SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 14. Mai 2020 ( 1 )

Rechtssache C‑129/19

Presidenza del Consiglio dei Ministri

gegen

BV,

Beteiligte:

Procura della Repubblica di Torino

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Kassationsgerichtshof, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2004/80/EG – Art. 12 Abs. 2 – Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen für die Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten – Rein innerstaatliche Sachverhalte – Begriff der ‚grenzüberschreitenden Fälle‘ – Gerechte und angemessene Entschädigung“

I. Einleitung

1.

Im vorliegenden Fall wirft die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) zwei Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Auslegung der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten ( 2 ) auf. Erstens: Verlangt Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten eine Entschädigungsregelung einführen, die für alle Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten, also auch von „rein innerstaatlichen“ Taten, gilt? Zweitens: Anhand welcher Kriterien sollte bestimmt werden, ob eine in einer nationalen Regelung vorgesehene Entschädigung „gerecht und angemessen“ im Sinne dieser Richtlinie ist?

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

2.

Die Richtlinie 2004/80 besteht aus drei Kapiteln. Kapitel I trägt die Überschrift „Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen“. Sein Art. 1 lautet:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in den Fällen, in denen eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, diese berechtigt ist, den Antrag bei einer Behörde oder einer anderen Stelle in letzterem Mitgliedstaat zu stellen.“

3.

Kapitel II („Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen“) enthält einen einzigen Artikel (Art. 12). Dieser sieht vor:

„(1)   Die in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen stützen sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten.

(2)   Alle Mitgliedstaten tragen dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet.“

4.

In Kapitel III („Durchführungsbestimmungen“) bestimmt Art. 18 Abs. 1:

„Die Mitgliedstaaten erlassen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens bis zum 1. Januar 2006 nachzukommen; hiervon ausgenommen ist Artikel 12 Absatz 2, dem bis zum 1. Juli 2005 nachzukommen ist. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.“

B.   Nationales Recht

5.

Das zum entscheidungserheblichen Zeitraum geltende nationale Recht enthält die folgenden Schlüsselbestimmungen.

6.

In Art. 609a des Codice penale (italienisches Strafgesetzbuch) ist der Straftatbestand der „sexuellen Gewalt“ geregelt.

7.

Nach Art. 1218 des Codice civile (italienisches Zivilgesetzbuch) ist „[d]er Schuldner, der die geschuldete Leistung nicht gehörig erbringt, … zum Schadensersatz verpflichtet, wenn er nicht beweist, dass die Nichterfüllung oder die Verspätung durch Unmöglichkeit der Leistung verursacht worden ist, die auf einen von ihm nicht zu vertretenden Grund zurückgeht“.

8.

Art. 11 Abs. 1 der Legge 7 luglio 2016, n. 122 Disposizioni per l’adempimento degli obblighi derivanti dall’appartenenza dell’Italia all’Unione europea – Legge europea 2015-2016 (Gesetz Nr. 122 vom 7. Juli 2016 mit Vorschriften zur Umsetzung der Verpflichtungen aus der Zugehörigkeit Italiens zur Europäischen Union – Europäisches Gesetz 2015-2016), in Kraft getreten am 23. Juli 2016, sieht in seiner geänderten Fassung ( 3 ) das „Recht des Opfers einer vorsätzlich begangenen Straftat gegen die Person sowie jedenfalls des Straftatbestands nach Art. 603a des Strafgesetzbuchs, ausgenommen die Straftatbestände nach den Art. 581 und 582, auf Entschädigung durch den Staat, außer bei Vorliegen der erschwerenden Umstände nach Art. 583 des Strafgesetzbuchs“, vor. Nach Art. 11 Abs. 2 wird die Entschädigung für die Straftaten des Mordes, der sexuellen Gewalt oder der schwersten Körperverletzung dem Opfer oder, im Fall des Todes des Opfers infolge der Straftat, den Rechtsnachfolgern im durch das Ministerialdekret nach Art. 11 Abs. 3 festgesetzten Umfang gewährt. Bei anderen Straftaten als den vorstehend angeführten wird die Entschädigung hingegen für medizinische Kosten und Pflegeaufwand gewährt.

9.

Art. 1 des Decreto del Ministro dell’Interno, 31 agosto 2017, Determinazione degli importi dell’indennizzo alle vittime dei reati intenzionali violenti ( 4 ) (Dekret des Innenministers vom 31. August 2017 zur Festsetzung der Höhe der Entschädigung von Opfern vorsätzlich begangener Gewalttaten) setzt die Höhe der Entschädigung wie folgt fest: „a) für den Straftatbestand des Mordes mit dem fixen Betrag von 7200 Euro sowie, im Fall des Mordes durch den Ehegatten, auch nach Trennung oder Scheidung, oder durch eine Person, die emotional an das Opfer gebunden ist oder war, mit dem fixen Betrag von 8200 Euro ausschließlich zu Gunsten der Kinder des Opfers; b) für den Straftatbestand der sexuellen Gewalt nach Art. 609a des Strafgesetzbuchs, außer bei Vorliegen des mildernden Umstands der geringen Schwere, mit dem fixen Betrag von 4800 Euro; c) für andere als die in den Buchst. a und b angeführten Straftaten bis zu einem Höchstbetrag von 3000 Euro als Entschädigung für medizinische Kosten und Pflegeaufwand“.

10.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die italienische Regierung dem Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, dass sie mit Ministerialdekret vom 22. November 2019 den Entschädigungsbetrag für die Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten erhöht hat. Die Entschädigung bei Vergewaltigung wurde von 4800 Euro auf 25000 Euro heraufgesetzt. Nach meinem Verständnis gelten diese neuen Bestimmungen aber nicht rückwirkend. Daher finden sie in der vorliegenden Rechtssache offenbar keine Anwendung.

III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

11.

Im Oktober 2005 wurde die in Italien wohnhafte Kassationsbeschwerdegegnerin in Turin Opfer eines von zwei rumänischen Staatsangehörigen begangenen Sexualdelikts. Die Täter wurden zu einer Haftstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten verurteilt. Sie wurden auch zum Ersatz des verursachten Schadens verurteilt, dessen genaue Höhe in einem gesonderten Gerichtsverfahren bestimmt werden sollte, wobei der Kassationsbeschwerdegegnerin vom Gericht vorläufig ein sofort vollstreckbarer Betrag von 50000 Euro zugesprochen wurde.

12.

Die Kassationsbeschwerdegegnerin konnte den zugesprochenen Betrag jedoch nicht erlangen, da die Täter flüchteten.

13.

Im Februar 2009 erhob die Kassationsbeschwerdegegnerin beim Tribunale di Torino (Gericht Turin, Italien) eine Schadensersatzklage gegen die Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidium des Ministerrats, Italien), da Letztere die Richtlinie 2004/80 nicht umgesetzt habe. Mit Urteil vom 26. Mai 2010 gab dieses Gericht der Klage statt und verurteilte die Presidenza del Consiglio dei Ministri zur Zahlung von 90000 Euro an die Kassationsbeschwerdegegnerin.

14.

Die Presidenza del Consiglio dei Ministri legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Corte di appello di Torino (Berufungsgericht Turin, Italien) ein. Mit Urteil vom 23. Januar 2012 gab dieses Gericht der Berufung teilweise statt. Es setzte den der Kassationsbeschwerdegegnerin zugesprochenen Betrag auf 50000 Euro herab.

15.

Gegen dieses Urteil legte die Presidenza del Consiglio dei Ministri Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) ein. Das Verfahren wurde bis zum Erlass zweier Entscheidungen des Gerichtshofs ausgesetzt: einer Entscheidung über die von der Europäischen Kommission am 22. Dezember 2014 gegen die Italienische Republik erhobene Vertragsverletzungsklage wegen unterbliebener Umsetzung der Richtlinie 2004/80 und einer Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Roma (Gericht Rom, Italien) vom 24. März 2015 zur Auslegung von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie.

16.

Sobald die beiden Verfahren vor dem Gerichtshof abgeschlossen waren (das erste durch Urteil vom 11. Oktober 2016 ( 5 ) und das zweite durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 28. Februar 2017 ( 6 )), wurde das Verfahren vor der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) wieder aufgenommen.

17.

Die Corte di Cassazione (Kassationsgerichtshof) hegte aber Zweifel in Bezug auf die Auslegung der Richtlinie 2004/80, weshalb sie dieses Verfahren erneut ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

1.

Schreibt – in Bezug auf den Fall einer verspäteten (und/oder unvollständigen) Umsetzung der Richtlinie 2004/80, die hinsichtlich der darin vorgeschriebenen Einführung einer Regelung für die Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten nicht unmittelbar anwendbar ist („non self-executing“) und gegenüber Personen in grenzüberschreitenden Situationen, auf die allein die Richtlinie abzielt, eine Haftung des Mitgliedstaats für Schäden nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des Gerichtshofs bewirkt (u. a. Urteile Francovich und Brasserie du Pêcheur sowie Factortame III) – das Unionsrecht vor, eine entsprechende Haftung des Mitgliedstaats gegenüber Personen vorzusehen, die sich nicht in einer grenzüberschreitenden Situation befinden (also ihren Wohnsitz im Inland haben) und nicht die unmittelbaren Adressaten der Vorteile aus der Umsetzung der Richtlinie wären, die jedoch, damit ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung/der Nichtdiskriminierung nach dem Unionsrecht vermieden wird, über eine Ausweitung in den Genuss der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie selbst (oder der angeführten Entschädigungsregelung) kommen könnten und müssten, wenn die Richtlinie rechtzeitig und vollständig umgesetzt worden wäre?

2.

Falls die erste Frage bejaht wird:

Kann die zugunsten der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten (und insbesondere des Straftatbestands der sexuellen Gewalt nach Art. 609a des italienischen Strafgesetzbuchs) durch das Dekret des Innenministers vom 31. August 2017 (erlassen nach Art. 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 122 vom 7. Juli 2016 mit Vorschriften zur Umsetzung der Verpflichtungen aus der Zugehörigkeit Italiens zur Europäischen Union – Europäisches Gesetz 2015-2016 – in durch Art. 6 des Gesetzes Nr. 167 vom 20. November 2017 und Art. 1 Abs. 593 bis 596 des Gesetzes Nr. 145 vom 30. Dezember 2018 geänderter Fassung) mit einem Fixbetrag von 4800 Euro festgesetzte Entschädigung als „gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 angesehen werden?

18.

Die Kassationsbeschwerdegegnerin, die italienische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Verfahrensbeteiligten sind auch in der mündlichen Verhandlung vom 2. März 2020 aufgetreten.

IV. Würdigung

19.

Diese Schlussanträge sind folgendermaßen aufgebaut. Als Erstes werde ich kurz auf den Einwand eingehen, mit dem die italienische Regierung geltend macht, die vorliegende Klage sei gegenstandslos geworden (A). Als Zweites werde ich mich dem Kernproblem dieses Vorabentscheidungsersuchens widmen: dem persönlichen Anwendungsbereich von Art. 12 der Richtlinie 2004/80, wobei diese Bestimmung im Kontext der Richtlinie als solcher sowie ihrer recht komplexen Entstehungsgeschichte auszulegen ist (B). Schließlich werde ich einige kurze Bemerkungen zur zweiten Frage des vorlegenden Gerichts machen (C).

A.   Gegenstandslosigkeit der Klage

20.

Die italienische Regierung macht geltend, die Kassationsbeschwerdegegnerin habe eine Entschädigung aufgrund der nationalen Regelung erhalten. Die nationale Regelung ( 7 ) sei nämlich nach ihrem (verspäteten) Erlass in Bezug auf die Opfer von nach dem 30. Juni 2005 vorsätzlich begangenen Gewalttaten gemäß Art. 18 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 rückwirkend in Kraft gesetzt worden. Die Kassationsbeschwerdegegnerin habe daher den Fixbetrag von 4800 Euro erhalten. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen sei somit gegenstandslos geworden. Folglich sollte der Gerichtshof es zurückweisen und feststellen, dass darauf nicht einzugehen sei.

21.

Dieses Vorbringen lässt sich kurz abhandeln. Es scheint mir ziemlich klar zu sein, dass die Kassationsbeschwerdegegnerin weiterhin ein Rechtsschutzinteresse besitzt, soweit sie vor dem vorlegenden Gericht eine höhere als die nach der innerstaatlichen Regelung gewährte Entschädigung begehrt. Die Kassationsbeschwerdegegnerin stützt sich zu diesem Zweck im Wesentlichen auf zwei Gründe. Erstens macht sie eine Haftung des Staates wegen verspäteter oder unvollständiger Umsetzung der Richtlinie 2004/80 nach der Francovich-Rechtsprechung ( 8 ) geltend. Zweitens meint sie, die ihr nach der italienischen Regelung gewährte Entschädigung könne wegen des relativ geringen Betrags (4800 Euro) nicht als „gerecht und angemessen“ im Sinne der Richtlinie 2004/80 angesehen werden.

22.

Diese beiden Probleme, die in den Fragen des vorlegenden Gerichts ihren Niederschlag finden, müssen vom Gerichtshof durchaus noch behandelt werden. Daher werde ich mich jetzt den beiden Vorlagefragen in der Sache zuwenden.

B.   Erste Frage

23.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob ein Mitgliedstaat, der die Richtlinie 2004/80 nicht umgesetzt hat, für außervertragliche Schäden, die den in diesem Mitgliedstaat wohnhaften Opfern vorsätzlich begangener Gewalttaten zugefügt wurden, haftbar gemacht werden kann, obwohl die Richtlinie 2004/80 nur für grenzüberschreitende Fälle gilt, sofern das nationale Recht dieses Mitgliedstaats eine umgekehrte Diskriminierung verbietet.

24.

Diese Frage sollte meines Erachtens wie folgt umformuliert werden: Müssen die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2004/80, insbesondere nach deren Art. 12 Abs. 2, eine nationale Entschädigungsregelung einführen, die für sämtliche Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten gilt und die auch Fälle ohne grenzüberschreitenden Bezug erfasst?

25.

Ich erinnere daran, dass Italien zu dem Zeitpunkt, als die in Italien wohnhafte Kassationsbeschwerdegegnerin Opfer der fraglichen Gewalttat wurde, die Richtlinie 2004/80 trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist nicht umgesetzt hatte. Trotzdem erhielt die Kassationsbeschwerdegegnerin, als Italien schließlich die Richtlinie 2004/80 umsetzte, eine Entschädigung nach der neu eingeführten nationalen Entschädigungsregelung. Dieser Regelung war rückwirkende Kraft verliehen worden, und sie galt für alle Opfer einschließlich solcher mit Wohnsitz in Italien.

26.

Vor diesem Hintergrund nimmt das vorlegende Gericht an, dass die Kassationsbeschwerdegegnerin von Italien nicht (unmittelbar) Schadensersatz wegen verspäteter Umsetzung der Richtlinie 2004/80 verlangen könne. Nach dieser Richtlinie müssten die Mitgliedstaaten nur in grenzüberschreitenden Fällen eine Entschädigungsregelung für die Opfer von Gewalttaten einführen, die vorsätzlich begangen worden seien. Das sei bei der Kassationsbeschwerdegegnerin aber nicht der Fall gewesen: Das Opfer habe seinen Wohnsitz in Italien gehabt, und die Straftat sei in Italien begangen worden. Die Situation sei also ganz auf das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats beschränkt gewesen. Daher fragt sich das vorlegende Gericht, ob die außervertragliche Haftung Italiens auf einen anderen Grund gestützt werden kann, nämlich darauf, dass das italienische Recht eine umgekehrte Diskriminierung verbietet.

27.

Eine solche Frage wäre zwangsläufig zu verneinen: Unterliegt ein Sachverhalt nicht dem Unionsrecht, kommt kein Verstoß gegen das Unionsrecht in Betracht, weshalb das Unionsrecht keine außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats begründen kann ( 9 ). Eine solche Haftung könnte allenfalls auf nationalem Recht beruhen, wenn und soweit die nationalen Behörden gegen nationales Recht (z. B. gegen das Verbot einer umgekehrten Diskriminierung) verstoßen haben.

28.

Die Lösung fiele auch dann nicht anders aus, wenn auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit abgestellt würde, den das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen erwähnt hat. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass dieser (in Art. 18 AEUV und Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] verankerte) Grundsatz nur für Sachverhalte gilt, die dem Unionsrecht unterliegen. Wenn die einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen aber nur grenzüberschreitende Fälle betreffen und somit den Mitgliedstaaten die Regelung rein interner Sachverhalte überlassen, findet dieser Grundsatz keine Anwendung. Nach dem gegenwärtigen Stand des Unionsrechts bleibt es dem nationalen Recht überlassen, bei solchen Sachverhalten gegebenenfalls Abhilfe für etwaige Auswirkungen einer umgekehrten Diskriminierung zu schaffen ( 10 ).

29.

Infolgedessen wirft die erste Frage der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) ein anderes Kernproblem auf, ob nämlich die Prämisse tatsächlich zutrifft, auf der die erste Frage des vorlegenden Gerichts beruht: Gilt die Richtlinie 2004/80, insbesondere ihr Art. 12, nur für grenzüberschreitende Fälle und nicht für rein innerstaatliche Sachverhalte?

30.

Die Kassationsbeschwerdegegnerin schlägt im vorliegenden Verfahren vor, die letztgenannte Frage zu verneinen, während sich die italienische Regierung und die Kommission für das Gegenteil aussprechen. Beide Seiten stützen ihre Auffassung auf Wortlaut, Zielsetzung und Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2004/80. Sie berufen sich auch auf einige hierzu ergangene Entscheidungen des Gerichtshofs.

31.

Im Folgenden werde ich zunächst darlegen, weshalb Wortlaut und Systematik der Richtlinie 2004/80 keine hinreichende Klarheit aufweisen und aus ihnen allein diese Frage nicht beantwortet werden kann (1). Ich werde sodann versuchen, anhand der Präambel der Richtlinie 2004/80 (2) und der einschlägigen Materialien (3) zu ermitteln, welches Ziel (bzw. welche Ziele) der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Richtlinie und insbesondere ihres Art. 12 Abs. 2 verfolgt hat. Als Nächstes werde ich die Rechtsgrundlage der Richtlinie 2004/80 untersuchen (4) und anschließend die Rechtsprechung des Gerichtshofs analysieren (5), um herauszufinden, ob sich daraus eventuell weitere Anhaltspunkte ergeben.

32.

Am Ende all dieser Überlegungen werde ich gleichwohl einräumen müssen, dass es meines Erachtens noch immer nicht klar sein wird, ob die Frage in dem einen oder anderen Sinne zu beantworten ist. Beide Auslegungsvorschläge bleiben vertretbar. Abschließend werde ich drei zusätzliche Argumente verfassungsrechtlicher Natur dafür anführen, warum ich dem Gerichtshof alles in allem empfehle, der von der Kassationsbeschwerdegegnerin vertretenen Auslegung zu folgen (6).

1. Wortlaut und Systematik der Richtlinie 2004/80

33.

Die italienische Regierung und die Kommission machen erstens geltend, Art. 12 der Richtlinie 2004/80 verlange als Ganzes gelesen von den Mitgliedstaaten eindeutig, Entschädigungsregelungen nur für grenzüberschreitende Fälle einzuführen. Art. 12 Abs. 1 beziehe sich ausdrücklich auf grenzüberschreitende Fälle. Es wäre kurios, wenn man dem zweiten Absatz derselben Bestimmung einen weiteren Geltungsbereich beimessen wollte als dem ersten Absatz.

34.

Dieses Vorbringen überzeugt nicht.

35.

Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2004/80 lautet: „Die in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen stützen sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten.“ Nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 tragen „[a]lle Mitgliedstaaten … dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet“.

36.

Aus Abs. 1 dieser Vorschrift ergibt sich lediglich, dass das (in den Art. 1 bis 11 der Richtlinie 2004/80 geregelte) System der Zusammenarbeit, das mit der Richtlinie eingeführt wurde, um eine Entschädigung bei grenzüberschreitenden Straftaten zu gewährleisten, auf die einzelstaatlichen Entschädigungsregelungen „aufgepfropft“ werden muss. Diese Bestimmung besagt nur, dass die nach der Richtlinie zu erlassenden Regelungen einen „Zusatz“ zu den nationalen Entschädigungsregelungen bilden, die in den Mitgliedstaaten für die Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten bestehen.

37.

Im Anschluss daran sieht Art. 12 Abs. 2 vor, dass die Mitgliedstaaten über eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten verfügen müssen. Das ist verständlich: Gäbe es nämlich auf nationaler Ebene keine ursprüngliche Regelung, könnten die in Kapitel I der Richtlinie 2004/80 vorgesehenen Bestimmungen auf nichts „aufgepfropft“ werden.

38.

Nichts im Wortlaut von Art. 12 deutet darauf hin, dass dessen Geltungsbereich allein auf grenzüberschreitende Fälle beschränkt wäre. Soweit die Kassationsbeschwerdegegnerin vorschlägt, Abs. 2 dieser Bestimmung dahin zu verstehen, dass die von den Mitgliedstaaten zu erlassenden Regelungen alle„in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten“ erfassen müssen, ist diese Auslegung als solche unter sprachlichen Aspekten völlig gerechtfertigt. Sie führt auch zu keinem inneren Widerspruch bei der Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2004/80.

39.

Die italienische Regierung und die Kommission argumentieren zweitens, aus Art. 1 der Richtlinie 2004/80 ergebe sich, dass die Pflicht zur Einführung nationaler Entschädigungsregelungen auf grenzüberschreitende Fälle beschränkt sei. Nach dieser Bestimmung müssten die Mitgliedstaaten das Recht gewährleisten, dass eine Entschädigung beantragt werden könne, wenn „eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat“ ( 11 ). Diese Auffassung werde ganz allgemein durch den Rest der Richtlinie bestätigt: Das System der Zusammenarbeit, das mit der Richtlinie eingeführt worden sei, um den Zugang zur Entschädigung zu erleichtern, betreffe unbestreitbar nur Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen.

40.

Diese Argumente treffen meines Erachtens zu, soweit es um die Auslegung von Kapitel I der Richtlinie 2004/80 geht. Sie überzeugen jedoch nicht in Bezug auf den Geltungsbereich von Kapitel II und dessen Art. 12.

41.

Ich möchte vorab darauf hinweisen, dass die Richtlinie 2004/80 – im Gegensatz zu vielen anderen vergleichbaren Rechtsakten – in ihrem Eingangsartikel bzw. ihren Eingangsartikeln keine Bestimmungen vorsieht, in denen ihre Zielsetzung oder ihr Gegenstand benannt, ihr Geltungsbereich festgelegt und/oder Begriffsbestimmungen enthalten wären. Art. 1 ist nicht Bestandteil eines einleitenden Kapitels etwa mit „allgemeinen Vorschriften“, das für den gesamten Rechtsakt gelten würde. Art. 1 gehört vielmehr schon zu Kapitel I (Art. 1 bis 11) mit der Überschrift „Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen“. Auf dieses Kapitel folgt Kapitel II mit der Überschrift „Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen“ (nur Art. 12).

42.

Aus diesem Grund vermag ich nicht zu erkennen, wieso nach den üblichen Regeln der Auslegung und Deutung von Rechtsvorschriften die einleitende(n) Bestimmung(en) eines Kapitels in einem Rechtsakt dazu benutzt werden könnte(n), den Geltungsbereich anderer Kapitel desselben Rechtsakts zu beschränken. Art. 1 betrifft nur das in Kapitel I dieser Richtlinie eingeführte System der Zusammenarbeit. Dagegen kann die Existenz zweier separater Kapitel sehr wohl dahin verstanden werden, dass jedes von ihnen einen jeweils anderen Aspekt des Regelwerks betrifft, das mit der Richtlinie 2004/80 geschaffen werden sollte. Wenn das der Fall ist, kann die Richtlinie 2004/80 tatsächlich, wie die Kassationsbeschwerdegegnerin geltend macht, dahin gehend ausgelegt werden, dass sie den Mitgliedstaaten zwei verschiedene Verpflichtungen auferlegt: i) die Einführung eines Systems der Zusammenarbeit, um den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen zu erleichtern, und ii) den Erlass einer nationalen Entschädigungsregelung, die bei jeder vorsätzlich begangenen Gewalttat in Anspruch genommen werden kann.

43.

Für diesen Vorschlag spricht drittens auch Art. 18 der Richtlinie 2004/80, der zwei unterschiedliche Umsetzungsfristen vorsieht: eine (kürzere) für Art. 12 Abs. 2 und eine (längere) für den Rest der Richtlinie ( 12 ). Diese Bestimmung dürfte wohl die Autonomie oder eigenständige Natur von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 belegen. Wenn die nationalen Regelungen nur eine wirksame Funktionsweise des mit den anderen Bestimmungen der Richtlinie 2004/80 eingeführten Systems ermöglichen sollten, wäre die Sinnhaftigkeit dieser unterschiedlichen Fristen schwer zu begreifen.

44.

Viertens ist auf den Titel der Richtlinie 2004/80 zu verweisen. Er lautet: Richtlinie „zur Entschädigung der Opfer von Straftaten“. Es handelt sich nicht um eine Richtlinie „zur Entschädigung der Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen“ oder „zur Zusammenarbeit im Hinblick auf die Entschädigung der Opfer von Straftaten“ oder – wie der Ratsvorsitz zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gesetzgebungsverfahren vorschlug – um eine „Richtlinie zur leichteren Entschädigung der Opfer von Straftaten“ ( 13 ). Jeder dieser Titel hätte zu einem allein auf grenzüberschreitende Fälle bezogenen Rechtsakt wohl besser gepasst.

45.

Dieses Argument mag zwar formalistisch oder wenig bedeutsam erscheinen. Der Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 findet jedoch tatsächlich im Titel der Richtlinie seinen Niederschlag. Dieser Artikel bezieht sich auf „Regelung[en der Mitgliedstaaten] für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten“ (ohne jede weitere Qualifizierung oder Einschränkung) und auf „Opfer“ (wiederum ohne jede weitere Qualifizierung oder Einschränkung). Zudem sollte der übergeordnete Titel einer Richtlinie – im Gegensatz zu Art. 1 der Richtlinie 2004/80, dessen Geltung auf Kapitel I beschränkt ist – sicherlich für die gesamte Richtlinie und nicht nur für eines ihrer Kapitel relevant sein.

46.

Fünftens möchte ich schließlich zur Systematik der Richtlinie bemerken: Wenn Art. 12 nur als eine Bestimmung mit einer Hilfs- oder verfahrenstechnischen Funktion konzipiert worden wäre, wie von der Kommission und der italienischen Regierung im Wesentlichen vortragen wurde, hätte er möglicherweise in Kapitel III der Richtlinie („Durchführungsbestimmungen“) aufgenommen werden können. Diese Bestimmung wurde jedoch als so bedeutsam angesehen, dass ihr ein spezielles Kapitel (Kapitel II) mit einer „sachlichen“ Überschrift („Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen“) gewidmet wurde.

47.

Meines Erachtens sprechen Wortlaut und Systematik der Richtlinie 2004/80 für sich genommen eher für die von der Kassationsbeschwerdegegnerin vorgeschlagene Auslegung. Allerdings wird das Bild komplexer, wenn wir uns mit den Zielsetzungen dieses Rechtsakts befassen, soweit sie aus den Erwägungsgründen der Richtlinie (2) und dem Gesetzgebungsverfahren, das zu deren Erlass geführt hat (3), hergeleitet werden können.

2. Vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziele I: Präambel der Richtlinie 2004/80

48.

Beide Seiten sind der Ansicht, der Geltungsbereich von Art. 12 der Richtlinie 2004/80 werde klarer, wenn die vom Unionsgesetzgeber mit der Richtlinie verfolgten Ziele herangezogen würden, wie sie in einigen spezifischen Erwägungsgründen dieses Rechtsakts zum Ausdruck kämen.

49.

Das einzige Problem bei dieser Argumentation besteht darin, dass jede Seite ihren Standpunkt jeweils auf andere Erwägungsgründe stützt. Noch beunruhigender ist der Umstand, dass in gewisser Hinsicht beide Standpunkte zutreffend sind. Die Mehrdeutigkeit der Artikel der Richtlinie 2004/80 findet sich auch in der Präambel. Anstatt für Klarheit bei der Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2004/80 zu sorgen, scheint eine Prüfung der Präambel allenfalls die Unklarheit noch zu verstärken.

50.

Vereinfachend lassen sich ungeachtet einer gewissen Vagheit die in den einzelnen Erwägungsgründen der Richtlinie 2004/80 beschriebenen Ziele in drei verschiedene Gruppen einteilen ( 14 ): i) Unterstützung der Opfer in grenzüberschreitenden Fällen, ii) freier Personen- und Dienstleistungsverkehr, iii) Schutz der Opfer von Verbrechen im Rahmen von Strafverfahren.

51.

Erstens soll sich aus der ersten Gruppe von Erwägungsgründen laut italienischer Regierung und Kommission ergeben, dass die Richtlinie 2004/80 lediglich Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen einführt. Unter „grenzüberschreitenden Fällen“ verstehen diese Verfahrensbeteiligten Situationen, in denen das Opfer einer Straftat seinen Wohnsitz in einem anderen als dem Mitgliedstaat hat, in dem die Straftat begangen wurde.

52.

In diesem Zusammenhang verweisen diese Verfahrensbeteiligten insbesondere auf die Erwägungsgründe 1 und 2. Der erste Erwägungsgrund lautet: „Die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gehört zu den Zielen der Europäischen [Union].“ ( 15 ) Die Bezugnahme auf die Freizügigkeit wird durch den zweiten Erwägungsgrund ergänzt, in dem es heißt: „Nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Cowan ist es, wenn das [Unionsrecht] einer natürlichen Person die Freiheit garantiert, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, zwingende Folge dieser Freizügigkeit, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist. Zur Verwirklichung dieses Ziels sollten unter anderem Maßnahmen ergriffen werden, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern.“ ( 16 )

53.

Die italienische Regierung und die Kommission führen weiter aus, die Erwägungsgründe 11, 12 und 13 bezögen sich (ausdrücklich oder stillschweigend) auf Fälle, in denen die Straftat in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzmitgliedstaat des Opfers begangen werde. Ferner werde der Erlass der Richtlinie 2004/80 im 15. Erwägungsgrund unter dem Aspekt der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nur unter Hinweis auf die Notwendigkeit gerechtfertigt, „den Opfern von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen leichter Zugang zur Entschädigung zu verschaffen“. Es sei wohl anzunehmen, dass eine solche Rechtfertigung bei einem Rechtsakt unangebracht sei, dessen Anwendungsbereich über die Regelung grenzüberschreitender Fälle hinausgehe.

54.

Ich halte jedoch den Wortlaut dieser Erwägungsgründe trotz der darin enthaltenen zahlreichen Hinweise auf grenzüberschreitende Fälle nicht für schlüssig. Meines Erachtens kann nur der 15. Erwägungsgrund als klares Anzeichen für die Absicht des Unionsgesetzgebers gewertet werden, den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/80 zu beschränken. Die übrigen Erwägungsgründe stützen trotz des äußeren Anscheins den Standpunkt der italienischen Regierung und der Kommission nicht so eindeutig. Überdies beziehen sich die Erwägungsgründe 11, 12 und 13 klar auf das in Kapitel I der Richtlinie 2004/80 vorgesehene System der Zusammenarbeit. Ihnen lässt sich daher für die Auslegung von Art. 12 eher wenig entnehmen.

55.

Zweitens erschöpfen die von der italienischen Regierung und der Kommission genannten „grenzüberschreitenden Fälle“ (nämlich solche, in denen das Opfer der Straftat von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat) nicht alle „grenzüberschreitenden Fälle“, die unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Richtlinie 2004/80 von Letzterer erfasst werden könnten.

56.

Diese Zweckrichtung wird deutlich, wenn wir uns auf den ersten Erwägungsgrund konzentrieren (in dem daran erinnert wird, dass die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu den Zielen der Europäischen Union gehört) und ihn zusammen mit den allgemeinen Begriffen in anderen Erwägungsgründen lesen. Insbesondere der zehnte Erwägungsgrund lautet: „Opfer von Straftaten können oft keine Entschädigung vom Täter erhalten, weil dieser möglicherweise nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um einem Schadensersatzurteil nachzukommen, oder weil der Täter nicht identifiziert oder verfolgt werden kann.“

57.

Wenn im zehnten Erwägungsgrund, aber auch in den Erwägungsgründen 7 und 1 eine Erklärung dafür gesehen wird, warum der Unionsgesetzgeber es für erforderlich hielt, in diesem Bereich tätig zu werden, dann wird auch ein anders gearteter grenzüberschreitender Fall sichtbar: nicht einfach nur der des „reisenden Opfers“, sondern auch der eines „reisenden Täters“. Es kommt eher häufig vor, dass die Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten deshalb keine Entschädigung vom Täter erlangen können und somit eines besonderen Schutzes zur Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr bedürfen, weil der Straftäter von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat. In solchen Situationen mag es für den Täter tatsächlich einfacher sein, sich den Ermittlungen zu entziehen oder zu fliehen, indem er einfach in sein Wohnsitzland zurückkehrt.

58.

Der Umstand, dass in den Erwägungsgründen 1 und 2 der Zusammenhang zwischen der Richtlinie 2004/80 und den Freizügigkeitsrechten betont wird, spricht daher nicht zwangsläufig für einen so engen Geltungsbereich der Richtlinie, wie ihn die italienische Regierung und die Kommission vertreten. Es gibt bestimmte grenzüberschreitende Straftaten, die, wenn ihrer Auffassung gefolgt würde, jedenfalls „unberücksichtigt blieben“, was mit dem offensichtlichen Schutzzweck der Richtlinie schwerlich vereinbar wäre.

59.

Folglich wird ein extensiverer Begriff der „Grenzüberschreitung“ durch die Erwägungsgründe 1 und 2 grundsätzlich nicht ausgeschlossen, zumindest nicht ausdrücklich. Dieser Begriff würde demgemäß die Fälle umfassen, in denen entweder das Opfer oder der Straftäter von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat.

60.

Diese Auffassung stände auch im Einklang mit dem siebten Erwägungsgrund. In diesem Erwägungsgrund, der speziell die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einführung einer nationalen Entschädigungsregelung betrifft, heißt es: „Mit dieser Richtlinie wird ein System der Zusammenarbeit eingeführt, damit Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen leichter Zugang zur Entschädigung erhalten; dieses System sollte sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten stützen …“ ( 17 )

61.

Drittens gibt es schließlich noch eine weitere Gruppe von Erwägungsgründen, die offenbar eindeutig die von der Kassationsbeschwerdegegnerin vertretene Ansicht stützen. Teile der Präambel der Richtlinie 2004/80 enthalten in der Tat Ausdrücke oder Begriffe, die genau wie Art. 12 Abs. 2 über reine grenzüberschreitende Fälle weit hinausgehen. Diese Passagen scheinen besonders durch ein allgemeineres Ziel des Unionsgesetzgebers inspiriert zu sein: die Unterstützung der Opfer von Straftaten.

62.

Bei näherer Betrachtung ist die Annahme erlaubt, dass der zehnte Erwägungsgrund sogar noch weiter geht, als vorstehend dargelegt wurde. Der Wortlaut dieses Erwägungsgrundes enthält in der Tat keinen Anhaltspunkt dafür, dass seine Geltung auf grenzüberschreitende Fälle beschränkt wäre: Darin heißt es nur, dass die Opfer von Straftaten entschädigt werden müssen, und zwar ohne jegliche räumliche Beschränkung.

63.

Darüber hinaus ergibt sich vor allen Dingen aus dem sechsten Erwägungsgrund, dass „Opfer von Straftaten in der Europäischen Union … unabhängig davon, an welchem Ort in der Europäischen Gemeinschaft die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben [sollten]“ ( 18 ).

64.

Ebenso legen auch die Hinweise in den Erwägungsgründen 3 bis 6 und 8 auf den „historischen“ Hintergrund der Richtlinie 2004/80 einen umfangreicheren Geltungsbereich der Richtlinie nahe. Denn die in diesen Erwägungsgründen angeführten Rechtsinstrumente ( 19 ) waren keineswegs auf den Binnenmarkt hin orientiert. Diese Instrumente bezogen sich vielmehr hauptsächlich auf die Verfolgung von Zielen, die eher für Vorschriften über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts („RFSR“) typisch waren. Demnach dürfte eine Richtlinie, die auf den – wenn auch asymmetrischen – Schutz aller Opfer von Straftaten in der Europäischen Union unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem Wohnsitz ausgerichtet ist, mit diesen Zielen eher im Einklang stehen.

65.

Insbesondere zeigt ein Blick auf die Erwägungsgründe 3 bis 6, die angesichts ihrer Stellung und ihres Inhalts eher allgemeiner Natur sind und für das gesamte Rechtsinstrument gelten, dass ihr Wortlaut und die angeführten Argumente typischerweise auch in einer RFSR-Maßnahme zu finden wären. Diese Erwägungsgründe enthalten nichts, was die darin angestellten Überlegungen darauf beschränken würde, dass sich die Opfer grenzüberschreitender Straftaten bei deren Begehung außerhalb ihres Wohnsitzmitgliedstaats befinden.

66.

Abschließend ist festzustellen, dass eine eingehende Prüfung der Präambel der Richtlinie 2004/80 die Auslegungsprobleme nicht löst. Sie vertieft diese Probleme eher noch. An diesem Punkt liefern die Materialien eine Erklärung dafür, wie ein so zweideutiger Unionsrechtsakt zustande kommen konnte.

3. Vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziele II: Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2004/80

67.

Sowohl die italienische Regierung und die Kommission auf der einen als auch die Kassationsbeschwerdegegnerin auf der anderen Seite berufen sich zur Begründung ihrer jeweiligen Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2004/80 wieder allesamt auf die Gesetzesmaterialien.

68.

„The Long and Winding Road“ bis zum Erlass der Richtlinie 2004/80 lässt sich aus den Akten der Rechtssache wie folgt resümieren.

69.

Mit dem von der Kommission 2003 vorgelegten ursprünglichen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Entschädigung für Opfer von Straftaten (im Folgenden: Vorschlag) ( 20 ) wurden zwei verschiedene Ziele verfolgt, die der Kommission zufolge „eng miteinander verflochten“ waren ( 21 ).

70.

Das erste Ziel bestand darin, sicherzustellen, dass alle Unionsbürger und alle Personen, die sich rechtmäßig in der Union aufhielten, eine angemessene Entschädigung für alle Schäden erhielten, die sie dadurch erlitten, dass sie Opfer einer Straftat irgendwo in der Europäischen Union wurden. Dieses Ziel sollte über die Einführung einer Mindestnorm für die staatliche Entschädigung für Opfer von Straftaten verfolgt werden.

71.

Das zweite Ziel bestand darin, sicherzustellen, dass die dem Opfer einer Straftat konkret gebotenen Möglichkeiten, eine staatliche Entschädigung zu erhalten, in Situationen mit grenzüberschreitenden Bezügen nicht beeinträchtigt wurden. Es war daher erforderlich, „den Zugang zur Entschädigung in Situationen zu erleichtern, in denen die Straftat in einem anderen Mitgliedstaat als dem Aufenthaltsland des Opfers begangen wurde“. Dieses Ziel sollte über die Schaffung eines Systems der Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten verfolgt werden, das dem Opfer ermöglichte, einen Antrag bei einer Behörde seines Wohnsitzmitgliedstaats zu stellen.

72.

Dieses zweifache Ziel fand zunächst Eingang in Art. 1 des Vorschlags, der lautete: „Diese Richtlinie zielt darauf ab, eine Mindestnorm für die Entschädigung der Opfer von Straftaten festzulegen sowie den Zugang zu einer solchen Entschädigung in Situationen mit grenzüberschreitenden Bezügen zu erleichtern.“ ( 22 ) Das zweifache Ziel fand sodann im Aufbau der Richtlinie seinen Niederschlag, die aus zwei verschiedenen Abschnitten bestand, jeweils einem für jedes dieser Ziele. Abschnitt 1 (Art. 2 bis 15) betraf die „Mindestnormen für die Entschädigung der Opfer von Straftaten“, während der darauf aufbauende Abschnitt 2 (Art. 16 bis 23) den „Zugang zur Entschädigung in Situationen mit grenzüberschreitenden Bezügen“ ( 23 ) zum Gegenstand hatte.

73.

Jedoch fand der Vorschlag keine einstimmige Unterstützung im Rat ( 24 ). Es wurde gleichwohl ein breiter Konsens erreicht, soweit der Vorschlag das System der Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Fällen betraf. Zur Lösung dieses Problems legte der Ratsvorsitz einen Kompromissvorschlag zur Änderung des Kommissionsvorschlags vor (im Folgenden: Kompromiss) ( 25 ). Dem Kompromiss zufolge sollten die Vorschriften über Situationen mit grenzüberschreitenden Bezügen (Abschnitt 2) beibehalten werden, nicht aber diejenigen über Mindestnormen (Abschnitt 1). Der letztere Abschnitt sollte durch eine einzige Bestimmung ersetzt werden: Art. A, aus dem später Art. 12 hervorgehen sollte. Art. A verpflichtete die Mitgliedstaaten zur Einführung nationaler Entschädigungsregelungen, damit das System der grenzüberschreitenden Entschädigung effektiv funktionieren konnte ( 26 ), während den Unionsorganen die Möglichkeit offengelassen würde, in der Zukunft Mindestnormen für die Entschädigung auszuarbeiten ( 27 ). Der Kompromiss wurde dann die Basis der schließlich erlassenen Richtlinie.

74.

So gesehen scheinen die Materialien grundsätzlich das Vorbringen der italienischen Regierung und der Kommission zu bestätigen. Vor allem dürfte der Kompromiss in der Tat darauf hindeuten, wie die Kommission mit Nachdruck geltend macht, dass die Einführung nationaler Regelungen (nur) zum reibungslosen Funktionieren des Systems für den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen beitragen sollte.

75.

Dieses Vorbringen der Kommission wirft allerdings drei Probleme auf.

76.

In erster Linie ergibt sich diese „begrenzte Instrumentalisierung“ nicht eindeutig aus dem verabschiedeten Text. Sie ist, nebenbei bemerkt, nicht einmal klar dem Wortlaut des Kompromisses zu entnehmen. Wie dem auch sei, Abschnitt C dieses Dokuments (Nrn. 13 bis 16) enthält zunächst den Hinweis, dass es nach den Terroranschlägen von Madrid im Jahr 2004 wichtig gewesen sei, eine klare Botschaft an die Opfer von Straftaten zu richten, dass auf Unionsebene Maßnahmen zu ihrer Entschädigung getroffen würden ( 28 ). Im Anschluss an die Feststellung, dass es keine Einstimmigkeit nach dem damaligen Art. 308 EG gebe, heißt es lediglich, alle Mitgliedstaaten müssten über „Entschädigungsregelungen“ verfügen, ohne diese in irgendeiner Weise auf grenzüberschreitende Fälle zu beschränken ( 29 ).

77.

Zweitens hat die Kommission auf die Frage in der mündlichen Verhandlung, weshalb die Mitgliedstaaten verpflichtet worden seien, nationale Entschädigungsregelungen trotz ihrer angeblichen Beschränkung auf grenzüberschreitende Fälle einzuführen, erklärt, dass es in bestimmten Situationen zu unnötigen Komplikationen hätte führen können, wenn es den Mitgliedstaaten freigestellt worden wäre, unterschiedliche Regelungen für grenzüberschreitende und für innerstaatliche Sachverhalte zu verwenden.

78.

Als die Kommission aber gefragt wurde, ob ein Mitgliedstaat die Richtlinie 2004/80 korrekt umgesetzt hätte, wenn er die nationale Entschädigungsregelung allein auf grenzüberschreitende Fälle beschränkt hätte, gab sie keine klare Antwort, obwohl der Gerichtshof auf diesem Punkt beharrte. Stattdessen vertrat die Kommission weiter die Auffassung, die einzige ordnungsgemäße Umsetzung von Art. 12 Abs. 2 bestehe für einen Mitgliedstaat darin, dass er über eine einzige Entschädigungsregelung für alle im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats vorsätzlich begangenen Straftaten verfüge, nicht aber über „eine Entschädigungsregelung“ oder „mehrere Entschädigungsregelungen“.

79.

Diese Auffassung ist jedoch aus Gründen der Logik nur schwer aufrechtzuerhalten: Entweder können die nationalen Regelungen rechtsgültig nur grenzüberschreitende Fälle erfassen (vorausgesetzt, ein Mitgliedstaat beschließt, auf eine Entschädigungsregelung bei innerstaatlichen Straftaten zu verzichten), oder diese Regelungen müssen sich zwangsläufig auch auf rein innerstaatliche Fälle erstrecken.

80.

Alternativ stellt es sich aus Sicht eines Opfers und seiner Rechte wie folgt dar: Entweder (1) schreibt das Unionsrecht die Entschädigung nur für Opfer von außerhalb ihres Wohnsitzmitgliedstaats begangenen Straftaten vor (weshalb „innerstaatlichen“ Opfern unionsrechtlich keinerlei Recht zusteht), oder (2) die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, eine einzige Entschädigungsregelung für alle Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten bereitzustellen (so dass allen Opfern unionsrechtlich ein Recht auf Entschädigung gemäß Art. 12 Abs. 2 zusteht). Tertium non datur: Es kann keine durch das Unionsrecht zugunsten aller Personen begründete Verpflichtung geben, der keinerlei Recht dieser Personen zur Durchsetzung der Verpflichtung entspricht.

81.

Drittens lässt sich meines Erachtens den von der Kommission angeführten Dokumenten jedenfalls keine verbindliche und klare Antwort auf die gestellte Frage entnehmen. Aus diesen Dokumenten geht nicht eindeutig hervor, ob alle ursprünglich in dem Vorschlag enthaltenen Vorschriften und Grundsätze über Mindestnormen durch den Kompromiss komplett beseitigt wurden oder ob ein kleiner Bruchteil davon letztlich in Art. 12 „gepresst“ worden ist.

82.

Der Kompromiss lässt nicht ausdrücklich verlauten, ob das Ziel, eine größere Personengruppe (einschließlich der Opfer in Fällen ohne grenzüberschreitenden Bezug) zu schützen, vollständig verschwunden oder nur dergestalt herabgestuft worden ist, dass den Mitgliedstaaten die Minimalverpflichtung – ein von allen Mitgliedstaaten akzeptierter kleinster gemeinsamer Nenner – auferlegt wurde, allen Opfern eine „gerechte und angemessene Entschädigung“ zu bieten ( 30 ).

83.

Ferner gibt es, wie die Kassationsbeschwerdegegnerin bemerkt hat, einige Materialien – insbesondere die Protokolle zweier Sitzungen des Rates im Anschluss an den Kompromiss ( 31 ) –, die nahelegen, dass dieses mit der Richtlinie verfolgte zweite Ziel „überlebt“ hat: den Schutz aller Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten zu verbessern, indem sichergestellt wird, dass sie Zugang zu einer gerechten und angemessenen Entschädigung unabhängig davon haben, an welchem Ort in der Europäischen Union die Straftat begangen wurde. Es spricht einiges dafür, wenn man bedenkt, dass eine Reihe solcher Überlegungen in Form der Erwägungsgründe 3 bis 6 „überlebt“ hat ( 32 ).

84.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Beschreibung des Gesetzgebungsverfahrens, das zum Erlass der Richtlinie 2004/80 geführt hat, dazu beiträgt, etwas Licht darauf zu werfen, wie es zu einem so eigenartig konzipierten Rechtsakt kommen konnte. In Anbetracht des schließlich angenommenen Textes sowie auch angesichts der in diesem Verfahren selbst zutage getretenen Mehrdeutigkeiten und verschiedenen Äußerungen gibt es jedoch wieder keine klare Antwort auf die Frage, welche Ziele der Unionsgesetzgeber mit der Richtlinie 2004/80 und insbesondere mit deren Art. 12 Abs. 2 genau verfolgen wollte.

4. Rechtsgrundlage

85.

Ich werde mich nun einem anderen Aspekt zuwenden, den die Verfahrensbeteiligten in ihren schriftlichen und mündlichen Erklärungen erörtert haben: der Wahl der Rechtsgrundlage – Art. 308 EG (jetzt Art. 352 AEUV) – und ihren Folgen für den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/80. Anders als die Verfahrensbeteiligten vermag ich aber gar nicht zu erkennen, welches stichhaltige Argument in diesem Zusammenhang angeführt werden könnte; es hätten nämlich, einfach gesagt, beide Arten von Rechtsakten auf der Grundlage von Art. 308 EG erlassen werden können.

86.

In ihrem Vorschlag führte die Kommission aus, die Richtlinie müsse auf Art. 308 EG gestützt werden. Der Rechtsakt war eng mit dem Binnenmarkt verknüpft, sein Gegenstand ging aber darüber hinaus und berührte auch den freien Personenverkehr im Allgemeinen sowie das nationale Zivilrecht: Materien, die seinerzeit in Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags ( 33 ) (jetzt Titel V des Dritten Teils des AEU-Vertrags ( 34 )) geregelt waren. Keine der Bestimmungen des Titels IV berechtigte jedoch die damalige Gemeinschaft – so die Kommission – zum Erlass von Vorschriften, wie sie in der vorgeschlagenen Richtlinie vorgesehen waren. Nach Ansicht der Kommission konnte sich der Unionsgesetzgeber daher nur auf die der Union durch die Flexibilitätsklausel zugestandene Restzuständigkeit stützen ( 35 ).

87.

In Anbetracht dessen verstehe ich nicht, wie die Tatsache, dass die von der Kommission ursprünglich vorgeschlagene Rechtsgrundlage beibehalten wurde (auch nach den durch den Kompromiss bewirkten wesentlichen Änderungen), entweder die Auffassung der italienischen Regierung und der Kommission oder die Auffassung der Kassationsbeschwerdegegnerin untermauern sollte. Obwohl (die Mehrzahl der Bestimmungen von) Abschnitt 1 des Vorschlags wegfiel, stand die Richtlinie 2004/80 sowohl mit den Vorschriften über den Binnenmarkt als auch mit den jetzigen RFSR-Vorschriften weiterhin in engem Zusammenhang. Die im Vorschlag der Kommission enthaltene Argumentation zur Rechtsgrundlage behielt daher ihre Gültigkeit für die Endfassung der Richtlinie.

88.

Im Übrigen kann man auch nicht „umgekehrt argumentieren“ und versuchen, den Geltungsbereich eines Sekundärrechtsakts unter Berufung auf seine Primärrechtsgrundlage zu beschränken (oder auch zu erweitern), wenn der Wortlaut dieses Sekundärrechtsakts eine derartige Beschränkung nicht hergibt.

89.

Erstens habe ich unlängst davor gewarnt, solche nachträglichen Beschränkungen von Sekundärrechtsakten im Wege der Auslegung unter Bezugnahme auf ihre Rechtsgrundlage vorzunehmen, und vorgeschlagen, entsprechende Argumente eher dem Bereich der Gültigkeitsprüfung vorzubehalten ( 36 ).

90.

Zweitens würde überdies, selbst wenn dem nicht gefolgt werden sollte, ganz einfach die besondere Natur des Art. 308 EG eine solche „Rückbeziehung“ verhindern, wie sie bisweilen im Hinblick auf andere, spezifischere Rechtsgrundlagen im Vertrag erörtert werden mag ( 37 ). Im Rahmen der verfassungsrechtlichen Struktur des Vertrags ist Art. 308 EG (ebenso wie Art. 352 AEUV, wenngleich jetzt mit einigen zusätzlichen Einschränkungen) offen formuliert: Unter der Bedingung der Einstimmigkeit zwischen den Mitgliedstaaten kann eine Reihe von Maßnahmen erlassen werden, die in keiner Weise auf grenzüberschreitende Fälle beschränkt sind ( 38 ).

5. Einschlägige Rechtsprechung

91.

Die Verfahrensbeteiligten haben sich schließlich zur Begründung der von ihnen vertretenen Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 auf mehrere Entscheidungen des Gerichtshofs berufen. Die italienische Regierung und die Kommission haben insbesondere auf die Entscheidungen des Gerichtshofs in den Rechtssachen Dell’Orto ( 39 ), Giovanardi u. a. ( 40 ) und C ( 41 ) verwiesen. Die Kassationsbeschwerdegegnerin hat sich auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Kommission/Italien ( 42 ) und auf die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in dieser Rechtssache ( 43 ) gestützt.

92.

Erneut hat keine der Verfahrensbeteiligten offensichtlich unrecht: Diese Rechtsprechung enthält Elemente, auf die sich beide Auslegungen stützen lassen. Auf der einen Seite trifft es zu, dass die in kleineren Kammern des Gerichtshofs ergangenen früheren Urteile (und Beschlüsse) in die von der Kommission und der italienischen Regierung vorgeschlagene Richtung gehen. Auf der anderen Seite steht das spätere Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs in der Rechtssache Kommission/Italien.

93.

Zum einen entschied der Gerichtshof in der Rechtssache Dell’Orto, dass eine Situation, in der die Straftat im Hoheitsgebiet des Wohnsitzmitgliedstaats des Opfers begangen werde, nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/80 falle. Diese Richtlinie sieht laut Gerichtshof „eine Entschädigung nur für den Fall einer vorsätzlichen Gewalttat vor, die in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem das Opfer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat“ ( 44 ).

94.

Ganz ähnlich ist das Urteil in der Rechtssache Giovanardi. Der Gerichtshof stellte fest, aus Art. 1 der Richtlinie 2004/80 ergebe sich, dass diese Richtlinie „Opfern von vorsätzlichen Gewalttaten den Zugang zu Schadensersatz bei grenzüberschreitenden Sachverhalten erleichtern [soll]“, während das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht in diesem Fall unstreitig „fahrlässig begangene Straftaten [betraf] und diese auch nur in einem rein nationalen Zusammenhang“ ( 45 ).

95.

Somit weist in der Tat nur die Rechtssache C Ähnlichkeiten mit dem vorliegenden Fall auf. Frau C war Opfer einer in Italien vorsätzlich begangenen Gewalttat und erhob Klage gegen die Presidenza del Consiglio dei Ministri wegen Nichtumsetzung der Richtlinie 2004/80. Der Gerichtshof verneinte seine Zuständigkeit für die Beantwortung der Vorlagefrage ( 46 ) mit der Begründung, dass die Straftat im Wohnsitzmitgliedstaat des Opfers begangen worden sei (Italien). Angesichts dessen fiel diese Situation dem Gerichtshof zufolge nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/80, sondern allein unter das nationale Recht. Auf dieser Grundlage entschied der Gerichtshof: „Bei einem rein internen Sachverhalt ist der Gerichtshof jedoch grundsätzlich nicht für die Entscheidung über die Frage des vorlegenden Gerichts zuständig.“ Da sich das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen nicht auf das Verbot einer umgekehrten Diskriminierung berufen hatte, kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass er für eine Beantwortung der Vorlagefrage offensichtlich unzuständig sei ( 47 ).

96.

Zum anderen wird die vermeintliche Klarheit dieser Rechtsprechung, wie die Kassationsbeschwerdegegnerin zutreffend bemerkt hat, durch ein jüngst ergangenes Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs in Frage gestellt. In der Rechtssache Kommission/Italien ( 48 ) war der Gerichtshof bestrebt, Klarheit über die Bedeutung und Tragweite dieser früheren Rechtsprechung zu schaffen. In Rn. 49 seines Urteils entschied der Gerichtshof, in den Rechtssachen Dell’Orto, Giovanardi und C habe er festgestellt, dass „das durch die Richtlinie 2004/80 eingeführte System der Zusammenarbeit nur den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen betrifft, ohne jedoch auszuschließen, dass Art. 12 Abs. 2, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel in solchen Fällen zu erreichen, die einzelnen Mitgliedstaaten verpflichtet, eine nationale Regelung zu erlassen, die eine Entschädigung der Opfer aller vorsätzlichen Gewalttaten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet gewährleistet“ ( 49 ).

97.

Der Gerichtshof fügte sodann in Rn. 50 hinzu: „Eine solche Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 steht im Übrigen im Einklang mit deren Ziel, die Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen, um das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern.“ ( 50 )

98.

Der Gerichtshof hat somit in der Rechtssache Kommission/Italien, obwohl diese Entscheidung etwas zweideutig ist ( 51 ), ausdrücklich i) entschieden, dass der Geltungsbereich von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 in der früheren Rechtsprechung nicht festgelegt worden war, und ii) diese Frage insoweit offengelassen, als ihre Beantwortung für die Entscheidung über die von der Kommission erhobene Klage nicht erforderlich war.

99.

Dies ist angesichts der Art der Rechtssache, nämlich eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV, verständlich. Die Kommission machte geltend, Italien habe gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 2004/80 verstoßen, da die nationalen Gesetze eine Entschädigungsregelung nur für die Opfer bestimmter Straftaten, wie solcher im Zusammenhang mit Terrorismus oder organisierter Kriminalität, vorsähen, während für andere vorsätzlich begangene Gewalttaten, u. a. Vergewaltigung und andere schwere sexuelle Übergriffe, keine Entschädigungsregelung eingeführt worden sei ( 52 ). Für die Entscheidung über diese spezielle Frage kam es nicht so sehr auf den persönlichen Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 an, denn es war ziemlich klar – was das Urteil des Gerichtshofs letztlich bestätigte –, dass Italien die Richtlinie in Bezug auf beide (oder vielmehr alle) Kategorien von Opfern nicht umgesetzt hatte.

6. Zwischenergebnis (und „Tiebreaks“)

100.

Ich muss zugeben: Es kommt selten vor, dass man sich nach der Prüfung von Wortlaut, Kontext, Zielsetzung, Entstehungsgeschichte und Argumenten zur Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts praktisch genauso wie zu Beginn wiederfindet: ratlos.

101.

Kurz gesagt, Wortlaut und Systematik des Rechtsakts sprechen für die Kassationsbeschwerdegegnerin. Die Entstehungsgeschichte spricht hingegen, wenn auch nicht gänzlich, für die Kommission und die Italienische Republik. Die Rechtsgrundlage ist „neutral“, was beide Lösungen betrifft. Das Spiel „Wählen Sie den Erwägungsgrund, der Ihnen gefällt“ führt zum jeweils gewünschten Ergebnis: Es muss nur der passende Erwägungsgrund ausgesucht werden.

102.

Nach einer Gesamtbeurteilung all dieser Faktoren scheint die Analyse somit zu einem – wenn ich einen Begriff aus dem Sport übernehmen darf – „toten Rennen“ zwischen den beiden konkurrierenden Auslegungen von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 zu führen.

103.

Es überrascht daher keineswegs, dass nicht nur von den Parteien des Ausgangsverfahrens, sondern auch von verschiedenen nationalen Gerichten und im Schrifttum insoweit unterschiedliche Auffassungen vertreten wurden ( 53 ). Sogar innerhalb der Kommissionsdienststellen scheint insoweit eine gewisse Meinungsvielfalt zu bestehen ( 54 ).

104.

In einer so seltenen Konstellation sind wir – um noch einen Vergleich aus der Welt des Sports zu bemühen – auf „Tiebreaks“ angewiesen. Ich möchte dem Gerichtshof drei davon anbieten, die allgemeinerer, verfassungsrechtlicher Natur sind.

105.

Als Erstes verweise ich auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). Zwar bewirkt die Charta gemäß Art. 51 Abs. 2 keine Ausdehnung des Geltungsbereichs des Unionsrechts. Die Charta kann aber als ein für die Auslegung entscheidendes Instrument herangezogen werden, wenn ein EU-Sekundärrechtsakt den Anwendungsbereich des Unionsrechts eindeutig erschlossen hat, wegen der alles andere als perfekten Gesetzestechnik jedoch mehrere Auslegungen gleichermaßen plausibel sind.

106.

Der Umstand, dass die Richtlinie 2004/80 erlassen worden war, bevor die Charta Bestandteil des verbindlichen Primärrechts wurde, ändert daran nur wenig. Erstens wird die Auslegung dieser Richtlinie heute, nach dem derzeit geltenden Recht und unter den aktuellen Umständen erbeten. Zweitens könnte natürlich darüber diskutiert werden, wie viel es von dem, was jetzt als ein Recht in der Charta kodifiziert ist, früher schon als allgemeinen Rechtsgrundsatz gegeben hat. Drittens bezieht sich die Richtlinie 2004/80 selbst ausdrücklich auf die Charta. Der 14. Erwägungsgrund lautet: „Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere durch die Charta … als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts bestätigt wurden.“

107.

Nachdem dies geklärt ist, braucht meines Erachtens nicht sehr intensiv untersucht zu werden, welche der in der Charta vorgesehenen Individualrechte gegen den engstmöglichen Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 2 sprechen würden. Es ist ziemlich klar, dass die in Art. 1 (Würde des Menschen) und Art. 6 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) der Charta niedergelegten Rechte von besonderer Bedeutung wären. Beide Rechte werden ebenso jeder Person gewährleistet, wie es in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 wörtlich für das Recht auf Entschädigung der Opfer von im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist.

108.

Nach meinem Dafürhalten ist die Würde des Menschen, teilweise aber auch das Recht auf persönliche Sicherheit, unantastbar und unteilbar. Aufgrund ihres unzweideutigen und absoluten Charakters gewährleisten sie notwendigerweise gleichermaßen Menschenwürde und den Schutz der persönlichen Sicherheit, ohne dass es der zusätzlichen Anwendung von Art. 21 der Charta (Verbot jeglicher Diskriminierung) bedarf.

109.

Ich halte es daher im spezifischen Kontext erheblicher Unklarheit der auszulegenden Rechtsvorschrift nicht für erforderlich, zu erörtern, ob Art. 21 der Charta für sich allein oder in Verbindung mit Art. 1 der Charta eine umgekehrte Diskriminierung verbietet. Angesichts des besonderen Inhalts des Sekundärrechtsakts, der im vorliegenden Fall auszulegen ist, bieten schon die Art. 1 und 6 der Charta eine völlig ausreichende Grundlage, um die Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 in eine Richtung zu lenken.

110.

Zweitens kann Art. 21 der Charta aber auch in einem etwas anderen Kontext von Bedeutung sein: für die potenzielle Diskriminierung zwischen den verschiedenen grenzüberschreitenden Szenarien und für eine Differenzierung zwischen verschiedenen Arten, wie die Freizügigkeit in Anspruch genommen bzw. nicht in Anspruch genommen wird.

111.

Wäre die Richtlinie 2004/80 im Sinne der italienischen Regierung und der Kommission zu verstehen, würden zwei Arten von Situationen, die alle beide grenzüberschreitende Aspekte aufweisen, unterschiedlich behandelt: der Fall, in dem das Opfer selbst von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat („reisendes Opfer“), und der Fall, in dem der Straftäter von diesem Recht Gebrauch gemacht hat („reisender Täter“) ( 55 ).

112.

In beiden Situationen stößt das Opfer der Straftat wahrscheinlich auf größere Hindernisse als üblich, um vom Straftäter eine Entschädigung zu erlangen. Der vorliegende Fall dürfte hierfür ein Paradebeispiel sein: Die Straftäter waren rumänische Staatsangehörige, die nach ihrer Verurteilung die Flucht ergriffen. Wenn es aber das erklärte Ziel der Richtlinie ist, zur Förderung des freien Personenverkehrs den Opfern grenzüberschreitender Straftaten Hilfe zu leisten, sollten dann diese beiden Situationen nicht zumindest nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 gleich behandelt werden, zumal der Wortlaut dieser Bestimmung eine solche Auslegung eindeutig zulässt ( 56 )?

113.

Im Übrigen besteht nach Art. 2 Abs. 2 AEUV eines der Ziele der Union darin, „ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen [zu bieten], in dem … der freie Personenverkehr gewährleistet ist“. Der edle Traum von einem Raum ohne Binnengrenzen kann aber wohl kaum nur einseitig verstanden werden, ohne dass die von oben verordnete Öffnung mit einem entsprechenden Grad an Verantwortlichkeit und Haftung verbunden wäre. Es ist nicht zu übersehen, dass eine Zunahme beim freien Personenverkehr unweigerlich gewisse nachteilige externe Auswirkungen mit sich bringt oder, anders gesagt, soziale Kosten verursacht.

114.

Folglich würde die von der italienischen Regierung und der Kommission vorgeschlagene ganz enge Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 bedeuten, dass dieser Rechtsakt auf eine eher eindimensionale Förderung des freien Personenverkehrs ausgerichtet wäre: eine Verbesserung der Stellung bestimmter Opfer grenzüberschreitender Straftaten, während die Stellung anderer Opfer, die durch den freien Personenverkehr gleichermaßen beeinträchtigt werden kann, außer Acht gelassen würde.

115.

Umgekehrt käme es nicht zu dieser Ungleichbehandlung von zwei Kategorien grenzüberschreitender Fälle, wenn der von der Kassationsbeschwerdegegnerin vorgeschlagenen extensiveren Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 gefolgt würde. Dann wären die Mitgliedstaaten nach dieser Bestimmung nämlich verpflichtet, eine Regelung einzuführen, die für alle Opfer von Straftaten unabhängig davon gilt, wo sie ihren Wohnsitz haben.

116.

Diese problematische Ungleichbehandlung würde auch vermieden, wenn der Begriff der „grenzüberschreitenden“ Fälle weiter ausgelegt werden könnte, so dass er auch Situationen erfasste, in denen der Straftäter von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat. Ich muss jedoch zugeben, dass ein solches weiteres Verständnis der „grenzüberschreitenden“ Fälle (oder Straftaten) schwerlich mit Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 zu vereinbaren ist: Der Begriff „grenzüberschreitend“ kommt nirgendwo in dieser Bestimmung vor ( 57 ).

117.

Drittens möchte ich schließlich das Argument der Gewaltenteilung (oder, in der Unionsterminologie, des institutionellen Gleichgewichts) zwischen dem Unionsgesetzgeber und den Gerichten anführen. Einfach ausgedrückt, lautet die entscheidende Frage, wie viel Beachtung die Unionsgerichte dem mutmaßlichen oder wirklichen Willen des historischen Gesetzgebers schenken sollten, wenn dieser Wille in den verabschiedeten und geltenden Rechtsvorschriften nirgendwo klar zum Ausdruck kommt.

118.

Nach Ansicht der Kommission wollte der Rat nicht einmal Mindestnormen über die Fälle hinaus haben, in denen die Straftat in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem das Opfer seinen Wohnsitz hat, begangen wird. Ein derartiger klarer Wille des Gesetzgebers ist meines Erachtens jedoch weder aus dem endgültigen Text der verabschiedeten Rechtsvorschriften noch wirklich aus dem Text des vom Rat vorgeschlagenen Kompromisses ersichtlich ( 58 ).

119.

Aber auch wenn diese Ansicht für zutreffend erachtet würde, sollte nach meiner Meinung einem solchen gesetzgeberischen Willen, der nirgendwo im geltenden Recht klar formuliert wurde, keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden. Ich muss freilich zugeben, dass ich beim Vergleich mit der Gesetzesauslegung in mehreren Mitgliedstaaten immer sehr darüber erstaunt war, wie viel Achtung dem Willen des historischen Gesetzgebers bei der Auslegung des Unionsrechts gezollt wird. Auf nationaler Ebene wird der Wille des historischen Gesetzgebers zwar durchaus in Betracht gezogen ( 59 ), aber mehr als einer von mehreren relevanten Faktoren, kaum automatisch als ausschlaggebendes Element. Worauf es letztlich ankommt, ist der verabschiedete Text. Dieser Ansatz hat mehrere Rechtsordnungen im Zeichen einer echten Gewaltenteilung dazu veranlasst, auf eine gewisse Distanz zum subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers zu gehen, der im geltenden Recht keinen Ausdruck gefunden hat ( 60 ).

120.

Im Gegensatz dazu ist nach dem Unionsrecht allein der Gesetzgeber befugt, den Gesetzestext auszuarbeiten. Hinzu kommt, dass der Unionsgesetzgeber auch „authentische Auslegungshinweise“ in Form von Erwägungsgründen für seine Rechtsakte an die Hand gibt. Natürlich sind Erwägungsgründe nach der Dogmatik nicht rechtsverbindlich. Die Praxis ist jedoch viel weniger eindeutig ( 61 ).

121.

Nach dem Unionsrecht ist man bei der Auslegung daher nicht nur einmal, sondern tatsächlich zweimal an den (mutmaßlich identischen) Willen des Gesetzgebers gebunden. Wenn in diesem Zusammenhang suggeriert wird, zusätzlich zu diesen beiden Schichten gebe es noch eine dritte, bei der tatsächlich eine fast archäologische Grabung nach dem vorzunehmen wäre, was wer Jahrzehnte zuvor genau gesagt hat, um mangelhaft formulierte Rechtsvorschriften zu korrigieren oder vielmehr wiederherzustellen, dann geht dies meines Erachtens einen oder vielmehr zwei Schritte zu weit.

122.

Stattdessen muss einem Unionsrechtsakt nach seinem Erlass ein unabhängiges Eigenleben zugestanden werden. Worauf es für seine Auslegung ankommt, sind die im Text zum Ausdruck gebrachten Faktoren und gesetzgeberischen Absichten, zusammen mit dem Willen des Gesetzgebers, wie er in den textbegleitenden Erwägungsgründen seinen Niederschlag gefunden hat. Umgekehrt spielen die Absichten und Vorstellungen keine Rolle, die während des Gesetzgebungsverfahrens geäußert wurden, in den Text jedoch keinen Eingang fanden ( 62 ).

123.

Dies muss aus drei weiteren Gründen so sein. Erstens muss eine Rechtsvorschrift aus Sicht eines normalen Empfängers/allgemeinen Lesers ausgelegt werden, der wahrscheinlich nicht in der Lage ist, verschiedene (nicht immer öffentlich zugängliche) Dokumente zur Entstehungsgeschichte eines Rechtsakts zu durchforsten, um zu ermitteln, ob das, was im Text steht, dem subjektiven Willen des historischen Gesetzgebers entspricht. Zweitens ist zu bedenken, dass es im Unionsrecht üblicherweise nicht einen, sondern mehrere Legislativorgane gibt, wobei jedes von ihnen möglicherweise seine eigenen Vorstellungen davon hat, was sie verabschieden wollten. Drittens verweise ich auf die moralische Verantwortung des Autors, der Gelegenheit hatte, klar zu äußern, was er beabsichtigte. Konnte oder wollte der Gesetzgeber seinen Willen nicht eindeutig erklären, ist es problematisch, später damit im Wege der Auslegung zu beginnen, vor allem zulasten der betroffenen Personen, die aufgrund des Wortlauts der verabschiedeten Regelung durchaus etwas anderes angenommen haben können.

124.

Nach alledem sollte Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, einzelstaatliche Entschädigungsregelungen einzuführen, die eine Entschädigung für jedes Opfer einer in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttat unabhängig davon vorsehen, wo das Opfer seinen Wohnsitz hat.

C.   Zweite Frage

125.

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob eine für Opfer sexueller Gewalt auf 4800 Euro festgesetzte Entschädigung als „gerecht und angemessen“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 angesehen werden kann.

126.

Bevor ich auf die mit dieser Frage angesprochene Problematik näher eingehe, sind zwei Vorbemerkungen zu machen.

127.

Die Kassationsbeschwerdegegnerin verlangt von den italienischen Behörden im Ausgangsverfahren Schadensersatz wegen verspäteter oder unvollständiger Umsetzung der Richtlinie 2004/80 in Italien. Da die Kassationsbeschwerdegegnerin eine Entschädigung in Höhe von 4800 Euro nach der nationalen Regelung erhalten hat, dürften ihre Ansprüche gegen die Presidenza del Consiglio auf anderen Gründen beruhen (z. B. darauf, dass die Regelung verspätet eingeführt oder ihr zu spät zugutegekommen sei, dass der Schaden durch die Entschädigung nicht vollständig ersetzt werde oder dass der Entschädigungsbetrag nicht „gerecht und angemessen“ sei). Die genauen Gründe gehen aber weder aus dem Vorabentscheidungsersuchen des vorlegenden Gerichts noch aus den von der Kassationsbeschwerdegegnerin vor dem Gerichtshof abgegebenen schriftlichen und mündlichen Erklärungen klar hervor. Daher werde ich, um dem vorlegenden Gericht eine umfassendere Orientierungshilfe zu bieten, zwei kurze Überlegungen zur Anwendung der Francovich-Rechtsprechung auf einen Sachverhalt anstellen, wie er Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist.

128.

Erstens können nach ständiger Rechtsprechung die Schadensfolgen der verspäteten Umsetzung einer Richtlinie durch die rückwirkende, vollständige Anwendung der Maßnahmen zu deren Durchführung behoben werden, sofern die Richtlinie ordnungsgemäß umgesetzt worden ist. Es ist jedoch Sache des nationalen Gerichts, darüber zu wachen, dass der den Begünstigten entstandene Schaden angemessen ersetzt wird. In diesem Zusammenhang müssen Einzelne, die Schadensersatz verlangen, dartun, zusätzliche Einbußen dadurch erlitten zu haben, dass sie nicht rechtzeitig in den Genuss der durch die Richtlinie garantierten Rechte gelangen konnten ( 63 ).

129.

Man kann zweitens darüber streiten, ob es bei einer vom Opfer einer Straftat in einem rein innerstaatlichen Fall erhobenen Schadensersatzklage nicht schwierig wäre, einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht in einer Situation darzutun, in der von dem Mitgliedstaat eine nationale Regelung eingeführt wurde, die allein für grenzüberschreitende Straftaten gilt. Nach ständiger Rechtsprechung besteht eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Haftung des Staates ausgelöst wird, nämlich darin, dass der Verstoß gegen das Unionsrecht „hinreichend qualifiziert“ ist ( 64 ). Zu den von den nationalen Gerichten hierbei zu berücksichtigenden Aspekten gehört u. a. „das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Rechtsnorm“ ( 65 ).

130.

Der gesamte vorhergehende Abschnitt dieser Schlussanträge hat aber gezeigt, dass der Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 unklar ist und dass überdies der Rückgriff auf andere Auslegungsmittel insoweit zu keiner viel größeren Klarheit führt.

131.

Dieser Aspekt scheint im Ausgangsverfahren jedoch überhaupt nicht umstritten zu sein. Italien hat die Richtlinie 2004/80 durch die Einführung einer nationalen Entschädigungsregelung umgesetzt, die sowohl innerstaatliche als auch grenzüberschreitende Fälle erfasst. Nach meinem Verständnis geht es in dem Verfahren vor den nationalen Gerichten folglich nur um die angemessene Höhe der Entschädigung.

132.

Nachdem dies geklärt ist, wende ich mich nun dem Kernpunkt der von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) vorgelegten zweiten Frage zu. Kann die Entschädigung eines Vergewaltigungsopfers in Höhe von 4800 Euro als „gerecht und angemessen“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 angesehen werden?

133.

Ich halte es für sehr schwer, diese Frage mit ja oder nein zu beantworten. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller Umstände zu entscheiden, ob die dem Opfer von den Behörden gewährte Entschädigung im vorliegenden Fall als „gerecht und angemessen“ betrachtet werden kann. Die Rolle des Gerichtshofs besteht im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens darin, durch die Erläuterung der Kriterien, anhand deren das Gericht den Fall beurteilen sollte, allgemeine Hinweise zu geben.

134.

In diesem Sinne möchte ich Folgendes bemerken.

135.

Erstens kann ich der italienischen Regierung nur darin zustimmen, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer entsprechenden Harmonisierungsregelung über ein weites Ermessen bei der Wahl der erfassten Entschädigungspositionen, der für die Festsetzung der Höhe der Entschädigung relevanten Kriterien und infolgedessen des Betrags der Entschädigung selbst verfügen.

136.

Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 enthält zwar den Begriff „gerecht und angemessen“. Sonst gibt es aber nichts. Vor allem hat der Unionsgesetzgeber letztlich beschlossen, die in dem ursprünglichen Vorschlag, speziell in dessen ursprünglichem Art. 4 (mit der Überschrift „Grundsätze für die Feststellung des Entschädigungsbetrags“), enthaltenen detaillierteren Vorschriften über Mindestnormen für die Entschädigung nicht zu übernehmen. Es kann deshalb gewiss davon ausgegangen werden, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten in dieser Frage einen besonders großen Ermessensspielraum einräumen wollte.

137.

Zweitens stimme ich mit der italienischen Regierung auch darin überein, dass in der Richtlinie 2004/80 nichts zu finden ist, was die Ansicht stützt, dass die aufgrund der nationalen Regelungen zu gewährende Entschädigung dem Schadensersatz gleichgesetzt werden müsse, den eigentlich der Straftäter nach nationalem Deliktsrecht zu leisten hätte. Beiden Arten von Leistungen liegt eine unterschiedliche Zweckrichtung und Logik zugrunde.

138.

Auf der einen Seite folgt die vom Straftäter dem Verbrechensopfer zu leistende Entschädigung (oder der Schadensersatz) in der Regel der Logik einer vollständigen Entschädigung bzw. Wiedergutmachung. Der zugesprochene Betrag soll so weit wie möglich eine vollständige Entschädigung für den Verlust, die Verletzung und das Leid widerspiegeln, die dem Opfer entstanden sind ( 66 ).

139.

Auf der anderen Seite ist die Logik der Entschädigung nach der Richtlinie 2004/80, soweit den erlassenen Minimalbestimmungen zu entnehmen ist, eher die einer (pauschalierten) öffentlichen (finanziellen) Unterstützung für Opfer von Straftaten. Die Anwendbarkeit der nationalen Regelung ist nicht darauf zurückzuführen, dass die mitgliedstaatlichen Behörden irgendeinen Fehler, etwa bei der Identifizierung oder Verfolgung der Straftäter, begangen hätten. Außerdem bezeichnen Titel und Bestimmungen der Richtlinie 2004/80 in mehreren Sprachfassungen den nach den nationalen Regelungen zu gewährenden Ersatz als „Entschädigung“ ( 67 ). Nach meinem Verständnis steht dieser Begriff in vielen Ländern oft für eine fixe oder pauschalierte Entschädigungsart oder jedenfalls für eine Form der Entschädigung, die nicht unbedingt einem (vollständigen) zivilrechtlichen Schadensersatz entspricht.

140.

Drittens steht dies auch mit der Art und Weise im Einklang, wie die Regelung auf nationaler Ebene gehandhabt werden soll. Der Entschädigungsbetrag muss nach der Richtlinie 2004/80 nicht von einem Gericht festgesetzt werden, das alle relevanten Umstände des Falles unter Berücksichtigung der von den Parteien vorgelegten Beweise würdigt ( 68 ). Im Übrigen entspräche ein langwieriges und schwerfälliges Verfahren (das wahrscheinlich erforderlich wäre, um sicherzustellen, dass die gewährte Entschädigung den Schaden vollständig ersetzte ( 69 )) nicht der Verfahrensart, die sich der Unionsgesetzgeber vorgestellt hat. Nach Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2004/80 sind die Mitgliedstaaten nämlich „bestrebt, die Förmlichkeiten, die von Entschädigung beantragenden Personen zu erledigen sind, auf ein Mindestmaß zu reduzieren“.

141.

Viertens bestimmen diese Logik und dieses Verfahren sodann die Art und Weise, wie die Beträge festzusetzen sind. Meines Erachtens wären Pauschal- oder standardisierte Beträge strukturell mit einer „gerechten und angemessenen“ Entschädigung nicht unvereinbar. Es gibt in der Richtlinie 2004/80 nichts, was daran hindern würde, dass in nationale Gesetze und Verfahren Vorschriften aufgenommen werden, wonach für die Bestimmung des Betrags der zu gewährenden Entschädigung auf Bandbreiten, Ober- und/oder Untergrenzen sowie standardisierte oder fixe Geldbeträge für die jeweilige Art des dem Opfer entstandenen Verlusts oder Schadens bzw. der begangenen Straftat zurückgegriffen wird ( 70 ).

142.

Fünftens muss nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 schließlich die Entschädigung „gerecht und angemessen“ sein, wodurch dem Ermessen der Mitgliedstaaten in dieser Sache eine Grenze gesetzt wird. Diese Grenze ist aber sehr flexibel. Ich schlage vor, diesen Begriff in dem Sinne zu verstehen, dass eine gewisse Korrelation zwischen dem durch die Straftat verursachten Schaden und Verlust sowie der nach der Regelung gewährten Entschädigung bestehen muss. Das bedeutet nicht, dass mit dem Betrag annähernd eine vollständige Wiedergutmachung erreicht werden sollte. Es bedeutet vielmehr, dass der Betrag einen bedeutsamen Beitrag zum Ersatz des dem Opfer zugefügten materiellen und immateriellen Schadens leisten und ihm eine gewisse Befriedigung für das verschaffen muss, was es erlitten hat. Der Entschädigungsbetrag darf insbesondere nicht so niedrig sein, dass er rein symbolisch erscheint oder für das Opfer praktisch von vernachlässigbarem oder geringfügigem Nutzen und Vorteil ist.

143.

Ich möchte hinzufügen, dass ich nicht die Auffassung der Kassationsbeschwerdegegnerin teile, wonach die Entscheidungsbehörde aufgrund des Erfordernisses der „Angemessenheit“ in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 den im nationalen Recht vorgesehenen Betrag an die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls anpassen können muss. Vorausgesetzt, der im nationalen Recht für eine bestimmte Art von Straftat vorgesehene Betrag ist vertretbar, sehe ich keinen Grund, weshalb ein Fixbetrag per se mit der Richtlinie 2004/80 unvereinbar sein sollte.

144.

Zusammenfassend räume ich ein, dass eine solche Orientierungshilfe minimalistisch und in der Tat etwas vage ist. In diesem speziellen Punkt ist der Wortlaut der Richtlinie 2004/80 in ihrer verabschiedeten Form, im Gegensatz zum Geltungsbereich ihres Art. 12 Abs. 2, eher klar, soweit er keine weitere Orientierung gibt. Der Unionsgesetzgeber dürfte tatsächlich beabsichtigt haben, diesen Bereich offenzulassen. Die Folge davon ist eine beträchtliche Vielfalt bei den Regelungen, den Verfahren und den in den einzelnen Mitgliedstaaten gewährten Beträgen ( 71 ). Eine Weiterentwicklung dieses Rechtsgebiets durch die Erarbeitung gemeinsamer Mindestnormen, wie ursprünglich in Nr. 16 des Ratskompromisses von 2004 angedeutet ( 72 ), wäre eine Aufgabe für den Unionsgesetzgeber ( 73 ), wenn eine solche Vielfalt für problematisch erachtet werden sollte.

V. Ergebnis

145.

Ich schlage dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) wie folgt zu beantworten:

1.

Nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, einzelstaatliche Entschädigungsregelungen einzuführen, die eine Entschädigung für jedes Opfer einer vorsätzlich begangenen Gewalttat unabhängig davon vorsehen, wo das Opfer seinen Wohnsitz hat.

2.

Eine Entschädigung für Opfer von Straftaten ist „gerecht und angemessen“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80, wenn mit ihr ein bedeutsamer Beitrag zum Ersatz des dem Opfer zugefügten Schadens geleistet wird. Insbesondere darf der Betrag der gewährten Entschädigung nicht so niedrig sein, dass er rein symbolisch erscheint oder für das Opfer praktisch von vernachlässigbarem oder geringfügigem Nutzen oder Trost ist.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) ABl. 2004, L 261, S. 15.

( 3 ) Geändert durch Art. 6 der Legge 20 novembre 2017, n. 167 Disposizioni per l’adempimento degli obblighi derivanti dall’appartenenza dell’Italia all’Unione europea – Legge europea 2017 (Gesetz Nr. 167 vom 20. November 2017 mit Vorschriften zur Umsetzung der Verpflichtungen aus der Zugehörigkeit Italiens zur Europäischen Union – Europäisches Gesetz 2017) und durch Art. 1 Abs. 593 bis 596 der Legge 30 dicembre 2018, n. 145 Bilancio di previsione dello Stato per l’anno finanziario 2019 e bilancio pluriennale per il triennio 2019-2021 (Gesetz Nr. 145 vom 30. Dezember 2018 über den Haushaltsvoranschlag des Staates für das Finanzjahr 2019 und den mehrjährigen Haushalt für den Dreijahreszeitraum 2019-2021).

( 4 ) Gazzetta Ufficiale, Serie Generale Nr. 237, vom 10. Oktober 2017.

( 5 ) Kommission/Italien (C‑601/14, EU:C:2016:759), mit dem festgestellt wird, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 verstoßen hat, dass sie nicht alle Maßnahmen ergriffen hatte, die erforderlich waren, um sicherzustellen, dass in grenzüberschreitenden Fällen eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten bestand.

( 6 ) X (C‑167/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:187), mit dem im Anschluss an die Rücknahme des Vorabentscheidungsersuchens durch das vorlegende Gericht die Streichung der Rechtssache im Register angeordnet worden ist.

( 7 ) Siehe dazu oben, Nrn. 8 und 9 der vorliegenden Schlussanträge.

( 8 ) Urteil vom 19. November 1991 (C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428).

( 9 ) Nach ständiger Rechtsprechung haftet ein Mitgliedstaat für Schäden, die den Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen wurde, soll ihnen Rechte verleihen, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert, und zwischen ihm und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl. insoweit zuletzt Urteil vom 29. Juli 2019, Hochtief Solutions Magyarországi Fióktelepe, C‑620/17, EU:C:2019:630, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Vgl. dazu Urteile vom 16. Juni 1994, Steen (C‑132/93, EU:C:1994:254, Rn. 8 bis 11), und vom 5. Juni 1997, Uecker und Jacquet (C‑64/96 und C‑65/96, EU:C:1997:285, Rn. 23). Für einen aktuellen Überblick über die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs vgl. Arena, A., „The Wall Around EU Fundamental Freedoms: the Purely Internal Rule at the Forty-Year Mark“, Yearbook of European Law, 2020, S. 12 bis 67.

( 11 ) Hervorhebung nur hier.

( 12 ) Nach dieser Bestimmung hatten die Mitgliedstaaten die Richtlinie 2004/80 bis zum 1. Januar 2006 umzusetzen; „hiervon ausgenommen [war] Artikel 12 Absatz 2, dem bis zum 1. Juli 2005 nachzukommen [war]“.

( 13 ) Vgl. Ratsdokument 8033/04 vom 5. April 2004. Dieser Vorschlag wurde letztlich nicht aufgegriffen.

( 14 ) Ohne in Abrede zu stellen, dass einige davon in mehr als eine Gruppe eingeordnet werden könnten.

( 15 ) Hervorhebung nur hier.

( 16 ) Hervorhebung nur hier.

( 17 ) Hervorhebung nur hier.

( 18 ) Hervorhebung nur hier.

( 19 ) Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates auf der Tagung in Tampere von 1999, die Erklärung des Europäischen Rates von 2004 zum Kampf gegen Terrorismus, der Erlass des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI über die Stellung des Opfers im Strafverfahren und das Europäische Übereinkommen des Europarats vom 24. November 1983 über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten.

( 20 ) KOM(2002) 562 endgültig (ABl. 2003, C 45 E, S. 69).

( 21 ) Vgl. insbesondere Nr. 3 der Begründung.

( 22 ) Hervorhebung nur hier.

( 23 ) Zuletzt enthielt Abschnitt 3 (Art. 24 bis 28) „Durchführungsbestimmungen“.

( 24 ) Der Vorschlag war auf den damaligen Art. 308 EG, jetzt Art. 352 AEUV, gestützt. Ich werde darauf unten, in den Nrn. 85 bis 90 der vorliegenden Schlussanträge zurückkommen.

( 25 ) Ratsdokument 7752/04.

( 26 ) Vgl. Nr. 15 des Kompromisses.

( 27 ) Vgl. Nr. 16 des Kompromisses.

( 28 ) Nr. 13 des Kompromisses.

( 29 ) Insbesondere Nr. 16 des Kompromisses.

( 30 ) Und nicht länger eine größere Personengruppe zu schützen, wie es ursprünglich in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Kommissionsvorschlags vorgesehen war.

( 31 ) Vgl. Ratsdokument 7209/04, S. 9, und Ratsdokument 8694/04, S. II.

( 32 ) Oben, Nrn. 64 und 65 der vorliegenden Schlussanträge.

( 33 ) „Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr“ (Art. 61 bis 69 EG).

( 34 ) „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (Art. 67 bis 89 AEUV).

( 35 ) Vgl. Begründung, Nrn. 5.1 und 5.2.

( 36 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache C‑815/18, Federatie Nederlandse Vakbeweging (EU:C:2020:319, Nrn. 45 bis 49).

( 37 ) Vgl. u. a. zu Art. 114 AEUV Urteil vom 20. Mai 2003, Österreichischer Rundfunk u. a. (C‑465/00, C‑138/01 und C‑139/01, EU:C:2003:294, Rn. 41 bis 43), oder Urteil vom 6. November 2003, Lindqvist (C‑101/01, EU:C:2003:596, Rn. 40 bis 42). Vgl. auch zu Art. 82 Abs. 2 AEUV Urteil vom 13. Juni 2019, Moro (C‑646/17, EU:C:2019:489, Rn. 32 und 33).

( 38 ) Vgl. dazu u. a. Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 235), sowie Gutachten 1/94 (dem WTO-Abkommen beigefügte Übereinkommen) vom 15. November 1994 (EU:C:1994:384, Rn. 59).

( 39 ) Urteil vom 28. Juni 2007 (C‑467/05, EU:C:2007:395).

( 40 ) Urteil vom 12. Juli 2012 (C‑79/11, EU:C:2012:448).

( 41 ) Beschluss vom 30. Januar 2014 (C‑122/13, EU:C:2014:59).

( 42 ) Urteil vom 11. Oktober 2016 (C‑601/14, EU:C:2016:759).

( 43 ) C‑601/14, EU:C:2016:249.

( 44 ) Urteil vom 28. Juni 2007, Dell’Orto (C‑467/05, EU:C:2007:395, Rn. 57 bis 59). Hervorhebung nur hier. Allerdings handelte es sich bei dieser Aussage um ein obiter dictum in einem Fall, der eine andere Frage betraf, nämlich die, ob eine juristische Person als Opfer nach der Richtlinie 2004/80, vor allem aber nach dem Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. 2001, L 82, S. 1), anerkannt werden kann.

( 45 ) Urteil vom 12. Juli 2012, Giovanardi u. a. (C‑79/11, EU:C:2012:448, Rn. 37). Hervorhebung nur hier. Erneut betraf der Fall ähnlich wie in der Rechtssache Dell’Orto die Auslegung des Opferbegriffs nach dem Rahmenbeschluss 2001/220/JI, wobei die Richtlinie 2004/80, die vom vorlegenden Gericht nicht einmal erwähnt worden war, in einer einzigen Randnummer als für das Ausgangsverfahren nicht einschlägig abgetan wurde.

( 46 )

( 47 ) Beschluss vom 30. Januar 2014, C (C‑122/13, EU:C:2014:59, Rn. 11 bis 18 und Tenor). Hervorhebung nur hier.

( 48 ) Urteil vom 11. Oktober 2016 (C‑601/14, EU:C:2016:759).

( 49 ) Hervorhebung nur hier.

( 50 ) Hervorhebung nur hier.

( 51 ) Die Rn. 49 und 50 lassen sich freilich nicht leicht mit den Rn. 44 und 45 dieses Urteils vereinbaren.

( 52 ) Vgl. Urteil vom 11. Oktober 2016, Kommission/Italien (C‑601/14, EU:C:2016:759, Rn. 18 bis 20).

( 53 ) Vgl. z. B. Stellungnahmen von Mastroianni, R., „La responsabilità patrimoniale dello Stato italiano per violazione de Diritto dell’Unione: il caso della direttiva sull’indennizzo delle vittime dei reati“, Giustizia Civile, 2014, Nr. 1, S. 283 bis 318, und von Peers, S., „Reverse discrimination against rape victims: a disappointing ruling of the CJEU“, in EU Law Analysis Blog, 24. März 2014 (zuletzt eingesehen am 20. März 2020). Der erste dieser beiden Beiträge enthält verschiedene Hinweise auf Entscheidungen italienischer Gerichte.

( 54 ) Ein meines Erachtens anschaulicher Hinweis auf ähnliche (natürlich nicht bindende) Materialien findet sich auf dem von der Kommission betriebenen Portal e-justice. Dort wird die Richtlinie 2004/80 dahin gehend beschrieben, dass sie die Mitgliedstaaten verpflichtet, „eine nationale Regelung zur Entschädigung der Opfer [(englische Fassung: all victims)] von vorsätzlich begangenen Gewalttaten einzuführen“ (Hervorhebung nur hier). Nach dieser Richtlinie haben „alle Opfer vorsätzlicher Gewalttaten Zugang zu der nationalen Entschädigungsregelung des Landes, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde“ (online unter https://e-justice.europa.eu/content_compensation-67-de.do, zuletzt eingesehen am 20. März 2020). Auch in ihrem „Bericht über die Anwendung der Richtlinie 2004/80/EG des Rates zur Entschädigung der Opfer von Straftaten“ vom 20. April 2009, KOM(2009) 170 endgültig, insbesondere Nr. 3.4.1, nimmt die Kommission insoweit nicht klar Stellung.

( 55 ) Auch oben in den Nrn. 55 bis 60 der vorliegenden Schlussanträge im Hinblick auf die Erwägungsgründe der Richtlinie 2004/80 erörtert.

( 56 ) Es sei nur daran erinnert: Zwecks Milderung einer Diskriminierung, die in einem Regelwerk festgestellt worden war, das eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Fälle ermöglichte, hat der Gerichtshof nicht gezögert, in der Vergangenheit selbst viel weiter – man könnte sagen, über den Wortlaut hinaus – zu gehen. Vgl. u. a. Urteil vom 19. November 2009, Sturgeon u. a. (C‑402/07 und C‑432/07, EU:C:2009:716, Rn. 49 bis 54), im Vergleich zu den Schlussanträgen der Generalanwältin Sharpston in den verbundenen Rechtssachen Sturgeon u. a. (EU:C:2009:416, Nrn. 62 bis 97).

( 57 ) Wie vorstehend erörtert, hat der Gebrauch des Begriffs „grenzüberschreitend“ in Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2004/80 eine ganz andere Bedeutung, als die Kommission und die italienische Regierung ihm beimessen (oben, Nrn. 33 bis 38).

( 58 ) Wie im Einzelnen oben in den Nrn. 75 bis 84 der vorliegenden Schlussanträge erörtert.

( 59 ) Siehe rechtsvergleichend z. B. Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen (Mohr [Siebeck], Tübingen 2001) – Bd. I, S. 31‑32 und 115‑120 (zu Deutschland); Bd. I, S. 235 und 274‑276 (zu Frankreich).

( 60 ) Das führte in einigen Rechtsordnungen, vor allem in solchen, die auf dem Common Law beruhen, zu einer großen Zurückhaltung – wenn nicht zu einem völligen Verbot – in Bezug auf die Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte eines Gesetzes und der Gesetzgebungsdebatten für die Auslegung des Gesetzes – vgl. aber Pepper (Inspector of Taxes) v Hart [1992] UKHL 3. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals äußerte aber schon von Savigny die Auffassung, der Wille des Gesetzgebers sei nur insoweit von Bedeutung, als er im Gesetz selbst objektiv zum Ausdruck komme; nicht zum Ausdruck gebrachte subjektive Gründe des Gesetzgebers seien irrelevant – Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts (2. Neudruck der Ausgabe Berlin 1840, Scientia Verlag 1981), in § 38 (S. 241).

( 61 ) Zur Veranschaulichung vgl. u. a. Urteile vom 12. Juli 2005, Alliance for Natural Health u. a. (C‑154/04 und C‑155/04, EU:C:2005:449, Rn. 91 und 92), vom 21. Dezember 2011, Ziolkowski und Szeja (C‑424/10 und C‑425/10, EU:C:2011:866, Rn. 42 und 43), oder vom 25. Juli 2018, Confédération paysanne u. a. (C‑528/16, EU:C:2018:583, Rn. 44 bis 46 und 51). Vor allem bei der letzteren Rechtssache stellt sich die Frage, wie lange genau sich ein solcher Rückgriff auf einen Erwägungsgrund im Rahmen eines bloßen Auslegungshinweises hält.

( 62 ) Wie ich jüngst in der Rechtssache C‑815/18, Federatie Nederlandse Vakbeweging (EU:C:2020:319, Nrn. 61 bis 63), vorgeschlagen habe.

( 63 ) Vgl. dazu Urteile vom 10. Juli 1997, Maso u. a. (C‑373/95, EU:C:1997:353, Rn. 39 bis 42), vom 25. Februar 1999, Carbonari u. a. (C‑131/97, EU:C:1999:98, Rn. 53), und vom 3. Oktober 2000, Gozza u. a. (C‑371/97, EU:C:2000:526, Rn. 39).

( 64 ) Vgl. Urteil vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame (C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 51), sowie neuerdings Urteil vom 10. September 2019, HTTS/Rat (C‑123/18 P, EU:C:2019:694, Rn. 32).

( 65 ) Vgl. Urteil vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame (C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 56), sowie neuerdings Urteil vom 10. September 2019, HTTS/Rat (C‑123/18 P, EU:C:2019:694, Rn. 33).

( 66 ) Wie es in der Regel bei jeder deliktischen Haftung für die einer anderen Person zugefügten Schäden der Fall ist. Vgl. z. B. zur Haftung der Europäischen Union wegen unerlaubter Handlung Art. 340 AEUV, wonach „die Union den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden [(englische Fassung: „any damage“)] nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen [ersetzt], die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“ (Hervorhebung nur hier). Die Unionsgerichte haben diese Bestimmung in ständiger Rechtsprechung dahin ausgelegt, dass sie grundsätzlich sowohl Vermögensschäden (in Form von Vermögensverminderungen und entgangenem Gewinn) als auch Nichtvermögensschäden umfasst: vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Europäische Union/Kendrion (C‑150/17 P, EU:C:2018:612, Nr. 103).

( 67 ) Dazu zählen neben der deutschen die spanische („indemnización“), die französische („indemnisation“), die italienische („indennizzo“) die portugiesische („indemnização“) und die slowakische („odškodnenie“) Fassung.

( 68 ) Vgl. Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/80.

( 69 ) Vgl. Van Dam, C., European Tort Law, 2. Aufl., Oxford University Press, Oxford, 2013, S. 346.

( 70 ) Es sei nur darauf hingewiesen, dass in einigen Rechtsordnungen auch die nationalen Gerichte auf ähnliche Parameter zurückgreifen, um in besonderen Fällen den zuzuerkennenden Schadensersatz schnell und zielführend zu beziffern, wobei sie eine Gleichbehandlung in vergleichbaren Fällen gewährleisten. Das sollte dann natürlich erst recht in einem System möglich sein, wie es mit der Richtlinie 2004/80 eingeführt wurde.

( 71 ) Vgl. z. B. Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie 2004/80/EG (KOM[2009] 170 endgültig) zusammen mit den Anhängen mit Hinweisen auf die Regelungen der Mitgliedstaaten im Begleitdokument zum Bericht der Kommission über die Anwendung der Richtlinie 2004/80/EG (SEC[2009] 495). Für aktuellere Informationen vgl. auch die einzelnen länderspezifischen Seiten auf dem Portal e-justice (https://e-justice.europa.eu/content_pruefung_meines_Antrags_in_diesem_land-491-de.do).

( 72 ) Siehe oben, Nr. 73.

( 73 ) Vgl. dazu „Strengthening Victims’ Rights: From Compensation to Reparation: For a new EU Victims’ rights strategy 2020-2025“ [(Stärkung der Rechte von Opfern: Von der Entschädigung bis zur Wiedergutmachung: eine neue EU-Strategie für Opferrechte 2020-2025)], Bericht von Joëlle Milquet, Sonderberaterin des Präsidenten der Europäischen Kommission, vom März 2019, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, 2019.