URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

11. Juni 2020 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Richtlinie 2003/109/EG – Art. 12 – Erlass einer Ausweisungsverfügung gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten – Zu berücksichtigende Gesichtspunkte – Nationale Rechtsprechung – Fehlende Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte – Vereinbarkeit – Richtlinie 2001/40/EG – Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen – Relevanz“

In der Rechtssache C‑448/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Oberster Gerichtshof von Kastilien-La Mancha, Spanien) mit Entscheidung vom 15. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juni 2019, in dem Verfahren

WT

gegen

Subdelegación del Gobierno en Guadalajara

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, des Präsidenten der Vierten Kammer M. Vilaras (Berichterstatter) und der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von WT, vertreten durch A. García Herrera und A. Abeijón Martínez, abogados,

der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch M. J. García-Valdecasas Dorrego, dann durch S. Jiménez García als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Pardo Quintillán und C. Cattabriga als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) in Verbindung mit der Richtlinie 2001/40/EG des Rates vom 28. Mai 2001 über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen (ABl. 2001, L 149, S. 34).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen WT und der Subdelegación del Gobierno en Guadalajara (Vertretung der Regierung in der Provinz Guadalajara, Spanien) wegen einer Entscheidung dieser Behörde, mit der die Ausweisung von WT aus dem spanischen Hoheitsgebiet angeordnet wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2003/109

3

Art. 12 („Ausweisungsschutz“) Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2003/109 sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können nur dann gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt.

(3)   Bevor sie gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

a)

Dauer des Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet,

b)

Alter der betreffenden Person,

c)

Folgen für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen,

d)

Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.“

Richtlinie 2001/40

4

Nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/40 soll mit dieser die Anerkennung einer Rückführungsentscheidung ermöglicht werden, die von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats gegenüber einem Drittstaatsangehörigen erlassen wurde, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält.

5

Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Rückführung nach Artikel 1 betrifft die folgenden Fälle:

a)

Gegen den Drittstaatsangehörigen ergeht eine Rückführungsentscheidung, die mit einer schwerwiegenden und akuten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit begründet ist und die in den folgenden Fällen erlassen wird:

Verurteilung des Drittstaatsangehörigen durch den Entscheidungsmitgliedstaat aufgrund einer Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist;

…“

Spanisches Recht

6

Die Ley Orgánica 4/2000 sobre derechos y libertades de los extranjeros en España y su integración social (Organgesetz 4/2000 über die Rechte und Freiheiten von Ausländern in Spanien und deren gesellschaftliche Integration) vom 11. Januar 2000 (BOE Nr. 10 vom 12. Januar 2000, S. 1139) in ihrer für den Ausgangsrechtsstreit maßgebenden Fassung (im Folgenden: Gesetz 4/2000) legt in Titel III „ausländerrechtliche Zuwiderhandlungen und ihre Ahndung“ fest.

7

In Art. 57, der zu diesem Titel gehört, heißt es:

„1.   Wird die Zuwiderhandlung von einem Ausländer begangen und erfüllt sie den Tatbestand eines sehr schweren oder schweren Verstoßes im Sinne von Art. 53 Abs. 1 Buchst. a, b, c, d oder f dieser Ley Orgánica, so kann unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit anstelle der Sanktion der Geldbuße nach Abschluss des entsprechenden Verwaltungsverfahrens und mit begründeter und die Tatumstände des Verstoßes bewertender Entscheidung die Ausweisung aus dem spanischen Hoheitsgebiet angeordnet werden.

2.   Ebenso kann ein Ausländer nach Durchführung des entsprechenden Verfahrens ausgewiesen werden, wenn er innerhalb oder außerhalb Spaniens wegen einer vorsätzlichen Handlung verurteilt worden ist, die in Spanien eine Straftat darstellt, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr geahndet wird, sofern die Straftaten im Vorstrafenregister nicht gelöscht worden sind.

5.   Die Sanktion der Ausweisung darf, außer im Fall einer Zuwiderhandlung gemäß Art. 54 Abs. 1 Buchst. a oder der Wiederholung einer mit Ausweisung bedrohten gleichartigen Zuwiderhandlung binnen eines Jahres, nicht gegen Ausländer angeordnet werden, die unter die folgenden Kategorien fallen:

b)

langfristig Aufenthaltsberechtigte. Bevor gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten die Ausweisung verfügt wird, sind die Dauer seines Aufenthalts in Spanien und die entstandenen Bindungen, sein Alter, die Folgen für ihn und seine Familienangehörigen sowie die Bindungen zu dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, zu berücksichtigen.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

8

WT ist marokkanischer Staatsangehöriger und Inhaber einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung in Spanien. Am 22. Februar 2016 wurde er bei den zuständigen Polizeibehörden vorstellig, um Verwaltungsangelegenheiten bezüglich ausländerrechtlicher Dokumente zu regeln. Dabei wurde festgestellt, dass WT zwischen 2011 und 2014 zu mehreren Strafen verurteilt worden war, u. a. zu drei Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr. Deshalb wurde ein Ausweisungsverfahren gegen WT eingeleitet, in dem er angehört wurde.

9

WT machte insbesondere geltend, dass seine früheren strafrechtlichen Verurteilungen für sich genommen seine Ausweisung aus dem spanischen Hoheitsgebiet nicht rechtfertigen könnten, und dass er, da er sich seit mehr als zehn Jahren in diesem Mitgliedstaat aufhalte, in die spanische Gesellschaft und auch deren Kultur integriert sei. Zudem habe er in diesem Land seine familiären und beruflichen Bindungen.

10

Am 26. April 2016 erließ die Vertretung der Regierung in der Provinz Guadalajara eine Entscheidung, mit der die Ausweisung von WT aus dem spanischen Hoheitsgebiet angeordnet wurde, da sie der Auffassung war, die Voraussetzungen für die Anwendung des in Art. 57 Abs. 2 des Gesetzes 4/2000 vorgesehenen Ausweisungsgrundes seien in seinem Fall erfüllt.

11

WT erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 1 de Guadalajara (Verwaltungsgericht Nr. 1 Guadalajara, Spanien). Er stützte seine Klage im Wesentlichen auf dieselben Argumente, die er bereits im Verwaltungsverfahren vorgebracht hatte.

12

Mit Urteil vom 3. Juli 2017 wies der Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 1 de Guadalajara (Verwaltungsgericht Nr. 1 Guadalajara) die Klage von WT als unbegründet ab. Dieser legte gegen das Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Oberster Gerichtshof von Kastilien-La Mancha, Spanien) Berufung ein und machte einen Verstoß gegen Art. 12 der Richtlinie 2003/109 geltend.

13

In seinem Vorabentscheidungsersuchen nimmt das vorlegende Gericht auf zwei Urteile des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) vom 19. und vom 27. Februar 2019 Bezug, in denen dieses Gericht unter Verweis namentlich auf Art. 3 Abs. 1 Buchst. a erster Gedankenstrich der Richtlinie 2001/40 entschieden habe, dass langfristig aufenthaltsberechtigte Ausländer, die wegen vorsätzlicher, mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bedrohter Straftaten verurteilt worden seien, gemäß Art. 57 Abs. 2 des Gesetzes 4/2000 automatisch auszuweisen seien, ohne Abs. 5 dieses Artikels anzuwenden.

14

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, das klarstellt, dass es an die Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) gebunden sei, sind dessen oben genannte Urteile mit den Bestimmungen der Richtlinie 2003/109, wie sie vom Gerichtshof in seinen Urteilen vom 8. Dezember 2011, Ziebell (C‑371/08, EU:C:2011:809), und vom 7. Dezember 2017, López Pastuzano (C‑636/16, EU:C:2017:949), ausgelegt worden seien, nicht vereinbar. Diese Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) werde mit der Richtlinie 2001/40, die rein verfahrensrechtlicher Natur sei, begründet, um Schlüsse zu ziehen, die rechtlich fehlerhaft erschienen.

15

In Art. 3 Abs. 1 Buchst. a erster Gedankenstrich dieser Richtlinie sei nämlich nur vorgesehen, dass eine mit einer schwerwiegenden und akuten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit begründete Rückführungsentscheidung u. a. dann in einem anderen als dem Entscheidungsmitgliedstaat vollstreckbar sei, wenn sie auf der Grundlage einer Verurteilung des betroffenen Drittstaatsangehörigen durch den Entscheidungsmitgliedstaat wegen einer mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedrohten Straftat erlassen worden sei. Diese Bestimmung regele dagegen nicht die Umstände, unter denen eine solche Entscheidung erlassen werden könne.

16

Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Superior de Justicia de Castilla-La Mancha (Oberster Gerichtshof von Kastilien-La Mancha) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist eine Auslegung wie die in den Urteilen Nr. 191/2019 vom 19. Februar 2019, Kassationsbeschwerde 5607/2017 (ES:TS:2019:580), und Nr. 257/2019 vom 27. Februar 2019, Kassationsbeschwerde 5809/2017 (ES:TS:2019:663), des spanischen Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) enthaltene, wonach es möglich ist, durch Auslegung der Richtlinie 2001/40 zu der Feststellung zu gelangen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der Inhaber einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung ist und eine Straftat begangen hat, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist, „automatisch“ ausgewiesen werden kann und muss, d. h. ohne dass es erforderlich ist, eine Beurteilung des Vorliegens einer gegenwärtigen und akuten Gefahr sowie seiner persönlichen, familiären, sozialen oder beruflichen Umstände, auf die sich die Richtlinie 2003/109 bezieht, vorzunehmen, mit Art. 12 dieser Richtlinie sowie – u. a. – mit den Urteilen des Gerichtshofs vom 8. Dezember 2011, Ziebell (C‑371/08, EU:C:2011:809), und vom 7. Dezember 2017, López Pastuzano (C‑636/16, EU:C:2017:949), vereinbar?

Zur Vorlagefrage

17

Da das vorlegende Gericht in seiner Frage auf zwei Urteile des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) Bezug nimmt, ist vorab daran zu erinnern, dass es zwar nicht Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Vereinbarkeit nationalen – auch richterrechtlich begründeten – Rechts mit dem Unionsrecht zu beurteilen, der Gerichtshof aber befugt ist, dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit zu befinden (Urteil vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales, C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

18

Demzufolge hat der Gerichtshof im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens nicht festzustellen, ob das vom vorlegenden Gericht zugrunde gelegte Verständnis der von ihm in diesem Ersuchen angeführten Urteile des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) zutreffend ist, und auch nicht, ob diese Urteile gegen Unionsrecht verstoßen. Der Gerichtshof hat dem vorlegenden Gericht vielmehr aufzuzeigen, ob Art. 12 der Richtlinie 2003/109 einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, die die Tragweite hat, die dieses Gericht den oben genannten Urteilen des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) beimisst.

19

Deshalb ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen möchte, ob Art. 12 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die – in der unter Verweis auf die Richtlinie 2001/40 erfolgenden Auslegung durch die nationale Rechtsprechung – die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen vorsieht, der Inhaber einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung ist und eine mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedrohte Straftat begangen hat, ohne dass es erforderlich ist, zu prüfen, ob dieser Drittstaatsangehörige eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, und die Dauer seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, sein Alter, die Folgen für ihn und seine Familienangehörigen sowie seine Bindungen zum Aufenthaltsmitgliedstaat oder fehlende Bindungen zu seinem Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

20

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in Rn. 29 seines Urteils vom 7. Dezember 2017, López Pastuzano (C‑636/16, EU:C:2017:949), in Beantwortung einer Frage eines spanischen Gerichts, bei dem eine Rechtssache anhängig war, die dieselbe Bestimmung des spanischen Rechts betraf wie die vom vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache angeführte, für Recht erkannt hat, dass Art. 12 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die – in der Auslegung durch einen Teil der Gerichte dieses Mitgliedstaats – die Geltung der Voraussetzungen, nach denen sich der Schutz eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen vor Ausweisung richtet, nicht für jede behördliche Ausweisungsverfügung unabhängig von deren rechtlicher Natur oder Ausgestaltung vorsieht.

21

Aus den Rn. 25 bis 27 dieses Urteils des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen, dass Art. 12 der Richtlinie 2003/109 dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat gegen einen langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen allein auf der Grundlage der in der Vergangenheit gegen ihn ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen eine Ausweisung verfügt, ohne festzustellen, ob dieser Drittstaatsangehörige eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit dieses Mitgliedstaats darstellt, und ohne die verschiedenen in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2003/109 aufgeführten Gesichtspunkte, nämlich die Dauer seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, sein Alter, die Folgen einer Ausweisung für ihn und seine Familienangehörigen sowie seine Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat, zu berücksichtigen.

22

Die Bestimmungen der Richtlinie 2001/40 können keine andere Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2003/109 rechtfertigen.

23

Wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen sinngemäß ausgeführt hat, betrifft die Richtlinie 2001/40 nach ihrem Art. 1 Abs. 1 die Anerkennung einer Rückführungsentscheidung durch einen Mitgliedstaat, die von einer zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats gegenüber einem Drittstaatsangehörigen erlassen wurde, der sich im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats aufhält.

24

Diese Richtlinie regelt somit nicht die Voraussetzungen für den Erlass einer solchen Entscheidung durch einen Mitgliedstaat gegenüber einem langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, der sich in seinem eigenen Hoheitsgebiet aufhält.

25

Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 12 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die – in der unter Verweis auf die Richtlinie 2001/40 erfolgenden Auslegung durch die nationale Rechtsprechung – die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen vorsieht, der Inhaber einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung ist und eine mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedrohte Straftat begangen hat, ohne dass es erforderlich ist, zu prüfen, ob dieser Drittstaatsangehörige eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, und die Dauer seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, sein Alter, die Folgen für ihn und seine Familienangehörigen sowie seine Bindungen zum Aufenthaltsmitgliedstaat oder fehlende Bindungen zu seinem Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

Kosten

26

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die – in der Auslegung durch die nationale Rechtsprechung, die unter Verweis auf die Richtlinie 2001/40/EG des Rates vom 28. Mai 2001 über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen erfolgt – die Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen vorsieht, der Inhaber einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung ist und eine mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedrohte Straftat begangen hat, ohne dass es erforderlich ist, zu prüfen, ob dieser Drittstaatsangehörige eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt, und die Dauer seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, sein Alter, die Folgen für ihn und seine Familienangehörigen sowie seine Bindungen zum Aufenthaltsmitgliedstaat oder fehlende Bindungen zu seinem Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.