URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

24. November 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 2 – Begriff ‚vollstreckende Justizbehörde‘ – Art. 27 Abs. 2 – Grundsatz der Spezialität – Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 – Ausnahme – Verfolgung wegen einer ‚anderen Handlung‘ als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt – Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde – Zustimmung der Staatsanwaltschaft des Vollstreckungsmitgliedstaats“

In der Rechtssache C‑510/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 26. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juli 2019, in dem Strafverfahren gegen

AZ,

Beteiligte:

Openbaar Ministerie,

YU,

ZV,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras, E. Regan und N. Piçarra, des Richters E. Juhász, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von AZ, vertreten durch F. Thiebaut und M. Souidi, advocaten,

des Openbaar Ministerie, vertreten durch J. Van Gaever,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann, E. Lankenau und A. Berg als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juni 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 sowie der Art. 14, 19 und 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens, das in Belgien gegen AZ, einen belgischen Staatsangehörigen, eingeleitet wurde, der der Urkundenfälschung, der Verwendung gefälschter Urkunden und des Betrugs beschuldigt wird und von den niederländischen Behörden in Vollstreckung Europäischer Haftbefehle den belgischen Behörden übergeben wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 5, 7 und 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(5)

Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(7)

Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union und Artikel 5 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus.

(8)

Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.“

4

Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

5

Die Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses enthalten die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann. Art. 5 des Rahmenbeschlusses betrifft die vom Ausstellungsmitgliedstaat in bestimmten Fällen zu gewährenden Garantien.

6

Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„(1)   Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

(2)   Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.

(3)   Jeder Mitgliedstaat unterrichtet das Generalsekretariat des Rates über die nach seinem Recht zuständige Justizbehörde.“

7

Art. 14 („Vernehmung der gesuchten Person“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Stimmt die festgenommene Person ihrer Übergabe nach Maßgabe des Artikels 13 nicht zu, hat sie das Recht, von der vollstreckenden Justizbehörde nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats vernommen zu werden.“

8

Art. 15 („Entscheidung über die Übergabe“) des Rahmenbeschlusses bestimmt in Abs. 1:

„Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.“

9

Art. 19 („Vernehmung der Person in Erwartung der Entscheidung“) des Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt durch eine Justizbehörde mit Unterstützung einer Person, die nach dem Recht des Mitgliedstaats der ersuchenden Justizbehörde bestimmt wird.

(2)   Die Vernehmung der gesuchten Person erfolgt nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats und nach den im gegenseitigen Einvernehmen zwischen der ausstellenden und der vollstreckenden Justizbehörde festgelegten Bedingungen.

(3)   Die zuständige vollstreckende Justizbehörde kann eine andere Justizbehörde ihres Mitgliedstaats anweisen, an der Vernehmung der gesuchten Person teilzunehmen, um die ordnungsgemäße Anwendung dieses Artikels und der festgelegten Bedingungen zu gewährleisten.“

10

In Art. 27 („Etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat kann dem Generalsekretariat des Rates mitteilen, dass in seinen Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, die Zustimmung dazu, dass eine Person wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Haft gehalten wird, als erteilt gilt, sofern die vollstreckende Justizbehörde im Einzelfall in ihrer Übergabeentscheidung keine anders lautende Erklärung abgibt.

(2)   Außer in den in den Absätzen 1 und 3 vorgesehenen Fällen dürfen Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden.

(3)   Absatz 2 findet in folgenden Fällen keine Anwendung:

g)

wenn die vollstreckende Justizbehörde, die die Person übergeben hat, ihre Zustimmung nach Absatz 4 gibt.

(4)   Das Ersuchen um Zustimmung ist unter Beifügung der in Artikel 8 Absatz 1 erwähnten Angaben und einer Übersetzung gemäß Artikel 8 Absatz 2 an die vollstreckende Justizbehörde zu richten. Die Zustimmung wird erteilt, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach diesem Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt. Die Zustimmung wird verweigert, wenn die in Artikel 3 genannten Gründe vorliegen; ansonsten kann sie nur aus den in Artikel 4 genannten Gründen verweigert werden. Die Entscheidung ist spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens zu treffen.

…“

Nationales Recht

Belgisches Recht

11

Art. 37 der Wet betreffende het Europees aanhoudingsbevel (Gesetz über den Europäischen Haftbefehl) vom 19. Dezember 2003 (Belgisch Staatsblad, 22. Dezember 2003, S. 60075) bestimmt:

„§ 1   Personen, die auf der Grundlage eines von einer belgischen Gerichtsbehörde erlassenen Europäischen Haftbefehls übergeben wurden, dürfen wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Straftat als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden.

§ 2   Paragraph 1 findet in folgenden Fällen keine Anwendung:

Wenn, außer in den in Absatz 1 erwähnten Fällen, der Untersuchungsrichter, der Prokurator des Königs oder das Rechtsprechungsorgan die übergebene Person wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Straftat als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, je nach Fall verfolgen, verurteilen oder gegen sie eine freiheitsentziehende Maßnahme verhängen möchte, ist ein Ersuchen um Zustimmung unter Beifügung der in Artikel 2 § 4 erwähnten Angaben und gegebenenfalls einer Übersetzung an die vollstreckende Gerichtsbehörde zu richten.“

Niederländisches Recht

– Overleveringswet

12

Art. 14 der Wet tot implementatie van het kaderbesluit van de Raad van de Europese Unie betreffende het Europees aanhoudingsbevel en de procedures van overlevering tussen de lidstaten van de Europese Unie (Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union) vom 29. April 2004 (Stb. 2004, Nr. 195) (im Folgenden: Overleveringswet) in ihrer im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt:

„(1)   Die Übergabe wird nur unter der allgemeinen Bedingung gestattet, dass die gesuchte Person nicht wegen Taten verfolgt, bestraft oder auf andere Weise in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt wird, die vor dem Zeitpunkt ihrer Übergabe begangen wurden und wegen denen sie nicht übergeben wurde, es sei denn:

f)

dazu wird um die vorherige Zustimmung des Staatsanwalts nachgesucht, und diese wird erteilt.

(3)   Auf Ersuchen der ausstellenden Justizbehörde und auf der Grundlage des übermittelten Europäischen Haftbefehls mit beigefügter Übersetzung erteilt der Staatsanwalt die Zustimmung im Sinne von Abs. 1 Buchst. f … in Bezug auf Taten, wegen denen die Übergabe nach diesem Gesetz hätte gestattet werden können. …“

– Gesetz über die Gerichtsorganisation

13

Gemäß Art. 127 der Wet op de Rechterlijke Organisatie (Gesetz über die Gerichtsorganisation) kann der Minister für Justiz und Sicherheit allgemeine und spezifische Weisungen bezüglich der Ausübung der Funktionen und Befugnisse der Staatsanwaltschaft erteilen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

Mit Beschluss vom 26. September 2017 stellte der Untersuchungsrichter bei der Rechtbank van eerste aanleg te Leuven (Gericht Erster Instanz Löwen, Belgien) auf Antrag des Prokurators des Königs bei diesem Gericht einen Europäischen Haftbefehl gegen AZ, einen belgischen Staatsangehörigen, aus. Der Europäische Haftbefehl war auf die Übergabe von AZ zur Strafverfolgung wegen des Vorwurfs der Urkundenfälschung, der Verwendung gefälschter Urkunden und des Betrugs, begangen in Belgien zwischen dem 5. und dem 13. Mai 2017, gerichtet (im Folgenden: ursprünglicher Europäischer Haftbefehl).

15

AZ wurde daraufhin in den Niederlanden festgenommen. In Vollstreckung des ursprünglichen Europäischen Haftbefehls wurde er am 13. Dezember 2017 aufgrund einer Entscheidung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) den belgischen Behörden übergeben.

16

Am 26. Januar 2018 erließ der Untersuchungsrichter bei der Rechtbank van eerste aanleg te Leuven (Gericht Erster Instanz Löwen) gegen AZ einen ergänzenden Europäischen Haftbefehl (im Folgenden: ergänzender Europäischer Haftbefehl), der auf die Übergabe von AZ wegen des Vorwurfs der Urkundenfälschung, der Verwendung gefälschter Urkunden und des Betrugs in anderen als den vom ursprünglichen Europäischen Haftbefehl erfassten Fällen, die Gegenstand von Ersuchen des Prokurators des Königs bei diesem Gericht vom 26. Oktober und 24. November 2017 sowie vom 19. und 25. Januar 2018 waren, gerichtet war.

17

Mit einem an den Untersuchungsrichter bei der Rechtbank van eerste aanleg te Leuven (Gericht Erster Instanz Löwen) gerichteten Schreiben vom 13. Februar 2018 erteilte der Officier van justitie (Staatsanwalt) beim Arrondissementsparket Amsterdam (Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam, Niederlande) gemäß Art. 14 der Overleveringswet seine Zustimmung zur Verfolgung der im ergänzenden Europäischen Haftbefehl aufgeführten Taten.

18

Wie aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, hervorgeht, wurde AZ wegen der im ursprünglichen Europäischen Haftbefehl und der im ergänzenden Europäischen Haftbefehl aufgeführten Taten verfolgt. Die Correctionele rechtbank te Leuven (Korrektionalgericht Löwen, Belgien) verurteilte AZ wegen dieser Taten u. a. zu einer Hauptfreiheitsstrafe von drei Jahren.

19

AZ hat gegen dieses Urteil ein Rechtsmittel beim Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) eingelegt. Vor diesem Gericht wirft AZ die Frage auf, ob Art. 14 der Overleveringswet mit Art. 6 Abs. 2, Art. 14, Art. 19 Abs. 2 und Art. 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vereinbar ist. In diesem Kontext möchte das vorlegende Gericht insbesondere wissen, ob der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam im vorliegenden Fall eine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses ist und als solche die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Zustimmung erteilen kann.

20

Unter diesen Umständen hat der Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

a)

Handelt es sich bei dem Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um einen autonomen Begriff des Unionsrechts?

b)

Sofern die Frage 1. a bejaht wird: Anhand welcher Kriterien kann festgestellt werden, ob eine Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats eine solche Justizbehörde ist und der von ihr vollstreckte Europäische Haftbefehl folglich eine justizielle Entscheidung darstellt?

c)

Sofern die Frage 1. a bejaht wird: Fällt das niederländische Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft), genauer gesagt der Officier van Justitie (Staatsanwalt), unter den Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584, und ist der von dieser Behörde vollstreckte Europäische Haftbefehl folglich eine justizielle Entscheidung?

d)

Sofern die Frage 1. c bejaht wird: Ist es zulässig, dass die ursprüngliche Übergabe von einer Justizbehörde, genauer gesagt der [Internationale Rechtshulpkamer (Kammer für internationale Rechtshilfe) der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam)], gemäß Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 geprüft wird, wobei u. a. das Recht des Betroffenen auf Anhörung und auf Zugang zu den Gerichten gewahrt sind, während für die ergänzende Übergabe gemäß Art. 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eine andere Behörde, und zwar der Staatsanwalt, zuständig ist, wobei kein Recht des Betroffenen auf Anhörung und auf Zugang zu den Gerichten gewährleistet ist, so dass ohne jeden triftigen Grund eine offensichtliche Inkohärenz innerhalb des Rahmenbeschlusses 2002/584 entsteht?

e)

Sofern die Fragen 1. c und 1. d bejaht werden: Sind die Art. 14, 19 und 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass eine Staatsanwaltschaft, die als vollstreckende Justizbehörde auftritt, vor allem das Recht des Betroffenen auf Anhörung und auf Zugang zu den Gerichten wahren muss, bevor sie die Zustimmung zur Verfolgung, Verurteilung oder Inhafthaltung einer Person im Hinblick auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung wegen einer Straftat erteilen kann, die vor ihrer Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls begangen wurde und auf die sich das Übergabeersuchen nicht erstreckt?

2.

Ist der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam, der in Ausführung von Art. 14 der Overleveringswet handelt, die vollstreckende Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584, die die gesuchte Person übergeben hat und die ihre Zustimmung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erteilen kann?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

21

Die deutsche Regierung äußert Zweifel an der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens. Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, die gestellten Fragen stünden in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens, und das vorlegende Gericht habe jedenfalls nicht angegeben, wieso die Antworten auf seine Fragen für die Entscheidung dieses Verfahrens erheblich sein sollten.

22

Die Vorlagefragen beträfen das Verfahren für die Übergabe und die Zustimmung in den Niederlanden, in dessen Rahmen die niederländischen Behörden eine endgültige Entscheidung getroffen hätten. Die gesuchte Person sei bereits in Ausführung dieser Entscheidung den belgischen Behörden übergeben worden. In diesem Kontext hätten die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats nicht die Möglichkeit, die im Vollstreckungsmitgliedstaat getroffene Entscheidung zu überprüfen; sie könne nur vor dessen Gerichten angefochten werden.

23

Eine Überprüfung der Gültigkeit der von einer Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats erteilten Zustimmung würde zudem gegen den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten verstoßen.

24

Schließlich würde die Überprüfung eines bereits abgeschlossenen Vollstreckungsverfahrens im Ausstellungmitgliedstaat auch dem Ziel des Rahmenbeschlusses 2002/584 zuwiderlaufen, das darin bestehe, das mit einem Eingriff und einer Beurteilung durch die politische Gewalt verbundene System der klassischen Kooperation zwischen souveränen Staaten durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes vereinfachtes und wirksameres System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur Strafverfolgung zu ersetzen. Selbst im Rahmen klassischer Auslieferungsverfahren werde das nationale Verfahren, das zu der Entscheidung führe, den Verfolgten auszuliefern, im ersuchenden Staat keiner gerichtlichen Kontrolle unterzogen.

25

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung insbesondere „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Das Vorabentscheidungsverfahren setzt daher insbesondere voraus, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sie eine Entscheidung erlassen müssen, bei der das im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteil berücksichtigt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 45 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584, wie insbesondere aus seinem Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie aus seinen Erwägungsgründen 5 und 7 hervorgeht, das multilaterale System der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten durch ein auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhendes System der Übergabe verurteilter oder verdächtiger Personen zwischen Justizbehörden zur Vollstreckung von Urteilen oder zur Strafverfolgung ersetzen soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2008, Kozłowski, C‑66/08, EU:C:2008:437, Rn. 31, und vom 23. Januar 2018, Piotrowski, C‑367/16, EU:C:2018:27, Rn. 46).

29

Die Wirksamkeit und die Funktionstüchtigkeit dieses vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, beruhen auf der Einhaltung bestimmter im Rahmenbeschluss 2002/584 festgelegter Anforderungen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 46). Zu diesen Anforderungen gehört, dass es sich bei der ausstellenden Behörde und der vollstreckenden Behörde, die im Rahmen eines auf dem Rahmenbeschluss beruhenden Übergabeverfahrens zusammenarbeiten sollen, um Justizbehörden handelt.

30

Die Fragen des vorlegenden Gerichts betreffen aber gerade die Auslegung des Begriffs „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 sowie von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584.

31

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses der Grundsatz der Spezialität aufgestellt wird, wonach Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden dürfen. Nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. g des Rahmenbeschlusses findet dieser Grundsatz jedoch keine Anwendung, wenn die vollstreckende Justizbehörde ihre Zustimmung nach Art. 27 Abs. 4 gegeben hat.

32

Wie dem Wortlaut von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses zu entnehmen ist, muss die Zustimmung, von der es abhängt, ob die dem Ausstellungsmitgliedstaat in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls übergebene Person wegen anderer als der im Haftbefehl aufgeführten Handlungen verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden darf, von einer Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats erteilt werden, bei der es sich um eine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses handelt.

33

In seinem Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht aus, das Ausgangsverfahren sei ein Strafverfahren, das in Belgien gegen AZ durchgeführt werde, nachdem er in Vollstreckung des ursprünglichen Europäischen Haftbefehls von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) übergeben worden sei. AZ sei wegen der im ursprünglichen Europäischen Haftbefehl und im ergänzenden Europäischen Haftbefehl aufgeführten Handlungen, die als Urkundenfälschung, Verwendung gefälschter Urkunden und Betrug eingestuft worden seien, in Belgien verfolgt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Zustimmung zur Verfolgung wegen der im ergänzenden Europäischen Haftbefehl aufgeführten Taten sei vom Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam gemäß Art. 14 der Overleveringswet erteilt worden.

34

AZ wirft jedoch vor dem vorlegenden Gericht die Frage auf, ob der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam unter den Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt und ob er somit im vorliegenden Fall die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Zustimmung erteilen durfte.

35

Unter diesen Umständen ist die vom vorlegenden Gericht begehrte Auslegung des Begriffs „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne der in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 erforderlich, damit dieses Gericht klären kann, ob die in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Zustimmung zur Verfolgung wegen der im ergänzenden Europäischen Haftbefehl aufgeführten Taten von einer solchen Behörde erteilt wurde, und damit es infolgedessen über die Verurteilung von AZ, die aus seiner Verfolgung in Belgien resultierte, entscheiden kann.

36

Die Frage, ob die in Rede stehende Zustimmung im vorliegenden Fall im Einklang mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses erteilt wurde und ob das vorlegende Gericht gemäß den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung verpflichtet ist, ihre Wirkungen in seiner Rechtsordnung anzuerkennen, betrifft mithin den Inhalt der vorliegenden Rechtssache, so dass kein Anlass zu Zweifeln an der Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens besteht.

37

Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zu den Vorlagefragen

Zu den Buchst. a und b der ersten Frage

38

Mit den Buchst. a und b seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es sich bei dem Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt und, wenn ja, anhand welcher Kriterien der Inhalt dieses Begriffs zu bestimmen ist.

39

Nach Art. 6 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmen die Mitgliedstaaten die nach ihrem Recht für die Ausstellung oder die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zuständigen Justizbehörden. Daraus ergibt sich im Wesentlichen, dass nicht nur die Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls von einer „Justizbehörde“ getroffen werden muss, sondern auch die Entscheidung über die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls.

40

Zum Begriff „ausstellende Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten zwar im Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensautonomie in ihrem nationalen Recht die für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständige „Justizbehörde“ bestimmen können, doch dürfen Bedeutung und Tragweite dieses Begriffs nicht der Beurteilung durch jeden Mitgliedstaat überlassen bleiben, da er in der gesamten Union einer autonomen und einheitlichen Auslegung bedarf, die unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses als auch des Kontexts, in den er sich einfügt, und des mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziels zu ermitteln ist (Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 48 und 49, sowie vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 51).

41

Aus den gleichen Gründen handelt es sich bei dem Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um einen autonomen Begriff des Unionsrechts.

42

In Bezug auf die Kriterien, anhand deren der Inhalt dieses Begriffs zu bestimmen ist, ist erstens festzustellen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass sich der in Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verwendete Begriff „Justizbehörde“ nicht allein auf die Richter oder Gerichte eines Mitgliedstaats beschränkt, sondern so zu verstehen ist, dass er darüber hinaus die Behörden erfasst, die in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, im Unterschied insbesondere zu Ministerien oder Polizeibehörden, die zur Exekutive gehören (Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 50, sowie vom 27. Mai 2019, PF [Generalstaatsanwalt von Litauen], C‑509/18, EU:C:2019:457, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Die Staatsanwaltschaften wirken an der Strafrechtspflege im betreffenden Mitgliedstaat mit (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 63, und vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 53).

44

Zweitens hat der Gerichtshof ausgeführt, dass die „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der Lage sein muss, diese Aufgabe in objektiver Weise wahrzunehmen, unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte und ohne Gefahr zu laufen, dass ihre Entscheidungsbefugnis Gegenstand externer Anordnungen oder Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, ist, so dass kein Zweifel daran besteht, dass die Entscheidung, den Europäischen Haftbefehl auszustellen, von dieser Behörde getroffen wurde und nicht letzten Endes von der Exekutive. Infolgedessen muss die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde die Gewähr bieten können, dass sie angesichts der nach der Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats bestehenden Garantien bei der Ausübung ihrer der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig handelt. Diese Unabhängigkeit verlangt, dass es Rechts- und Organisationsvorschriften gibt, die zu gewährleisten vermögen, dass die ausstellende Justizbehörde, wenn sie die Entscheidung trifft, einen solchen Haftbefehl auszustellen, nicht der Gefahr ausgesetzt ist, etwa einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen zu werden (Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 73 und 74, sowie vom 27. Mai 2019, PF [Generalstaatsanwalt von Litauen], C‑509/18, EU:C:2019:457, Rn. 51 und 52).

45

Außerdem müssen, wenn nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls eine Behörde zuständig ist, die in diesem Mitgliedstaat an der Rechtspflege mitwirkt, aber selbst kein Gericht ist, die Entscheidung über die Ausstellung eines solchen Haftbefehls und insbesondere ihre Verhältnismäßigkeit in diesem Mitgliedstaat in einer Weise gerichtlich überprüfbar sein, die den Erfordernissen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes voll und ganz genügt (Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 75, und vom 27. Mai 2019, PF [Generalstaatsanwalt von Litauen], C‑509/18, EU:C:2019:457, Rn. 53).

46

Insoweit hat der Gerichtshof hinzugefügt, dass das Bestehen einer gerichtlichen Kontrolle der von einer anderen Behörde als einem Gericht getroffenen Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, keine Voraussetzung dafür darstellt, dass diese Behörde als „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 angesehen werden kann. Ein solches Erfordernis fällt nicht unter die Rechts- und Organisationsvorschriften dieser Behörde, sondern betrifft das Verfahren der Ausstellung eines solchen Haftbefehls, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügen muss (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 48 und 63, sowie vom 12. Dezember 2019, Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaft Schweden], C‑625/19 PPU, EU:C:2019:1078, Rn. 30 und 53).

47

Der Status und die Natur der Justizbehörden, auf die sich die Abs. 1 und 2 von Art. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 beziehen, stimmen überein, auch wenn diese Justizbehörden gesonderte Aufgaben erfüllen, die zum einen in der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls bestehen und zum anderen in der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls.

48

Erstens dient der Rahmenbeschluss 2002/584 nämlich, wie in Rn. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zur Schaffung eines vereinfachten Systems der unmittelbaren Übergabe zwischen Justizbehörden, das an die Stelle eines mit einem Eingriff und einer Beurteilung durch die politische Gewalt verbundenen Systems der klassischen Kooperation zwischen souveränen Staaten treten soll, um im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts den freien Verkehr strafrechtlicher justizieller Entscheidungen sicherzustellen (Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 65, vom 27. Mai 2019, PF [Generalstaatsanwalt von Litauen], C‑509/18, EU:C:2019:457, Rn. 43, und vom 9. Oktober 2019, NJ [Staatsanwaltschaft Wien], C‑489/19 PPU, EU:C:2019:849, Rn. 32).

49

Der Rahmenbeschluss 2002/584 beruht auf dem Grundsatz, dass die den Europäischen Haftbefehl betreffenden Entscheidungen in den Genuss aller Garantien kommen, die derartigen Entscheidungen eigen sind, insbesondere derjenigen, die sich aus den in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses angesprochenen Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben. Dies bedeutet, dass nicht nur die Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls, sondern auch die Entscheidung über die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls von einer Justizbehörde zu treffen ist, die den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einhergehenden Anforderungen – u. a. der Unabhängigkeitsgarantie – genügt, damit das gesamte im Rahmenbeschluss vorgesehene Verfahren der Übergabe zwischen Mitgliedstaaten unter justizieller Kontrolle stattfindet (Urteile vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 37, und vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 56).

50

Wie sich überdies aus dem achten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt, müssen Entscheidungen zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.

51

Insoweit ist zweitens festzustellen, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ebenso wie dessen Ausstellung die Freiheit der betreffenden Person beeinträchtigen kann, da sie zur Inhaftnahme der gesuchten Person führt, damit diese der ausstellenden Justizbehörde zur Strafverfolgung übergeben werden kann.

52

Drittens ist darauf hinzuweisen, dass das System des Europäischen Haftbefehls im Verfahren der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung einen zweistufigen Schutz der Verfahrensrechte und der Grundrechte, über die die gesuchte Person verfügen muss, gewährleistet; dies impliziert zum einen, dass zumindest auf einer der beiden Stufen des Schutzes eine Entscheidung erlassen wird, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen genügt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 68, und vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 60), und zum anderen, dass die „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, d. h. die Stelle, die letztlich die Entscheidung trifft, den Europäischen Haftbefehl auszustellen, bei der Ausübung ihrer der Ausstellung dieses Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben in objektiver und unabhängiger Weise handeln kann, und zwar auch dann, wenn er auf einer nationalen Entscheidung beruht, die von einem Richter oder einem Gericht getroffen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 71 bis 74, und vom 9. Oktober 2019, NJ [Staatsanwaltschaft Wien], C‑489/19 PPU, EU:C:2019:849, Rn. 37 und 38).

53

Dagegen stellt das Tätigwerden der vollstreckenden Justizbehörde die einzige Stufe des Schutzes dar, die im Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehen ist, um zu gewährleisten, dass der Betroffene im Stadium der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls in den Genuss aller Garantien kam, die dem Erlass justizieller Entscheidungen eigen sind, insbesondere derjenigen, die sich aus den in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses angesprochenen Grundrechten und allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben.

54

Aus den Erwägungen in den Rn. 47 bis 53 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass unter dem Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584, ebenso wie unter dem Begriff „ausstellende Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses, entweder ein Richter oder ein Gericht zu verstehen ist oder eine Justizbehörde wie die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats, die an der Rechtspflege in diesem Mitgliedstaat mitwirkt und im Einklang mit der in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung über die erforderliche Unabhängigkeit von der Exekutive verfügt. Wird durch das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats die Zuständigkeit für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls einer solchen Behörde übertragen, muss diese ihre Aufgabe gleichwohl im Rahmen eines Verfahrens ausüben, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügt; dies impliziert, dass es in dem betreffenden Mitgliedstaat einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung dieser Behörde gibt.

55

Es ist Sache der Mitgliedstaaten, darauf zu achten, dass ihre Rechtsordnung das Rechtsschutzniveau, wie es vom Rahmenbeschluss 2002/584 in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs gefordert wird, mittels von ihnen umgesetzter Verfahrensregeln, die von System zu System unterschiedlich sein können, wirksam garantiert (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 64).

56

Nach alledem ist auf die Buchst. a und b der ersten Frage zu antworten, dass es sich bei dem Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt, der dahin auszulegen ist, dass er sich auf die Behörden eines Mitgliedstaats erstreckt, die, ohne notwendigerweise Richter oder Gerichte zu sein, in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, bei der Ausübung ihrer der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig handeln und ihre Aufgaben im Rahmen eines Verfahrens ausüben, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügt.

Zu Buchst. c der ersten Frage und zur zweiten Frage

57

Mit Buchst. c seiner ersten Frage und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass es sich bei dem Staatsanwalt eines Mitgliedstaats um eine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne dieser Bestimmungen handelt.

58

Wie aus der Antwort auf die Buchst. a und b der ersten Frage hervorgeht, müssen Entscheidungen zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine „Justizbehörde“ des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung über die Übergabe treffen muss; diese Behörde muss die in Rn. 54 des vorliegenden Urteils aufgeführten Voraussetzungen erfüllen.

59

Auch bei der Erteilung der in Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Zustimmung muss eine Justizbehörde tätig werden, die diese Voraussetzungen erfüllt.

60

Die Entscheidung, die in Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Zustimmung zu erteilen, ist nämlich eine von der Entscheidung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gesonderte Entscheidung und entfaltet für die betreffende Person gesonderte Wirkungen.

61

Insoweit ist zum einen festzustellen, dass nach dieser Bestimmung die Zustimmung erteilt wird, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach dem Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt. Zudem entsprechen die Gründe, aus denen die Zustimmung verweigert wird oder verweigert werden kann, den in den Art. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses genannten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.

62

Zum anderen hat die niederländische Regierung zutreffend darauf hingewiesen, dass die betreffende Person, wenn die vollstreckende Justizbehörde ersucht wird, ihre Zustimmung gemäß Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu erteilen, bereits in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls der ausstellenden Justizbehörde übergeben wurde. Die Entscheidung über diese Zustimmung ist jedoch, wie die Entscheidung zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls, geeignet, die Freiheit der betreffenden Person zu beeinträchtigen, da sie eine andere Handlung als diejenige betrifft, aufgrund deren die Person übergeben wurde, und zu ihrer Verurteilung zu einer höheren Strafe führen kann.

63

Nach dem in Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundsatz der Spezialität dürfen nämlich Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden. Nur in den in Art. 27 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses genannten Fällen, insbesondere wenn die Zustimmung gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 erteilt wurde, sind die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats befugt, die übergebene Person wegen einer anderen Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe zugrunde liegt, zu verfolgen oder zu verurteilen.

64

Unabhängig davon, ob die in Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Zustimmung von der gleichen Justizbehörde erteilt werden muss wie der, die den fraglichen Europäischen Haftbefehl vollstreckt hat, darf sie somit jedenfalls nicht von einer Behörde erteilt werden, die im Rahmen der Ausübung ihrer Entscheidungsbefugnis einer Einzelweisung seitens der Exekutive unterworfen werden kann und infolgedessen die Voraussetzungen für eine Einstufung als „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses nicht erfüllt.

65

Im vorliegenden Fall geht aus den Erklärungen der niederländischen Regierung hervor, dass es in dem Verfahren, in dem eine Person in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung übergeben wird, nach niederländischem Recht der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam obliegt, die Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) zu ersuchen, den Europäischen Haftbefehl im Hinblick auf seine Vollstreckung zu prüfen. Die niederländische Regierung hat jedoch hervorgehoben, dass die Entscheidung über die Übergabe letztlich von diesem Gericht getroffen werde, während sich die Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam auf deren Ausführung beschränke.

66

Die justizielle Entscheidung über die Übergabe einer Person in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wird somit nach niederländischem Recht offenbar von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) getroffen, bei der es sich unstreitig um eine „Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses 2002/584 handelt.

67

Die Entscheidung, die in Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Zustimmung zu erteilen, wurde hingegen nach den Angaben der niederländischen Regierung ausschließlich von der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam getroffen, da die betreffende Person bereits aufgrund einer Entscheidung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam) der ausstellenden Justizbehörde übergeben worden war. Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt, kann die Staatsanwaltschaft aber nach Art. 127 des Gesetzes über die Gerichtsorganisation Einzelweisungen seitens des niederländischen Justizministers unterworfen werden. Folglich kann angesichts der Ausführungen in Rn. 64 des vorliegenden Urteils nicht davon ausgegangen werden, dass die Staatsanwaltschaft die Voraussetzungen für eine Einstufung als „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses erfüllt.

68

Diese Erwägung kann nicht durch den von der niederländischen Regierung in ihren Erklärungen angeführten Umstand in Frage gestellt werden, dass die betreffende Person gegen die vom Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam erteilte Zustimmung einen Rechtsbehelf beim Voorzieningenrechter (für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständiger Richter, Niederlande) einlegen kann.

69

In Anbetracht der Angaben der niederländischen Regierung dürfte die Existenz dieses Rechtsbehelfs als solche nämlich nicht geeignet sein, den Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam vor der Gefahr zu bewahren, dass seine Entscheidung über die Zustimmung gemäß Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 einer Einzelweisung des niederländischen Justizministers unterworfen wird (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 86).

70

Nach alledem ist auf Buchst. c der ersten Frage und auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass es sich bei dem Staatsanwalt eines Mitgliedstaats, der zwar an der Rechtspflege mitwirkt, aber im Rahmen der Ausübung seiner Entscheidungsbefugnis eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten kann, nicht um eine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne dieser Bestimmungen handelt.

Zu den Buchst. d und e der ersten Frage

71

Angesichts der Antworten auf die Buchst. a bis c der ersten Frage und auf die zweite Frage sind die Buchst. d und e der ersten Frage nicht zu beantworten.

Zur zeitlichen Begrenzung der Wirkungen des vorliegenden Urteils

72

Das Openbaar Ministerie (Staatsanwaltschaft, Belgien) hat den Gerichtshof ersucht, die Wirkungen des vorliegenden Urteils zeitlich zu begrenzen, falls er entscheiden sollte, dass eine Behörde wie der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam nicht unter den Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt. Es hat dazu ausgeführt, bis zum Erlass des Urteils vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456), habe kein Anlass zu Zweifeln an der Vereinbarkeit des Tätigwerdens eines Staatsanwalts mit den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses bestanden.

73

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden können und müssen, die vor dem Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung der Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

74

Nur ganz ausnahmsweise kann der Gerichtshof aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen (Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

75

Im vorliegenden Fall ist jedoch festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft keinen Anhaltspunkt dafür geliefert hat, dass die vom Gerichtshof im vorliegenden Urteil herangezogenen Auslegungsgesichtspunkte die Gefahr schwerwiegender Störungen für die Verfahren zur Vollstreckung Europäischer Haftbefehle mit sich bringen würden.

76

Daher sind die Wirkungen des vorliegenden Urteils nicht zeitlich zu begrenzen.

Kosten

77

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Bei dem Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ in Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung handelt es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts, der dahin auszulegen ist, dass er sich auf die Behörden eines Mitgliedstaats erstreckt, die, ohne notwendigerweise Richter oder Gerichte zu sein, in diesem Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, bei der Ausübung ihrer der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls innewohnenden Aufgaben unabhängig handeln und ihre Aufgaben im Rahmen eines Verfahrens ausüben, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügt.

 

2.

Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass es sich bei dem Staatsanwalt eines Mitgliedstaats, der zwar an der Rechtspflege mitwirkt, aber im Rahmen der Ausübung seiner Entscheidungsbefugnis eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten kann, nicht um eine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne dieser Bestimmungen handelt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.