URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

5. September 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Von einem Bieter, dessen Angebot nicht ausgewählt wurde, erhobene Klage auf Aufhebung einer Zuschlagsentscheidung – Anschlussklage des Zuschlagsempfängers – Zulässigkeit der Klage bei Begründetheit der Anschlussklage“

In der Rechtssache C‑333/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 14. Februar 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 2018, in dem Verfahren

Lombardi Srl

gegen

Comune di Auletta,

Delta Lavori SpA,

Msm Ingegneria Srl,

Beteiligte:

Robertazzi Costruzioni Srl,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter) und M. Ilešič,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Lombardi Srl, vertreten durch A. Brancaccio und A. La Gloria, avvocati,

der Delta Lavori SpA, vertreten durch G. M. Di Paolo und P. Piselli, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von D. Del Gaizo, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, P. Ondrůšek und L. Haasbeek als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. 1989, L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 (ABl. 2007, L 335, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Lombardi Srl auf der einen und der Comune di Auletta (Gemeinde Auletta, Italien), der Delta Lavori SpA und Msm Ingegneria auf der anderen Seite über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags zur Planung und Durchführung von hydrogeologischen Arbeiten durch die Gemeinde Auletta.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In Art. 1 („Anwendungsbereich und Zugang zu Nachprüfungsverfahren“) der Richtlinie 89/665 heißt es:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für Aufträge im Sinne der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge [ABl. 2004, L 134, S. 114], sofern diese Aufträge nicht gemäß den Artikeln 10 bis 18 der genannten Richtlinie ausgeschlossen sind.

Aufträge im Sinne der vorliegenden Richtlinie umfassen öffentliche Aufträge, Rahmenvereinbarungen, öffentliche Baukonzessionen und dynamische Beschaffungssysteme.

Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2004/18/EG fallenden Aufträge die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der Artikel 2 bis 2f der vorliegenden Richtlinie auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.

…“

Italienisches Recht

4

Art. 112 des Codice di procedura civile (Zivilprozessordnung) lautet:

„Der Richter hat über die Klage in vollem Umfang zu entscheiden, darf aber nicht deren Grenzen überschreiten; er darf nicht von Amts wegen über die Einreden entscheiden, die nur von den Parteien erhoben werden können.“

5

Art. 2697 des Codice civile (Zivilgesetzbuch) bestimmt:

„Wer ein Recht bei Gericht geltend machen will, muss die Tatsachen beweisen, die seine Grundlage bilden. Wer die Unwirksamkeit dieser Tatsachen einwendet oder einwendet, dass das Recht abgeändert wurde oder erloschen ist, muss die Tatsachen beweisen, auf die sich die Einwendung gründet.“

6

Art. 2909 des Zivilgesetzbuchs bestimmt:

„In rechtskräftigen Urteilen enthaltene Feststellungen sind für die Parteien, ihre Erben oder Rechtsnachfolger in jeder Hinsicht bindend.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

7

Mit einer am 29. Juni 2015 veröffentlichten Bekanntmachung leitete die Gemeinde Auletta ein offenes Vergabeverfahren ein, das die Vergabe eines öffentlichen Auftrags betreffend die Planung und Durchführung von Arbeiten zur hydrogeologischen Sanierung des historischen Stadtzentrums zum Gegenstand hatte. Nach den Ausschreibungsunterlagen belief sich der Gesamtbetrag des Auftrags auf 6927970,95 Euro, und die Vergabe sollte auf der Grundlage des wirtschaftlich günstigsten Angebots erfolgen.

8

Lombardi, die in der endgültigen Reihung an dritter Stelle platziert war, klagte beim Tribunale amministrativo regionale per la Campania (Verwaltungsgericht der Region Kampanien, Italien) gegen die Zulassung sowohl der Zuschlagsempfängerin, Delta Lavori – weil die von dieser als Subunternehmerin angegebene Gesellschaft, Msm Ingegneria, nicht die im Lastenheft genannten Voraussetzungen erfülle – als auch der zweitplatzierten Bieterin, der Robertazzi Costruzioni Srl – Giglio Costruzioni Srl, einem vorübergehenden Zusammenschluss von Unternehmen.

9

Delta Lavori beantragte, die Klage abzuweisen, und erhob eine Anschlussklage, mit der sie geltend machte, dass Lombardi vom Vergabefahren hätte ausgeschlossen werden müssen, weil sie im Lauf des Verfahrens die in der Ausschreibung vorgesehenen Teilnahmebedingungen nicht mehr erfüllt habe.

10

Die anderen Bieter, die hinter Lombardi gereiht worden waren, traten dem Rechtsstreit nicht bei.

11

Das Tribunale amministrativo regionale per la Campania (Verwaltungsgericht der Region Kampanien) prüfte vorrangig die Anschlussklage von Delta Lavori und gab ihr statt, nachdem es festgestellt hatte, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vergabeverfahren rechtswidrig sei, weil Lombardi nicht davon ausgeschlossen worden sei. Infolgedessen wies es die Klage von Lombardi wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses als unzulässig ab.

12

Lombardi legte beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) ein Rechtsmittel ein, mit dem sie u. a. geltend machte, dass die vom Gerichtshof im Urteil vom 5. April 2016, PFE (C‑689/13, EU:C:2016:199), aufgestellten Grundsätze nicht berücksichtigt worden seien. In Anbetracht ihres praktischen („strumentale“) und mittelbaren Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des unterbliebenen Ausschlusses der Zuschlagsempfängerin, weil eine solche Entscheidung den öffentlichen Auftraggeber dazu hätte veranlassen können, das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verfahren zu annullieren und ein neues Vergabeverfahren einzuleiten, hätte die Klage nämlich – unabhängig von der Entscheidung über die Anschlussklage – inhaltlich geprüft werden müssen.

13

Der fünfte Senat des Consiglio di Stato (Staatsrat) stellte einen Widerspruch zwischen der Rechtsprechung des Consiglio di Stato und der Durchführung des Urteils vom 5. April 2016, PFE (C‑689/13, EU:C:2016:199), fest und beschloss, seinem Plenum die folgende Frage vorzulegen:

„Ist der Richter im Rahmen eines Verfahrens über eine Klage gegen die Handlungen in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags verpflichtet, die Klage und die vom Zuschlagsempfänger erhobene Anschlussklage auf Feststellung des Ausschlusses des Klägers zusammen zu prüfen, auch wenn andere Wettbewerber, deren Angebote nicht angefochten wurden, an dem Vergabeverfahren teilgenommen haben und wenn er feststellt, dass nur die streitigen Angebote mit Mängeln behaftet sind, die als Klagegründe geltend gemacht werden?“

14

Das Plenum des Consiglio di Stato (Staatsrat) weist darauf hin, dass nach der nationalen Rechtsprechung in einem Fall, in dem nur zwei Bieter an einem Ausschreibungsverfahren teilgenommen und beide eine Klage auf Ausschluss des jeweils anderen erhoben haben, sowohl die Klage als auch die Anschlussklage geprüft werden müssten. Darüber hinaus sei klar, dass diese Lösung auch bei mehr als zwei Bietern anzuwenden sei, wenn die Klage auf Gründe gestützt werde, die, wenn sie für stichhaltig erklärt würden, zur Wiederholung des gesamten Verfahrens führten, und zwar unabhängig davon, ob mit diesen Rügen die Rechtmäßigkeit der Situation des Zuschlagsempfängers und der anderen im Verfahren verbliebenen Bieter in Frage gestellt oder die Gültigkeit des Auswahlverfahrens selbst bestritten werde.

15

Unklar sei indes, wie in einem Fall wie dem vorliegenden zu verfahren sei, in dem die Klage nicht auf Gründe gestützt werde, die, wenn sie für stichhaltig erklärt würden, zur Wiederholung des gesamten Verfahrens führen würden.

16

Die nationale Rechtsprechung sei insoweit uneinheitlich. Nach einer ersten in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung sei in einem solchen Fall gemäß dem Urteil vom 5. April 2016, PFE (C‑689/13, EU:C:2016:199), die Klage auch dann zu prüfen, wenn die Anschlussklage für begründet erklärt worden sei, wobei die Zahl der am Verfahren beteiligten Unternehmen und die mit der Klage gerügten Rechtsverstöße unerheblich seien. Allerdings trage diese Auffassung nicht dem Urteil vom 21. Dezember 2016, Bietergemeinschaft Technische Gebäudebetreuung und Caverion Österreich (C‑355/15, EU:C:2016:988), Rechnung, in dem der Gerichtshof entschieden habe, dass die Richtlinie 89/665 nicht dem entgegenstehe, dass einem Bieter, der durch eine rechtskräftig gewordene Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossen worden sei, der Zugang zu einer Nachprüfung der in Rede stehenden Zuschlagsentscheidung verwehrt werde. Außerdem werde mit dieser Auffassung nicht berücksichtigt, dass die Überprüfung und die Annullierung des Vergabeverfahrens rein fakultativ seien, so dass nicht feststehe, dass der Kläger über ein Rechtsschutzinteresse verfüge.

17

Nach der zweiten in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung sei die Klage nur dann zu prüfen, wenn deren Begründetheit dem Kläger tatsächlich einen Vorteil verschaffen könnte, was voraussetze, dass die Angebote der Bieter, die nicht am Verfahren beteiligt seien, denselben Mangel aufwiesen wie denjenigen, der die der Klage stattgebende Entscheidung gestützt habe. Diese Auslegung sei jedoch als mit dem Urteil vom 5. April 2016, PFE (C‑689/13, EU:C:2016:199), unvereinbar kritisiert worden und vernachlässige den Umstand, dass der öffentliche Auftraggeber auch dann, wenn nach der Prüfung der Anschlussklage und der Klage festgestellt werde, dass alle abgegebenen Angebote, einschließlich derjenigen der Bieter, die nicht Parteien des Rechtsstreits seien, Mängel aufwiesen, die denen der vom Richter geprüften Angebote entsprächen, nur die Möglichkeit habe, nicht aber verpflichtet sei, das Vergabeverfahren erneut einzuleiten.

18

Aus Gründen der Kohärenz mit dem nationalen Prozessrecht und dem auf der Initiative der Parteien beruhenden Grundsatz der Verfahrensautonomie ist nach Ansicht des Plenums des Consiglio di Stato (Staatsrat) eine Lösung zu bevorzugen, nach der das angerufene Gericht das Rechtsschutzinteresse des Klägers konkret und nicht abstrakt prüfen müsse. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es sachdienlich, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, unter Gewährleistung der Verteidigungsrechte der weiteren am Vergabeverfahren beteiligten, aber nicht verklagten Bieter im Einklang mit den sich aus der Beweislast ergebenden Grundsätzen zu regeln, wie dieses konkrete Rechtsschutzinteresse nachzuweisen sei.

19

Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 dahin auszulegen, dass das Gericht selbst dann, wenn an dem Vergabeverfahren weitere Unternehmen beteiligt waren, die nicht verklagt wurden (und deren Angebote somit nicht angefochten wurden), aufgrund der den Mitgliedstaaten zuerkannten Verfahrensautonomie beurteilen darf, ob für die Klage des Wettbewerbers, gegen den eine vom Gericht als begründet erachtete Anschlussklage auf Feststellung seines Ausschlusses erhoben wurde, ein Rechtsschutzinteresse besteht, wobei es sich der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten bedient, die ihm die Rechtsordnung bietet, und damit den Schutz dieser subjektiven Rechtsposition in Einklang bringt mit den gefestigten nationalen Grundsätzen betreffend die Bindung an die Parteianträge (Art. 112 der Zivilprozessordnung) und den Nachweis des geltend gemachten Interesses (Art. 2697 des Zivilgesetzbuchs), die die subjektiven Grenzen der Entscheidung bilden, die nur zwischen den Prozessparteien ergeht und die Rechtsstellung von nicht am Prozess beteiligten Dritten nicht berühren kann (Art. 2909 des Zivilgesetzbuchs)?

Zur Vorlagefrage

20

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 dahin auszulegen ist, dass er es verwehrt, die Klage eines Bieters, der ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat und dem durch einen behaupteten Verstoß gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die Vorschriften zu dessen Umsetzung ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht, auf Ausschluss eines anderen Bieters gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften oder der entsprechenden nationalen Rechtsprechung, die sich – ohne dass es auf die Zahl der Teilnehmer am Vergabeverfahren und die Zahl der Teilnehmer, die Klagen erhoben haben, ankäme – auf die Behandlung von wechselseitigen Ausschlussklagen beziehen, für unzulässig zu erklären.

21

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 89/665, wie aus ihrem zweiten Erwägungsgrund hervorgeht, die auf einzelstaatlicher Ebene und auf Unionsebene vorhandenen Mechanismen zur Gewährleistung der tatsächlichen Anwendung der Unionsrichtlinien im Bereich des öffentlichen Auftragswesens vor allem dann verstärken soll, wenn Verstöße noch beseitigt werden können (Urteil vom 5. April 2017, Marina del Mediterráneo u. a., C‑391/15, EU:C:2017:268‚ Rn. 30).

22

Aus Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 ergibt sich, dass Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen eines öffentlichen Auftraggebers, um wirksam zu sein, zumindest jeder Person zur Verfügung stehen müssen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.

23

Wenn also im Anschluss an ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zwei Bieter Klagen erheben, die auf den Ausschluss des jeweils anderen gerichtet sind, hat jeder der beiden Bieter ein Interesse an einem bestimmten Auftrag im Sinne der in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen. Zum einen kann nämlich der Ausschluss eines Bieters dazu führen, dass der andere den Auftrag unmittelbar im Rahmen desselben Verfahrens erhält. Zum anderen könnte im Fall eines Ausschlusses aller Bieter und der Einleitung eines neuen Vergabeverfahrens jeder von ihnen daran teilnehmen und auf diese Weise mittelbar den Auftrag erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 27).

24

Daraus folgt, dass die Anschlussklage des Zuschlagsempfängers dann nicht zur Abweisung der Klage eines abgelehnten Bieters führen kann, wenn die Ordnungsmäßigkeit des Angebots jedes der Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen desselben Verfahrens in Frage gestellt wird, da sich in einem solchen Fall jeder Wettbewerber auf ein äquivalentes berechtigtes Interesse am Ausschluss des Angebots der jeweils anderen berufen kann, was zu der Feststellung führen kann, dass es dem öffentlichen Auftraggeber unmöglich ist, ein ordnungsgemäßes Angebot auszuwählen (Urteile vom 4. Juli 2013, Fastweb, C‑100/12, EU:C:2013:448‚ Rn. 33, und vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199‚ Rn. 24).

25

Der Grundsatz, der in den in der vorstehenden Randnummer angeführten Urteilen verankert ist, nämlich dass die Interessen, die im Rahmen von wechselseitigen Ausschlussklagen verfolgt werden, als grundsätzlich äquivalent angesehen werden, bedeutet für die mit diesen Klagen befassten Gerichte, dass sie die Klage nicht gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften, die eine vorrangige Prüfung der Anschlussklage eines anderen Bieters vorsehen, für unzulässig erklären dürfen.

26

Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn, wie im Ausgangsverfahren, andere Bieter im Rahmen des Vergabeverfahrens Angebote abgegeben haben und die wechselseitigen Ausschlussklagen nicht solche Angebote betreffen, die schlechter gereiht wurden als die mit diesen Klagen angefochtenen Angebote.

27

Einem Bieter, der, wie im vorliegenden Fall, an dritter Stelle gereiht wurde und der die Klage erhoben hat, ist nämlich ein berechtigtes Interesse daran zuzuerkennen, dass das Angebot des Zuschlagsempfängers und des an zweiter Stelle gereihten Bieters ausgeschlossen wird, da sich nicht ausschließen lässt, dass der öffentliche Auftraggeber, selbst wenn das Angebot des Klägers für nicht ordnungsgemäß erklärt wird, feststellen muss, dass es unmöglich ist, ein anderes ordnungsgemäßes Angebot auszuwählen, und in der Folge ein neues Verfahren durchführt.

28

Insbesondere dann, wenn die Klage des nicht berücksichtigten Bieters für begründet erachtet wird, könnte der öffentliche Auftraggeber die Entscheidung treffen, das Verfahren zu annullieren und ein neues Vergabeverfahren einzuleiten, weil die verbleibenden ordnungsgemäßen Angebote seinen Erwartungen nicht hinreichend gerecht werden.

29

Unter diesen Umständen kann die Zulässigkeit der Klage nicht von der vorherigen Feststellung abhängig gemacht werden, dass alle Angebote, die schlechter gereiht wurden als die des Bieters, der die Klage erhoben hat, ebenfalls unrechtmäßig sind, da andernfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 89/665 beeinträchtigt würde. Die Zulässigkeit der Klage kann auch nicht davon abhängig gemacht werden, dass dieser Bieter nachweist, dass der öffentliche Auftraggeber gehalten wäre, das Vergabeverfahren zu wiederholen. Es reicht insoweit aus, dass diese Möglichkeit besteht.

30

Darüber hinaus wird diese Auslegung nicht dadurch in Frage gestellt, dass die anderen Bieter, die hinter dem Kläger gereiht wurden, nicht dem Ausgangsrechtsstreit beigetreten sind. Wie der Gerichtshof bereits festzustellen Gelegenheit hatte, sind nämlich die Zahl der Teilnehmer am Verfahren zur Vergabe des betreffenden öffentlichen Auftrags ebenso wie die Zahl der Teilnehmer, die Klagen erhoben haben, und die Unterschiedlichkeit der von ihnen geltend gemachten Gründe für die Anwendung des in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsprechungsgrundsatzes unerheblich (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, PFE, C‑689/13, EU:C:2016:199, Rn. 29).

31

Das vom vorlegenden Gericht angeführte Urteil vom 21. Dezember 2016, Bietergemeinschaft Technische Gebäudebetreuung und Caverion Österreich (C‑355/15, EU:C:2016:988), steht dieser Auslegung nicht entgegen. Zwar hat der Gerichtshof in den Rn. 13 bis 16, 31 und 36 dieses Urteils entschieden, dass einem Bieter, dessen Angebot vom öffentlichen Auftraggeber in einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossen worden ist, der Zugang zu einer Nachprüfung der Zuschlagsentscheidung verwehrt werden kann. Die Entscheidung, diesen Bieter auszuschließen, war jedoch in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, durch eine Entscheidung bestätigt worden, die rechtskräftig geworden war, bevor das Gericht, das mit der Klage gegen die Zuschlagsentscheidung befasst wurde, entschieden hat, so dass dieser Bieter als endgültig von dem in Rede stehenden Vergabeverfahren ausgeschlossen anzusehen gewesen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Mai 2017, Archus und Gama, C‑131/16, EU:C:2017:358, Rn. 57).

32

Im Ausgangsverfahren ist aber keiner der Bieter, die die Klagen auf Feststellung des Ausschlusses des jeweils anderen eingereicht haben, endgültig vom Vergabeverfahren ausgeschlossen worden. Daher wird der in der vorstehenden Randnummer genannte Rechtsprechungsgrundsatz durch jenes Urteil keineswegs entkräftet.

33

Was schließlich den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten betrifft, genügt der Hinweis, dass dieser Grundsatz jedenfalls nicht Bestimmungen des nationalen Rechts rechtfertigen kann, die die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. April 2019, PORR Építési Kft., C‑691/17, EU:C:2019:327, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung). Aus den in den vorstehenden Randnummern des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 in der Auslegung durch den Gerichtshof, dass einem Bieter, der eine Klage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende erhoben hat, gemäß den nationalen Regeln oder der nationalen Praxis, wie sie das vorlegende Gericht beschrieben hat, nicht sein Recht auf Prüfung der Begründetheit dieser Klage entzogen werden kann.

34

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 dahin auszulegen ist, dass er es verwehrt, die Klage eines Bieters, der ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat und dem durch einen behaupteten Verstoß gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die Vorschriften zu dessen Umsetzung ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht, auf Ausschluss eines anderen Bieters gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften oder der entsprechenden nationalen Rechtsprechung, die sich – ohne dass es auf die Zahl der Teilnehmer am Vergabeverfahren und die Zahl der Teilnehmer, die Klagen erhoben haben, ankäme – auf die Behandlung von wechselseitigen Ausschlussklagen beziehen, für unzulässig zu erklären.

Kosten

35

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 3 und Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es verwehrt, die Klage eines Bieters, der ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat und dem durch einen behaupteten Verstoß gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die Vorschriften zu dessen Umsetzung ein Schaden entstanden ist oder zu entstehen droht, auf Ausschluss eines anderen Bieters gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften oder der entsprechenden nationalen Rechtsprechung, die sich – ohne dass es auf die Zahl der Teilnehmer am Vergabeverfahren und die Zahl der Teilnehmer, die Klagen erhoben haben, ankäme – auf die Behandlung von wechselseitigen Ausschlussklagen beziehen, für unzulässig zu erklären.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.