URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

5. September 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Art. 4 Abs. 1 – Unschuldsvermutung – Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld – Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und dem Täter einer Straftat – Nationale Rechtsprechung, die die Identifizierung der beschuldigten Personen vorsieht, die eine solche Vereinbarung nicht abgeschlossen haben – Charta der Grundrechte – Art. 48“

In der Rechtssache C‑377/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 31. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2018, in dem Strafverfahren gegen

AH,

PB,

CX,

KM,

PH,

Beteiligter:

MH,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev sowie der Richter T. von Danwitz und C. Vajda (Berichterstatter),

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der deutschen Regierung, zunächst vertreten durch T. Henze, E. Lankenau und M. Hellmann als Bevollmächtigte, dann durch E. Lankenau und M. Hellmann als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und Y. Marinova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Juni 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen (ABl. 2016, L 65, S. 1) in Verbindung mit dem 16. Erwägungsgrund Satz 1 und dem 17. Erwägungsgrund dieser Richtlinie.

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen AH, PB, CX, KM und PH wegen ihrer mutmaßlichen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Charta

3

Art. 48 („Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet:

„(1)   Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.

(2)   Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.“

4

In den Erläuterungen zur Charta (ABl. 2007, C 303, S. 17) heißt es zu deren Art. 48, dass diese Bestimmung Art. 6 Abs. 2 und 3 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) entspricht.

5

Art. 52 („Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze“) Abs. 3 der Charta lautet:

„Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die [EMRK] garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“

Richtlinie 2016/343

6

Die Erwägungsgründe 1, 4, 5, 9, 10, 16 und 48 der Richtlinie 2016/343 lauten:

„(1)

Die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren sind in den Artikeln 47 und 48 der Charta …, in Artikel 6 der [EMRK], in Artikel 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und in Artikel 11 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verankert.

(4)

Die Umsetzung des Grundsatzes [der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und anderer gerichtlicher Entscheidungen] beruht auf dem Grundgedanken, dass die Mitgliedstaaten gegenseitiges Vertrauen in ihre jeweilige Strafrechtspflege haben. Das Ausmaß des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen und von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindeststandards, die erforderlich sind, um die Anwendung dieses Grundsatzes zu erleichtern.

(5)

Zwar sind die Mitgliedstaaten Vertragsparteien der EMRK und des IPbpR, doch hat die Erfahrung gezeigt, dass dies allein nicht immer ein hinreichendes Maß an Vertrauen in die Strafrechtspflege anderer Mitgliedstaaten schafft.

(9)

Mit dieser Richtlinie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindestvorschriften für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden.

(10)

Durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger und beschuldigter Personen zielt diese Richtlinie darauf ab, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern. Auch können durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften Hindernisse für die Freizügigkeit der Unionsbürger im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten beseitigt werden.

(16)

Ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung läge vor, wenn der Verdächtige oder die beschuldigte Person in einer öffentlichen Erklärung einer Behörde oder in einer gerichtlichen Entscheidung, bei der es sich nicht um eine Entscheidung über die Schuld handelt, als schuldig dargestellt wird, solange die Schuld dieser Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde. Solche Erklärungen und gerichtlichen Entscheidungen sollten nicht den Eindruck vermitteln, dass die betreffende Person schuldig ist. Davon sollten Strafverfolgungsmaßnahmen unberührt bleiben, die darauf abzielen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, wie etwa die Anklage, ebenso wie gerichtliche Entscheidungen, mit denen die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung widerrufen wird, soweit dabei die Rechte der Verteidigung gewahrt werden. Ebenso unberührt bleiben sollten vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen, wie etwa Entscheidungen über Untersuchungshaft, soweit der Verdächtige oder die beschuldigte Personen darin nicht als schuldig bezeichnet wird. Bevor eine vorläufige Entscheidung verfahrensrechtlicher Art getroffen wird, müsste die zuständige Stelle unter Umständen zunächst prüfen, ob das gegen den Verdächtigen oder die beschuldigte Person vorliegende belastende Beweismaterial ausreicht, um die betreffende Entscheidung zu rechtfertigen; in der Entscheidung könnte auf dieses Beweismaterial Bezug genommen werden.

(48)

Da mit dieser Richtlinie Mindestvorschriften festgelegt werden, sollten die Mitgliedstaaten die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau sollte nie unter den Standards der Charta oder der EMRK, wie sie vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden, liegen.“

7

Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2016/343 bestimmt:

„Diese Richtlinie enthält gemeinsame Mindestvorschriften für

a)

bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren,

b)

das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren.“

8

Art. 2 („Anwendungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.“

9

Art. 4 („Öffentliche Bezugnahme auf die Schuld“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde, in öffentlichen Erklärungen von Behörden und in nicht die Frage der Schuld betreffenden gerichtlichen Entscheidungen nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig. Dies gilt unbeschadet der Strafverfolgungsmaßnahmen, die dazu dienen, den Verdächtigen oder die beschuldigte Person zu überführen, sowie unbeschadet der vorläufigen Entscheidungen verfahrensrechtlicher Art, die von einer gerichtlichen oder sonstigen zuständigen Stelle getroffen werden und auf Verdachtsmomenten oder belastendem Beweismaterial beruhen.“

10

Art. 14 („Umsetzung“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten setzen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 1. April 2018 nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.

Bei Erlass dieser Vorschriften nehmen die Mitgliedstaaten in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf die vorliegende Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten dieser Bezugnahme.“

Bulgarisches Recht

11

Nach Art. 381 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) kann jeder Beschuldigte, der sich schuldig bekennt, nach Abschluss der Ermittlungen durch seinen Verteidiger eine Strafvereinbarung mit dem Staatsanwalt schließen.

12

Art. 381 Abs. 5 NPK sieht vor:

„Die Strafvereinbarung wird schriftlich ausgefertigt und enthält das Einvernehmen zu folgenden Fragen:

1.

wurde eine Tat begangen, wurde sie von der beschuldigten Person begangen, wurde sie schuldhaft begangen, stellt sie eine Straftat dar, und unter welchen Tatbestand fällt sie?

…“

13

Art. 381 Abs. 7 NPK bestimmt:

„Wird das Verfahren gegen mehrere Personen … geführt, kann die Strafvereinbarung für einige der Personen … geschlossen werden.“

14

Art. 382 Abs. 5 NPK lautet:

„Das Gericht kann Änderungen an der Strafvereinbarung vorschlagen, die mit dem Staatsanwalt und dem Verteidiger erörtert werden. Zuletzt wird der Beschuldigte angehört.“

15

Gemäß Art. 382 Abs. 7 NPK genehmigt das Gericht die Strafvereinbarung, wenn sie nicht gegen das Gesetz und die guten Sitten verstößt.

16

Nach Art. 383 Abs. 1 NPK hat die Strafvereinbarung die Folgen eines rechtskräftigen Urteils.

17

Gemäß den Art. 12 bis 14 des Zakon za grazhdanskata registratsia (Gesetz über das Personenstandsregister) haben die bulgarischen Staatsbürger drei Namen, nämlich den Vornamen, den Vatersnamen und den Familiennamen. Sie haben nach Art. 11 Abs. 1 dieses Gesetzes auch eine persönliche Identifikationsnummer als Verwaltungskennzahl, mit der die betreffende Person eindeutig bestimmt wird.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

18

Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass AH, PB, CX, KM, PH und MH der mutmaßlichen Beteiligung an einer in Sofia (Bulgarien) agierenden kriminellen Vereinigung von November 2014 bis November 2015 beschuldigt werden. In dieser Vereinigung sollen sie zum Zweck der Bereicherung falsche offizielle Urkunden, nämlich Ausweisdokumente und Führerscheine, ausgestellt oder den Inhalt solcher Urkunden verfälscht haben. Laut Anklageschrift schlossen sich diese sechs Personen zu einer kriminellen Vereinigung zusammen und teilten dabei die Aufgaben zur Erreichung des gemeinsamen kriminellen Ziels untereinander auf.

19

Nur eine dieser Personen, MH, äußerte den Wunsch, eine Vereinbarung mit dem Staatsanwalt zu schließen, in welcher sie sich im Gegenzug für eine Strafmilderung für schuldig bekannte.

20

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung erklärten die fünf anderen Angeschuldigten (im Folgenden: fünf Angeschuldigte) ihre „verfahrensrechtliche Zustimmung“ zum Abschluss einer solchen Vereinbarung durch MH und den Staatsanwalt, wiesen dabei jedoch ausdrücklich darauf hin, dass sie damit weder ihre Schuld eingestehen noch auf ihr Recht verzichten würden, auf unschuldig zu plädieren.

21

Aus der Sachverhaltsdarstellung in der Strafvereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und MH ergibt sich, dass dieser Teil einer mit den fünf Angeschuldigten gebildeten kriminellen Vereinigung war. Alle Angeschuldigten werden in dieser Vereinbarung auf dieselbe Weise identifiziert, nämlich mit ihren Vornamen, ihrem Vatersnamen, ihrem Familiennamen und ihrer nationalen Identifikationsnummer. Der einzige Unterschied besteht insoweit darin, dass MH zusätzlich auch noch mit Geburtsdatum und Geburtsort, Anschrift, Staatsangehörigkeit, Volkszugehörigkeit, Familienstand und Stand des Strafregisters kenntlich gemacht wurde.

22

Gemäß den nationalen Verfahrensvorschriften wurde diese Vereinbarung dem vorlegenden Gericht, das befugt ist, Änderungen vorzunehmen, zur Genehmigung vorgelegt.

23

Insoweit fragt sich das vorlegende Gericht, ob es mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 vereinbar sei, dass die fünf Angeschuldigten, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung nicht geschlossen hätten und gegen die das ordentliche Strafverfahren fortgeführt werde, in der Vereinbarung klar und unmissverständlich als Mitglieder der in Rede stehenden kriminellen Vereinigung bezeichnet und mit ihrem Vornamen, ihrem Vatersnamen, ihrem Familiennamen und ihrer nationalen Identifikationsnummer identifiziert würden.

24

Es stellt zum einen fest, dass nach ständiger nationaler Rechtsprechung der Wortlaut der Strafvereinbarung vollständig dem Wortlaut der Anklageschrift entsprechen müsse, in der alle Angeschuldigten als Mittäter genannt würden. Außerdem könne die Nennung der Mittäter von wesentlicher Bedeutung für die Tatbestandsmäßigkeit der betreffenden strafbaren Handlung sein, da nach bulgarischem Recht für das Bestehen einer kriminellen Vereinigung die Beteiligung von mindestens drei Personen erforderlich sei.

25

Zum anderen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 es einem Gericht verbiete, auf einen Angeschuldigten in einer nicht die Frage seiner Schuld betreffenden Entscheidung so Bezug zu nehmen, als sei er schuldig. Es stellt sich die Frage, ob auf die fünf Angeschuldigten, gegen die das ordentliche Verfahren fortgeführt werde, so Bezug genommen werde, als seien sie schuldig, indem sie in der offiziellen gerichtlichen Entscheidung mit ihrem Vornamen, ihrem Vatersnamen, ihrem Familiennamen und ihrer nationalen Identifikationsnummer als Mittäter der in Rede stehenden Straftat genannt würden.

26

Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht eine nationale Rechtsprechung, die verlangt, dass im Wortlaut einer (im Rahmen eines Strafverfahrens geschlossenen) Strafvereinbarung als Täter der jeweiligen Straftat nicht nur der Angeschuldigte genannt wird, der sich schuldig bekannt und diese Vereinbarung geschlossen hat, sondern auch andere Angeschuldigte, seine Mittäter, die keine solche Vereinbarung geschlossen haben, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die das ordentliche Strafverfahren fortgeführt wird, die aber zugestimmt haben, dass der erstere Angeschuldigte die Strafvereinbarung schließt, mit Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit deren 16. Erwägungsgrund Satz 1 und ihrem 17. Erwägungsgrund in Einklang?

27

Mit Entscheidung vom 22. Juni 2018 hat der Präsident des Gerichtshofs dieser Rechtssache eine vorrangige Behandlung gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs gewährt.

Zur Vorlagefrage

28

Einleitend ist festzustellen, dass im Vorabentscheidungsersuchen zwar ausgeführt wird, dass die fünf Angeschuldigten ihre „verfahrensrechtliche Zustimmung“ zum Abschluss einer Vereinbarung zwischen MH und dem Staatsanwalt gegeben hätten, in der sich MH im Gegenzug für eine Strafmilderung schuldig bekenne, der Gerichtshof aber nicht gefragt worden ist, ob eine nationale Regelung, die gegebenenfalls die gerichtliche Genehmigung einer solchen Vereinbarung von der Zustimmung dieser Personen abhängig macht, mit dem Unionsrecht vereinbar sein könnte.

29

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er es verbietet, dass eine von einem nationalen Gericht zu genehmigende Vereinbarung, in der die beschuldigte Person sich im Gegenzug für eine Strafmilderung für schuldig bekennt, als Mittäter der betreffenden Straftat ausdrücklich nicht nur diese beschuldigte Person nennt, sondern auch andere beschuldigte Personen, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die ein gesondertes Strafverfahren geführt wird.

Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2016/343

30

Vorab ist zu prüfen, ob die Richtlinie 2016/343 unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren gegebenen anwendbar ist.

31

Erstens steht fest, dass diese Richtlinie in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist. Hierzu genügt die Feststellung, dass das vorlegende Gericht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung noch nicht genehmigt hat und eine etwaige Genehmigung somit zwangsläufig nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2016/343, d. h. nach dem 1. April 2018, erfolgen wird.

32

Zweitens ist die Richtlinie 2016/343 auch in persönlicher Hinsicht anwendbar. Nach ihrem Art. 2 gilt diese Richtlinie für natürliche Personen, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Sie gilt für alle Abschnitte des Strafverfahrens ab dem Zeitpunkt, zu dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, bis die Entscheidung über die endgültige Feststellung, ob diese Person die betreffende Straftat begangen hat, Rechtskraft erlangt hat.

33

Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass es sich bei den fünf Angeschuldigten im Ausgangsverfahren um beschuldigte Personen in einem Strafverfahren handelt und dass noch keine Entscheidung über die endgültige Feststellung ihrer Schuld in Bezug auf die betreffende Straftat ergangen ist.

34

Drittens ist diese Richtlinie in sachlicher Hinsicht anwendbar, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung in die Kategorie „nicht die Frage der Schuld betreffende gerichtliche Entscheidungen“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 fällt. Zum einen stellt nämlich – wie der Generalanwalt in den Nrn. 37 bis 42 seiner Schlussanträge dargelegt hat – eine solche Vereinbarung, die zwischen dem Staatsanwalt und der beschuldigten Person geschlossen wird, nach der Genehmigung durch einen Richter eine gerichtliche Entscheidung dar.

35

Zum anderen betrifft die im Ausgangsverfahren fragliche Vereinbarung nicht die Frage der Schuld der fünf Angeschuldigten. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die bloße Tatsache, dass diese Vereinbarung über die Schuld von MH entscheidet, die Einstufung der Entscheidung als in Bezug auf die fünf Angeschuldigten „nicht die Frage der Schuld betreffend“ nicht auszuschließen vermag. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, kann nämlich ein und dieselbe Vereinbarung eine Sachentscheidung für die Person darstellen, die sie geschlossen hat, und auf die darin daher so Bezug genommen werden kann, als sei sie schuldig, für die anderen beschuldigten Personen, die keine Vereinbarung geschlossen haben, aber nicht. Eine andere Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 hätte zur Folge, dass die fünf Angeschuldigten nicht mehr über die in dieser Bestimmung enthaltenen Garantien verfügten. Eine solche Auslegung liefe dem in ihrem neunten Erwägungsgrund genannten Ziel der Richtlinie, das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren zu stärken, zuwider.

Zu der in Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2016/343 angesprochenen Verpflichtung

36

Gemäß Art. 4 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2016/343 haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass, solange die Schuld eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde, u. a. in nicht die Frage der Schuld betreffenden gerichtlichen Entscheidungen nicht so auf die betreffende Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig.

37

Aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 geht hervor, dass diese Bestimmung die Beachtung der Unschuldsvermutung gewährleisten soll. Solche gerichtlichen Entscheidungen sollten daher, so heißt es dort, nicht den Eindruck vermitteln, dass die betreffende Person schuldig ist.

38

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2016/343, wie aus ihrem Art. 1 und ihrem neunten Erwägungsgrund hervorgeht, zum Gegenstand hat, gemeinsame Mindestvorschriften für Strafverfahren in Bezug auf bestimme Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festzulegen (Urteil vom 19. September 2018, Milev, C‑310/18 PPU, EU:C:2018:732, Rn. 45).

39

Diese Richtlinie soll somit das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege stärken, wie aus ihren Erwägungsgründen 4, 5 und 10 hervorgeht.

40

Obwohl Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 den Mitgliedstaaten beim Erlass der für die Zwecke dieser Bestimmung erforderlichen Maßnahmen einen Ermessensspielraum belässt, sollte, wie sich aus dem 48. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, das durch die Mitgliedstaaten gewährte Schutzniveau nie unter den – u. a. auf die Unschuldsvermutung bezogenen – Standards der Charta oder der EMRK liegen.

41

Insoweit ist festzustellen, dass die Unschuldsvermutung in Art. 48 der Charta verankert ist, der Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK entspricht, wie den Erläuterungen zur Charta zu entnehmen ist. Folglich ist Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK nach Art. 52 Abs. 3 der Charta bei der Auslegung ihres Art. 48 als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen (vgl. entsprechend in Bezug auf Art. 17 der Charta Urteil vom 21. Mai 2019, Kommission/Ungarn [Nießbrauchsrechte an landwirtschaftlichen Flächen], C‑235/17, EU:C:2019:432, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Mangels genauer Angaben in der Richtlinie 2016/343 und in der Rechtsprechung zu Art. 48 der Charta hinsichtlich der Frage, wie festzustellen ist, ob in einer gerichtlichen Entscheidung so auf eine Person Bezug genommen wird, als sei sie schuldig, ist es angezeigt, sich bei der Auslegung von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 Abs. 2 EMRK zu orientieren.

43

Insoweit hat der EGMR festgestellt, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung verletzt ist, wenn eine gerichtliche Entscheidung oder eine amtliche Erklärung über einen Angeklagten, ohne dass eine rechtskräftige Verurteilung vorläge, eine eindeutige Erklärung enthält, dass die Person die in Rede stehende Straftat begangen hat. In diesem Zusammenhang hat der EGMR die Bedeutung betont, die der Wortwahl der Justizbehörden sowie den besonderen Umständen, unter denen die Äußerung getätigt wurde, und der Art und dem Kontext des fraglichen Verfahrens zukommt (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR:20140227JUD001710310, § 63).

44

Der EGMR hat anerkannt, dass es in komplexen Strafverfahren mit mehreren Verdächtigen, die nicht in einem Verfahren gleichzeitig abgeurteilt werden können, für die Bewertung der Schuld der Angeklagten unerlässlich sein kann, dass das nationale Gericht auf die Beteiligung Dritter Bezug nimmt, gegen die später womöglich ein gesondertes Verfahren geführt wird. Er hat jedoch weiter ausgeführt, dass, wenn Tatsachen in Bezug auf die Beteiligung Dritter eingeführt werden müssen, das betreffende Gericht es vermeiden sollte, mehr Informationen zu geben als für die Bewertung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der in dem betreffenden Verfahren angeklagten Personen nötig. Zudem hat der EGMR betont, dass die Begründung der Gerichtsentscheidungen in einer Art und Weise zu formulieren ist, die eine mögliche vorzeitige Beurteilung der Schuld der betroffenen Dritten vermeidet, die die faire Prüfung der gegen sie in einem gesonderten Verfahren erhobenen Vorwürfe gefährden könnte (vgl. in diesem Sinne EGMR, 27. Februar 2014, Karaman/Deutschland, CE:ECHR:20140227JUD001710310, §§ 64 und 65; vgl. auch EGMR, 23. Februar 2016, Navalnyy und Ofitserov/Russland, CE:ECHR:2016:0223JUD004663213‚ § 99).

45

Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und der vom Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 91 seiner Schlussanträge getroffenen Feststellungen ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen, dass er es nicht verbietet, dass eine Vereinbarung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die von einem nationalen Gericht genehmigt werden muss, die Beteiligung anderer beschuldigter Personen als der Person, die die Vereinbarung geschlossen und damit ihre Schuld anerkannt hat, erwähnt, über die aber ein gesondertes Urteil ergeht, und diese identifiziert, sofern diese Angabe erstens für die Einordnung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die diese Vereinbarung geschlossen hat, erforderlich ist und zweitens diese Vereinbarung eindeutig darauf hinweist, dass gegen diese anderen Personen ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist.

46

Insoweit ist bei der Kontrolle der Beachtung der Unschuldsvermutung eine gerichtliche Entscheidung und ihre Begründung immer in ihrer Gesamtheit und im Licht der besonderen Umstände, unter denen sie erlassen worden ist, zu prüfen. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, verlöre jeder ausdrückliche Hinweis auf die fehlende Schuld der Mitangeklagten in einem Abschnitt einer gerichtlichen Entscheidung seinen Sinn, wenn andere Abschnitte dieser Entscheidung wie eine vorzeitige Feststellung ihrer Schuld verstanden werden könnten.

47

Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach dem nationalen Recht für die Bildung einer kriminellen Vereinigung die Beteiligung von mindestens drei Personen erforderlich sei. Aus der Vorlageentscheidung scheint somit, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, hervorzugehen, dass die Erwähnung der fünf Angeschuldigten als Mittäter der Straftat in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vereinbarung erforderlich war, um die Strafbarkeit von MH in Bezug auf seine Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung festzustellen.

48

Allerdings weist die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung, wie sie dem vorlegenden Gericht zur Genehmigung vorgelegt worden ist, offenbar nicht eindeutig darauf hin, dass gegen die fünf Angeschuldigten ein gesondertes Verfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Ohne eine solche Klarstellung könnte in dieser Vereinbarung entgegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 so auf diese Personen Bezug genommen worden sein, als seien sie schuldig, obwohl ihre Schuld noch nicht rechtsförmlich nachgewiesen wurde.

49

Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass das vorlegende Gericht nach nationalem Recht im Rahmen des Verfahrens zur Genehmigung die Möglichkeit hat, den Wortlaut dieser Vereinbarung zu ändern. Unter diesen Umständen verlangt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vereinbarung gegebenenfalls erst nach einer Änderung dahin genehmigt wird, dass eindeutig darauf hingewiesen wird, dass gegen die fünf Angeschuldigten ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist.

50

Unter diesen Umständen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 dahin auszulegen ist, dass er es nicht verbietet, dass eine Vereinbarung, in der die beschuldigte Person sich im Gegenzug für eine Strafmilderung schuldig bekennt, die von einem nationalen Gericht genehmigt werden muss, als Mittäter der betreffenden Straftat ausdrücklich nicht nur diese beschuldigte Person nennt, sondern auch andere beschuldigte Personen, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die ein gesondertes Strafverfahren geführt wird, sofern diese Angabe erstens für die Einordnung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die diese Vereinbarung geschlossen hat, erforderlich ist und zweitens diese Vereinbarung eindeutig darauf hinweist, dass gegen diese anderen Personen ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist.

Kosten

51

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafsachen ist dahin auszulegen, dass er es nicht verbietet, dass eine Vereinbarung, in der die beschuldigte Person sich im Gegenzug für eine Strafmilderung schuldig bekennt, die von einem nationalen Gericht genehmigt werden muss, als Mittäter der betreffenden Straftat ausdrücklich nicht nur diese beschuldigte Person nennt, sondern auch andere beschuldigte Personen, die sich nicht schuldig bekannt haben und gegen die ein gesondertes Strafverfahren geführt wird, sofern diese Angabe erstens für die Einordnung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Person, die diese Vereinbarung geschlossen hat, erforderlich ist und zweitens diese Vereinbarung eindeutig darauf hinweist, dass gegen diese anderen Personen ein gesondertes Strafverfahren geführt wird und ihre Schuld nicht rechtsförmlich nachgewiesen worden ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.