URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
28. Januar 2020 ( *1 )
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 2011/7/EU – Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – Geschäftsvorgänge mit einer öffentlichen Stelle als Schuldner – Pflicht der Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass die den öffentlichen Stellen gewährte Zahlungsfrist 30 oder 60 Tage nicht überschreitet – Erfolgspflicht“
In der Rechtssache C‑122/18
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 14. Februar 2018,
Europäische Kommission, vertreten durch G. Gattinara und C. Zadra als Bevollmächtigte,
Klägerin,
gegen
Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino und F. De Luca, avvocati dello Stato,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Safjan und S. Rodin, der Richter L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, des Richters F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe und des Richters N. Piçarra (Berichterstatter),
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1 |
Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2011, L 48, S. 1) und insbesondere gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 der Richtlinie verstoßen hat, dass sie nicht sichergestellt hat und immer noch nicht sicherstellt, dass ihre öffentlichen Stellen es vermeiden, die für die Zahlung ihrer Schulden im Geschäftsverkehr geltenden Fristen von 30 oder 60 Kalendertagen zu überschreiten. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
2 |
In den Erwägungsgründen 3, 9, 12, 14, 23 und 25 der Richtlinie 2011/7 heißt es:
…
…
…
…
…
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3 |
Art. 1 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/7 sieht vor: „(1) Diese Richtlinie dient der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr, um sicherzustellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert, und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und insbesondere von [kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)] zu fördern. (2) Diese Richtlinie ist auf alle Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind, anzuwenden.“ |
4 |
In Art. 2 der Richtlinie heißt es: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck …
…
…“ |
5 |
Art. 3 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2011/7 sieht vor: „(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen der Gläubiger Anspruch auf Verzugszinsen hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
… (3) Für die Fälle, in denen die in Absatz 1 genannten Bedingungen erfüllt sind, stellen die Mitgliedstaaten Folgendes sicher:
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6 |
Art. 4 („Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen“) Abs. 1, 3, 4 und 6 der Richtlinie 2011/7 bestimmt: „(1) „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei Geschäftsvorgängen mit einer öffentlichen Stelle als Schuldner der Gläubiger nach Ablauf der in den Absätzen 3, 4 oder 6 festgelegten Fristen Anspruch auf den gesetzlichen Zins bei Zahlungsverzug hat, ohne dass es einer Mahnung bedarf, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
… (3) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei Geschäftsvorgängen, bei denen der Schuldner eine öffentliche Stelle ist,
(4) Die Mitgliedstaaten können die in Absatz 3 Buchstabe a genannten Fristen für folgende Einrichtungen auf bis zu höchstens 60 Kalendertage … verlängern:
… (6) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die vertraglich festgelegte Zahlungsfrist nicht die in Absatz 3 genannten Fristen überschreitet, es sei denn im Vertrag ist ausdrücklich etwas anderes vereinbart und dies ist aufgrund der besonderen Natur oder Merkmale des Vertrags sachlich gerechtfertigt, und dass die Zahlungsfrist in keinem Fall 60 Kalendertage überschreitet.“ |
Italienisches Recht
7 |
Die Richtlinie 2011/7 wurde durch das Decreto legislativo n. 192 – Modifiche al decreto legislativo 9 ottobre 2002, n. 231, per l’integrale recepimento della direttiva 2011/7/UE relativa alla lotta contro i ritardi di pagamento nelle transazioni commerciali, a norma dell’articolo 10, comma 1, della legge 11 novembre 2011, n. 180 (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 192 – Änderungen des Decreto legislativo Nr. 231 vom 9. Oktober 2002, zur vollständigen Umsetzung der Richtlinie 2011/7/EU zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr nach Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 180 vom 11. November 2011), vom 9. November 2012 (GURI Nr. 267 vom 15. November 2012) in die italienische Rechtsordnung umgesetzt. Mit dem Decreto legislativo Nr. 231 vom 9. Oktober 2002 war die Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2000, L 200, S. 35) in die italienische Rechtsordnung umgesetzt worden. |
8 |
Zu den von der Italienischen Republik verabschiedeten Maßnahmen zur Gewährleistung der Pünktlichkeit der Zahlungen öffentlicher Stellen gehören das Decreto-legge n. 35 – Disposizioni urgenti per il pagamento dei debiti scaduti della pubblica amministrazione, per il riequilibrio finanziario degli enti territoriali, nonché in materia di versamento di tributi degli enti locali (Gesetzesdekret Nr. 35 – Dringlichkeitsbestimmungen über die Zahlung fälliger Schulden der öffentlichen Verwaltung, zur Wiederherstellung des finanziellen Gleichgewichts der regionalen Gebietskörperschaften sowie im Bereich der Entrichtung von Abgaben der lokalen Gebietskörperschaften) vom 8. April 2013 (GURI Nr. 82 vom 8. April 2013), das durch das Gesetz Nr. 64 vom 6. Juni 2013 mit Änderungen als Gesetz verabschiedet wurde (GURI Nr. 132 vom 7. Juni 2013), und das Decreto-legge n. 66, – Misure urgenti per la competitività e la giustizia sociale (Decreto-legge Nr. 66 – Dringlichkeitsmaßnahmen für die Wettbewerbsfähigkeit und die soziale Gerechtigkeit) vom 24. April 2014 (GURI Nr. 95 vom 24. April 2014), das durch das Gesetz Nr. 89 vom 23. Juni 2014 mit Änderungen in ein Gesetz umgewandelt wurde (GURI Nr. 143 vom 23. Juni 2014). Diese Decreti-legge sehen u. a. die Bereitstellung zusätzlicher Finanzmittel zur Zahlung einredefreier, auf Geld gehender und fälliger Forderungen vor, die Unternehmen gegen öffentliche Stellen haben. |
9 |
Zur Verbesserung der Lage der Unternehmen, die Forderungen gegen öffentliche Stellen haben, wurden steuerliche Maßnahmen erlassen, u. a. Art. 12 Abs. 7 bis des Decreto-legge n. 145 – Interventi urgenti di avvio del piano „Destinazione Italia“, per il contenimento delle tariffe elettriche e del gas, per la riduzione dei premi RC‑auto, per l’internazionalizzazione, lo sviluppo e la digitalizzazione delle imprese, nonché misure per la realizzazione di opere pubbliche ed EXPO 2015 (Decreto-legge Nr. 145 – Dringlichkeitsmaßnahmen für die Durchführung des Plans „Destination Italien“ zur Deckelung der Strom- und Gastarife, zur Senkung der Prämien der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und zur Internationalisierung, Entwicklung und Digitalisierung der Unternehmen sowie Maßnahmen im Bereich der Verwirklichung öffentlicher Bauvorhaben und der EXPO 2015) vom 23. Dezember 2013 (GURI Nr. 300 vom 23. Dezember 2013), das durch das Gesetz Nr. 9 vom 21. Februar 2014 (GURI Nr. 43 vom 21. Februar 2014) mit Änderungen in ein Gesetz umgewandelt wurde. Nach dieser Vorschrift dürfen Unternehmen ihre Steuerschulden mit einredefreien, auf Geld gehenden und fälligen Forderungen aufrechnen, die sie gegen öffentliche Stellen haben. |
Vorverfahren
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Nach einer Reihe von Beschwerden italienischer Wirtschaftsteilnehmer und Wirtschaftsverbände richtete die Kommission am 19. Juni 2014 ein Mahnschreiben an die Italienische Republik, in dem sie ihr vorwarf, gegen ihre Verpflichtungen u. a. aus Art. 4 der Richtlinie 2011/7 verstoßen zu haben. |
11 |
Mit Schreiben vom 18. August 2014 antwortete dieser Mitgliedstaat auf das Mahnschreiben und teilte der Kommission die konkreten Maßnahmen zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen mit. Diese Maßnahmen bestanden in der vorzeitigen Umsetzung der Richtlinie 2011/7, in Aktionen zur Beseitigung des Bestands an fälligen Schulden öffentlicher Stellen und in der Schaffung eines neuen Rechts- und Verwaltungssystems zur Förderung der Einhaltung der in der Richtlinie vorgesehenen Zahlungsfristen und zur Vermeidung des Anstiegs des Bestands an fälligen und unbezahlten Schulden öffentlicher Stellen. Im selben Schreiben trug die Italienische Republik vor, dass trotz Erlasses dieser Maßnahmen Zahlungsverzug nicht ausgeschlossen werden könne. |
12 |
Am 12. November 2014 forderte die Kommission die Italienische Republik auf, ihr alle zwei Monate über die tatsächliche Länge der Zahlungsfristen öffentlicher Stellen Bericht zu erstatten. Die Italienische Republik kam dieser Aufforderung nach und übermittelte der Kommission zwischen dem 1. Dezember 2014 und dem 6. August 2016 sieben zweimonatliche Berichte. |
13 |
Mit Schreiben vom 21. September 2016 wies die Kommission darauf hin, dass in den bis zu diesem Zeitpunkt übermittelten zweimonatlichen Berichten nicht sämtliche der an italienische öffentliche Stellen gerichteten Rechnungen berücksichtigt worden seien, sondern nur diejenigen, die von diesen Stellen in den Bezugszeiträumen tatsächlich bezahlt worden seien. Daher forderte sie die Italienische Republik auf, ihr aktualisierte Daten für sämtliche Rechnungen zu übermitteln. |
14 |
Als Antwort auf das Schreiben vom 21. September 2016 übermittelte dieser Mitgliedstaat am 5. Dezember 2016 der Kommission Daten aus der Plattform zur Überwachung der Forderungen im Geschäftsverkehr, aus denen hervorging, dass die durchschnittliche Zahlungsfrist für das erste Halbjahr 201650 Tage betrug. |
15 |
Am 16. Februar 2017 gab die Kommission in der Ansicht, dass die Situation, die sich aus allen Berichten der Italienischen Republik ergebe, mit Art. 4 der Richtlinie 2011/7 unvereinbar sei, eine mit Gründen versehene Stellungnahme gemäß Art. 258 AEUV ab und forderte diesen Mitgliedstaat auf, ihr binnen zwei Monaten nachzukommen. |
16 |
In ihrer Antwort vom 19. April 2017 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme wies die Italienische Republik darauf hin, dass die durchschnittliche Zahlungsfrist öffentlicher Stellen für das gesamte Jahr 201651 Tage betragen habe, und zwar 44 Tage für die Verwaltungen des Staates, 67 Tage für den nationalen Gesundheitsdienst, 36 Tage für die Regionen und die autonomen Provinzen, 43 Tage für die lokalen Einrichtungen, 30 Tage für die nationalen öffentlichen Einrichtungen sowie 38 Tage für die übrigen öffentlichen Stellen. |
17 |
Da die Kommission der Ansicht war, dass die Italienische Republik die Verstöße gegen Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 noch immer nicht abgestellt habe, hat sie die vorliegende Klage erhoben. |
18 |
Die Italienische Republik hat gemäß Art. 16 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union beantragt, dass der Gerichtshof als Große Kammer tagt. |
Zur Klage
Vorbringen der Parteien
19 |
Die Kommission macht geltend, die von der Italienischen Republik selbst übermittelten Daten zeigten, dass die italienischen öffentlichen Stellen die in Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 genannten Zahlungsfristen von 30 bzw. 60 Tagen überschritten hätten. Diese Überschreitung, die der Mitgliedstaat nicht ausdrücklich bestreite, betreffe alle öffentlichen Stellen und einen Zeitraum von mehreren Jahren. |
20 |
Die das Vorliegen der gerügten Vertragsverletzung belegenden Daten seien im Zeitraum von September 2014 bis Dezember 2016 kontinuierlich aufgezeichnet und aktualisiert worden. |
21 |
Ferner widerlegten einige von anderen Einrichtungen und Verbänden durchgeführte Studien die Ergebnisse der von der Italienischen Republik vorgelegten zweimonatlichen Berichte, wonach die Länge der Zahlungsfristen schrittweise zurückgehe. Diese Studien belegten nämlich das Vorliegen durchschnittlicher Zahlungsfristen von zwischen 99 Tagen (Studie des Confartigianato, ein Verband zur Vertretung bestimmter Handwerker und KMU) und 145 Tagen (Studie des Assobiomedica, ein Verband zur Vertretung von Unternehmen, die italienischen Gesundheitseinrichtungen Medizinprodukte liefern) oder sogar 156 Tagen (Studie des ANCE, ein Verband der Unternehmen des Bausektors). In Grenzfällen erreiche die Zahlungsfrist sogar 687 Tage (Studie der Tageszeitung Il Sole 24 Ore). |
22 |
Diese kontinuierliche und systematische Überschreitung der in Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 vorgesehenen Zahlungsfristen durch italienische öffentliche Stellen stelle für sich genommen einen der Italienischen Republik zurechenbaren Verstoß gegen die Richtlinie dar. Seit dem Inkrafttreten der Richtlinie müssten die Mitgliedstaaten gemäß ihrem Art. 4 Abs. 3 und 4 nämlich nicht nur in ihren Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie und in Verträgen über Geschäftsvorgänge, bei denen der Schuldner eine ihrer öffentlichen Stellen sei, diesen Vorschriften entsprechende maximale Zahlungsfristen vorsehen, sondern auch sicherstellen, dass diese Fristen von öffentlichen Stellen tatsächlich eingehalten würden. |
23 |
In diesem Zusammenhang stellt die Kommission erstens fest, dass sich der Begriff „Zahlungsfrist“ im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2011/7 auf die Frist beziehe, innerhalb deren öffentliche Stellen verpflichtet seien, ihre Schulden im Geschäftsverkehr tatsächlich zu begleichen, wobei diese Frist durch den Eintritt konkreter tatsächlicher Umstände wie den Erhalt der Rechnung, den Empfang der Waren oder die Dienstleistung ausgelöst werde. Zur Definition des Begriffs „Zahlungsverzug“ verweise Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie auf ein bestimmtes Element, nämlich auf eine „Zahlung, die nicht [innerhalb der vertraglich oder gesetzlich vorgesehenen Zahlungsfrist] erfolgt ist“. Nur durch diese Auslegung des Begriffs „Zahlungsfrist“ lasse sich im Übrigen das Ziel der Richtlinie 2011/7 – die wirksame Bekämpfung von Zahlungsverzug im Binnenmarkt – wirksam verfolgen. |
24 |
Zweitens sei, da Verstöße öffentlicher Stellen gegen Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 zur Haftung des betreffenden Mitgliedstaats führen könnten, die Frage, ob diese Stellen hoheitliche Befugnisse ausübten oder de iure privatorum handelten, in diesem Zusammenhang unerheblich. Im Übrigen sei der Begriff „öffentlicher Auftraggeber“, auf den sich Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie zur Definition des Begriffs „öffentliche Stelle“ beziehe, vom Vorliegen hoheitlicher Befugnisse unabhängig. |
25 |
Drittens macht die Kommission geltend, die von ihr angeregte Auslegung von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 werde durch das Urteil vom 16. Februar 2017, IOS Finance EFC (C‑555/14, EU:C:2017:121), auf das sich die Italienische Republik in ihrer Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme berufen habe, nicht in Frage gestellt. |
26 |
Die Italienische Republik trägt in Bezug auf ihre der Kommission übermittelten Daten als Erstes vor, dass diese im März 2018 aktualisierten Daten der Jahre 2015 bis 2017 eine kontinuierliche und systematische Verkürzung der durchschnittlichen Zahlungsfrist auf Seiten öffentlicher Stellen belegten. Diese Verbesserung komme in einer Verringerung der mittleren Anzahl von Verzugstagen im Zeitraum 2015 bis 2017 (von 23 Tagen auf 8 Tage) zum Ausdruck. Sollte sich dieser Trend bestätigen, sei abzusehen, dass in Bezug auf im Jahr 2018 ausgestellte Rechnungen die in Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 festgelegten Zahlungsfristen eingehalten würden. |
27 |
Als Zweites hält die Italienische Republik die in Bezug auf die in ihren zweimonatlichen Berichten enthaltenen Daten von der Kommission angenommenen Prüfungsmodalitäten für unangemessen. |
28 |
Insoweit beeinträchtige die Entscheidung der Kommission, den Indikator „durchschnittliche Zahlungsfrist“ statt des Indikators „durchschnittliche Verzugsdauer“ zu verwenden, die Zuverlässigkeit ihrer Prüfung. Da bei dem erstgenannten Indikator der Bezugspunkt für die Prüfung des Umfangs des Zahlungsverzugs öffentlicher Stellen die „Standardfrist“ von 30 Tagen sei, habe die Kommission nämlich außer Acht gelassen, dass die Zahlungsfrist von 60 Tagen gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/7 nicht nur für den Geschäftsverkehr öffentlicher Einrichtungen, die Gesundheitsdienste anböten, gelte, sondern auch für den Geschäftsverkehr öffentlicher Stellen, die wirtschaftliche Tätigkeiten industrieller oder kommerzieller Natur ausübten und der Richtlinie 2006/111 unterlägen. Außerdem habe die Kommission einen in zeitlicher Hinsicht irreführenden Vergleich der Daten vorgenommen, da sie die Dynamik der Vornahme der Zahlungsvorgänge nicht berücksichtigt habe. Die Prüfung der Kommission sei daher auf den Zeitpunkt der Übermittlung des letzten zweimonatlichen Berichts fixiert, ohne spätere Zahlungen zu berücksichtigen. |
29 |
Als Drittes beanstandet die Italienische Republik die Ergebnisse der in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannten Studien, die aufgrund ihrer mangelnden Zuverlässigkeit und der Unvollständigkeit der erhobenen Daten unerheblich seien. |
30 |
Zur Tragweite von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 macht die Italienische Republik erstens geltend, aus einer wörtlichen und einer systematischen Auslegung dieser Bestimmungen ergebe sich, dass die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie zwar in ihren Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie und in Verträgen über Geschäftsvorgänge, bei denen der Schuldner eine ihrer öffentlichen Stellen sei, diesen Vorschriften entsprechende maximale Zahlungsfristen sicherstellen und bei Nichteinhaltung dieser Fristen den Anspruch der Gläubiger auf Verzugszinsen und auf Entschädigung für die Beitreibungskosten vorsehen müssten, doch verlangten diese Bestimmungen von den Mitgliedstaaten nicht, sicherzustellen, dass ihre öffentlichen Stellen diese Fristen unter allen Umständen tatsächlich einhielten. Mit der Richtlinie 2011/7 sollten nicht die Fristen, innerhalb deren öffentliche Stellen die als Entgelt im Geschäftsverkehr fälligen Beträge tatsächlich zu zahlen hätten, vereinheitlicht werden, sondern nur die Fristen, innerhalb deren sie ihre Pflichten erfüllen müssten, ohne automatischen Sanktionen wegen Zahlungsverzugs ausgesetzt zu sein. |
31 |
Abgesehen davon, dass Art. 4 Abs. 6 der Richtlinie 2011/7 lediglich die Einhaltung der „vertraglich festgelegten“ Zahlungsfrist vorschreibe, folge aus Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie nämlich nicht, dass öffentliche Stellen verpflichtet seien, ihre Schulden in der dort festgelegten Frist zu zahlen. Der Begriff „Zahlungsfrist“ in den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie betreffe nicht die Frist, innerhalb deren öffentliche Stellen diese Schulden tatsächlich begleichen müssten. |
32 |
Zweitens werde in Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/7 nur der Beginn der Zahlungsfristen im Geschäftsverkehr festgelegt. Die in dieser Bestimmung enthaltene Bezugnahme auf die tatsächlichen Umstände des Eingangs der Rechnung, des Eingangs der Waren, der Dienstleistung oder auch der Abnahme oder Überprüfung der Waren bedeute daher nicht, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet sei, konkret sicherzustellen, dass die Fristen eingehalten würden. |
33 |
Drittens mache das Fehlen eines präzisen Fristablaufs, zu dem die in Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 vorgeschriebene Pflicht zu erfüllen sei, deutlich, dass die Richtlinie dem betreffenden Mitgliedstaat hinsichtlich der Einhaltung der Zahlungsfristen keine Ergebnispflichten auferlege, sondern höchstens Handlungspflichten, deren Verletzung nur festgestellt werden könne, wenn die Situation dieses Mitgliedstaats erheblich von der in dieser Richtlinie empfohlenen abweiche. In der vorliegenden Rechtssache belegten die der Kommission übermittelten Daten jedoch zum einen eine erhebliche und kontinuierliche Abnahme des Verzugs bei der Zahlung der Schulden öffentlicher Stellen im Geschäftsverkehr und zum anderen – insbesondere hinsichtlich der im nationalen Gesundheitsdienst tätigen öffentlichen Stellen – einen geringfügigen Verzug, der die Zahlungsfrist gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie nur um wenige Tage überschreite. |
34 |
Viertens könne die Italienische Republik nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass öffentliche Stellen die Zahlungsfristen nicht einhielten. Handele eine Einrichtung eines Mitgliedstaats gleichberechtigt wie ein privater Wirtschaftsteilnehmer, hafte sie für einen Verstoß gegen das Unionsrecht ebenso wie ein privater Wirtschaftsteilnehmer nur vor den nationalen Gerichten. Daher könnten die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts nur indirekt eingreifen, indem sie die Bestimmungen, die diese öffentlichen Stellen einhalten müssten, korrekt umsetzten und für den Fall der Nichteinhaltung dieser Bestimmungen Sanktionen festlegten. Die Italienische Republik sei ihren Verpflichtungen aus der Richtlinie 2011/7 jedoch dadurch nachgekommen, dass sie Zahlungsfristen, die die in der Richtlinie vorgesehenen nicht überschritten, sowie Verzugszinsen und die Entschädigung für die entstandenen Beitreibungskosten vorgesehen habe. |
35 |
Jedenfalls sei die Italienische Republik selbst unter der Annahme, dass die Richtlinie 2011/7 von ihr verlangte, sicherzustellen, dass öffentliche Stellen im Geschäftsverkehr die Zahlungsfristen tatsächlich einhielten, nur für schwere, andauernde und systematische Verstöße gegen die Richtlinie verantwortlich, die einen Verstoß gegen den in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit belegen könnten. |
36 |
Was schließlich das Urteil vom 16. Februar 2017, IOS Finance EFC (C‑555/14, EU:C:2017:121), angehe, so habe der Gerichtshof darin einen Regelungsmechanismus gebilligt, der die systematisch verspätete Zahlung der Schulden öffentlicher Stellen gestatte, die zugunsten der Gläubiger bestünden, die nicht auf die Verzugszinsen und auf die Entschädigung der Beitreibungskosten verzichtet hätten. Sollte jedoch – wie die Kommission vortrage – anzunehmen sein, dass ein tatsächlicher Verzug bei Zahlungen öffentlicher Stellen einen dem betreffenden Mitgliedstaat zuzurechnenden Verstoß gegen die Richtlinie 2011/7 darstelle, hätte der Gerichtshof zwangsläufig festgestellt, dass ein derartiger Regelungsmechanismus unionsrechtswidrig sei, da er die systematisch verspätete Zahlung der Schulden öffentlicher Stellen im Geschäftsverkehr gestatten würde. Die Italienische Republik schließt daraus zum einen, dass der durch die Richtlinie 2011/7 den Gläubigern tatsächlich gewährleistete Anspruch nur die von der Richtlinie vorgeschriebenen Verzugszinsen betreffe, und zum anderen, dass das Ziel der Richtlinie, nämlich die Bekämpfung von Zahlungsverzug, „nur indirekt verfolgt wird“. |
Würdigung durch den Gerichtshof
37 |
Mit ihrer Klage beantragt die Kommission, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 verstoßen hat, dass sie nicht sichergestellt hat, dass ihre öffentlichen Stellen die Fristen von 30 bzw. 60 Kalendertagen einhalten, die für Zahlungen gelten, die sie als Entgelt im Geschäftsverkehr mit Unternehmen zu leisten haben. |
38 |
Nach Art. 4 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2011/7 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass bei Geschäftsvorgängen, bei denen der Schuldner eine öffentliche Stelle ist, die Zahlungsfrist mit dem Eintritt der dort aufgeführten tatsächlichen Umstände 30 Kalendertage nicht überschreitet. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie gestattet es den Mitgliedstaaten, für die darin genannten öffentlichen Stellen und Einrichtungen diese Frist auf bis zu höchstens 60 Kalendertage zu verlängern. |
39 |
Was als Erstes die Auslegung dieser Bestimmungen anbelangt, ist nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2019, UNESA u. a., C‑105/18 bis C‑113/18, EU:C:2019:935, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
40 |
Erstens ist dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/7 – insbesondere dem Satzteil „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass bei Geschäftsvorgängen, bei denen der Schuldner eine öffentliche Stelle ist, … die Zahlungsfrist keine der folgenden Fristen überschreitet“ – zu entnehmen, dass die mit dieser Bestimmung den Mitgliedstaaten auferlegte Pflicht darauf abzielt, dass ihre öffentlichen Stellen die darin vorgesehenen Zahlungsfristen tatsächlich einhalten. |
41 |
Insoweit ist zu beachten, dass diese Bestimmung genauso verbindlich formuliert ist wie Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie, der die Zahlung des gesetzlichen Zinses bei Zahlungsverzug betrifft. Folglich erlegen diese Bestimmungen den Mitgliedstaaten keine alternativen, sondern einander ergänzende Pflichten auf. |
42 |
Zweitens wird diese wörtliche Auslegung durch den Zusammenhang bestätigt, in den sich Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 einfügt. |
43 |
So weicht der Wortlaut von Art. 3 der Richtlinie 2011/7, der den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen betrifft, erheblich vom Wortlaut ihres Art. 4 ab, der den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen betrifft. Zwar sehen beide Artikel vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Gläubiger bei Zahlungsverzug Anspruch auf Verzugszinsen hat. Hinsichtlich der Einhaltung der Zahlungsfristen sieht Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie dort, wo ihr Art. 4 Abs. 3 eine – in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführte – eindeutige Pflicht aufstellt, dagegen lediglich den Anspruch des Gläubigers auf Zinsen bei Überschreitung dieser Fristen vor. |
44 |
Diese Analyse wird durch den Vergleich der Richtlinie 2011/7 mit ihrer Vorgängerin, der Richtlinie 2000/35, bestätigt. Während die Richtlinie 2011/7 in ihrem den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen betreffenden Art. 4 ausdrücklich verlangt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Zahlungsfrist 30 Tage oder in bestimmten Fällen höchstens 60 Tage nicht überschreitet, enthielt die Richtlinie 2000/35 nämlich keine derartige Bestimmung und legte in ihrem Art. 3 lediglich eine Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen fest, die jetzt in Art. 3 der Richtlinie 2011/7 zum Ausdruck kommt, ohne danach zu unterscheiden, ob der Schuldner eine öffentliche Stelle ist. |
45 |
Drittens werden die wörtliche und die systematische Auslegung von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 durch die Ziele bestätigt, die mit ihr verfolgt werden. Nach ihrem Art. 1 Abs. 1 dient die Richtlinie nämlich der Bekämpfung des Zahlungsverzugs im Geschäftsverkehr, um sicherzustellen, dass der Binnenmarkt reibungslos funktioniert, und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und insbesondere von KMU zu fördern. |
46 |
Insoweit ergibt sich aus einer Zusammenschau der Erwägungsgründe 3, 9 und 23 der Richtlinie 2011/7, dass öffentliche Stellen, die in großem Umfang Zahlungen an Unternehmen leisten, mit sichereren, berechenbareren und beständigeren Einkünften als Unternehmen rechnen können, Finanzmittel zu günstigeren Bedingungen als Unternehmen angeboten bekommen können und in Bezug auf die Verwirklichung ihrer Ziele weniger von der Herstellung stabiler Geschäftsbeziehungen abhängig sind, als dies bei Unternehmen der Fall ist. Bei Unternehmen verursacht Zahlungsverzug öffentlicher Stellen aber ungerechtfertigte Kosten, was ihre Liquiditätsengpässe verschärft und ihre Finanzbuchhaltung erschwert. Zahlungsverzug beeinträchtigt außerdem die Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit von Unternehmen, wenn sie aufgrund des Zahlungsverzugs Fremdfinanzierung in Anspruch nehmen müssen. |
47 |
Diese Erwägungen, die mit der großen Zahl der Geschäftsvorgänge, bei denen öffentliche Stellen Schuldner von Unternehmen sind, und mit den Kosten und Schwierigkeiten, die bei Unternehmen durch Zahlungsverzug öffentlicher Stellen entstehen, zusammenhängen, zeigen, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten in Bezug auf den Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen weiter gehende Pflichten auferlegen wollte, und implizieren eine Auslegung von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 dahin, dass er den Mitgliedstaaten vorschreibt, sicherzustellen, dass öffentliche Stellen Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr mit Unternehmen zu leisten sind, unter Einhaltung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Fristen vornehmen. |
48 |
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Auffassung der Italienischen Republik, wonach Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 den Mitgliedstaaten nur die Pflicht auferlege, sicherzustellen, dass die gesetzlichen und vertraglichen Zahlungsfristen, die für Geschäftsvorgänge gälten, an denen öffentliche Stellen beteiligt seien, mit diesen Bestimmungen im Einklang stünden, und bei Nichteinhaltung dieser Fristen vorzusehen, dass der Gläubiger, der seine vertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen erfüllt habe, Anspruch auf den gesetzlichen Zins bei Zahlungsverzug habe, nicht aber die Pflicht, sicherzustellen, dass diese Fristen von öffentlichen Stellen tatsächlich eingehalten würden, nicht gefolgt werden kann. |
49 |
Diese Schlussfolgerung wird durch das Urteil vom 16. Februar 2017, IOS Finance EFC (C‑555/14, EU:C:2017:121), auf das sich die Italienische Republik beruft, keineswegs in Frage gestellt. |
50 |
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass dieses Urteil, in dem es um ein „[nationales] außerordentliches Finanzierungsprogramm für die Zahlung an Lieferanten“ mit begrenzter Laufzeit geht, mit dem die durch die Wirtschaftskrise bedingten Zahlungsverzögerungen bewältigt werden sollten, die sich bei öffentlichen Stellen angehäuft hatten, nicht die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 betrifft, sondern im Wesentlichen ihres Art. 7 Abs. 2 und 3, in dem es um nachteilige Vertragsklauseln und Praktiken bei Verzugszinsen geht. |
51 |
Sodann hat der Gerichtshof – wie die Kommission vorgetragen hat – aufgrund seiner in den Rn. 31 und 36 des genannten Urteils enthaltenen Erwägungen, dass der Verzicht eines Gläubigers einer öffentlichen Stelle auf die Verzugszinsen und die Entschädigung für Beitreibungskosten, damit er der Richtlinie 2011/7 genügt, nicht nur freiwillig erteilt worden sein muss, sondern auch im Gegenzug für die „sofortige“ Zahlung der Hauptschuld erfolgen muss, die ausschlaggebende Bedeutung hervorgehoben, die die Mitgliedstaaten im Rahmen dieser Richtlinie der wirksamen und unverzüglichen Zahlung solcher Beträge beizumessen haben. |
52 |
Entgegen dem Vorbringen der Italienischen Republik lässt sich aus dem genannten Urteil nicht schließen, dass der Gerichtshof die systematisch verspätete Zahlung der Schulden öffentlicher Stellen im Geschäftsverkehr gebilligt hat, die zugunsten der Gläubiger bestehen, die nicht auf die Verzugszinsen und auf die Entschädigung der Beitreibungskosten verzichtet haben. |
53 |
Nach alledem ist festzustellen, dass Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 dahin auszulegen ist, dass er den Mitgliedstaaten vorschreibt, sicherzustellen, dass ihre öffentlichen Stellen die darin vorgesehenen Zahlungsfristen tatsächlich einhalten. |
54 |
Als Zweites ist unter Berücksichtigung des in Rn. 34 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Vorbringens der Italienischen Republik zu prüfen, ob die Tatsache, dass öffentliche Stellen diese Zahlungsfristen überschritten haben, eine Verletzung der Verpflichtungen der betreffenden Mitgliedstaaten im Sinne von Art. 258 AEUV darstellen kann. |
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Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats grundsätzlich gemäß Art. 258 AEUV unabhängig davon festgestellt werden kann, welches Staatsorgan durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat, selbst wenn es sich um ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ handelt (Urteile vom 5. Mai 1970, Kommission/Belgien, 77/69, EU:C:1970:34, Rn. 15, vom 12. März 2009, Kommission/Portugal, C‑458/07, nicht veröffentlicht, EU:C:2009:147, Rn. 20, und vom 4. Oktober 2018, Kommission/Frankreich [Steuervorabzug für ausgeschüttete Dividenden], C‑416/17, EU:C:2018:811, Rn. 107). |
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Im vorliegenden Fall bestreitet die Italienische Republik nicht, dass die von der Kommission gerügten Vertragsverletzungen ihre öffentlichen Stellen im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2011/7 betreffen. Diese Bestimmung verweist zur Definition des Begriffs „öffentliche Stelle“ auf die u. a. in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 enthaltene Definition des Begriffs „öffentlicher Auftraggeber“, wobei dieser Verweis im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsvorschriften der Union erfolgt, wie im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/7 klargestellt wird. |
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Folgte man dem Vorbringen der Italienischen Republik, wonach öffentliche Stellen dann, wenn sie im Geschäftsverkehr außerhalb ihrer hoheitlichen Befugnisse handelten, die Haftung des Mitgliedstaats, dem sie angehörten, nicht begründen könnten, würde dies darauf hinauslaufen, der Richtlinie 2011/7 die praktische Wirksamkeit zu nehmen, und zwar insbesondere ihrem Art. 4 Abs. 3 und 4, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, sicherzustellen, dass bei Geschäftsvorgängen, bei denen der Schuldner eine öffentliche Stelle ist, die darin vorgesehenen Zahlungsfristen tatsächlich eingehalten werden. |
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Als Drittes ist in Bezug auf das Vorliegen der von der Kommission im Hinblick auf Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 gerügten Vertragsverletzung darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Lage zu beurteilen ist, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde (Urteil vom 18. Oktober 2018, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑669/16, EU:C:2018:844, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung), hier also am 16. April 2017. |
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Insoweit geht aus dem letzten zweimonatlichen Bericht der Italienischen Republik vom 5. Dezember 2016 an die Kommission hervor, dass die durchschnittliche Zahlungsfrist öffentlicher Stellen im ersten Halbjahr 201650 Tage betrug (47 Tage unter Zugrundelegung des gewogenen Durchschnitts der Daten), wobei diese Daten auf der Grundlage von Zahlungen berechnet wurden, die von über 22000 öffentlichen Stellen geleistet wurden und etwa 13 Millionen Rechnungen betrafen, die diese erhalten hatten. |
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Ferner gab die Italienische Republik in der Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und in ihren Anlagen an, dass die durchschnittlichen Zahlungsfristen im gesamten Jahr 2016 für nicht zum nationalen Gesundheitsdienst gehörende öffentliche Stellen 41 Tage und für zu ihm gehörende Stellen 67 Tage betragen hätten, wobei diese Daten auf der Grundlage der Rechnungen erstellt worden waren, die sämtliche öffentliche Stellen in jenem Jahr erhalten hatten (über 27 Millionen). |
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Zum Vorbringen der Italienischen Republik, dass die Vertragsverletzung auf der Grundlage der durchschnittlichen Verzugsdauer statt auf der Grundlage der durchschnittlichen Zahlungsfrist zu beurteilen sei, genügt die Feststellung, dass sich aus der in der vorstehenden Randnummer wiedergegebenen Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme und aus ihren Anlagen jedenfalls ergibt, dass die durchschnittliche Verzugsdauer im Jahr 2016 für nicht zum nationalen Gesundheitsdienst gehörende öffentliche Stellen zehn Tage und für zu ihm gehörende Stellen acht Tage betrug. |
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Diese Daten in Verbindung mit den von der Italienischen Republik seit Einleitung des Vorverfahrens vorgelegten Daten, die einen ununterbrochenen Zeitraum betreffen, zeigen, dass die durchschnittliche Frist, innerhalb deren sämtliche italienische öffentliche Stellen Zahlungen als Entgelt im Geschäftsverkehr geleistet haben, die in Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 vorgesehenen Zahlungsfristen überschritten hat. |
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Insoweit ist festzustellen, dass die Italienische Republik weder bestreitet, dass ihre öffentlichen Stellen in ihrer Gesamtheit diese Fristen im Durchschnitt überschritten haben, noch behauptet, dass eine auf der Grundlage anderer Methoden vorgenommene Analyse dieser Daten die Feststellung ermöglicht hätte, dass diese Fristen eingehalten worden seien. Sie trägt jedoch zum einen vor, dass eine Reihe von Maßnahmen, die seit 2013 ergriffen worden seien, zu einer fortschreitenden Verringerung des Zahlungsverzugs beigetragen hätten, und zum anderen, dass eine Vertragsverletzung nur dann festgestellt werden könne, wenn ein schwerwiegender, kontinuierlicher und systematischer Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 4 der Richtlinie 2011/7 vorliege, was hier nicht der Fall gewesen sei. |
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Mit diesen Erwägungen lässt sich jedoch nicht ausräumen, dass dieser Mitgliedstaat bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 verletzt hat (vgl. entsprechend Urteil vom 4. März 2010, Kommission/Italien, C‑297/08, EU:C:2010:115, Rn. 77 und 78). Zudem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das Vertragsverletzungsverfahren ein objektives Verfahren ist und der Verstoß gegen die Verpflichtungen, die den Mitgliedstaaten nach dem Unionsrecht obliegen, folglich vom Umfang oder von der Häufigkeit der beanstandeten Situationen unabhängig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2003, Kommission/Dänemark, C‑226/01, EU:C:2003:60, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
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Daher hindert der Umstand, dass sich die Situation beim Zahlungsverzug öffentlicher Stellen in den von der Richtlinie 2011/7 erfassten Geschäftsvorgängen verbessert, wenn man ihn als erwiesen unterstellt, den Gerichtshof nicht an der Feststellung, dass die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Oktober 2019, Kommission/Frankreich [Überschreitung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid], C‑636/18, EU:C:2019:900, Rn. 49). |
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Nach alledem ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/7 verstoßen hat, dass sie nicht sicherstellt, dass ihre öffentlichen Stellen die in diesen Bestimmungen festgelegten Zahlungsfristen tatsächlich einhalten. |
Kosten
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Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Italienischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden: |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.