URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

25. November 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/109/EG – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Art. 11 – Recht auf Gleichbehandlung – Soziale Sicherheit – Regelung eines Mitgliedstaats, die bei der Bestimmung des Anspruchs auf eine Familienleistung die sich nicht im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhaltenden Familienangehörigen des langfristig Aufenthaltsberechtigten unberücksichtigt lässt“

In der Rechtssache C‑303/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 5. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 11. April 2019, in dem Verfahren

Istituto Nazionale della Previdenza Sociale (INPS)

gegen

VR

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász, C. Lycourgos und I. Jarukaitis (Berichterstatter),

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Februar 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Istituto Nazionale della Previdenza Sociale (INPS), vertreten durch A. Coretti, V. Stumpo und M. Sferrazza, avvocati,

von VR, vertreten durch A. Guariso und L. Neri, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Giordano und P. Gentili, avvocati dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, A. Azéma und B.‑R. Killmann als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juni 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Istituto Nazionale della Previdenza Sociale (INPS) (Nationales Institut für Sozialfürsorge, Italien) und VR über die Ablehnung eines Antrags auf Familienzulage für einen Zeitraum, in dem sich die Ehefrau und die Kinder des Betroffenen in ihrem Drittherkunftsland aufhielten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 12 der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„(2)

Der Europäische Rat hat auf seiner Sondertagung in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 erklärt, dass die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen an diejenige der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden sollte und einer Person, die sich während eines noch zu bestimmenden Zeitraums in einem Mitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten hat und einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzt, in diesem Mitgliedstaat eine Reihe einheitlicher Rechte gewährt werden sollte, die denjenigen der Unionsbürger so nah wie möglich sind.

(4)

Die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, trägt entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bei, der als eines der Hauptziele der [Union] im Vertrag angegeben ist.

(6)

Die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. Der Aufenthalt sollte rechtmäßig und ununterbrochen sein, um die Verwurzlung der betreffenden Person im Land zu belegen. Eine gewisse Flexibilität sollte vorgesehen werden, damit Umstände berücksichtigt werden können, die eine Person veranlassen können, das Land zeitweilig zu verlassen.

(12)

Um ein echtes Instrument zur Integration von langfristig Aufenthaltsberechtigten in die Gesellschaft, in der sie leben, darzustellen, sollten langfristig Aufenthaltsberechtigte nach Maßgabe der entsprechenden, in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen … in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen wie die Bürger des Mitgliedstaats behandelt werden.“

4

In Art. 2 („Definitionen“) dieser Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)

‚Drittstaatsangehöriger‘ jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne des Artikels 17 Absatz 1 [EG] ist;

b)

‚langfristig Aufenthaltsberechtigter‘ jeden Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Artikel 4 bis 7 besitzt;

e)

‚Familienangehöriger‘ den Drittstaatsangehörigen, der sich in dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung [(ABl. 2003, L 251, S. 12)] aufhält;

…“

5

Art. 11 („Gleichbehandlung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Langfristig Aufenthaltsberechtigte werden auf folgenden Gebieten wie eigene Staatsangehörige behandelt:

d)

soziale Sicherheit, Sozialhilfe und Sozialschutz im Sinn des nationalen Rechts;

(2)   In Bezug auf Absatz 1 Buchstaben b), d), e), f) und g) kann der betreffende Mitgliedstaat die Gleichbehandlung auf die Fälle beschränken, in denen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seiner Familienangehörigen, für die er Leistungen beansprucht, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegt.

(4)   Die Mitgliedstaaten können die Gleichbehandlung bei Sozialhilfe und Sozialschutz auf die Kernleistungen beschränken.

…“

Italienisches Recht

6

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass mit dem Decreto legge n. 69 – Norme in materia previdenziale, per il miglioramento delle gestioni degli enti portuali ed altre disposizioni urgenti (Gesetzesdekret Nr. 69 mit Vorschriften im Bereich der Sozialversicherung, zur Verbesserung der Verwaltung von Hafenbehörden und anderen dringenden Bestimmungen) vom 13. März 1988 (GURI Nr. 61 vom 14. März 1988), das in das Gesetz Nr. 153 vom 13. Mai 1988 (GURI Nr. 112 vom 14. Mai 1988) umgewandelt wurde (im Folgenden: Gesetz Nr. 153/1988), eine Familienzulage eingeführt wurde, deren Höhe von der Zahl der zum Haushalt gehörenden Kinder unter 18 Jahren und von den Einkommen des Haushalts abhängt (im Folgenden: Familienzulage).

7

Art. 2 Abs. 6 des Gesetzes Nr. 153/1988 bestimmt:

„Die Familiengemeinschaft besteht aus den Eheleuten unter Ausschluss des gesetzlich und faktisch getrennten Ehepartners und aus den Kindern und diesen Gleichgestellten …, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, oder, ohne Altersbegrenzung, wenn sie aufgrund von Krankheit oder einer körperlichen oder geistigen Behinderung vollständig und dauerhaft erwerbsunfähig sind. Unter denselben Bedingungen wie die Kinder und diesen Gleichgestellten zur Familiengemeinschaft gehören können auch die Geschwister, Nichten, Neffen und Enkelkinder, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, oder, ohne Altersbegrenzung, wenn sie aufgrund von Krankheit oder einer körperlichen oder geistigen Behinderung vollständig und dauerhaft erwerbsunfähig sind, wenn sie Vollwaisen sind und keinen Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente haben.“

8

Gemäß Art. 2 Abs. 6bis des Gesetzes Nr. 153/1988 gehören der Ehepartner sowie die Kinder und diesen Gleichgestellten eines Drittstaatsangehörigen, die nicht im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik wohnen, nicht zur Familiengemeinschaft im Sinne dieses Gesetzes, es sei denn, vom Staat, dessen Staatsbürger der Ausländer ist, wird italienischen Staatsbürgern eine auf Gegenseitigkeit beruhende Behandlung gewährt oder es wurde ein internationales Übereinkommen über Familienleistungen abgeschlossen.

9

Die Richtlinie 2003/109 wurde durch das Decreto legislativo n. 3 – Attuazione della direttiva 2003/109/CE relativa allo status di cittadini di Paesi terzi soggiornanti di lungo periodo (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 3 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/109) vom 8. Januar 2007 (GURI Nr. 24 vom 30. Januar 2007) (im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 3/2007) in innerstaatliches Recht umgesetzt. Durch das gesetzesvertretende Dekret wurden die Bestimmungen dieser Richtlinie in das Decreto legislativo n. 286 – Testo unico delle disposizioni concernenti la disciplina dell’immigrazione e norme sulla condizione dello straniero (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 286 mit konsolidierten Vorschriften über die Regelung der Einwanderung und die Rechtsstellung von Ausländern) vom 25. Juli 1998 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 191 vom 18. August 1998) (im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 286/1998) aufgenommen. Art. 9 Abs. 12 Buchst. c dieses gesetzesvertretenden Dekrets sieht vor, dass Drittstaatsangehörige, die Inhaber einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung sind, u. a. Leistungen der sozialen Sicherheit und der Sozialhilfe erhalten, „sofern nichts anderes bestimmt ist und sofern der tatsächliche Aufenthalt der Ausländer im Inland nachgewiesen ist“.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10

VR ist ein in Italien abhängig beschäftigter Drittstaatsangehöriger und seit 2010 Inhaber einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung gemäß dem gesetzesvertretenden Dekret Nr. 286/1998. Von September 2011 bis April 2014 hielten sich seine Ehefrau und seine fünf Kinder in ihrem Herkunftsland Pakistan auf.

11

Da das INPS es auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 6bis des Gesetzes Nr. 153/1988 ablehnte, ihm für diesen Zeitraum die Familienzulage zu zahlen, erhob VR Klage gegen das INPS und seinen Arbeitgeber beim Tribunale del lavoro di Brescia (Arbeitsgericht Brescia, Italien) und machte den diskriminierenden Charakter dieser Ablehnung geltend. Nachdem es die genannte Bestimmung, die es für unvereinbar mit Art. 11 der Richtlinie 2003/109 hielt, von der Anwendung ausgeschlossen hatte, gab dieses Gericht den klägerischen Anträgen statt und verurteilte die Beklagten, ihm die entsprechenden Beträge zu zahlen.

12

Die vom INPS gegen diese Entscheidung bei der Corte d’appello di Brescia (Berufungsgericht Brescia, Italien) eingelegte Berufung wurde zurückgewiesen, da dieses Gericht der Auffassung war, dass die Familienzulage eine Kernleistung der Sozialhilfe darstelle, die nicht unter die von der Richtlinie 2003/109 gestatteten Ausnahmen von der Gleichbehandlung fallen könne.

13

Hiergegen wandte sich das INPS sodann mit einer Kassationsbeschwerde an das vorlegende Gericht, die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), vor der es geltend machte, dass die Familienzulage keine Leistung der Sozialhilfe, sondern eine Leistung der sozialen Sicherheit darstelle und dass sie jedenfalls nicht als Kernleistung angesehen werden könne, von der es keine Ausnahme von der Pflicht zur Gleichbehandlung geben könne.

14

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von der Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 und von der Frage abhänge, ob nach dieser Bestimmung, auch wenn sie sich außerhalb des italienischen Hoheitsgebiets aufhielten, die Familienangehörigen des langfristig Aufenthaltsberechtigten, der Anspruch auf die Zahlung der in Art. 2 des Gesetzes Nr. 153/1988 vorgesehenen Familienzulage habe, zum Kreis der Familienangehörigen gehörten, die Begünstigte dieser Leistung seien.

15

Die Familiengemeinschaft im Sinne von Art. 2 des Gesetzes Nr. 153/1988 stelle insoweit nicht nur die Grundlage für die Berechnung der Familienzulage dar, sondern sei auch deren Begünstigte, wobei der Empfänger des Gehalts oder der Altersrente, worauf die Zulage aufbaue, als Zwischenglied fungiere. Es handele sich bei ihr um eine wirtschaftliche Zulage, in deren Genuss insbesondere alle Erbringer von Arbeitsleistungen kämen, die ihre Tätigkeit im italienischen Hoheitsgebiet ausübten, sofern sie einer Familiengemeinschaft angehörten, deren Einkommen eine bestimmte Schwelle nicht überschritten. Für den Zeitraum vom 1. Juli 2018 bis zum 30. Juni 2019 habe ihr voller Satz 137,50 Euro pro Monat für Jahreseinkommen unter 14541,59 Euro betragen. Sie werde vom Arbeitgeber zeitgleich mit dem Lohn ausgezahlt.

16

Das vorlegende Gericht führt außerdem aus, dass die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) in ihrer Rechtsprechung diese Doppelnatur der Familienzulage bereits hervorgehoben habe. Zum einen gehöre diese Zulage, die an Einkünfte jeglicher Art der Familiengemeinschaft gebunden sei und denjenigen Familien ein ausreichendes Einkommen sicherstellen solle, denen es daran fehle, zu den Leistungen der sozialen Sicherheit. Im Einklang mit den allgemeinen Regeln über die Sozialversicherung, in die sich diese Zulage einfüge, erführen die Familien der berufstätigen Arbeitnehmer Schutz durch eine Zulage zum Lohn für die geleistete Arbeit. Die Familienzulage, die durch die von sämtlichen Arbeitgebern erbrachten Beiträge finanziert werde, zu denen ein vom Staat zusätzlich zur Verfügung gestellter Betrag hinzukomme, werde vom Arbeitgeber ausgezahlt, der insoweit in Vorlage trete und zu einer Aufrechnung gegen seine Beitragsschuld berechtigt sei. Zum anderen falle diese Zulage unter die soziale Fürsorge, da die berücksichtigten Einkommen gegebenenfalls erhöht würden, um Kranke bzw. körperlich oder geistig Behinderte oder Minderjährige mit andauernden Schwierigkeiten, altersgerechte Aufgaben und Tätigkeiten zu bewältigen, zu schützen. Jedenfalls handele es sich um eine Maßnahme, die in den Geltungsbereich von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 falle.

17

Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass den Mitgliedern der Familiengemeinschaft für die Zulageregelung eine wesentliche Bedeutung zukomme und sie als deren Begünstigte angesehen würden. Allerdings fragt es sich, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 einer Bestimmung wie Art. 2 Abs. 6bis des Gesetzes Nr. 153/1988 in Anbetracht dessen entgegenstehe, dass die Familienangehörigen, die die Familiengemeinschaft bildeten, vom Gesetz als Begünstigte einer wirtschaftlichen Zuwendung bezeichnet würden, die auf eine Vergütung aufbaue, auf die derjenige, der auch zum Empfang dieser Zulage berechtigt sei, Anspruch habe. Das vorlegende Gericht hat u. a. Zweifel hinsichtlich der Auslegung der genannten Richtlinie im Hinblick auf den vierten Erwägungsgrund und Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie.

18

Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 sowie der Grundsatz der Gleichbehandlung zwischen langfristig Aufenthaltsberechtigten und nationalen Staatsangehörigen dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, auf deren Grundlage entgegen dem, was für die Staatsangehörigen des Mitgliedstaats vorgesehen ist, bei der Zählung der zur Familiengemeinschaft gehörenden Personen für die Berechnung der Familienzulage die Familienangehörigen des langfristig Aufenthaltsberechtigten, der Angehöriger eines Drittstaats ist, ausgeschlossen werden, wenn diese im Herkunftsdrittland wohnhaft sind?

Zur Vorlagefrage

19

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die bei der Bestimmung der Ansprüche auf eine Leistung der sozialen Sicherheit diejenigen Familienangehörigen eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne von Art. 2 Buchst. b dieser Richtlinie unberücksichtigt lässt, die sich nicht im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, sondern in einem Drittstaat aufhalten, während die sich in einem Drittstaat aufhaltenden Familienangehörigen von Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats berücksichtigt werden.

20

Es ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten einschränkt, ihre Systeme der sozialen Sicherheit zu organisieren. In Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene ist es Sache eines jeden Mitgliedstaats, die Voraussetzungen für die Gewährung von Sozialleistungen sowie die Höhe solcher Leistungen und den Zeitraum, für den sie gewährt werden, selbst festzulegen. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 40).

21

Art. 11 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie verlangt von ihnen, langfristig Aufenthaltsberechtigte u. a. auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit im Sinne des nationalen Rechts wie eigene Staatsangehörige zu behandeln.

22

Allerdings können die Mitgliedstaaten nach Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie u. a. in Bezug auf die soziale Sicherheit die Gleichbehandlung auf die Fälle beschränken, in denen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seiner Familienangehörigen, für die er Leistungen beansprucht, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegt.

23

Die Richtlinie 2003/109 sieht somit ein Recht auf Gleichbehandlung vor, das die allgemeine Regel bildet, und führt die Ausnahmen von diesem Recht auf, die einzuführen die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben und die eng auszulegen sind. Diese Ausnahmen können deshalb nur dann geltend gemacht werden, wenn die für die Durchführung dieser Richtlinie zuständigen Stellen in dem betreffenden Mitgliedstaat eindeutig zum Ausdruck gebracht haben, dass sie diese Ausnahmen in Anspruch nehmen wollten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. April 2012, Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 86 und 87, sowie vom 21. Juni 2017, Martinez Silva, C 449/16, EU:C:2017:485, Rn. 29).

24

Da das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 im Hinblick auf deren vierten Erwägungsgrund und deren Art. 2 Buchst. e hegt, ist erstens festzustellen, dass die letztgenannte Bestimmung, nach der „Familienangehöriger“ jeder Drittstaatsangehörige ist, der sich in dem betreffenden Mitgliedstaat gemäß der Richtlinie 2003/86 aufhält, wie der Generalanwalt in den Nrn. 54 und 55 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht bezweckt, das in Art. 11 der Richtlinie 2003/109 vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung der langfristig Aufenthaltsberechtigten zu beschränken, sondern nur, diesen Begriff für das Verständnis derjenigen Bestimmungen der Richtlinie zu definieren, in denen er verwendet wird.

25

Wenn diese Definition bedeutete, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte, dessen Familienangehörigen sich nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten, vom Recht auf Gleichbehandlung ausgenommen wäre, liefe zudem Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 leer, der den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, u. a. dann eine von der Gleichbehandlung abweichende Regelung zu treffen, wenn der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seiner Familienangehörigen, für die er Leistungen beansprucht, nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats liegt.

26

Zweitens ist in Bezug auf den vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 vorab darauf hinzuweisen, dass die Erwägungsgründe eines Unionsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich sind und weder herangezogen werden können, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 1998, Nilsson u. a., C‑162/97, EU:C:1998:554, Rn. 54, sowie vom 19. Dezember 2019, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, EU:C:2019:1113, Rn. 76).

27

Außerdem geht aus diesem Erwägungsgrund zwar hervor, dass die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, ein von dieser Richtlinie verfolgtes Ziel ist; aus diesem Erwägungsgrund kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte, dessen Familienangehörige sich nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten, von dem in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie vorgesehenen Recht auf Gleichbehandlung auszuschließen ist, zumal ein solcher Ausschluss im Übrigen von keiner Bestimmung dieser Richtlinie vorgesehen wird.

28

Soweit das INPS und die italienische Regierung geltend machen, dass der Ausschluss des langfristig Aufenthaltsberechtigten, dessen Familienangehörige sich nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhielten, mit dem von der Richtlinie 2003/109 verfolgten Ziel der Integration in Einklang stehe, da die Integration eine Präsenz in diesem Hoheitsgebiet voraussetze, ist festzustellen, dass sich aus den Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 12 dieser Richtlinie ergibt, dass diese darauf abzielt, die Integration von Drittstaatsangehörigen sicherzustellen, die langfristig und rechtmäßig in den Mitgliedstaaten ansässig sind, und zu diesem Zweck die Rechte dieser Drittstaatsangehörigen denen der Unionsbürger anzugleichen, indem u. a. die Gleichbehandlung mit den Unionsbürgern in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen herbeigeführt wird. Die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlaubt es dem Begünstigten somit, in den von Art. 11 der Richtlinie 2003/109 genannten Bereichen und unter den in diesem Artikel festgelegten Voraussetzungen eine Gleichbehandlung zu erfahren (Urteil vom 14. März 2019, Y. Z. u. a. [Täuschung bei der Familienzusammenführung], C‑557/17, EU:C:2019:203, Rn. 63).

29

Daraus folgt, dass es entgegen dem Vorbringen des INPS und der italienischen Regierung nicht als mit diesen Zielen in Einklang stehend angesehen werden kann, wenn der langfristig Aufenthaltsberechtigte vom Recht auf Gleichbehandlung ausgenommen wird, selbst wenn sich seine Familienangehörigen während eines Zeitraums, der vorübergehend sein kann, wie der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zeigt, nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten.

30

Mithin darf ein Mitgliedstaat vorbehaltlich der von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 gestatteten Ausnahmen die Gewährung einer Leistung der sozialen Sicherheit dem langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht mit der Begründung verweigern oder sie ihm herabsetzen, dass seine Familienangehörigen oder einige von ihnen sich nicht im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats, sondern in einem Drittstaat aufhalten, wenn der fragliche Mitgliedstaat diese Leistung seinen Staatsangehörigen unabhängig davon gewährt, wo sich deren Familienangehörige aufhalten.

31

In Bezug auf das Ausgangsverfahren ist erstens festzustellen, dass das vorlegende Gericht selbst angibt, dass die Familienzulage ihrer Art nach insbesondere eine Leistung der sozialen Sicherheit ist, die in den Geltungsbereich von Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 fällt.

32

Zweitens führt dieses Gericht aus, dass die Familiengemeinschaft die Grundlage für die Berechnung der Höhe dieser Zulage darstellt. Das INPS und die italienische Regierung tragen hierzu vor, dass sich die Nichtberücksichtigung der sich nicht im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik aufhaltenden Familienangehörigen nur auf diese Höhe auswirke; diese Höhe sei gleich null, wie das INPS in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, wenn sich alle Familienangehörigen außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets aufhielten.

33

Es ist allerdings festzustellen, dass sowohl die Nichtzahlung der Familienzulage als auch die Herabsetzung ihrer Höhe in Abhängigkeit davon, ob sich alle Familienangehörigen oder einige von ihnen nicht im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik aufhalten, gegen das in Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung verstoßen, da sie eine Ungleichbehandlung zwischen langfristig Aufenthaltsberechtigten und italienischen Staatsangehörigen begründen.

34

Entgegen dem Vorbringen des INPS kann eine solche Ungleichbehandlung nicht mit der Tatsache gerechtfertigt werden, dass sich langfristig Aufenthaltsberechtigte und die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats wegen ihrer jeweiligen Bindungen zu diesem Staat in einer unterschiedlichen Situation befänden, denn eine solche Rechtfertigung verstößt gegen Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109, der gemäß den Zielen dieser Richtlinie, auf die in Rn. 28 des vorliegenden Urteils hingewiesen wurde, eine Gleichbehandlung zwischen diesen Personen im Bereich der sozialen Sicherheit gebietet.

35

Ebenso wenig können nach ständiger Rechtsprechung die vom INPS und der italienischen Regierung geltend gemachten etwaigen Schwierigkeiten bei der Kontrolle der Situation der Begünstigten im Hinblick auf die Voraussetzungen für die Gewährung der Familienzulage, wenn sich die Familienangehörigen nicht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalten, eine Ungleichbehandlung rechtfertigen (vgl. entsprechend Urteil vom 26. Mai 2016, Kohll und Kohll-Schlesser, C-300/15, EU:C:2016:361, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Drittens hebt das vorlegende Gericht hervor, dass die Mitglieder der Familiengemeinschaft nach nationalem Recht als Begünstigte der Familienzulage angesehen würden. Mit dieser Begründung darf die Gewährung einer solchen Zulage jedoch dem langfristig Aufenthaltsberechtigten, dessen Familienangehörige sich nicht im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik aufhalten, nicht verweigert werden. Die Mitglieder der Familiengemeinschaft kommen nämlich zwar in den Genuss dieser Zulage, was gerade der Zweck einer Familienleistung ist; aus den in den Rn. 15 und 16 des vorliegenden Urteils dargestellten Angaben des vorlegenden Gerichts geht allerdings hervor, dass diese Zulage dem Arbeitnehmer oder Rentner, der ebenfalls Mitglied der Familiengemeinschaft ist, gewährt wird.

37

Folglich steht Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 einer Bestimmung wie Art. 2 Abs. 6bis des Gesetzes Nr. 153/1988 entgegen, nach der – außer wenn von dem Staat, aus dem der Ausländer stammt, italienischen Staatsbürgern eine auf Gegenseitigkeit beruhende Behandlung gewährt wird oder ein internationales Übereinkommen über Familienleistungen abgeschlossen wurde – zur Familiengemeinschaft im Sinne dieses Gesetzes nicht der Ehepartner sowie die Kinder und die diesen Gleichgestellten eines Drittstaatsangehörigen gehören, die sich nicht im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik aufhalten, es sei denn, dass die Italienische Republik gemäß der in Rn. 23 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechung eindeutig zum Ausdruck gebracht hat, dass sie die von Art. 11 Abs. 2 dieser Richtlinie eingeräumte Ausnahme in Anspruch nehmen wollte.

38

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 65 und 66 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten – und wie in der mündlichen Verhandlung von der Italienischen Republik bestätigt wurde – hervor, dass diese bei der Umsetzung der Richtlinie 2003/109 in innerstaatliches Recht eine solche Absicht nicht zum Ausdruck gebracht hat.

39

Die Bestimmungen von Art. 2 Abs. 6bis des Gesetzes Nr. 153/1988 wurden nämlich deutlich vor der Umsetzung der Richtlinie 2003/109 erlassen, die mit dem gesetzesvertretenden Dekret Nr. 3/2007 erfolgte, mit dem die Bestimmungen der Richtlinie in das gesetzesvertretende Dekret Nr. 286/1998 aufgenommen wurden, das in seinem Art. 9 Abs. 12 Buchst. c den Zugang des Inhabers einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung zu Leistungen der sozialen Sicherheit und der Sozialhilfe von der Voraussetzung abhängig macht, dass dieser Inhaber sich tatsächlich im Inland aufhält, ohne auf den Aufenthaltsort von dessen Familienangehörigen Bezug zu nehmen.

40

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die bei der Bestimmung der Ansprüche auf eine Leistung der sozialen Sicherheit diejenigen Familienangehörigen eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne von Art. 2 Buchst. b dieser Richtlinie unberücksichtigt lässt, die sich nicht im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, sondern in einem Drittstaat aufhalten, während die sich in einem Drittstaat aufhaltenden Familienangehörigen von Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats berücksichtigt werden, wenn dieser Mitgliedstaat bei der Umsetzung dieser Richtlinie in das innerstaatliche Recht nicht seine Absicht zum Ausdruck gebracht hat, die nach ihrem Art. 11 Abs. 2 eröffnete Ausnahme von der Gleichbehandlung in Anspruch nehmen zu wollen.

Kosten

41

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die bei der Bestimmung der Ansprüche auf eine Leistung der sozialen Sicherheit diejenigen Familienangehörigen eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne von Art. 2 Buchst. b dieser Richtlinie unberücksichtigt lässt, die sich nicht im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, sondern in einem Drittstaat aufhalten, während die sich in einem Drittstaat aufhaltenden Familienangehörigen von Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats berücksichtigt werden, wenn dieser Mitgliedstaat bei der Umsetzung dieser Richtlinie in das innerstaatliche Recht nicht seine Absicht zum Ausdruck gebracht hat, die von ihrem Art. 11 Abs. 2 eröffnete Ausnahme von der Gleichbehandlung in Anspruch nehmen zu wollen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.