URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

17. Dezember 2020 ( *1 )

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 343 AEUV – Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB) – Art. 39 – Vorrechte und Befreiungen der EZB – Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Art. 2, 18 und 22 – Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB – Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens – Dokumente, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen – Art. 4 Abs. 3 EUV – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“

In der Rechtssache C‑316/19

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 16. April 2019,

Europäische Kommission, vertreten durch L. Flynn und B. Rous Demiri als Bevollmächtigte,

Klägerin,

unterstützt durch

Europäische Zentralbank (EZB), vertreten durch K. Kaiser, C. Zilioli, F. Malfrère und A. Šega als Bevollmächtigte im Beistand von D. Sarmiento Ramírez-Escudero, abogado,

Streithelferin,

gegen

Republik Slowenien, vertreten durch V. Klemenc, A. Grum, N. Pintar Gosenca und K. Rejec Longar als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, N. Piçarra und A. Kumin, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby und P. G. Xuereb (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters I. Jarukaitis,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2020,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. September 2020

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission die Feststellung, dass die Republik Slowenien dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank (ABl. 2016, C 202, S. 230, im Folgenden: Protokoll über das ESZB und die EZB), den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2016, C 202, S. 266, im Folgenden: Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen) und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dass sie einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und des Eurosystems zusammenhängen, in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije (Zentralbank Sloweniens) durchgeführt und mit der Europäischen Zentralbank (EZB) diesbezüglich nicht loyal zusammengearbeitet hat.

Rechtlicher Rahmen

Protokoll über das ESZB und die EZB

2

Art. 1 des Protokolls über das ESZB und die EZB lautet wie folgt:

„Die [EZB] und die nationalen Zentralbanken bilden nach Artikel 282 Absatz 1 [AEUV] das [ESZB]. Die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, bilden das Eurosystem.

Das ESZB und die EZB nehmen ihre Aufgaben und ihre Tätigkeit nach Maßgabe der Verträge und dieser Satzung wahr.“

3

Art. 8 dieses Protokolls bestimmt:

„Das ESZB wird von den Beschlussorganen der EZB geleitet.“

4

Art. 9.2 des Protokolls lautet:

„Die EZB stellt sicher, dass die dem ESZB nach Artikel 127 Absätze 2, 3 und 5 [AEUV] übertragenen Aufgaben entweder durch ihre eigene Tätigkeit nach Maßgabe dieser Satzung oder durch die nationalen Zentralbanken nach den Artikeln 12.1 und 14 erfüllt werden.“

5

In Art. 9.3 des Protokolls heißt es:

„Die Beschlussorgane der EZB sind nach Artikel 129 Absatz 1 [AEUV] der EZB-Rat und das Direktorium.“

6

Art. 10.1 des Protokolls über das ESZB und die EZB sieht vor:

„Nach Artikel 283 Absatz 1 [AEUV] besteht der EZB-Rat aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist.“

7

Art. 14.3 des Protokolls lautet:

„Die nationalen Zentralbanken sind integraler Bestandteil des ESZB und handeln gemäß den Leitlinien und Weisungen der EZB. Der EZB-Rat trifft die notwendigen Maßnahmen, um die Einhaltung der Leitlinien und Weisungen der EZB sicherzustellen, und kann verlangen, dass ihm hierzu alle erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt werden.“

8

Art. 39 des Protokolls bestimmt:

„Die EZB genießt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen Vorrechte und Befreiungen nach Maßgabe des [Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen].“

Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen

9

In der Präambel des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen heißt es:

„In der Erwägung, dass die Europäische Union und die Europäische Atomgemeinschaft nach Artikel 343 [AEUV] und Artikel 191 [EA] im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen Vorrechte und Befreiungen genießen“.

10

Art. 1 dieses Protokolls bestimmt:

„Die Räumlichkeiten und Gebäude der Union sind unverletzlich. Sie dürfen nicht durchsucht, beschlagnahmt, eingezogen oder enteignet werden. Die Vermögensgegenstände und Guthaben der Union dürfen ohne Ermächtigung des Gerichtshofs nicht Gegenstand von Zwangsmaßnahmen der Verwaltungsbehörden oder Gerichte sein.“

11

Art. 2 des Protokolls lautet:

„Die Archive der Union sind unverletzlich.“

12

In Art. 18 des Protokolls heißt es:

„Bei der Anwendung dieses Protokolls handeln die Organe der Union und die verantwortlichen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen.“

13

Art. 22 Abs. 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen sieht vor:

„Dieses Protokoll gilt auch für die [EZB], die Mitglieder ihrer Beschlussorgane und ihre Bediensteten; die Bestimmungen des Protokolls über [das ESZB und die EZB] bleiben hiervon unberührt.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits

14

Seit Februar 2015 gab es zwischen der Zentralbank Sloweniens und den slowenischen Strafverfolgungsbehörden (im Folgenden: slowenische Behörden) einen Austausch über Ermittlungen, die diese Behörden gegen bestimmte Bedienstete der Zentralbank, darunter den damaligen Präsidenten (im Folgenden: Präsident), führten, die im Verdacht standen, 2013 im Rahmen der Restrukturierung einer slowenischen Bank ihre Befugnisse und ihr Amt missbraucht zu haben. Im Rahmen dieses Austauschs übermittelte die Zentralbank Sloweniens den slowenischen Behörden auf deren Ersuchen hin bestimmte Informationen und Dokumente, die nicht in Zusammenhang mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems standen. Die slowenischen Behörden waren allerdings der Auffassung, dass die Zentralbank Sloweniens nicht alle angeforderten Informationen und Dokumente geliefert habe.

15

Am 6. Juli 2016 führten die slowenischen Behörden auf der Grundlage zweier Beschlüsse des Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana, Slowenien) vom 30. Juni und 6. Juli 2016 im Rahmen der oben genannten Ermittlungen eine Durchsuchung durch und beschlagnahmten Dokumente in den Räumen der Zentralbank Sloweniens.

16

Obgleich sich die Zentralbank Sloweniens darauf berief, dass diese Maßnahmen die durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen geschützten „Archive der EZB“ beträfen, auf die die slowenischen Behörden ohne ausdrückliche Zustimmung der EZB nicht zugreifen dürften, setzten die Behörden die Durchsuchung und die Beschlagnahme fort, ohne die EZB einzubeziehen.

17

Die slowenischen Behörden beschlagnahmten neben Dokumenten auf physischen Datenträgern elektronische Dokumente vom IT‑Server der Zentralbank Sloweniens sowie die Laptops der verdächtigten Personen. Die beschlagnahmten Dokumente, die sich im Besitz des Präsidenten befanden, enthielten alle über dessen E‑Mail-Konto getätigten Mitteilungen, sämtliche elektronischen Dokumente, die sich – unabhängig von ihrem Inhalt – auf seinem Büro-PC und seinem Laptop befanden und sich auf den Zeitraum von 2012 bis 2014 bezogen, sowie Dokumente über diesen Zeitraum, die sich im Büro des Präsidenten befanden. Die slowenischen Behörden beschlagnahmten auch sämtliche auf dem IT‑Server der Zentralbank Sloweniens gespeicherten elektronischen Dokumente aus diesem Zeitraum, die den Präsidenten betrafen.

18

Am selben Tag widersprach der Präsident der EZB in einem an die slowenischen Behörden gerichteten Schreiben förmlich der von diesen durchgeführten Beschlagnahme der Dokumente und berief sich auf den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB. Er rügte insbesondere, dass die Behörden nichts unternommen hätten, um eine Lösung zu finden, die es ermöglicht hätte, die Durchführung der von ihnen geführten Ermittlungen und den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB in Einklang zu bringen.

19

Die slowenischen Behörden informierten die EZB im folgenden Schriftwechsel am 7. Juli 2016, dass etwaige Einwendungen zu den Vorrechten und Befreiungen der EZB erst nach Eingang der beschlagnahmten Dokumente geprüft würden.

20

Am 26. Juli 2016 schlug die EZB den slowenischen Behörden vor, sich auf eine Methode zur Identifizierung der beschlagnahmten Dokumente, die zu diesen Archiven gehörten, zu verständigen, was ausschließen würde, dass diese Dokumente unmittelbar während der Ermittlungen geprüft würden, und der EZB die Möglichkeit geben würde, festzustellen, ob der Schutz für diese Dokumente aufgehoben werden könne.

21

Am 27. Juli 2016 teilte der für das Verfahren zuständige Staatsanwalt (im Folgenden: Staatsanwalt) der EZB mit, er sei der Ansicht, dass dieser Vorschlag einen Eingriff in die fraglichen Ermittlungen darstelle. Er zeigte sich jedoch offen für eine weitere Prüfung der von der EZB geäußerten Bedenken und erklärte sich bereit, deren Vertreter Ende August 2016 zu treffen.

22

Am 5. August 2016 legte die EZB beim Upravno sodišče (Verwaltungsgericht, Slowenien) einen Rechtsbehelf gegen die beiden in Rn. 15 des vorliegenden Urteils genannten Beschlüsse des Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) ein. Dieser wurde mit Beschluss vom 9. August 2016 zurückgewiesen. Das von der EZB gegen diesen Beschluss beim Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof, Slowenien) eingelegte Rechtsmittel wurde am 11. Oktober 2016 zurückgewiesen.

23

Am 16. August 2016 teilte der Staatsanwalt der EZB mit, dass er entschieden habe, die Besprechung mit deren Vertretern zu vertagen. Dabei wies er darauf hin, dass er die slowenische Polizei angewiesen habe, die beschlagnahmten Dokumente nicht zu prüfen, solange es noch keinen abschließenden Standpunkt zur Frage der Kooperation mit der EZB gebe.

24

Am 27. Oktober 2016 wies der Staatsanwalt die EZB darauf hin, dass die Ermittler ab dem 17. November 2016 mit der Sicherung der elektronischen Daten nach dem Zakon o kazenskem postopku (Strafprozessordnung) beginnen würden und dass der Vertreter der EZB eingeladen sei, an diesem Sicherungsverfahren, das die Erstellung von Kopien der Daten beinhalte, teilzunehmen. Am 11. November 2016 nahm der Vertreter der EZB diese Einladung an.

25

Da das Sicherungsverfahren zwischen dem 17. November und dem 24. Dezember 2016 geplant und die Besprechung zwischen der EZB und dem Staatsanwalt für den 18. November dieses Jahres angesetzt war, legte die EZB am 16. November 2016 einen Eilrechtsbehelf beim Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) ein, um eine Aussetzung des Sicherungsverfahrens für die beschlagnahmten elektronischen Dokumente zu erreichen.

26

Mit Entscheidung vom 17. November 2016 wies das Okrožno sodišče v Ljubljani (Bezirksgericht Ljubljana) diesen Rechtsbehelf zurück. Nach Ansicht dieses Gerichts stellten die von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente keine durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen geschützten „Archive der EZB“ dar.

27

Das Verfahren zur Sicherung der von den slowenischen Behörden beschlagnahmten elektronischen Daten fand zwischen dem 17. November und dem 15. Dezember 2016 statt. Der Vertreter der EZB, der an diesem Verfahren teilnahm, machte ausdrücklich eine Verletzung der „Archive der EZB“ geltend.

28

Am 17. Januar 2017 legte die EZB eine Verfassungsbeschwerde gegen die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils genannte Entscheidung ein, wobei sie sich auf in der Ustava Republike Slovenije (Verfassung der Republik Slowenien) festgeschriebene Grundrechte berief, insbesondere das Recht auf den gesetzlichen Richter. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde unterstrich die EZB ihre Auffassung, dass der Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen zu befassen sei. Am 19. April 2018 wies das Ustavno sodišče (Verfassungsgericht, Slowenien) diese Beschwerde mit der Begründung zurück, dass die EZB nicht Träger der von ihr geltend gemachten Verfahrensgrundrechte sei.

29

Mit E‑Mail vom 15. Mai 2017 teilte der Staatsanwalt dem Vertreter der EZB mit, dass die slowenische Polizei nunmehr die beschlagnahmten Dokumente auswerte und dass er sie angewiesen habe, zum einen alle Dokumente, die offiziell und formell von der EZB ausgestellt worden seien, und zum anderen alle E‑Mails, die die EZB als Absenderin und die Zentralbank Sloweniens als Empfängerin auswiesen, auszusondern. Der Staatsanwalt schlug der EZB vor, diese Dokumente vorbehaltlich der Zustimmung der Zentralbank Sloweniens zu prüfen, damit sie sich zu einer etwaigen Beeinträchtigung ihrer Aufgaben und Funktionen äußern könne, die sich aus der Verwendung der Dokumente zu Zwecken der Ermittlungen und eines Strafverfahrens ergeben könnte. Er unterstrich, dass er im Fall einer solchen Beeinträchtigung beantragen werde, das Verfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen oder zu verfügen, dass die sachliche Prüfung der Rechtssache der Geheimhaltung unterliege. Zum Schluss des Schreibens teilte der Staatsanwalt mit, dass er für Vorschläge und Anregungen der EZB offen sei, ausgenommen Anträge mit dem Ziel, die Ermittlungen zu verbieten oder eine Herausgabe der beschlagnahmten Dokumente zu erreichen.

30

In ihrer Antwort vom 29. Mai 2017 schlug die EZB ein Treffen beider Parteien vor, um sich im Einzelnen über eine gegenseitige Zusammenarbeit im Hinblick auf die Gewährleistung der Unverletzlichkeit ihrer Archive auszutauschen.

31

In einer Besprechung mit dem Staatsanwalt am 12. Juni 2017 betonte die EZB, sie sei der Auffassung, dass ihre Archive erstens die in Erfüllung ihrer Aufgaben und Funktionen von ihr selbst ausgearbeiteten Dokumente, zweitens die Mitteilungen zwischen ihr und den nationalen Zentralbanken, die für die Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems erforderlich seien, und drittens die von den Zentralbanken ausgearbeiteten Dokumente, die für die Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems bestimmt seien, umfassten. Die EZB machte außerdem geltend, dass sie den Schutz, der solchen Dokumente zugutekomme, aufheben müsse, bevor diese im Rahmen eines von nationalen Behörden geführten Strafverfahrens verwendet werden dürften. Die EZB gab allerdings an, dass sie sich einer derartigen Aufhebung nicht widersetzen werde, wenn dies im Interesse des von den nationalen Behörden geführten Verfahrens sei und ihren eigenen, durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen geschützten Interessen nicht zuwiderlaufe.

32

Zwar erzielten der Staatsanwalt und die EZB weder über die Auslegung des Begriffs „Archive der EZB“ noch über den Inhalt der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit eine Einigung, sie einigten sich jedoch darauf, den Austausch über ihre zukünftige Zusammenarbeit weiterzuführen, und kamen überein, dass die EZB im folgenden Verfahrensabschnitt einen Vorschlag zur Identifizierung der ihrer Ansicht nach von diesem Begriff erfassten Dokumente ausarbeiten solle.

33

Am 13. Februar 2018 übermittelte die EZB dem Staatsanwalt ihren Vorschlag zur Identifizierung der Dokumente, die zu den Archiven der EZB gehören. Hierzu schlug sie vor, dass zunächst die Dokumente zu identifizieren seien, die von ihr selbst stammten und die sie an die Zentralbank Sloweniens oder deren Personal übersandt habe, und dann die Dokumente, die die Zentralbank Sloweniens im Rahmen der Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems ausgearbeitet habe. Die EZB schlug ferner vor, dass die slowenische Polizei alle Dokumente, die sie für die Ermittlungen als irrelevant ansehe, an die Zentralbank Sloweniens zurückgeben solle.

34

In einer Besprechung, die am 13. Juni 2018 stattfand, informierte der Staatsanwalt die EZB, dass die slowenische Polizei die Prüfung der beschlagnahmten Dokumente beendet habe und er für den Herbst deren Abschlussbericht erwarte. Zwar bestätigte er, dass über die Auslegung des Begriffs „Archive der EZB“ weiterhin Differenzen bestünden, wies aber darauf hin, dass alle für die Ermittlungen als irrelevant eingestuften Dokumente vernichtet oder an die Person zurückgesandt würden, bei der sie beschlagnahmt worden seien. Er erklärte des Weiteren, sobald die slowenische Polizei ihren Abschlussbericht erstellt habe, habe die EZB die Möglichkeit, alle Dokumente zu überprüfen, die den Kriterien entsprächen, die er in der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils angeführten E‑Mail vom 15. Mai 2017 vorgeschlagen habe. Um zu vermeiden, dass sich die EZB in die laufenden Verfahren einmische, würden die für den Abschlussbericht verwendeten Dokumente allerdings erst an die EZB herausgegeben, wenn die slowenische Polizei sie an die Staatsanwaltschaft übergeben habe.

Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

35

Am 9. Dezember 2016 richtete die Kommission im Rahmen des EU‑Pilot-Verfahrens ein Schreiben an die Republik Slowenien, in dem sie ihre Zweifel an der korrekten Anwendung der Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen bei der Beschlagnahme der Dokumente in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens am 6. Juli 2016 äußerte. Auf dieses Schreiben antwortete die Republik Slowenien mit einem Schreiben vom 23. Januar 2017.

36

Am 28. April 2017 richtete die Kommission ein Aufforderungsschreiben an die Republik Slowenien, in dem sie hervorhob, dass die Republik Slowenien mit der Durchsuchung und der Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens unter Verstoß gegen Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls über das ESZB und die EZB sowie die Art. 2 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen ihrer Pflicht zur Beachtung des Grundsatzes der Unverletzlichkeit der Archive der EZB nicht nachgekommen sei. Sie teilte der Republik Slowenien ebenfalls mit, dass die slowenischen Behörden diese Frage ihrer Ansicht nach entgegen den Anforderungen, die der in Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aufstelle, nicht konstruktiv mit der EZB erörtert hätten.

37

Die Republik Slowenien beantwortete dieses Aufforderungsschreiben mit einem Schreiben vom 21. Juni 2017, in dem sie unterstrich, dass die beschlagnahmten Dokumente nicht unter den Begriff „Archive der EZB“ im Sinne des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen fallen könnten.

38

Da die Kommission die Antwort der Republik Slowenien als nicht ausreichend ansah, erließ sie am 20. Juli 2018 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie die Republik Slowenien aufforderte, innerhalb von zwei Monaten nach deren Erhalt die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme nachzukommen.

39

In ihrer Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 11. September 2018 bestritt die Republik Slowenien die ihr von der Kommission zur Last gelegte Vertragsverletzung.

40

Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

41

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Juli 2019 ist die EZB als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

Zur Klage

Zur ersten Rüge: Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB

Vorbringen der Parteien

42

Die Kommission macht, unterstützt durch die EZB, geltend, dass die Republik Slowenien dadurch gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB und folglich gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls über das ESZB und die EZB, den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen sowie Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen habe, dass sie in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten durchgeführt habe, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhingen.

43

Als Erstes schließe der in Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen genannte Begriff „Archive der Union“, auch wenn er in diesem Protokoll nicht definiert werde, unabhängig von der Art des verwendeten Trägers alle Dokumente ein, die einem Unionsorgan gehörten oder in dessen Besitz seien.

44

Als Zweites ergebe sich aus der Rechtsprechung, dass den in diesem Protokoll anerkannten Vorrechten und Befreiungen insoweit ein funktionaler Charakter zukomme, als sie bezweckten, eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Union zu verhindern. In Anbetracht des besonderen institutionellen Systems des ESZB und des Eurosystems müsse Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen nicht nur für Dokumente im Besitz der EZB gelten, sondern auch für Dokumente im Besitz der nationalen Zentralbanken, die – wie die Zentralbank Sloweniens – zum ESZB und zum Eurosystem gehörten, soweit sich diese Dokumente auf die Erfüllung der Aufgaben des ESZB oder des Eurosystems bezögen und von der EZB oder den nationalen Zentralbanken stammten.

45

Erstens ergebe sich aus Art. 282 Abs. 1 AEUV und Art. 1 des Protokolls über das ESZB und die EZB zum einen, dass das ESZB aus der EZB und den nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten bestehe, und zum anderen, dass die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten der Eurozone das Eurosystem bildeten, dessen „integraler Bestandteil“ gemäß Art. 14.3 dieses Protokolls die nationalen Zentralbanken seien.

46

Zweitens schaffe die besondere Struktur des ESZB und des Eurosystems unweigerlich eine enge Verbindung zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken. Im Einzelnen ergebe sich aus Art. 282 Abs. 2 AEUV und Art. 8 des Protokolls über das ESZB und die EZB, dass das ESZB von den Beschlussorganen der EZB geleitet werde, darin eingeschlossen der EZB-Rat, zu dessen Mitgliedern gemäß Art. 283 Abs. 1 AEUV und Art. 10 des Protokolls über das ESZB und die EZB die Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten gehörten, deren Währung der Euro sei.

47

Drittens übertrage der AEU-Vertrag der EZB, dem ESZB und dem Eurosystem Aufgaben. Hierzu ergebe sich aus Art. 9.2 des Protokolls über das ESZB und die EZB, dass die dem ESZB übertragenen Aufgaben entweder durch die EZB selbst oder durch die nationalen Zentralbanken erfüllt würden.

48

Die nationalen Zentralbanken und ihre Präsidenten seien nämlich unmittelbar an der Entscheidungsfindung der EZB sowie an der Umsetzung und Ausführung dieser Entscheidungen beteiligt. Die Funktionsfähigkeit des so eingerichteten Systems erfordere den Austausch von Dokumenten innerhalb des ESZB und des Eurosystems sowie zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken, um die Entscheidungen zu treffen, die für die Ausführung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems sowie für die Umsetzung dieser Entscheidungen durch die nationalen Zentralbanken notwendig seien. Das Schutzniveau müsse daher für alle zur Ausführung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems erstellten Dokumente identisch sein, um jegliche Beeinträchtigung der ordnungsgemäßen Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der EZB, des ESZB und des Eurosystems insgesamt zu vermeiden. Folglich seien all diese Dokumente als Teil der „Archive der Union“ anzusehen, selbst wenn sie im Besitz einer nationalen Zentralbank seien oder sich in deren Räumlichkeiten befänden.

49

Als Drittes hätten die slowenischen Behörden bei der am 6. Juli 2016 durchgeführten Durchsuchung unstreitig Dokumente beschlagnahmt, die zu den Archiven der Union gehörten. Die Kommission verfüge zwar nicht über genaue Informationen über die Art der bei dieser Gelegenheit beschlagnahmten Dokumente, die zu den Archiven der Union gehörten. Allerdings folge aus dem bloßen Umstand, dass das IT‑Material der verdächtigten Personen sowie die in Rn. 17 des vorliegenden Urteils genannten Dokumente vollständig beschlagnahmt worden seien, dass zwangsläufig auch Dokumente beschlagnahmt worden seien, die zu den Archiven der Union gehörten.

50

Als Viertes bedeute der Grundsatz der Unverletzlichkeit dieser Archive, dass die nationalen Behörden nur mit vorheriger Zustimmung der EZB oder – bei Differenzen zwischen der EZB und diesen Behörden – mit Genehmigung des Gerichtshofs darauf Zugriff hätten. Im vorliegenden Fall seien die Durchsuchung und die Beschlagnahme der betreffenden Dokumente allerdings einseitig vorgenommen worden.

51

Die Republik Slowenien erwidert, dass sie nicht gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union verstoßen habe.

52

Sie macht als Erstes geltend, es ergebe sich sowohl aus dem internationalen Recht als auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs und den Grundwerten der Union wie den Grundsätzen der Transparenz, der Offenheit und der Rechtsstaatlichkeit, dass der Begriff „Vorrechte und Befreiungen“ eng auszulegen sei und die Ausübung dieser Vorrechte und Befreiungen, denen bei Weitem kein Absolutheitsanspruch zukomme, ihrer Funktion nach auf den Umfang beschränkt sei, der notwendig sei, um die Funktionsfähigkeit der Union und ihrer Organe sowie die Erreichung ihrer Ziele zu gewährleisten.

53

Im Einzelnen sei es das Ziel des Systems der Vorrechte und Befreiungen, das effiziente Funktionieren internationaler Organisationen zu gewährleisten, die sich gegenüber ihren Gründungsmitgliedstaaten in einer „Position der Schwäche“ befänden. In Anbetracht der Entwicklung des Unionsrechts und der Besonderheit der Unionsrechtsordnung befänden sich deren Organe gegenüber den Mitgliedstaaten jedoch nicht in einer solchen Position. Folglich genössen die Archive der Union einschließlich derer der EZB im Rahmen des Systems der Vorrechte und Befreiungen des internationalen Rechts einen Schutz geringeren Ausmaßes, was für eine enge Auslegung des Begriffs „Vorrechte und Befreiungen der Union“ spreche.

54

Außerdem falle die funktionale Immunität internationaler Organisationen zwar unter ein legitimes öffentliches Interesse, sei aber nicht absolut und müsse mit anderen öffentlichen Interessen in Einklang gebracht werden. In der Union genieße der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit Vorrang vor den Vorrechten und Befreiungen der Union. Die unabhängige und unparteiische Ermittlung und Aburteilung von Straftaten, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fielen, stellten jedoch ein „grundlegendes Postulat der Rechtsstaatlichkeit“ dar. Wenn die slowenischen Behörden vor Beginn der im vorliegenden Fall durchgeführten Durchsuchung eine vorherige Zustimmung der EZB hätten einholen müssen, wäre diese Unabhängigkeit nicht gewährleistet gewesen, da der Präsident in einer engen Beziehung zur EZB stehe.

55

Da die im Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen vorgesehenen Vorrechte und Befreiungen für die Union nur insoweit gewährleistet würden, als dies zur Vermeidung einer Beeinträchtigung von deren Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit erforderlich sei, liege die Beweislast für das Vorliegen einer solchen Beeinträchtigung im Übrigen bei dem betroffenen Unionsorgan. Die Kommission und die EZB hätten jedoch nicht dargetan, dass die von den slowenischen Behörden durchgeführte Beschlagnahme gegebenenfalls tatsächlich in irgendeiner Weise ihre Funktionsfähigkeit oder die Wirtschafts- und Währungspolitik der Union beeinträchtigt habe.

56

Als Zweites macht die Republik Slowenien geltend, dass auch der Begriff „Archive der Union“ eng ausgelegt werden müsse und die von den slowenischen Behörden in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmten Dokumente nicht zu den Archiven der EZB gehörten. Hierzu beruft sie sich erstens darauf, dass die Regelung über die Unverletzlichkeit der Archive im internationalen Recht, insbesondere die auf konsularische und diplomatische Beziehungen anwendbare Regelung, vorliegend maßgeblich sei. Nach der Rechtsprechung internationaler und nationaler Gerichte könnten nur die Dokumente als Teil der Archive angesehen werden, die der Person, für die der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive gelte, gehörten oder sich im Besitz dieser Person befänden, nicht aber die Dokumente, die von einer solchen Person an einen Dritten übersandt würden oder sich im Besitz eines Dritten befänden.

57

Zweitens bezwecke das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Unionsorgane. Somit könne allein die EZB als Unionsorgan die von diesem Protokoll vorgesehenen Vorrechte und Befreiungen genießen, nicht aber das ESZB und die nationalen Zentralbanken als integraler Bestandteil des ESZB.

58

Drittens bedeute die von der Kommission vertretene Auslegung der in Rede stehenden Bestimmungen, dass sich die Archive der Union in den Computern aller nationalen Bediensteten und Beamten befinden könnten, die den Unionsorganen angehörten oder unter ihrer Führung arbeiteten, einschließlich der Minister der Mitgliedstaaten, die an den Entscheidungen des Rates der Europäischen Union beteiligt seien, der Staats- oder Regierungschefs der Mitgliedstaaten, die an den Entscheidungen des Europäischen Rates beteiligt seien, und aller nationalen Bediensteten, die in den Ausschüssen und Agenturen der Union arbeiteten. Dies würde in der Praxis zu „absurden Situationen“ führen, in denen alle Dokumente im Besitz der nationalen Regierung und ihrer Minister, des Staatschefs und ganzer staatlicher Behörden als Archive der Union angesehen würden.

59

Viertens sei die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung des Begriffs „Archive der EZB“ rechtlich und tatsächlich unmöglich umzusetzen, was jegliche strafrechtlichen Ermittlungen in der öffentlichen Verwaltung der Mitgliedstaaten verhindern oder stark behindern würde.

60

Als Drittes macht die Republik Slowenien noch geltend, wenn man unterstelle, dass die von den slowenischen Behörden in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmten Dokumente zu den Archiven der EZB gehörten, reiche dieser Umstand nicht für die Feststellung aus, dass sie gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union verstoßen habe.

61

Erstens liege die Verpflichtung, die Archive eindeutig zu bezeichnen und zu schützen, bei demjenigen, der sich auf den Grundsatz ihrer Unverletzlichkeit berufe. Da es die EZB im vorliegenden Fall unterlassen habe, ihre Archive in angemessener Weise zu bezeichnen und sie nicht ordnungsgemäß geschützt habe, sei es nicht möglich, den von ihr zugrunde gelegten Begriff „Archive der EZB“ umzusetzen, wobei eine derartige Unmöglichkeit keinesfalls der Art und Weise angelastet werden könne, in der die strafrechtlichen Ermittlungen in Slowenien geführt worden seien. Außerdem hätten die slowenischen Behörden gerade aufgrund der fehlenden physischen Trennung und ordnungsgemäßen Bezeichnung der Archive der Union keine andere Wahl gehabt, als sämtliche betreffenden Gegenstände und Dokumente zu beschlagnahmen, um die gesuchten Informationen zu erhalten.

62

Zweitens sei es nicht das Ziel der von den slowenischen Behörden geführten Ermittlungen gewesen, den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB zu beeinträchtigen, und erst recht nicht, die Erfüllung der Aufgaben und der Unabhängigkeit der EZB zu gefährden. Daher hätten die nationalen Ermittlungen, die im Einklang mit dem nationalen Recht und nationalen Gerichtsentscheidungen geführt worden seien, nicht gegen diesen Grundsatz verstoßen.

63

Drittens bedeute das von der Kommission und der EZB gewählte weite Verständnis des Begriffs „Archive der Union“ in der Praxis eine völlige Verhinderung strafrechtlicher Ermittlungen bis hin zu einer Straflosigkeit der verdächtigten Personen.

64

Viertens sei eine Genehmigung des Gerichtshofs in Anwendung von Art. 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen nur in dem Fall erforderlich, dass die nationalen Behörden verwaltungsrechtliche oder gerichtliche Zwangsmaßnahmen in Bezug auf Vermögensgegenstände oder Guthaben der Union erlassen wollten. Dagegen verlange Art. 2 des Protokolls ebenso wenig wie die Rechtsprechung des Gerichtshofs eine solche Genehmigung, da die slowenischen Behörden keinen Versuch unternommen hätten, in den Besitz von Dokumenten zu gelangen, die Unionsorganen gehörten oder sich in deren Besitz befunden hätten.

Würdigung durch den Gerichtshof

65

Vorab ist festzustellen, dass die Kommission in der mündlichen Verhandlung in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs klargestellt hat, dass sie sich in der Klage zwar auf die Durchsuchung und auf die Beschlagnahme von Dokumenten am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens durch die slowenischen Behörden bezieht, diese Klage tatsächlich aber nur auf die Beschlagnahme von Dokumenten abzielt.

66

Insoweit macht die Kommission geltend, dass die slowenischen Behörden dadurch gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union verstoßen hätten, dass sie am 6. Juli 2016 einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens durchgeführt hätten. Folglich ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die von den slowenischen Behörden bei dieser Gelegenheit beschlagnahmten Dokumente zu den Archiven der EZB gehörten, und, wenn dies der Fall sein sollte, in einem zweiten Schritt, ob die Beschlagnahme dieser Dokumente einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit dieser Archive darstellt.

– Zum Begriff „Archive der Union“

67

Gemäß Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen sind die Archive der Union unverletzlich. Für die Prüfung, ob die Republik Slowenien, wie die Kommission geltend macht, gegen ihre Verpflichtungen aus diesem Artikel verstoßen hat, ist vorab die Bedeutung des Begriffs „Archive der Union“ zu bestimmen.

68

Einleitend ist zum Vorbringen der Republik Slowenien, der Begriff „Archive“ sei unter Bezugnahme auf internationales Recht auszulegen, daran zu erinnern, dass die Verträge über die Europäische Union im Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Verträgen eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben, die beim Inkrafttreten dieser Verträge in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden ist (Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 15). Daraus folgt, dass der Begriff „Archive der Union“ ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der sich von dem unterscheidet, der von internationalen Organisationen und Gerichten oder dem Recht der Mitgliedstaaten zugrunde gelegt werden kann.

69

Der Rechtsprechung lässt sich entnehmen, dass ein solcher Begriff aufgrund seines autonomen Charakters unter Berücksichtigung seines Wortlauts im Licht seines Kontexts und des Ziels auszulegen ist, das mit der Bestimmung verfolgt wird, in der der Begriff verwendet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Dezember 2019, Junqueras Vies, C‑502/19, EU:C:2019:1115, Rn. 62).

70

Der Begriff „Archive“ bezeichnet gewöhnlich eine Reihe von Dokumenten unabhängig von ihrem Datum, ihrer Form und ihrem materiellen Träger, die sich bei der Ausübung der Tätigkeit einer Person in deren Besitz befinden.

71

Im Unionsrecht ist der Begriff „Archive“ allerdings in einem anderen Kontext als dem des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen definiert worden, nämlich in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG, Euratom) Nr. 354/83 des Rates vom 1. Februar 1983 über die Freigabe der historischen Archive der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 1983, L 43, S. 1), und zwar als die Gesamtheit der Dokumente jeder Art, unabhängig von ihrer Form und ihrem materiellen Träger, die ein Organ, eine Einrichtung oder eine sonstige Stelle, einer seiner bzw. ihrer Vertreter oder Bediensteten in Ausübung seiner Amtstätigkeit angefertigt oder empfangen hat und die die Tätigkeit dieser Gemeinschaften betreffen.

72

Diese Definition des Begriffs „Archive“ ist für die Auslegung von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen maßgeblich. Es gibt nämlich keine Bestimmung in diesem Protokoll, die der Berücksichtigung einer solchen Definition widerspräche, und die Berücksichtigung trägt zu einer einheitlichen Auslegung dieses Begriffs im Unionsrecht bei.

73

Was das von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen verfolgte Ziel angeht, ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass die der Union durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen eingeräumten Vorrechte und Befreiungen funktionalen Charakter haben, da durch sie eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der Union verhindert werden soll (Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 19, und Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/RQ, C‑831/18 P, EU:C:2020:481, Rn. 47). Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union u. a. von einem Unionsorgan geltend gemacht werden kann, um die Offenlegung von Informationen zu verhindern, die sich in den Archiven des betreffenden Organs befinden, wenn eine solche Offenlegung die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit des Organs insbesondere dadurch beeinträchtigen könnte, dass die Erfüllung der ihm übertragenen Aufgaben gefährdet würde (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 6. Dezember 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:440, Rn. 11).

74

Dieses Schutzziel bestätigt, dass die in Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen genannten Archive der Union zwangsläufig jedes Dokument erfassen, das mit den Tätigkeiten der Union und ihrer Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen oder der Erfüllung von deren Aufgaben in Zusammenhang steht.

75

Demnach ist der Begriff „Archive der Union“ im Sinne von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen als die Gesamtheit von Dokumenten jeder Art, unabhängig von ihrer Form und ihrem materiellen Träger, zu verstehen, die ein Organ, eine Einrichtung oder eine sonstige Stelle der Union oder einer seiner bzw. ihrer Vertreter oder Bediensteten in Ausübung seiner Amtstätigkeit angefertigt oder empfangen hat und die die Tätigkeit dieser Organe, Einrichtungen oder Stellen betreffen oder im Zusammenhang mit der Erfüllung von deren Aufgaben stehen.

– Zum Umfang der Archive der EZB

76

Da es sich bei der EZB um ein Unionsorgan handelt, ergibt sich aus Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen in seiner Auslegung gemäß der vorstehenden Randnummer und in Verbindung mit Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls über das ESZB und die EZB sowie Art. 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, dass der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union auf die Archive der EZB Anwendung findet.

77

Allerdings ist zu ermitteln, ob Dokumente, die sich nicht im Besitz der EZB, sondern in dem einer nationalen Zentralbank befinden, ebenfalls als Teil der „Archive der EZB“ angesehen werden können.

78

Insoweit ist erstens davon auszugehen, dass die Archive der Union, wie die Generalanwältin in Nr. 50 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht zwangsläufig in den Räumlichkeiten des betreffenden Organs, der betreffenden Einrichtung oder sonstigen Stelle aufbewahrt werden müssen, da sich andernfalls der Anwendungsbereich von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen wie auch der von Art. 1 dieses Protokolls, der die Unverletzlichkeit der Räumlichkeiten und Gebäude der Union vorsieht, so weit überschneiden würden, dass Art. 2 jede praktische Wirksamkeit genommen wäre. Daraus folgt, dass Art. 2 die Archive eines Unionsorgans wie der EZB erfasst, die sich in anderen Räumlichkeiten als denen der Union befinden.

79

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass sich aus Art. 282 Abs. 1 AEUV sowie den Art. 1 und 14.3 des Protokolls über das ESZB und die EZB ergibt, dass die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten das ESZB bilden, wobei die nationalen Zentralbanken integraler Bestandteil dieses Systems sind. Daraus ergibt sich u. a., dass die EZB und die nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, einschließlich der Zentralbank Sloweniens, das Eurosystem bilden und die Währungspolitik der Union betreiben.

80

Gemäß Art. 127 Abs. 1 und Art. 282 Abs. 2 AEUV ist es das vorrangige Ziel des ESZB, die Preisstabilität zu gewährleisten, was in Art. 2 des Protokolls über das ESZB und die EZB in Erinnerung gerufen wird. Zu diesem Zweck sieht Art. 127 Abs. 2 AEUV vor, dass die grundlegenden Aufgaben des ESZB u. a. darin bestehen, die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen. Derartige Aufgaben obliegen somit über das ESZB nicht nur der EZB, sondern auch den nationalen Zentralbanken, was eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen und der EZB erfordert.

81

Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass das ESZB gemäß Art. 129 Abs. 1 und Art. 282 Abs. 2 AEUV sowie Art. 8 des Protokolls über das ESZB und die EZB von den Beschlussorganen der EZB einschließlich des EZB-Rates geleitet wird. Art. 283 Abs. 1 AEUV sowie Art. 10.1 des Protokolls über das ESZB und die EZB bestimmen, dass die Präsidenten der nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, Mitglieder des EZB-Rates sind. Diese Präsidenten, darunter der Präsident der Zentralbank Sloweniens, sind folglich an dem Erlass der für die Erfüllung der Aufgaben des ESZB notwendigen Entscheidungen beteiligt.

82

Im Übrigen werden die dem ESZB übertragenen Aufgaben gemäß Art. 9.2 des Protokolls über das ESZB und die EZB entweder durch die EZB selbst oder durch die nationalen Zentralbanken erfüllt.

83

Wie der Gerichtshof entschieden hat, ergibt sich aus diesen Bestimmungen, dass das ESZB im Unionsrecht eine originäre Rechtsform darstellt, in der nationale Institutionen – die nationalen Zentralbanken – und ein Organ der Union – die EZB – vereint sind und eng zusammenarbeiten und in der ein anderer Zusammenhang und eine weniger ausgeprägte Unterscheidung zwischen der Rechtsordnung der Union und den nationalen Rechtsordnungen vorherrschen (Urteil vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 69). In diesem von den Verfassern der Verträge für das ESZB gewollten weitgehend integrierten System haben die nationalen Zentralbanken und ihre Präsidenten einen gemischten Status, da sie zwar zweifellos nationale Behörden darstellen, allerdings Behörden, die im Rahmen des ESZB tätig werden, das – wie in Rn. 79 des vorliegenden Urteils ausgeführt – von den nationalen Zentralbanken und der EZB gebildet wird.

84

Wie die Generalanwältin in Nr. 54 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, ist es für die Funktionsfähigkeit und ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung des ESZB und des Eurosystems wichtig, dass eine enge Zusammenarbeit und ein ständiger Austausch von Informationen zwischen der EZB und den beteiligten nationalen Zentralbanken besteht. Dies bedeutet zwangsläufig, dass sich die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängenden Dokumente nicht nur im Besitz der EZB befinden, sondern auch im Besitz der nationalen Zentralbanken.

85

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass solche Dokumente vom Begriff „Archive der EZB“ erfasst sind, auch wenn sie sich im Besitz der nationalen Zentralbanken und nicht im Besitz der EZB selbst befinden. In Anbetracht des funktionalen Charakters, der – wie in Rn. 73 des vorliegenden Urteils ausgeführt – dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union zuzuerkennen ist, wäre diesem Grundsatz nämlich jede praktische Wirksamkeit genommen, wenn er die von der EZB oder den nationalen Zentralbanken ausgestellten und zur Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zwischen ihnen ausgetauschten Dokumente nicht schützen würde.

86

Diese Schlussfolgerung wird durch das übrige Vorbringen der Republik Slowenien nicht in Frage gestellt.

87

Was erstens das Vorbringen der Republik Slowenien betrifft, die Übermittlung eines Dokuments an einen Dritten bedeute im internationalen Recht, dass dieses Dokument nicht mehr als Teil der Archive des Staates angesehen werden könne, der eine derartige Übermittlung vorgenommen habe, ist darauf hinzuweisen, dass in Anbetracht der engen Zusammenarbeit und der strukturellen Verflechtungen, die zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken im Rahmen des integrierten Systems, das das ESZB darstellt, bestehen, die nationalen Zentralbanken, wie die Generalanwältin in Nr. 56 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, gegenüber der EZB nicht als „Dritte“ angesehen werden können.

88

Was zweitens den in Rn. 58 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Vortrag der Republik Slowenien betrifft, genügt zu den mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängenden Dokumenten der Hinweis, dass die in Rn. 85 des vorliegenden Urteils zugrunde gelegte Auslegung des Begriffs „Archive der Union“ auf den besonders engen Verbindungen zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken beruht, die in den Rn. 83 und 84 des Urteils beschrieben werden.

89

Drittens ist kein tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkt dafür ersichtlich, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, die im Rahmen eines auf nationaler Ebene und auf der Grundlage des Rechts dieses Mitgliedstaats geführten Verfahrens eine Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten einer Zentralbank durchführen wollen, durch eine solche Auslegung vor so unüberwindliche Probleme gestellt werden könnten, dass eine solche Beschlagnahme nicht auf Dokumente beschränkt werden könnte, die keinen Zusammenhang mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems aufweisen.

– Zum Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB

90

Was die Frage betrifft, ob die von den slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 durchgeführte Beschlagnahme von Dokumenten in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB darstellte, ist darauf hinzuweisen, dass sich ein solcher Verstoß nur dann feststellen lässt, wenn zum einen eine von nationalen Behörden einseitig angeordnete Beschlagnahme von Dokumenten, die zu den Archiven der Union gehören, den Tatbestand eines solchen Verstoßes erfüllen kann und zum anderen die im vorliegenden Fall beschlagnahmten Dokumente tatsächlich Dokumente umfassten, die als zu den Archiven der EZB gehörig anzusehen sind.

91

Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Unverletzlichkeit“ im Sinne von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, wie die Kommission in ihrer Klageschrift ausführt, einen Schutz gegen jeden einseitigen Eingriff der Mitgliedstaaten impliziert. Wie die Generalanwältin in den Nrn. 67 und 68 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, wird dies dadurch bestätigt, dass dieser Begriff, der sich auch in Art. 1 des Protokolls findet, als ein Schutz vor allen Maßnahmen der Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung oder Enteignung beschrieben wird.

92

Daher ist in der einseitigen Beschlagnahme von Dokumenten, die zu den Archiven der Union gehören, durch nationale Behörden ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union zu sehen.

93

Zweitens ist daran zu erinnern, dass es im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 258 AEUV nach ständiger Rechtsprechung Sache der Kommission ist, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Sie muss dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte liefern, die es ihm ermöglichen, das Vorliegen der Vertragsverletzung zu prüfen, ohne dass sie sich dabei auf irgendeine Vermutung stützen kann (vgl. u. a. Urteile vom 27. April 2006, Kommission/Deutschland, C‑441/02, EU:C:2006:253, Rn. 48, und vom 5. September 2019, Kommission/Italien [Bakterium Xylella fastidiosa], C‑443/18, EU:C:2019:676, Rn. 78)

94

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Kommission eingeräumt hat, über keine genauen Informationen über die Art der von den slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmten Dokumente zu verfügen, so dass sie nicht habe feststellen können, ob ein Teil dieser Dokumente als zu den Archiven der Union gehörig anzusehen sei. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission hierzu, von der Republik Slowenien unwidersprochen, ausgeführt, dass sich die Dokumente nach wie vor im Besitz der slowenischen Behörden befänden.

95

Die von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente umfassten allerdings, wie in Rn. 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt, alle über das E‑Mail-Konto des Präsidenten getätigten Mitteilungen, sämtliche elektronischen Dokumente, die sich – unabhängig von ihrem Inhalt – auf seinem Büro-PC und seinem Laptop befanden und sich auf den Zeitraum von 2012 bis 2014 bezogen, sowie Dokumente über diesen Zeitraum, die sich im Büro des Präsidenten befanden. Die slowenischen Behörden beschlagnahmten auch sämtliche auf dem IT‑Server der Zentralbank Sloweniens gespeicherten elektronischen Dokumente für den Zeitraum zwischen 2012 und 2014, die den Präsidenten betrafen.

96

In Anbetracht der großen Anzahl der beschlagnahmten Dokumente sowie der Aufgaben, die der Präsident einer Zentralbank wie der Zentralbank Sloweniens im Rahmen des EZB-Rates und folglich auch im Rahmen des ESZB und des Eurosystems auszuführen hat, umfassten die von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumente zwangsläufig auch Dokumente, die zu den Archiven der EZB gehörten. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich die Republik Slowenien nicht darauf beruft, dass die beschlagnahmten Dokumente ausschließlich Dokumente seien, die nicht in diese Kategorie von Dokumenten fielen.

97

Unter diesen Umständen kann es als erwiesen angesehen werden, dass sich unter den Materialien und Dokumenten, die von den slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmt wurden, Dokumente befanden, die zu den Archiven der EZB gehören.

98

Da Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen jedoch ausdrücklich vorsieht, dass die Archive der Union unverletzlich sind, haben die slowenischen Behörden mit der einseitigen Beschlagnahme dieser Dokumente gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB verstoßen.

99

Diese Schlussfolgerung wird durch das Vorbringen der Republik Slowenien nicht in Frage gestellt.

100

Erstens verhält es sich zwar so, dass den Vorrechten und Befreiungen der Union – wie in Rn. 73 des vorliegenden Urteils ausgeführt – ein funktionaler Charakter zukommt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das betroffene Organ oder – im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV – die Kommission beweisen müsste, dass die Offenlegung bestimmter Dokumente eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder der Unabhängigkeit der Union bedeuten würde, damit eine einseitige Beschlagnahme dieser Dokumente durch die Behörden eines Mitgliedstaats als rechtswidrig angesehen werden kann. Eine solche Auslegung verstieße nämlich offensichtlich gegen den Wortlaut und gegen das Ziel von Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, nach dem „[d]ie Archive der Union … unverletzlich [sind]“.

101

Der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union bedeutet allerdings nicht, dass die Dokumente aus diesen Archiven für die Behörden eines Mitgliedstaats in allen Fällen unzugänglich wären. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich nämlich, dass es die Vorrechte und Befreiungen der Union den Unionsorganen aufgrund ihres funktionalen Charakters nicht gestatten, die Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit zu missachten (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 19 und 21).

102

Um Zugriff auf die Dokumente in den Archiven der Union zu erhalten, benötigen die nationalen Behörden die Zustimmung des betreffenden Organs oder bei einer Verweigerung des Zugangs eine Genehmigungsentscheidung des Unionsrichters, mit der das Organ verpflichtet wird, Zugang zu seinen Archiven zu gewähren. Es wäre nämlich sinnlos, den Zugang zu solchen Dokumenten in dem Fall, dass die Behörden beschließen, einseitig vorzugehen, nicht von der Zustimmung des betreffenden Organs oder der Genehmigung des Unionsrichters abhängig zu machen, da über eine solche Zustimmung oder eine solche Genehmigung die Funktion der Unverletzlichkeit der Archive der Union gewahrt werden kann, d. h., verhindert werden kann, dass die Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit der Union ungerechtfertigt beeinträchtigt werden.

103

Zweitens mag es zutreffen, dass die funktionale Immunität internationaler Organisationen, wie die Republik Slowenien geltend macht, auch wenn sie ein legitimes öffentliches Interesse darstellt, nicht absolut ist und mit anderen Rechten und öffentlichen Interessen in Einklang zu bringen ist, u. a. mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und – genauer – der Notwendigkeit, unabhängige und unparteiische Ermittlungen sowie ein unabhängiges und unparteiisches Urteil über Straftaten sicherzustellen und eine Straflosigkeit von Personen, die Gegenstand strafrechtlicher Ermittlungen sind – insbesondere der Präsidenten der nationalen Zentralbanken, die aufgrund ihrer engen Verbindung mit der EZB enorm bevorzugt wären –, zu vermeiden.

104

Doch abgesehen davon, dass das Bestehen von Vorrechten und Befreiungen zugunsten internationaler Organisationen für sich genommen keinen Widerspruch zum Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit darstellt, steht Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen einer Beschlagnahme von Dokumenten durch eine Behörde eines Mitgliedstaats grundsätzlich entgegen, soweit diese Dokumente zu den Archiven der Union gehören und die betreffenden Organe ihre Zustimmung zu einer solchen Beschlagnahme nicht erteilt haben.

105

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass eine Auslegung der betreffenden Unionsregelungen dahin, dass die Behörden eines Mitgliedstaats nicht das Recht haben, in den Räumlichkeiten einer nationalen Zentralbank einseitig zu den Archiven der EZB gehörige Dokumente zu beschlagnahmen, weder dazu führt, dass den von strafrechtlichen Ermittlungen betroffenen Personen Straflosigkeit zugebilligt würde, noch dazu, dass die Führung strafrechtlicher Ermittlungen im Gebiet der Mitgliedstaaten übermäßig erschwert oder sogar unmöglich gemacht würde. Auch wenn eine einseitige Beschlagnahme von Dokumenten aus den Archiven der Union seitens der Behörden eines Mitgliedstaats durch das Unionsrecht ausgeschlossen wird, haben diese Behörden nämlich die Möglichkeit, sich an das betreffende Unionsorgan zu wenden, damit es die Unverletzlichkeit der betreffenden Dokumente aufhebt, gegebenenfalls auch unter Auflagen.

106

Des Weiteren ist hervorzuheben, dass der in Art. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen vorgesehene Schutz der Archive der Union der Beschlagnahme von Dokumenten, die nicht zu den Archiven der Union gehören, in den Räumlichkeiten einer Zentralbank eines Mitgliedstaats durch nationale Behörden in keiner Weise entgegensteht.

107

Es kann zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, dass die Notwendigkeit, bei der EZB darum nachzusuchen, den Behörden eines Mitgliedstaats Dokumente zur Verfügung zu stellen, die zu ihren Archiven gehören, sich aber im Besitz einer nationalen Zentralbank befinden, negative Auswirkungen auf ein von den nationalen Behörden geführtes Ermittlungsverfahren haben kann, was den Zugang dieser Behörden zu anderen, ebenfalls im Besitz der nationalen Zentralbank befindlichen Dokumenten betrifft, die nicht zu den Archiven der EZB gehören, aber für die betreffenden Ermittlungen möglicherweise relevant sind. Im vorliegenden Fall ist jedoch, wie die Generalanwältin in Nr. 81 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nicht ersichtlich, dass die Beschlagnahme, die die slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 durchführten, überraschend kam, da die Behörden im Vorfeld bereits mehrfach bei der Zentralbank Sloweniens um Informationen zu ihren Ermittlungen nachgesucht hatten.

108

Drittens kann dem Vorbringen, es liege kein Verstoß gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union vor, da diejenigen unter den beschlagnahmten Dokumenten, die zu den Archiven der EZB gehörten, für die Bearbeitung des in Slowenien laufenden Strafverfahrens nicht relevant seien, nicht gefolgt werden. Denn ein Verstoß gegen diesen Grundsatz ist, wie sich aus Rn. 104 des vorliegenden Urteils ergibt, festzustellen, sobald – unabhängig vom dem mit der Beschlagnahme verfolgten Ziel – die materiellen Tatbestandsmerkmale des von diesem Grundsatz bezweckten Schutzes erfüllt sind.

109

Viertens kann sich die Republik Slowenien zur Rechtfertigung des Verstoßes gegen die Unverletzlichkeit der Archive der Union nicht auf eine Pflicht der EZB berufen, ihre Archive eindeutig zu bezeichnen und Maßnahmen zu deren Schutz zu ergreifen. Der den Archiven durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen zuerkannte Schutz setzt keine eindeutige und vorherige Bezeichnung der Dokumente voraus, die zu diesen Archiven gehören.

110

Nach alledem greift die erste Rüge der Kommission durch.

Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit

Vorbringen der Parteien

111

Mit ihrer zweiten Rüge macht die Kommission, unterstützt durch die EZB, geltend, dass die Republik Slowenien gegen ihre Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen und Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen habe. Im Kern wirft die Kommission den slowenischen Behörden vor, sich weder vor der von ihnen durchgeführten Durchsuchung und Beschlagnahme noch danach ausreichend mit der EZB abgestimmt zu haben, um den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der EZB und die auf nationaler Ebene geführten Ermittlungen in Einklang zu bringen.

112

Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit habe von den slowenischen Behörden verlangt, dass sie mit der EZB kooperierten, um erstens die Dokumente zu ermitteln, die nach dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen geschützt gewesen seien, und die, für die dies nicht zugetroffen habe, um zweitens unter den geschützten Dokumenten diejenigen zu identifizieren, die für die nationalen strafrechtlichen Ermittlungen relevant sein könnten, und um drittens der EZB für die potenziell relevanten Dokumente eine Entscheidung zu ermöglichen, ob der Schutz aufzuheben sei oder aber im Gegenteil aus Gründen der Funktionsfähigkeit und der Unabhängigkeit der EZB nicht aufgehoben werden könne.

113

Was den Zeitraum vor der Durchsuchung und Beschlagnahme der Dokumente betreffe, so seien die slowenischen Behörden weder mit der EZB noch mit der Zentralbank Sloweniens in einen Dialog darüber eingetreten, auf welche Weise der Grundsatz der Unverletzlichkeit der Archive der Union gewahrt werden könne. Was den Zeitraum nach der Durchsuchung und der Beschlagnahme der Dokumente angehe, hätten sich die slowenischen Behörden weiterhin gegen die Auslegung gesperrt, nach der Dokumente im Besitz der nationalen Zentralbanken Archive der EZB darstellen könnten, und sich geweigert, den Schutz der unter diese Kategorie fallenden beschlagnahmten Dokumente konstruktiv zu erörtern.

114

Die Republik Slowenien macht geltend, sie habe nicht gegen ihre Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit verstoßen.

115

Erstens hätten die slowenischen Behörden weder die Archive der EZB noch deren Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit beeinträchtigt. Art. 4 Abs. 3 EUV könne jedenfalls nicht in einer Weise ausgelegt werden, dass er eine „unabhängige Verpflichtung“ zulasten der Mitgliedstaaten enthalte, die über die Verpflichtungen hinausgehe, die ihnen aufgrund solcher genauen Bestimmungen des Unionsrechts oblägen.

116

Zweitens habe der Staatsanwalt während des gesamten Ermittlungsverfahrens darum ersucht, die Dokumente mit „extremer Vorsicht“ zu behandeln, damit sie einem möglichst engen Kreis von Ermittlern zugänglich seien und die Gefahr einer Offenlegung auf ein Minimum reduziert werde. Der Staatsanwalt habe Vertretern der EZB außerdem gestattet, beim Verfahren zur Sicherung der Dokumente anwesend zu seien, obgleich dies im nationalen Recht nicht vorgesehen sei. Ferner sei angeordnet worden, dass diejenigen Dokumente, die nach Auffassung der EZB zu ihren Archiven gehörten, von ihr nach Abschluss der Ermittlungen in den Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft hätten eingesehen werden können.

117

Außerdem habe die EZB erst am 13. Februar 2018, mithin „mit erheblicher Verspätung“, das Ersuchen des Staatsanwalts beantwortet, Kriterien zu benennen, mit denen sich unter den von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumenten diejenigen Dokumente, die nach Ansicht der EZB zu ihren Archiven gehörten, identifizieren ließen.

118

Drittens habe die Kommission, wenn man unterstelle, die Republik Slowenien habe keine konstruktiven Erörterungen mit der EZB geführt, nicht nachgewiesen, dass dieser Umstand die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion und die Wahrung der Preisstabilität gefährdet habe.

Würdigung durch den Gerichtshof

119

Nach ständiger Rechtsprechung sind die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten (Urteil vom 31. Oktober 2019, Kommission/Niederlande, C‑395/17, EU:C:2019:918, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung). Gemäß dem Wortlaut von Art. 18 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen, der insoweit Art. 4 Abs. 3 EUV konkretisiert, sind die Organe der Union und die Behörden der Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit verpflichtet, um Konflikte bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmungen des Protokolls zu vermeiden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:579, Rn. 41 und 42).

120

Was den Zeitraum vor der am 6. Juli 2016 von den slowenischen Behörden in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens durchgeführten Beschlagnahme der Dokumente betrifft, ist festzustellen, dass sich die zweite Rüge der Kommission, wie die Generalanwältin in Nr. 94 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, inhaltlich mit der ersten Rüge überschneidet, da sie sich auf das gleiche Verhalten bezieht. Mit der ersten Rüge wirft die Kommission den slowenischen Behörden nämlich gerade vor, einseitig – und folglich ohne die EZB vorher konsultiert zu haben – in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens Dokumente beschlagnahmt zu haben.

121

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht indessen hervor, dass sich ein Verstoß gegen die allgemeine Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit, die sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV ergibt, von einem Verstoß gegen die spezifischen Verpflichtungen unterscheidet, in denen sie sich manifestiert. Daher kann der Verstoß nicht festgestellt werden, soweit er sich auf Verhaltensweisen bezieht, die sich von denen unterscheiden, die einen Verstoß gegen diese spezifischen Verpflichtungen darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Mai 2006, Kommission/Irland, C‑459/03, EU:C:2006:345, Rn. 169 bis 171).

122

Folglich kann für den Zeitraum vor der am 6. Juli 2016 durchgeführten Beschlagnahme kein Verstoß gegen die allgemeinen, in Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 18 des Protokolls über das ESZB und die EZB enthaltenen Verpflichtungen festgestellt werden, der sich von dem bereits festgestellten Verstoß gegen die spezifischeren Verpflichtungen unterscheiden würde, die der Republik Slowenien nach Art. 2 dieses Protokolls oblagen.

123

Was den Zeitraum nach der Beschlagnahme der Dokumente betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Beschlagnahme, wie sich aus den vorstehenden Randnummern des vorliegenden Urteils ergibt, einen Verstoß gegen Unionsrecht darstellt, da die beschlagnahmten Dokumente zwangsläufig auch Dokumente umfassten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen.

124

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten allerdings gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben; diese Verpflichtung obliegt im Rahmen seiner Zuständigkeiten jedem Organ des betreffenden Mitgliedstaats (Urteil vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a., C‑597/17, EU:C:2019:544, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

125

Die Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit ist zwar ihrer Natur nach beiderseitig (Urteil vom 16. Oktober 2003, Irland/Kommission, C‑339/00, EU:C:2003:545, Rn. 72). Die EZB war somit verpflichtet, die slowenischen Behörden darin zu unterstützen, die rechtswidrigen Folgen der von ihnen am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens durchgeführten Beschlagnahme soweit möglich zu beheben.

126

Um der EZB insoweit eine nützliche Zusammenarbeit mit den slowenischen Behörden zu ermöglichen, war es allerdings unverzichtbar, dass diese der EZB gestatteten, diejenigen Dokumente unter den am 6. Juli 2016 beschlagnahmten zu identifizieren, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhingen. Die slowenischen Behörden hatten der EZB bis zum Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist eine derartige Identifizierung jedoch unstreitig nicht ermöglicht. Es steht ferner fest, dass die slowenischen Behörden zu diesem Zeitpunkt die Dokumente nicht an die Zentralbank Sloweniens zurückgegeben hatten, auch wenn die Republik Slowenien in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, dass diese Dokumente für das dort laufende Strafverfahren nicht relevant seien.

127

Zwar konnte die EZB keine überzeugende Erklärung liefern, um die Verspätung zu rechtfertigen, mit der sie auf das Ersuchen des Staatsanwalts antwortete, ihm Kriterien vorzuschlagen, mit denen sich unter den von den slowenischen Behörden beschlagnahmten Dokumenten diejenigen Dokumente identifizieren ließen, die zu den Archiven der EZB gehörten. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die slowenischen Behörden, obgleich sie diesen Vorschlag erhalten hatten, keine Maßnahmen ergriffen, um es der EZB zu ermöglichen, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängenden Dokumente zu identifizieren, die von den slowenischen Behörden am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmt worden waren. Darüber hinaus steht auch fest, dass die Behörden auf das Ersuchen der EZB, alle Dokumente an die Zentralbank Sloweniens zurückzugeben, die die Behörden für die fraglichen Ermittlungen als nicht relevant einschätzten – ein Ersuchen, das sie in ihrer Antwort vom 13. Februar 2018 zusammen mit ihrem Vorschlag für Kriterien zur Identifizierung der zu ihren Archiven gehörigen Dokumente unterbreitet hatte –, nicht eingegangen sind.

128

Unter diesen Umständen stellt die Tatsache, dass die slowenischen Behörden Maßnahmen ergriffen hatten, um die Vertraulichkeit der am 6. Juli 2016 in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens beschlagnahmten Dokumente sicherzustellen, das Ergebnis, dass die Behörden im vorliegenden Fall gegen ihre Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit mit der EZB verstoßen haben, nicht in Frage. Das Gleiche gilt für den von der Republik Slowenien betonten Umstand, dass die von den slowenischen Behörden durchgeführten Ermittlungen nicht geeignet gewesen seien, die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion und die Wahrung der Preisstabilität in der Union zu gefährden, da sich dieser Umstand nicht auf die Verpflichtung der slowenischen Behörden auswirkt, gemäß der Feststellung in Rn. 124 des vorliegenden Urteils die rechtswidrigen Folgen der Verletzung der Archive der EZB, die sie am 6. Juli 2016 mit der Beschlagnahme der Dokumente begangen hatten, zu beheben.

129

Nach alledem ergibt sich für den Zeitraum nach der streitigen Beschlagnahme, dass die slowenischen Behörden gegen ihre Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit mit der EZB verstoßen haben, so dass die zweite Rüge der Kommission durchgreift.

130

Nach alledem ist festzustellen, dass die Republik Slowenien dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls über das ESZB und die EZB, den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen sowie Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen hat, dass sie in den Räumlichkeiten der Zentralbank Sloweniens einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen, durchgeführt und im Zeitraum nach dieser Beschlagnahme nicht loyal mit der EZB zusammengearbeitet hat.

Kosten

131

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.

132

Da die Republik Slowenien mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

133

Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Daher hat die EZB ihre eigenen Kosten zu tragen.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Republik Slowenien hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 343 AEUV, Art. 39 des Protokolls (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank, den Art. 2, 18 und 22 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union sowie Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen, dass sie in den Räumlichkeiten der Banka Slovenije (Zentralbank Sloweniens) einseitig eine Beschlagnahme von Dokumenten, die mit der Erfüllung der Aufgaben des ESZB und des Eurosystems zusammenhängen, durchgeführt und im Zeitraum nach dieser Beschlagnahme nicht loyal mit der Europäischen Zentralbank zusammengearbeitet hat.

 

2.

Die Republik Slowenien trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten der Europäischen Kommission.

 

3.

Die Europäische Zentralbank trägt ihre eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Slowenisch.