URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

12. November 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Personen, die internationalen Schutz beantragen – Richtlinie 2013/33/EU – Art. 20 Abs. 4 und 5 – Grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten – Reichweite des Rechts der Mitgliedstaaten, die anwendbaren Sanktionen festzulegen – Unbegleiteter Minderjähriger – Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“

In der Rechtssache C‑233/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeidshof te Brussel (Arbeitsgerichtshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 22. März 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 29. März 2018, in dem Verfahren

Zubair Haqbin

gegen

Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras (Berichterstatter), M. Safjan und S. Rodin, der Richter L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter D. Šváby und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Beigeordneter Kanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. März 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Haqbin, vertreten durch B. Dhont und K. Verstrepen, advocaten,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul, C. Pochet und P. Cottin als Bevollmächtigte im Beistand von S. Ishaque und A. Detheux, advocaten,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Fadoju als Bevollmächtigte im Beistand von D. Blundell, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und G. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juni 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Zubair Haqbin und der Federaal Agentschap voor de opvang van asielzoekers (Föderalagentur für die Aufnahme von Asylbewerbern, Belgien) (im Folgenden: Fedasil) wegen eines Schadensersatzanspruchs, den Herr Haqbin gegen die Fedasil geltend macht, nachdem diese ihm mit zwei Entscheidungen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zeitweilig entzogen hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2013/33

3

Gemäß Art. 32 der Richtlinie 2013/33 wurde die Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten (ABl. 2003, L 31, S. 18) im Verhältnis zu den durch diese Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten durch erstere Richtlinie aufgehoben und ersetzt.

4

Die Erwägungsgründe 7, 25 und 35 der Richtlinie 2013/33 lauten:

„(7)

Angesichts der Bewertungsergebnisse in Bezug auf die Umsetzung der Instrumente der ersten Phase empfiehlt es sich in dieser Phase, die der Richtlinie [2003/9] zugrunde liegenden Prinzipien im Hinblick auf die Gewährleistung verbesserter im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährter Vorteile für die Personen, die internationalen Schutz beantragen … (im Folgenden ‚Antragsteller‘)[,] zu bestätigen.

(25)

Die Möglichkeiten für einen Missbrauch des Aufnahmesystems sollten dadurch beschränkt werden, dass die Umstände festgelegt werden, unter denen die den Antragstellern im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden dürfen, wobei gleichzeitig ein menschenwürdiger Lebensstandard für alle Antragsteller zu gewährleisten ist.

(35)

Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Sie zielt vor allem darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung der Artikel 1, 4, 6, 7, 18, 21, 24 und 47 der Charta [der Grundrechte] zu fördern, und muss entsprechend umgesetzt werden.“

5

Zweck der Richtlinie 2013/33 ist nach ihrem Art. 1 die Festlegung von Normen für die Aufnahme von Antragstellern in den Mitgliedstaaten.

6

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

d)

‚Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren;

e)

‚unbegleiteter Minderjähriger‘ einen Minderjährigen, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem einzelstaatlichen Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt Minderjährige ein, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden;

f)

‚im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährte Vorteile‘ sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen;

g)

‚im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen‘ Unterkunft, Verpflegung und Kleidung in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs;

i)

‚Unterbringungszentrum‘ jede Einrichtung, die als Sammelunterkunft für Antragsteller dient;

…“

7

Art. 8 („Haft“) der Richtlinie 2013/33 sieht in Abs. 3 vor:

„Ein Antragsteller darf nur in Haft genommen werden,

e)

wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist,

…“

8

Art. 14 („Grundschulerziehung und weiterführende Bildung Minderjähriger“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten gestatten minderjährigen Kindern von Antragstellern und minderjährigen Antragstellern in ähnlicher Weise wie den eigenen Staatsangehörigen den Zugang zum Bildungssystem, solange keine Ausweisungsmaßnahme gegen sie selbst oder ihre Eltern vollstreckt wird. Der Unterricht kann in Unterbringungszentren erfolgen.

Die betreffenden Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der Zugang auf das öffentliche Bildungssystem beschränkt bleiben muss.

Die Mitgliedstaaten dürfen eine weiterführende Bildung nicht mit der alleinigen Begründung verweigern, dass die Volljährigkeit erreicht wurde.

(2)   Der Zugang zum Bildungssystem darf nicht um mehr als drei Monate, nachdem ein Antrag auf internationalen Schutz von einem Minderjährigen oder in seinem Namen gestellt wurde, verzögert werden.

Bei Bedarf werden Minderjährigen Vorbereitungskurse, einschließlich Sprachkursen, angeboten, um ihnen, wie in Absatz 1 vorgesehen, den Zugang zum und die Teilnahme am Bildungssystem zu erleichtern.

(3)   Ist der Zugang zum Bildungssystem nach Absatz 1 aufgrund der spezifischen Situation des Minderjährigen nicht möglich, so bietet der betroffene Mitgliedstaat im Einklang mit seinen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten andere Unterrichtsformen an.“

9

Art. 17 („Allgemeine Bestimmungen zu materiellen Leistungen im Rahmen der Aufnahme und zur medizinischen Versorgung“) der Richtlinie sieht in den Abs. 1 bis 4 vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können.

(2)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Artikel 21 und um in Haft befindliche Personen handelt.

(3)   Die Mitgliedstaaten können die Gewährung aller oder bestimmter materieller Leistungen sowie die medizinische Versorgung davon abhängig machen, dass die Antragsteller nicht über ausreichende Mittel für einen Lebensstandard verfügen, der ihre Gesundheit und ihren Lebensunterhalt gewährleistet.

(4)   Die Mitgliedstaaten können von den Antragstellern verlangen, dass sie für die Kosten der in dieser Richtlinie im Rahmen der Aufnahme vorgesehenen materiellen Leistungen sowie der medizinischen Versorgung gemäß Absatz 3 ganz oder teilweise aufkommen, sofern sie über ausreichende Mittel verfügen, beispielsweise wenn sie über einen angemessenen Zeitraum gearbeitet haben.

Stellt sich heraus, dass ein Antragsteller zum Zeitpunkt der Gewährung der materiellen Leistungen sowie der medizinischen Versorgung über ausreichende Mittel verfügt hat, um diese Grundbedürfnisse zu decken, können die Mitgliedstaaten eine Erstattung von dem Antragsteller verlangen.“

10

Art. 18 („Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1:

„Sofern die Unterbringung als Sachleistung erfolgt, sollte eine der folgenden Unterbringungsmöglichkeiten oder eine Kombination davon gewählt werden:

a)

Räumlichkeiten zur Unterbringung von Antragstellern für die Dauer der Prüfung eines an der Grenze oder in Transitzonen gestellten Antrags auf internationalen Schutz;

b)

Unterbringungszentren, die einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten;

c)

Privathäuser, Wohnungen, Hotels oder andere für die Unterbringung von Antragstellern geeignete Räumlichkeiten.“

11

Art. 20 („Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“), die einzige Bestimmung von Kapitel III der Richtlinie 2013/33, lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller

a)

den von der zuständigen Behörde bestimmten Aufenthaltsort verlässt, ohne diese davon zu unterrichten oder erforderlichenfalls eine Genehmigung erhalten zu haben; oder

b)

seinen Melde- und Auskunftspflichten oder Aufforderungen zu persönlichen Anhörungen im Rahmen des Asylverfahrens während einer im einzelstaatlichen Recht festgesetzten angemessenen Frist nicht nachkommt; oder

c)

einen Folgeantrag nach Artikel 2 Buchstabe q der Richtlinie 2013/32/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60)] gestellt hat.

Wird in den unter den Buchstaben a und b genannten Fällen ein Antragsteller aufgespürt oder meldet er sich freiwillig bei der zuständigen Behörde, so ergeht unter Berücksichtigung der Motive des Untertauchens eine ordnungsgemäß begründete Entscheidung über die erneute Gewährung einiger oder aller im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen, die entzogen oder eingeschränkt worden sind.

(2)   Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken, wenn sie nachweisen können, dass der Antragsteller ohne berechtigten Grund nicht so bald wie vernünftigerweise möglich nach der Ankunft in dem betreffenden Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

(3)   Die Mitgliedstaaten können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller verschwiegen hat, dass er über Finanzmittel verfügt, und dadurch bei der Aufnahme zu Unrecht in den Genuss von materiellen Leistungen gekommen ist.

(4)   Die Mitgliedstaaten können Sanktionen für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten festlegen.

(5)   Entscheidungen über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder über Sanktionen nach den Absätzen 1, 2, 3 und 4 dieses Artikels werden jeweils für den Einzelfall, objektiv und unparteiisch getroffen und begründet. Die Entscheidungen sind aufgrund der besonderen Situation der betreffenden Personen, insbesondere im Hinblick auf die in Artikel 21 genannten Personen, unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu treffen. Die Mitgliedstaaten gewährleisten im Einklang mit Artikel 19 in jedem Fall Zugang zur medizinischen Versorgung und gewährleisten einen würdigen Lebensstandard für alle Antragsteller.

(6)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen nicht entzogen oder eingeschränkt werden, bevor eine Entscheidung nach Maßgabe von Absatz 5 ergeht.“

12

Art. 21 („Allgemeiner Grundsatz“) der Richtlinie 2013/33 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten im einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie u. a. Minderjährigen und unbegleiteten Minderjährigen berücksichtigen.

13

Art. 22 („Beurteilung der besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen bei der Aufnahme“) der Richtlinie bestimmt in Abs. 1 Unterabs. 3 und Abs. 3:

„(1)   …

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Unterstützung, die Personen mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme nach dieser Richtlinie gewährt wird, ihren Bedürfnissen während der gesamten Dauer des Asylverfahrens Rechnung trägt und ihre Situation in geeigneter Weise verfolgt wird.

(3)   Nur schutzbedürftige Personen nach Maßgabe von Artikel 21 können als Personen mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme betrachtet werden und erhalten dann die in dieser Richtlinie vorgesehene spezifische Unterstützung.“

14

In Art. 23 („Minderjährige“) der Richtlinie 2013/33 heißt es:

„(1)   Bei der Anwendung der Minderjährige berührenden Bestimmungen der Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten vorrangig das Wohl des Kindes. …

(2)   Bei der Würdigung des Kindeswohls tragen die Mitgliedstaaten insbesondere folgenden Faktoren Rechnung:

b)

dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen unter besonderer Berücksichtigung seines Hintergrunds;

c)

Erwägungen der Sicherheit und der Gefahrenabwehr, vor allem wenn es sich bei dem Minderjährigen um ein Opfer des Menschenhandels handeln könnte;

…“

15

Art. 24 („Unbegleitete Minderjährige“) Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„Unbegleitete Minderjährige, die internationalen Schutz beantragt haben, werden ab dem Zeitpunkt der Zulassung in das Hoheitsgebiet bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist oder geprüft wird, verlassen müssen, untergebracht:

c)

in Aufnahmezentren mit speziellen Einrichtungen für Minderjährige;

d)

in anderen für Minderjährige geeigneten Unterkünften.

…“

Richtlinie 2013/32

16

Ein „Folgeantrag“ ist in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 definiert als ein weiterer Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Art. 28 Abs. 1 dieser Richtlinie abgelehnt hat.

Belgisches Recht

17

Art. 45 der Wet betreffende de opvang van asielzoekers en van bepaalde andere categorieën van vreemdelingen (Gesetz über die Aufnahme von Asylsuchenden und von bestimmten anderen Kategorien von Ausländern) vom 12. Januar 2007 (Belgisch Staatsblad vom 7. Mai 2007, S. 24027, und, amtliche deutsche Übersetzung, vom 19. Oktober 2007, S. 54236) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Aufnahmegesetz) bestimmte:

„Begeht ein Aufnahmebegünstigter einen schweren Verstoß gegen die in Artikel 19 erwähnten Vorschriften und Funktionsregeln, die auf Aufnahmestrukturen anwendbar sind, kann ihm eine Sanktion auferlegt werden. Bei der Wahl der Sanktion werden Art und Umfang des Verstoßes und die konkreten Umstände, unter denen dieser Verstoß begangen wurde, berücksichtigt.

Nur folgende Sanktionen dürfen auferlegt werden:

7. zeitweiliger Ausschluss vom Anspruch auf materielle Hilfe in einer Aufnahmestruktur für eine Dauer von höchstens einem Monat.

Die Sanktionen werden vom Direktor oder Verantwortlichen der Aufnahmestruktur auferlegt. Die in Absatz 2 Nr. 7 erwähnte Sanktion ist binnen drei Werktagen, nachdem der Direktor oder der Verantwortliche der Aufnahmestruktur diese Sanktion auferlegt hat, vom Generaldirektor der [Fedasil] zu bestätigen. Wird die Sanktion des zeitweiligen Ausschlusses nicht innerhalb dieser Frist bestätigt, wird sie automatisch aufgehoben.

Sanktionen können während ihrer Ausführung von der Behörde, die sie auferlegt hat, gemildert oder aufgehoben werden.

Der Beschluss, eine Sanktion aufzuerlegen, wird auf objektive und unparteiische Weise gefasst und muss mit Gründen versehen werden.

Vorbehaltlich der in Absatz 2 Nr. 7 erwähnten Sanktion darf die Ausführung einer Sanktion auf keinen Fall die vollständige Streichung der materiellen Hilfe, die aufgrund des vorliegenden Gesetzes gewährt wird, oder die Verminderung des Zugangs zu medizinischer Betreuung zur Folge haben. Die in Absatz 2 Nr. 7 erwähnte Sanktion hat für die betroffene Person zur Folge, dass sie keine andere Form der Aufnahme mit Ausnahme der in den Artikeln 24 und 25 des [Aufnahmegesetzes] erwähnten medizinischen Betreuung in Anspruch nehmen darf.

Die in Absatz 2 Nr. 7 erwähnte Sanktion darf nur bei sehr schwerem Verstoß gegen die Hausordnung der Aufnahmestruktur auferlegt werden, der das Personal oder die anderen Bewohner der Aufnahmestruktur in Gefahr bringt oder bedeutende Risiken für die Sicherheit oder die Wahrung der öffentlichen Ordnung in der Aufnahmestruktur birgt.

Die Person, der ein zeitweiliger Ausschluss auferlegt werden soll, muss vor der Auferlegung der Sanktion angehört worden sein.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

18

Herr Haqbin, der die afghanische Staatsangehörigkeit besitzt, reiste als unbegleiteter Minderjähriger nach Belgien ein und stellte am 23. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Ihm wurde ein Vormund zugewiesen, und er wurde nacheinander in den Unterbringungszentren von Sugny und von Broechem untergebracht. In letzterem Unterbringungszentrum war er am 18. April 2016 an einer Schlägerei zwischen Bewohnern unterschiedlicher ethnischer Herkunft beteiligt. Die Polizei musste eingreifen, um die Schlägerei zu beenden. Sie nahm Herrn Haqbin mit der Begründung fest, dass er zu den Verursachern der Schlägerei gezählt habe. Am nächsten Tag wurde Herr Haqbin freigelassen.

19

Mit Entscheidung des Leiters des Unterbringungszentrums von Broechem vom 19. April 2016, bestätigt durch Entscheidung des Generaldirektors der Fedasil vom 21. April 2016, wurde Herr Haqbin gemäß Art. 45 Abs. 2 Nr. 7 des Aufnahmegesetzes für die Dauer von 15 Tagen vom Anspruch auf materielle Hilfe in einer Aufnahmestruktur ausgeschlossen.

20

Nach seinen eigenen Angaben und denen seines Vormunds verbrachte Herr Haqbin die Nächte vom 19. bis zum 21. April 2016 und vom 24. April bis zum 1. Mai 2016 in einem Brüsseler Park, die übrigen Nächte bei Freunden oder Bekannten.

21

Am 25. April 2016 stellte der Vormund von Herrn Haqbin bei der Arbeidsrechtbank te Antwerpen (Arbeitsgericht Antwerpen, Belgien) einen Antrag auf Aussetzung der Ausschlussmaßnahme, die mit den in Rn. 19 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen verhängt worden war. Dieser Antrag wurde mangels Dringlichkeit zurückgewiesen, da Herr Haqbin nicht habe nachweisen können, dass er obdachlos sei.

22

Ab dem 4. Mai 2016 wurde Herr Haqbin in einem anderen Unterbringungszentrum untergebracht.

23

Der Vormund von Herrn Haqbin erhob bei der Nederlandstalige arbeidsrechtbank te Brussel (Niederländischsprachiges Arbeitsgericht Brüssel, Belgien) Klage auf Aufhebung der Entscheidungen vom 19. und vom 21. April 2016 sowie auf Schadensersatz. Mit Urteil vom 21. Februar 2017 wies das Gericht die Klage als unbegründet ab.

24

Gegen dieses Urteil legte der Vormund von Herrn Haqbin am 27. März 2017 beim vorlegenden Gericht, dem Arbeidshof te Brussel (Arbeitsgerichtshof Brüssel, Belgien), Berufung ein. Ab dem 11. Dezember 2017 führte Herr Haqbin, der mittlerweile volljährig geworden war, das Verfahren im eigenen Namen.

25

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2013/33 Schwierigkeiten aufwerfe. Der bei der Europäischen Kommission eingerichtete Kontaktausschuss zur Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie 2013/33 habe in einer Sitzung vom 12. September 2013 die Meinung vertreten, dass Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie andere Arten von Sanktionen betreffe als Maßnahmen zur Einschränkung oder zum Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen. Nach Ansicht dieses Ausschusses ergebe sich diese Auslegung daraus, dass Art. 20 Abs. 1 bis 3 dieser Richtlinie eine abschließende Aufzählung der Gründe enthalte, aus denen die Einschränkung oder der Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen gerechtfertigt sei. Hingegen habe der Raad van State (Staatsrat, Belgien) im Rahmen der Vorarbeiten zum Gesetz vom 6. Juli 2016 zur Änderung des Aufnahmegesetzes (Belgisch Staatsblad vom 5. August 2016, S. 47647), das zur teilweisen Umsetzung der Richtlinie 2013/33 verabschiedet worden sei, in einem Gutachten die Auffassung vertreten, dass diese Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2013/33 nicht die einzig mögliche sei, wenn man den Wortlaut der Abs. 4 bis 6 dieses Artikels und den Zusammenhang zwischen diesen Absätzen berücksichtige.

26

Das vorlegende Gericht führt aus, die Antwort auf die in der vorstehenden Randnummer dargelegte Auslegungsfrage sei für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits relevant. Sollte Art. 20 der Richtlinie 2013/33 nämlich dahin auszulegen sein, dass ein Ausschluss von den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen nur in den Fällen der Abs. 1 bis 3 dieses Artikels, nicht aber mittels einer auf Abs. 4 dieses Artikels gestützten Sanktionsmaßnahme möglich sei, würde dies bereits genügen, um festzustellen, dass die Entscheidungen vom 19. und vom 21. April 2016 rechtswidrig seien und die Fedasil eine gesetzeswidrige Sanktion verhängt habe.

27

Auch die konkrete Umsetzung der den Mitgliedstaaten nach Art. 20 Abs. 5 und 6 der Richtlinie 2013/33 obliegenden Verpflichtung, einen würdigen Lebensstandard für alle Antragsteller zu gewährleisten, werfe Fragen auf. Insoweit ergebe sich aus den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils erwähnten Vorarbeiten zum Gesetz vom 6. Juli 2016, namentlich aus der Begründung des Gesetzentwurfs, dass das Ziel der Richtlinie 2013/33 nach Auffassung der zuständigen Minister dadurch erreicht werden könne, dass Antragsteller, denen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zeitweilig oder endgültig entzogen worden seien, die Möglichkeit hätten, sich an eines der privaten Obdachlosenheime zu wenden, von denen ihnen eine Liste ausgehändigt werde.

28

Im Hinblick auf die Gewährleistung eines würdigen Lebensstandards für die Antragsteller sei fraglich, ob die für ihre Aufnahme zuständige Behörde die erforderlichen Maßnahmen ergreifen müsse, damit ein Asylbewerber, dem die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen sanktionsweise entzogen worden seien, gleichwohl einen würdigen Lebensstandard genieße, oder ob sie sich darauf beschränken könne, auf private Hilfe zu bauen und nur dann tätig zu werden, wenn diese dem Betroffenen keinen solchen Lebensstandard garantieren könne.

29

Für den Fall, dass Sanktionen im Sinne von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 in Form des Ausschlusses von den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen zulässig seien, sei schließlich zu klären, ob solche Sanktionen auch gegen einen Minderjährigen, insbesondere einen unbegleiteten Minderjährigen, verhängt werden könnten.

30

Unter diesen Umständen hat der Arbeidshof te Brussel (Arbeitsgerichtshof Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 20 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen, dass er die Fälle abschließend festlegt, in denen die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden können, oder geht aus Art. 20 Abs. 4 und 5 dieser Richtlinie hervor, dass das Recht auf diese Leistungen auch im Wege einer Sanktion für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten entzogen werden kann?

2.

Ist Art. 20 Abs. 5 und 6 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten vor dem Erlass einer Entscheidung über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder über Sanktionen und im Rahmen dieser Entscheidungen die erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung des Rechts auf einen würdigen Lebensstandard während der Zeit des Ausschlusses festlegen müssen, oder kann diesen Bestimmungen durch ein System nachgekommen werden, bei dem – nach Erlass der Entscheidung über die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistung – geprüft wird, ob für die Person, die Gegenstand der Entscheidung ist, ein würdiger Lebensstandard gewährleistet wird, und gegebenenfalls zu diesem Zeitpunkt Abhilfemaßnahmen getroffen werden?

3.

Ist Art. 20 Abs. 4 bis 6 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit ihren Art. 14 und 21 bis 24 sowie den Art. 1, 3, 4 und 24 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen, dass eine Maßnahme oder Sanktion zum zeitweiligen (oder endgültigen) Ausschluss vom Recht auf die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen gegenüber einem Minderjährigen, insbesondere einem unbegleiteten Minderjährigen, möglich ist oder nicht möglich ist?

Zu den Vorlagefragen

31

Mit seinen zusammen zu prüfenden Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, auch die Einschränkung oder den Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie vorsehen kann, und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen eine solche Sanktion verhängt werden kann, insbesondere wenn sie sich gegen einen Minderjährigen, speziell einen unbegleiteten Minderjährigen im Sinne der Buchst. d und e dieses Artikels, richtet.

32

Wie sich aus den Begriffsbestimmungen in Art. 2 Buchst. f und g der Richtlinie 2013/33 ergibt, bezeichnet der Ausdruck „im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen“ sämtliche Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten im Einklang mit dieser Richtlinie zugunsten von Antragstellern treffen und zu denen Unterkunft, Verpflegung und Kleidung – in Form von Sach- oder Geldleistungen oder Gutscheinen oder einer Kombination davon – sowie Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs gehören.

33

Nach Art. 17 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2013/33 müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können und diese Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der ihren Lebensunterhalt sowie den Schutz ihrer physischen und psychischen Gesundheit gewährleistet.

34

In Bezug auf „schutzbedürftige Personen“ im Sinne von Art. 21 dieser Richtlinie, zu denen unbegleitete Minderjährige – wie Herr Haqbin zum Zeitpunkt der Verhängung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sanktion – zählen, bestimmt Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen müssen, dass für diese Personen ein solcher Lebensstandard „gewährleistet“ ist.

35

Allerdings gilt die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass Antragsteller im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können, nicht absolut. Der Unionsgesetzgeber hat nämlich in Art. 20 („Einschränkung oder Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“) der Richtlinie 2013/33, der zu deren identisch überschriebenem Kapitel III gehört, Umstände vorgesehen, unter denen solche Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden können.

36

Wie vom vorlegenden Gericht festgestellt, beziehen sich die ersten drei Absätze dieses Artikels ausdrücklich auf die „im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“.

37

Insoweit bestimmt Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen können, wenn ein Antragsteller ohne Genehmigung oder Benachrichtigung den von der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bestimmten Aufenthaltsort verlässt, seinen Melde- und Auskunftspflichten oder Aufforderungen zu persönlichen Anhörungen im Rahmen des Asylverfahrens nicht nachkommt oder einen „Folgeantrag“ nach Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 stellt.

38

Nach Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 können die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt werden, wenn nachgewiesen ist, dass der Antragsteller ohne berechtigten Grund nicht so bald wie vernünftigerweise möglich nach der Ankunft im betreffenden Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat.

39

Ferner können die Mitgliedstaaten nach Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einschränken oder entziehen, wenn ein Antragsteller verschwiegen hat, dass er über Finanzmittel verfügt, und dadurch zu Unrecht in den Genuss dieser Leistungen gekommen ist.

40

Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 bestimmt seinerseits, dass die Mitgliedstaaten „Sanktionen“ für grobe Verstöße des Antragstellers gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten des Antragstellers festlegen können.

41

Da der u. a. in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verwendete Begriff „Sanktion“ in der Richtlinie nicht definiert und auch nicht näher geregelt ist, welche Art von Sanktionen nach dieser Vorschrift gegen einen Antragsteller verhängt werden kann, verfügen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Sanktionen über ein weites Ermessen.

42

In Anbetracht dessen, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts, wie sie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils umformuliert worden sind, allein anhand des Wortlauts von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 nicht beantwortet werden können, sind zur Auslegung dieser Vorschrift auch ihr Kontext sowie der allgemeine Aufbau und die Ziele dieser Richtlinie zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, CHEZ Razpredelenie Bulgaria, C‑83/14, EU:C:2015:480, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Was die Frage betrifft, ob eine „Sanktion“ im Sinne von Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 die „im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“ betreffen kann, ist zum einen festzustellen, dass eine Maßnahme, mit der einem Antragsteller wegen grober Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätigen Verhaltens die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt oder entzogen werden, angesichts ihres Zwecks und ihrer für den Antragsteller nachteiligen Folgen eine „Sanktion“ im herkömmlichen Wortsinn darstellt, und zum anderen, dass diese Vorschrift zu Kapitel III der Richtlinie gehört, in dem die Einschränkung und der Entzug solcher Leistungen geregelt sind. Daraus folgt, dass sich die von dieser Vorschrift erfassten Sanktionen grundsätzlich auf die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen beziehen können.

44

Es ist zwar richtig, dass die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einzuschränken bzw., je nach Fall, zu entziehen, nur in den Abs. 1 bis 3 von Art. 20 der Richtlinie 2013/33 ausdrücklich vorgesehen ist, in denen es, wie der 25. Erwägungsgrund der Richtlinie verdeutlicht, hauptsächlich um Fälle geht, in denen zu befürchten ist, dass die Antragsteller das mit der Richtlinie eingeführte Aufnahmesystem missbrauchen. Jedoch schließt Abs. 4 dieses Artikels nicht ausdrücklich aus, dass eine Sanktion die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen betreffen kann. Zudem müssen, wie insbesondere die Kommission geltend gemacht hat, die Mitgliedstaaten, wenn sie zum Schutz vor Missbrauch ihres Aufnahmesystems Maßnahmen in Bezug auf diese Leistungen ergreifen können, auch dann über diese Möglichkeit verfügen, wenn es um grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren oder grob gewalttätiges Verhalten geht. Solche Handlungen sind nämlich geeignet, die öffentliche Ordnung zu stören und die Sicherheit von Personen und Sachen zu gefährden.

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Allerdings ist hervorzuheben, dass nach Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 jede Sanktion im Sinne von Abs. 4 dieses Artikels objektiv, unparteiisch, begründet und im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers verhältnismäßig sein und dem Antragsteller in jedem Fall Zugang zur medizinischen Versorgung und einen würdigen Lebensstandard belassen muss.

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Was speziell das Erfordernis anbelangt, dass die Würde des Lebensstandards gewahrt bleibt, geht aus dem 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 hervor, dass diese darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung u. a. von Art. 1 der Charta der Grundrechte zu fördern, und entsprechend umgesetzt werden muss. Insoweit verlangt die Achtung der Menschenwürde im Sinne dieses Artikels, dass der Betroffene nicht in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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Die Verhängung einer Sanktion, mit der allein aus einem in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Grund sämtliche im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder die in diesem Rahmen gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung entzogen werden, und sei es nur zeitweilig, wäre mit der Verpflichtung gemäß Art. 20 Abs. 5 Satz 3 dieser Richtlinie, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar, weil sie ihm die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie sie in der vorstehenden Randnummer näher dargelegt wurden.

48

Eine solche Sanktion würde zudem das in Art. 20 Abs. 5 Satz 2 der Richtlinie 2013/33 genannte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verkennen, da selbst die härtesten Sanktionen zur strafrechtlichen Ahndung der von Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie erfassten Verstöße oder Verhaltensweisen dem Antragsteller nicht die Möglichkeit nehmen können, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.

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Dies wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, einem Antragsteller, gegen den die Sanktion des Ausschlusses von einem belgischen Unterbringungszentrum verhängt wird, zu diesem Zeitpunkt eine Liste privater Obdachlosenheime ausgehändigt wird, die ihn aufnehmen könnten. Die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats dürfen sich nämlich nicht darauf beschränken, einem Antragsteller, der infolge einer gegen ihn verhängten Sanktion von einem Unterbringungszentrum ausgeschlossen wird, eine Liste der Aufnahmestrukturen auszuhändigen, an die er sich wenden könnte, um dort im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen zu empfangen, die den ihm entzogenen gleichwertig sind.

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Ganz im Gegenteil bedeutet zum einen die in Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 vorgesehene Pflicht, einen würdigen Lebensstandard zu gewährleisten, wie sich bereits aus der Verwendung des Verbs „gewährleisten“ ergibt, dass die Mitgliedstaaten einen solchen Lebensstandard dauerhaft und ohne Unterbrechung sicherstellen müssen. Zum anderen müssen die Behörden der Mitgliedstaaten den zur Gewährleistung eines solchen Lebensstandards geeigneten Zugang zu den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in geordneter Weise und eigener Verantwortlichkeit anbieten, auch wenn sie unter Umständen auf natürliche oder juristische Personen des Privatrechts zurückgreifen, damit diese Pflicht unter ihrer Hoheit erfüllt wird.

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Was eine Sanktion anbelangt, mit der aus einem in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Grund die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen eingeschränkt werden, einschließlich des Entzugs oder der Einschränkung von Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs, so obliegt es den zuständigen Behörden, unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass eine solche Sanktion gemäß Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie im Hinblick auf die besondere Situation des Antragstellers und auf sämtliche Umstände des Einzelfalls mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht und die Würde des Antragstellers nicht verletzt.

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Ferner ist klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten in den in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 bezeichneten Fällen je nach den Umständen des Einzelfalls und vorbehaltlich der Einhaltung der in Art. 20 Abs. 5 dieser Richtlinie genannten Anforderungen Sanktionen verhängen können, die nicht dazu führen, dass dem Antragsteller die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen entzogen werden, wie etwa sein Verbleib in einem separaten Teil des Unterbringungszentrums in Verbindung mit dem Verbot, mit bestimmten Bewohnern des Zentrums in Kontakt zu treten, oder seine Verbringung in ein anderes Unterbringungszentrum oder eine andere Unterkunft im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie. Desgleichen hindert Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 nicht an der Inhaftnahme des Antragstellers gemäß Art. 8 Abs. 3 Buchst. e dieser Richtlinie, sofern die Voraussetzungen der Art. 8 bis 11 der Richtlinie erfüllt sind.

53

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Behörden der Mitgliedstaaten, wenn der Antragsteller wie im Ausgangsverfahren ein unbegleiteter Minderjähriger und damit eine „schutzbedürftige Person“ im Sinne von Art. 21 der Richtlinie 2013/33 ist, bei der Verhängung von Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie, wie aus deren Art. 20 Abs. 5 Satz 2 hervorgeht, verstärkt die besondere Situation des Minderjährigen und das Verhältnismäßigkeitsprinzip berücksichtigen müssen.

54

Im Übrigen heißt es in Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2013/33, dass die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Minderjährige berührenden Bestimmungen der Richtlinie vorrangig das Wohl des Kindes berücksichtigen. Nach Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten bei der Würdigung des Kindeswohls insbesondere Faktoren wie dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen unter besonderer Berücksichtigung seines Hintergrundes oder Erwägungen der Sicherheit und der Gefahrenabwehr Rechnung tragen. Ferner wird im 35. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgehoben, dass diese darauf abzielt, die Anwendung u. a. von Art. 24 der Charta der Grundrechte zu fördern, und entsprechend umgesetzt werden muss.

55

In diesem Zusammenhang muss – über die in den Rn. 47 bis 52 des vorliegenden Urteils dargelegten allgemeinen Erwägungen hinaus – bei der Verhängung einer Sanktion nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 in Verbindung mit Abs. 5 dieses Artikels unter allen Umständen besonderes Augenmerk auf die Situation des Minderjährigen gelegt werden. Im Übrigen hindern diese beiden Bestimmungen die Behörden eines Mitgliedstaats nicht daran, den betreffenden Minderjährigen der Obhut der für Jugendschutz zuständigen Dienststellen oder Justizbehörden anzuvertrauen.

56

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33 im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, keine Sanktion vorsehen kann, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs. 5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten. Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen im Hinblick insbesondere auf Art. 24 der Charta der Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 20 Abs. 4 und 5 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, ist im Licht von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat unter den Sanktionen, die gegen einen Antragsteller für grobe Verstöße gegen die Vorschriften der Unterbringungszentren und grob gewalttätiges Verhalten verhängt werden können, keine Sanktion vorsehen kann, mit der die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen im Sinne von Art. 2 Buchst. f und g dieser Richtlinie, die sich auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung beziehen, auch nur zeitweilig entzogen werden, weil diese Sanktion dem Antragsteller die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Bei der Verhängung anderer Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie sind unter allen Umständen die in Abs. 5 dieses Artikels genannten Voraussetzungen, insbesondere die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und die Achtung der Menschenwürde, zu beachten. Im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen müssen die Sanktionen im Hinblick insbesondere auf Art. 24 der Charta der Grundrechte unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls ergehen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.