffende Gericht zugunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten entschieden hat?

Verfahren vor dem Gerichtshof

21

Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Oktober 2019 sind die Rechtssachen C‑748/19 bis C‑754/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

22

Am 30. Juli 2020 hat der Gerichtshof das vorlegende Gericht um Auskünfte zum tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der Ausgangsverfahren ersucht. Das vorlegende Gericht hat am 3. September 2020 geantwortet.

Zu den Anträgen auf beschleunigtes Verfahren

23

Das vorlegende Gericht hat in den Vorabentscheidungsersuchen beantragt, die vorliegenden Rechtssachen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen dieselben Gründe angeführt wie diejenigen, die für seine Entscheidung maßgebend waren, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

24

Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

25

Ein solches beschleunigtes Verfahren ist ein Verfahrensinstrument, das für Fälle gedacht ist, die außerordentlich dringlich sind (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 2. Dezember 2019 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, den Anträgen auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens nicht stattzugeben. Zum einen hat das vorlegende Gericht nicht eigens begründet, warum über die Vorabentscheidungsersuchen rasch entschieden werden müsste. Zum anderen rechtfertigt der Umstand, dass die Ausgangsverfahren Strafsachen betreffen, als solcher noch keine beschleunigte Behandlung.

Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

27

Mit Schriftsatz, der am 30. Juni 2021 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat die polnische Regierung die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

28

Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass sie mit den Schlussanträgen des Generalanwalts nicht einverstanden sei, der aus dem Wortlaut der Vorlagefragen und der Bestimmungen des nationalen Rechts fälschlicherweise abgeleitet habe, dass die Abordnung eines Richters an ein Gericht höherer Ordnung für diesen zusätzliche Vorteile in Form einer Beförderung und einer höheren Besoldung mit sich bringe. Außerdem habe der Generalanwalt nicht angegeben, aufgrund welcher rechtlichen und tatsächlichen Umstände er zu der Feststellung gelangt sei, dass zwischen der Abordnung eines Richters an ein anderes Gericht und besseren Aufstiegsperspektiven und einer höheren Besoldung ein Zusammenhang bestehe. Jedenfalls seien diese Gesichtspunkte weder vom vorlegenden Gericht noch von den Parteien angesprochen worden. Es liege daher ein Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit vor.

29

Im Übrigen bestehe ein Widerspruch zwischen Nr. 178 der Schlussanträge, in denen der Generalanwalt ausgeführt habe, dass die Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht nicht daran gehindert seien, auf ein System zurückzugreifen, nach dem Richter im dienstlichen Interesse vorübergehend von einem Gericht an ein anderes Gericht gleicher oder höherer Ordnung abgeordnet werden könnten, und dem Umstand, dass der Generalanwalt in denselben Schlussanträgen die polnische Regelung nach Maßgabe der Anforderungen, die das Unionsrecht an die Rechtsstaatlichkeit stelle, beurteilt habe. Dies stelle einen Verstoß gegen den in Art. 4 Abs. 2 EUV verbürgten Grundsatz der Achtung der jeweiligen nationalen Identität der Mitgliedstaaten dar.

30

Hierzu ist festzustellen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die in Art. 23 der Satzung bezeichneten Beteiligten vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Im Übrigen stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an deren Begründung gebunden. Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Zwar kann der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Eröffnung oder Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

33

Im vorliegenden Fall verfügt der Gerichtshof jedoch über alle Informationen, die für seine Entscheidung erforderlich sind, und es ist kein Vorbringen entscheidungserheblich, das nicht zwischen den Beteiligten erörtert worden wäre. Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens enthält auch keine neue Tatsache, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung wäre, die der Gerichtshof in den vorliegenden Rechtssachen zu treffen hat. Der Gerichtshof gelangt deshalb nach Anhörung des Generalanwalts zu der Auffassung, dass kein Grund besteht, die Wiedereröffnung des Verfahrens zu beschließen.

Zu den Vorlagefragen

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

34

Nach Auffassung der polnischen Regierung wie auch nach Auffassung der Prokuratura Regionalna w Lublinie (Staatsanwaltschaft der Region Lublin, Polen) und der Prokuratura Regionalna w Warszawie (Staatsanwaltschaft der Region Warschau, Polen), die beim Gerichtshof im Namen der Rayonstaatsanwaltschaften, die die Strafverfolgungen eingeleitet haben, um die es in den Ausgangsverfahren geht, Erklärungen eingereicht haben, fallen die Sachverhalte und Rechtsfragen, die Gegenstand der Vorlagefragen sind, nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Für die Gestaltung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften betreffend die Organisation der Justiz, insbesondere das Verfahren der Ernennung der Richter, die Besetzung der Justizräte oder die Abordnung von Richtern an ein anderes Gericht als dasjenige, an dem sie gewöhnlich tätig seien, und für die Rechtswirkungen der Urteile der nationalen Gerichte, seien ausschließlich die einzelnen Mitgliedstaaten zuständig.

35

Die Staatsanwaltschaft der Region Lublin und die Staatsanwaltschaft der Region Warschau machen insbesondere geltend, dass der Gerichtshof weder befugt sei, die Voraussetzungen zu bestimmen, unter denen die Abordnung von Richtern zulässig sei, noch zu beurteilen, ob die Ernennung einer Person zum Richter wirksam sei. Er sei auch nicht befugt, zu entscheiden, ob es sich bei der Person um einen Richter handele, oder darüber zu befinden, ob eine Entscheidung eines nationalen Gerichts existiere. Der Gerichtshof sei daher für die Beantwortung der in den Ausgangsverfahren zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nicht zuständig.

36

Hierzu ist festzustellen, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit fällt, die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit jedoch die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben. Dies gilt insbesondere für nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Ernennung von Richtern und gegebenenfalls für Vorschriften betreffend die im Zusammenhang mit solchen Ernennungsverfahren anwendbare gerichtliche Kontrolle (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dasselbe gilt für nationale Vorschriften betreffend den Erlass von Entscheidungen über die Abordnung von Richtern zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben bei einem anderen Gericht.

37

Die von der polnischen Regierung, der Staatsanwaltschaft der Region Lublin und der Staatsanwaltschaft der Region Warschau erhobenen Einwände beziehen sich im Wesentlichen auf die Tragweite und damit auf die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, die in den Vorlagefragen genannt werden. Die Auslegung dieser Bestimmungen fällt offenkundig in die Zuständigkeit des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Demnach ist der Gerichtshof für die Entscheidung über die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zuständig.

Zu Frage 1

39

Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.

Zur Zulässigkeit

40

Die polnische Regierung, die Staatsanwaltschaft der Region Lublin und die Staatsanwaltschaft der Region Warschau halten Frage 1 für unzulässig.

41

Die Staatsanwaltschaft der Region Lublin und die Staatsanwaltschaft der Region Warschau machen insoweit als Erstes geltend, dass die Entscheidungen, beim Gerichtshof die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen einzureichen, von der Präsidentin des Spruchkörpers getroffen worden seien, die ohne Mitwirkung der beiden anderen Mitglieder des Spruchkörpers entschieden habe. Nach Art. 29 § 1 der Strafprozessordnung müsse ein Berufungsgericht aber mit drei Richtern entscheiden, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt sei. In den Ausgangsverfahren habe nichts die Entscheidung in einer anderen Besetzung gerechtfertigt. Die Präsidentin des Spruchkörpers sei daher nicht befugt, allein über irgendeine Frage zu entscheiden, auch nicht über eine Vorfrage, so dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Gerichtshof von einem „Gericht“ eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 267 AEUV angerufen worden wäre.

42

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Gerichtshof für die Beurteilung der rein unionsrechtlichen Frage, ob es sich bei der jeweils vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt, und somit, ob das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist, nach seiner ständigen Rechtsprechung auf eine Reihe von Merkmalen abstellt, wie z. B. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihr ständiger Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit (Urteil vom 9. Juli 2020, Land Hessen, C‑272/19, EU:C:2020:535, Rn. 43).

43

Im vorliegenden Fall wurden die Vorabentscheidungsersuchen von der X. Berufungsstrafkammer des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) eingereicht, und zwar über die Vorsitzende der Spruchkörper in den sieben Ausgangsverfahren. Außerdem ist unstreitig, dass der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) die oben in Rn. 42 genannten Voraussetzungen erfüllt.

44

In einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV ist der Gerichtshof nach der Verteilung der Aufgaben zwischen ihm und den nationalen Gerichten nach ständiger Rechtsprechung aber nicht befugt, nachzuprüfen, ob die Vorlageentscheidung den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren entspricht. Er ist daher an die von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Vorlageentscheidung gebunden, solange diese nicht aufgrund eines im nationalen Recht eventuell vorgesehenen Rechtsbehelfs aufgehoben worden ist (Urteil vom 14. Januar 1982, Reina, 65/81, EU:C:1982:6, Rn. 7).

45

Demnach vermag das oben in Rn. 41 dargestellte Vorbringen der Staatsanwaltschaft der Region Lublin und der Staatsanwaltschaft der Region Warschau keine Zweifel daran zu begründen, dass Frage 1 von einem „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV vorgelegt worden ist.

46

Als Zweites macht die polnische Regierung geltend, dass die Ausgangsverfahren das Strafrecht und das Strafprozessrecht beträfen. Diese Bereiche seien durch das Unionsrecht nicht harmonisiert. Der Zusammenhang mit dem Unionsrecht, den das vorlegende Gericht herstellen wolle und der nach Auffassung dieses Gerichts darin bestehe, dass es in Strafsachen zu entscheiden habe, dass jede beschuldigte Person Anspruch darauf habe, dass ihre Verteidigungsrechte gewahrt würden, und dass diese auch durch die Richtlinie 2016/343 geschützt seien, sei nicht hinreichend konkret, um annehmen zu können, dass eine Antwort auf diese Frage erforderlich wäre, um über die Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, die bei ihm anhängig seien.

47

Hierzu ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit Frage 1, noch bevor die Rechtssachen der Ausgangsverfahren in der Sache bearbeitet werden, wissen möchte, ob die innerstaatlichen Rechtsvorschriften, nach denen ein abgeordneter Richter Mitglied der Spruchkörper ist, die über diese Rechtssachen zu entscheiden haben, mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar sind.

48

Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass eine Antwort auf Vorlagefragen erforderlich sein kann, um den vorliegenden Gerichten eine Auslegung des Unionsrechts zu liefern, die es ihnen ermöglicht, über Verfahrensfragen des innerstaatlichen Rechts zu entscheiden, um dann in den Rechtsstreitigkeiten, die bei ihnen anhängig sind, in der Sache entscheiden zu können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Im vorliegenden Fall betrifft Frage 1 die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts sowie deren Auswirkungen – insbesondere im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts – auf die Ordnungsmäßigkeit der Besetzung der mit den Ausgangsverfahren befassten Spruchkörper. Eine Antwort des Gerichtshofs ist daher erforderlich, um es dem vorlegenden Gericht zu ermöglichen, über eine Vorfrage zu entscheiden, bevor die Spruchkörper in den Ausgangsverfahren in der Sache entscheiden.

50

Der Einwand der polnischen Regierung ist daher zurückzuweisen.

51

Als Drittes macht die polnische Regierung geltend, dass die Vorlagefrage hypothetischer Natur sei, da die Antwort des Gerichtshofs auf sie keine Auswirkungen auf den Fortgang der Strafverfahren der Ausgangsverfahren haben könne. Selbst wenn der Gerichtshof entscheiden sollte, dass die in Rede stehenden Bestimmungen über die Abordnung der Richter unionsrechtswidrig seien, wäre es der Präsidentin des Spruchkörpers nämlich verfahrensrechtlich unmöglich, eine solche Auslegung anzuwenden, da sie nicht befugt wäre, einem anderen Mitglied des Spruchkörpers das Recht zu nehmen, zu entscheiden, auch nicht auf der Grundlage des Unionsrechts.

52

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53

Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 36), haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse im Bereich der Organisation der Justiz, insbesondere, wenn sie innerstaatliche Rechtsvorschriften über die Abordnung von Richtern zum Zwecke der Wahrnehmung richterlicher Aufgaben an einem anderen Gericht oder über die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Spruchkörpers gestalten, die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben.

54

Insoweit ist festzustellen, dass das Vorbringen der polnischen Regierung im Wesentlichen die Tragweite und damit die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich Frage 1 bezieht, sowie die Wirkungen betrifft, die diese Bestimmungen insbesondere im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts haben können. Das Vorbringen betrifft mithin den Inhalt der vorgelegten Frage, so dass es für deren Zulässigkeit von vornherein nicht relevant sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Als Viertes machen die polnische Regierung, die Staatsanwaltschaft der Region Lublin und die Staatsanwaltschaft der Region Warschau schließlich geltend, dass die Vorabentscheidungsersuchen nicht die in Art. 94 der Verfahrensordnung genannten Angaben enthielten. Das vorlegende Gericht habe in den Vorabentscheidungsersuchen weder den Streitgegenstand der Ausgangsverfahren noch den maßgeblichen Sachverhalt definiert. Es habe auch die tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhten, nicht dargestellt, nicht einmal summarisch.

56

Die Vorabentscheidungsersuchen seien insbesondere auch hinsichtlich der Gründe, die für die Wahl der unionsrechtlichen Bestimmungen, um deren Auslegung ersucht werde, maßgeblich gewesen seien, und hinsichtlich des Nachweises des Bestehens eines Zusammenhangs zwischen diesen Vorschriften und den in den Ausgangsverfahren anwendbaren innerstaatlichen Vorschriften, nicht hinreichend begründet. Das vorlegende Gericht habe lediglich Vorschriften des Unionsrechts angeführt und die Auslegung einiger dieser Vorschriften summarisch dargestellt. Es sei aber weder auf deren Wechselwirkung eingegangen noch habe es geprüft, oder die verschiedenen Vorschriften, um deren Auslegung ersucht werde, für die Entscheidung der Ausgangsverfahren erheblich seien.

57

Hierzu ist festzustellen, dass sich aus den Ausführungen oben in den Rn. 5 bis 14 und 16 bis 19 ergibt, dass die Vorabentscheidungsersuchen, wie sie vom vorlegenden Gericht in seiner Antwort auf ein Auskunftsersuchen des Gerichtshofs erläutert worden sind, alle erforderlichen Informationen enthalten, insbesondere den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften, die Gründe, aus denen das vorlegende Gericht dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung der oben in Rn. 39 genannten Vorschriften vorgelegt hat, und den vom vorlegenden Gericht zwischen diesen Vorschriften und den angeführten innerstaatlichen Rechtsvorschriften hergestellten Zusammenhang, so dass der Gerichtshof in der Lage ist, über Frage 1 zu entscheiden.

58

Somit ist festzustellen, dass Frage 1 zulässig ist.

Beantwortung der Frage

59

Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, überträgt den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Rechtsunterworfenen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60

Insoweit ist es, wie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vorgesehen, Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das gewährleistet, dass das Recht der Rechtsunterworfenen auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet wird (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61

Nach ständiger Rechtsprechung ist der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Rechtsunterworfenen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

In sachlicher Hinsicht findet Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 111 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Somit hat jeder Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV u. a. dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind und als solche daher möglicherweise über die Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts entscheiden, den Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz gerecht werden (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 104 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Im vorliegenden Fall steht außer Frage, dass die polnischen Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, zu denen Regionalgerichte wie der Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) gehören, zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein können und als „Gericht“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil des polnischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sind, weshalb sie den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Um zu gewährleisten, dass solche Gerichte in der Lage sind, den nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV erforderlichen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass ihre Unabhängigkeit gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66

Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, gehört das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Rechtsunterworfenen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67

Nach ständiger Rechtsprechung setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung des Spruchkörpers, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit des Spruchköpers für äußere Faktoren und an dessen Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68

Nach dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung ist die Unabhängigkeit der Gerichte insbesondere gegenüber der Legislative und der Exekutive zu gewährleisten (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 127 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69

Hierzu sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für die Rechtsverhältnisse der Richter und die Ausübung des Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen und damit dem Eindruck vorzubeugen, dass diese Richter nicht unabhängig und unparteiisch seien, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 110 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht Bedenken, weil der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein anderes Strafgericht abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.

71

Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 67), setzen die nach dem Unionsrecht für Gerichte, die möglicherweise über die Anwendung und Auslegung des Unionsrechts entscheiden, erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit u. a. voraus, dass es Regeln für die Besetzung des Spruchkörpers, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für die Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit des Spruchkörpers für äußere Faktoren und an dessen Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen. Zu diesen Regeln gehören zwangsläufig die Regeln über die Abordnung von Richtern, da sie – wie etwa Art. 77 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit – geeignet sind, sowohl die Besetzung des Spruchkörpers, der über eine Rechtssache zu entscheiden hat, als auch die Amtsdauer der abgeordneten Richter zu beeinflussen, und die Möglichkeit vorsehen, dass die Abordnung bei einem oder mehreren Mitgliedern des Spruchkörpers beendet wird.

72

Die Mitgliedstaaten können zwar durchaus ein System anwenden, nach dem Richter im dienstlichen Interesse vorübergehend an ein anderes Gericht abgeordnet werden können (vgl. in diesem Sinne EGMR, 25. Oktober 2011, Richert/Polen, CE:ECHR:2011:1025JUD005480907, § 44, und 20. März 2012, Dryzek/Polen, CE:ECHR:2012:0320DEC001228509, § 49).

73

Das Erfordernis der Unabhängigkeit verlangt aber, dass die Regelung betreffend die Abordnung der Richter die erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit bietet, um auszuschließen, dass eine solche Regelung als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74

Letztlich wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, nachdem es die entsprechenden Feststellungen getroffen hat, nach den oben in den Rn. 59 bis 73 dargestellten Grundsätzen darüber zu entscheiden, ob die Umstände, unter denen der Justizminister einen Richter an ein Gericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung beenden kann, insgesamt betrachtet den Schluss zulassen, dass die betreffenden Richter während der Dauer ihrer Abordnung nicht über die Garantien der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit verfügen (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 131).

75

Nach Art. 267 AEUV ist der Gerichtshof nämlich nicht befugt, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern darf sich nur zur Auslegung der Verträge und der Handlungen der Unionsorgane äußern, indem er das Unionsrecht unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Akten auslegt, soweit dies dem vorlegenden Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 132 und 133 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

76

Dass der Justizminister nach Art. 77 § 1 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit einen Richter nur mit dessen Zustimmung zur Wahrnehmung richterlicher oder administrativer Aufgaben an ein anderes Gericht abordnen kann, stellt zwar eine wichtige Verfahrensgarantie dar.

77

Was die polnische Regelung über die Abordnung von Richtern und die Bedingungen angeht, unter denen Richter an den Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) abgeordnet wurden, hat das vorlegende Gericht allerdings eine Reihe von Umständen angeführt, die den Justizminister nach seiner Auffassung in die Lage versetzen, die abgeordneten Richter zu beeinflussen, so dass Zweifel an ihrer Unabhängigkeit entstehen können.

78

Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, werden erstens die Kriterien, die der Justizminister bei der Abordnung von Richtern anwendet, nicht bekannt gegeben. Außerdem ist der Justizminister befugt, eine Abordnung jederzeit zu beenden, ohne dass die Kriterien, die diese Befugnis gegebenenfalls begrenzen, bekannt wären und ohne dass eine solche Entscheidung begründet werden müsste.

79

Zur Vermeidung von Willkür und Manipulationen müssen die Entscheidung über die Abordnung eines Richters und die Entscheidung, mit der die Abordnung beendet wird, insbesondere im Falle einer Abordnung an ein Gericht höherer Ordnung jedoch anhand von im Vorhinein bekannten Kriterien getroffen werden und ordnungsgemäß begründet werden.

80

Zweitens ergibt sich aus Art. 77 § 4 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit, dass der Justizminister die Abordnung eines Richters unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, beenden kann und dass die Beendigung der Abordnung in dem besonderen Fall, dass ein Richter auf bestimmte Zeit abgeordnet worden ist, sogar fristlos erfolgen kann. Diese Bestimmung ermöglicht es dem Justizminister mithin, die Abordnung eines Richters jederzeit zu beenden. Außerdem sieht sie keine besonderen Voraussetzungen für die Beendigung der Abordnung vor.

81

So könnte die dem Justizminister eingeräumte Möglichkeit, die Abordnung eines Richters jederzeit zu beenden, insbesondere im Fall einer Abordnung an ein Gericht höherer Ordnung, bei einem Rechtsunterworfenen den Eindruck erwecken, dass der abgeordnete Richter, der über seinen Fall zu entscheiden hat, bei seiner Entscheidungsfindung dadurch beeinflusst wird, dass er befürchtet, dass seine Abordnung beendet wird.

82

Außerdem könnte der Umstand, dass die Abordnung eines Richters jederzeit und ohne allgemein bekannte Gründe widerrufen werden kann, beim abgeordneten Richter auch das Gefühl hervorrufen, dass er den Erwartungen des Justizministers entsprechen muss, was bei den Richtern selbst den Eindruck entstehen lassen könnte, dass sie dem Justizminister „unterstehen“, was nicht mit dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter vereinbar wäre.

83

Schließlich ist festzustellen, dass für einen Richter die Beendigung seiner Abordnung ohne seine Zustimmung Wirkungen haben kann, die mit denen einer Disziplinarstrafe vergleichbar sind. Art. 19 Abs. 1 Unterabs.2 EUV verlangt, dass die entsprechende Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, um auszuschließen, dass eine solche Regelung als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird, was insbesondere voraussetzt, dass die Maßnahme vor den Gerichten nach einem Verfahren angefochten werden kann, das die in den Art. 47 und 48 der Charta verbürgten Rechte in vollem Umfang gewährleistet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 115 und 118).

84

Drittens kann der Justizminister, wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 80), indem er die Abordnung eines Richters beendet, eine Entscheidung treffen, die sich auf die Besetzung eines Spruchkörpers auswirkt. Gleichzeitig übt er nach Art. 1 § 2 des Gesetzes über die Staatsanwaltschaft aber das Amt des Generalstaatsanwalts aus, und ihm unterstehen nach Art. 13 § 2 dieses Gesetzes u. a. die Staatsanwälte der ordentlichen Gerichtsbarkeit. So verfügt der Justizminister in einer bestimmten Strafsache über Macht sowohl über den Staatsanwalt der ordentlichen Gerichtsbarkeit als auch über die abgeordneten Richter, was geeignet ist, bei den Rechtsunterworfenen begründete Zweifel an der Unparteilichkeit der abgeordneten Richter aufkommen zu lassen, wenn diese in einer solchen Rechtssache entscheiden.

85

Viertens sind Richter, die an Spruchkörper abgeordnet sind, die in den Ausgangsverfahren zu entscheiden haben, nach den Angaben des vorlegenden Gerichts gleichzeitig weiter – wie vor ihrer Abordnung – als stellvertretende Disziplinarbeauftragte tätig. Der Disziplinarbeauftragte ist damit betraut, gegebenenfalls unter Aufsicht des Justizministers, die Disziplinarverfahren gegen Richter durchzuführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 233).

86

Wie der Generalanwalt in Nr. 190 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die gleichzeitige Ausübung des Amts eines abgeordneten Richters und des Amts des stellvertretenden Disziplinarbeauftragten vor dem Hintergrund, dass die stellvertretenden Disziplinarbeauftragten nach Art. 112 des Gesetzes über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit ebenfalls vom Justizminister ernannt werden, aber geeignet, bei den Rechtsunterworfenen berechtigte Zweifel an der Unempfindlichkeit der anderen Mitglieder der betreffenden Spruchkörper für äußere Faktoren im Sinne der oben in den Rn. 67 und 68 dargestellten Rechtsprechung zu wecken, da die anderen Mitglieder möglicherweise befürchten, dass der abgeordnete Richter bei einem gegen sie eingeleiteten Disziplinarverfahren mitwirkt.

87

Somit ist festzustellen, dass die oben in den Rn. 76 bis 86 genannten Umstände – vorbehaltlich der insoweit vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Würdigung – insgesamt betrachtet den Schluss zulassen, dass der Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, auf der Grundlage von Kriterien, die nicht offiziell bekannt sind, befugt ist, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung jederzeit, ohne seine Entscheidung begründen zu müssen, zu beenden, so dass die abgeordneten Richter während der Dauer der Abordnung nicht über die Garantien und die Unabhängigkeit verfügen, über die ein Richter in einem Rechtsstaat normalerweise verfügen muss. Eine solche Befugnis ist nach der oben in Rn. 73 dargestellten Rechtsprechung nicht mit der Verpflichtung zur Beachtung des Erfordernisses der Unabhängigkeit vereinbar.

88

Im Übrigen setzt die Unschuldsvermutung, von der im 22. Erwägungsgrund und in Art. 6 der Richtlinie 2016/343 die Rede ist und auf die in Frage 1 ebenfalls Bezug genommen wird, voraus, dass der Richter unparteiisch und unvoreingenommen ist, wenn er die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten prüft. Die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Richter sind daher wesentliche Voraussetzungen für die Gewährleistung der Unschuldsvermutung.

89

Im vorliegenden Fall können die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Richter und damit die Unschuldsvermutung unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wie sie oben in Rn. 87 beschrieben sind, beeinträchtigt werden.

90

Nach alledem ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen sind, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.

Zu den Fragen 2, 3 und 4

91

Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Erfordernisse des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, zu denen die Unabhängigkeit der Justiz zählt, und die Erfordernisse der Unschuldsvermutung dadurch missachtet werden, dass, falls gegen die Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) Kassationsbeschwerden eingelegt werden sollten, diese einem auf Vorschlag der KRS ernannten Richter zugewiesen werden könnten. Mit Frage 3 möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Rechtswirkungen die Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, haben, wenn sie von einem Spruchkörper erlassen werden, dem ein oder mehrere vom Justizminister abgeordnete Richter angehören, und, wenn Kassationsbeschwerden eingelegt werden, welche Rechtswirkungen eine Entscheidung des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) hat, an der ein auf Vorschlag der KRS ernannter Richter mitgewirkt hat. Mit Frage 4 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob für die Beantwortung von Frage 3 von Bedeutung sein kann, dass das betreffende Gericht zugunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten entschieden hat.

92

Nach Auffassung der polnischen Regierung, der Staatsanwaltschaft der Region Lublin, der Staatsanwaltschaft der Region Warschau und der Europäischen Kommission sind die Fragen 2, 3 und 4 unzulässig. Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen kann, wenn die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, um die ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

93

Im vorliegenden Fall sind die Fragen 2, 3 und 4 insoweit rein hypothetisch, als sie voraussetzen, dass gegen die Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) Kassationsbeschwerden eingelegt werden. Soweit die Fragen 3 und 4 die Rechtswirkungen der Urteile, die in den Ausgangsverfahren ergehen werden, betreffen, verfügt der Gerichtshof auch nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben, die für eine zweckdienliche Beantwortung dieser Fragen erforderlich sind. Das vorlegende Gericht hat nämlich nicht erläutert, inwieweit die Beantwortung der Fragen 3 und 4 möglicherweise für die von ihm in den Ausgangsverfahren zu treffenden Entscheidungen relevant ist.

94

Die Fragen 2, 3 und 4 sind mithin unzulässig.

Kosten

95

Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.