URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

29. Juli 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Visakodex der Gemeinschaft – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 5 – Für die Prüfung und Bescheidung eines Visumantrags zuständiger Mitgliedstaat – Art. 8 – Vertretungsvereinbarung – Art. 32 Abs. 3 – Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags – Im Fall einer Vertretungsvereinbarung für die Entscheidung über den Rechtsbehelf zuständiger Mitgliedstaat – Inhaber des Rechts auf Einlegung eines Rechtsbehelfs“

In der Rechtssache C‑680/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) mit Entscheidung vom 30. November 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Dezember 2017, in dem Verfahren

Sumanan Vethanayagam,

Sobitha Sumanan,

Kamalaranee Vethanayagam

gegen

Minister van Buitenlandse Zaken

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richterin C. Toader sowie der Richter A. Rosas und M. Safjan,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Dezember 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Vethanayagam, Frau Sumanan und Frau Vethanayagam, vertreten durch M. J. A. Leijen, advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil, T. Müller und A. Brabcová als Bevollmächtigte,

der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren, M. Wolff und P. Ngo als Bevollmächtigte,

der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, E. de Moustier und E. Armoët als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. De Luca, avvocato dello Stato,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

des Europäischen Parlaments, vertreten durch G. Corstens, R. van de Westelaken und O. Hrstková Šolcová als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Moro und S. Boelaert als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga, F. Wilman und G. Wils als Bevollmächtigte,

der Schweizer Regierung, vertreten durch E. Bichet als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. März 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 4 und Art. 32 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. 2009, L 243, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Visakodex).

2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Sumanan Vethanayagam, Frau Sobitha Sumanan und Frau Kamalaranee Vethanayagam auf der einen Seite und dem Minister van Buitenlandse Zaken (Minister für auswärtige Angelegenheiten, Niederlande, im Folgenden: niederländischer Außenminister) auf der anderen Seite über die Zurückweisung von Visumanträgen für einen kurzfristigen Aufenthalt von Herrn Vethanayagam und Frau Sumanan.

Rechtlicher Rahmen

Schengen-Assoziierungsabkommen zwischen der Union und der Schweiz

3

In den Erwägungsgründen 8 und 10 des Abkommens zwischen der Europäischen Union, der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (ABl. 2008, L 53, S. 52, im Folgenden: Schengen-Assoziierungsabkommen zwischen der Union und der Schweiz) heißt es:

„in der Überzeugung, dass die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Schweizerischen Eidgenossenschaft bei der Umsetzung, praktischen Anwendung und Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands organisiert werden muss,

in der Erwägung, dass die Schengener Zusammenarbeit auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte, wie sie insbesondere in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 gewährleistet sind, beruht“.

4

Art. 1 Abs. 2 des Schengen-Assoziierungsabkommens zwischen der Union und der Schweiz lautet:

„Dieses Übereinkommen begründet gegenseitige Rechte und Pflichten gemäß den in ihm vorgesehenen Verfahren.“

5

Art. 2 dieses Abkommens sieht vor:

„(1)   Die in Anhang A aufgeführten Bestimmungen des Schengen-Besitzstands, die für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (nachstehend ‚Mitgliedstaaten‘ genannt) gelten, werden von der Schweiz umgesetzt und angewendet.

(2)   Die in Anhang B aufgeführten Bestimmungen der Rechtsakte der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft werden, soweit sie entsprechende Bestimmungen des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (nachstehend ‚Schengener Durchführungsübereinkommen‘ genannt) ersetzen und/oder weiterentwickeln oder aufgrund des genannten Übereinkommens angenommen worden sind, von der Schweiz umgesetzt und angewendet.

(3)   Die Rechtsakte und Maßnahmen, die von der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft zur Änderung oder Ergänzung der in den Anhängen A und B genannten Bestimmungen angenommen werden, auf die die in diesem Abkommen vorgesehenen Verfahren Anwendung fanden, werden von der Schweiz, unbeschadet des Artikels 7, ebenfalls akzeptiert, umgesetzt und angewendet.“

Visakodex

6

Die Erwägungsgründe 4, 18, 28, 29 und 34 des Visakodex lauten:

„(4)

Die Mitgliedstaaten sollten im Hinblick auf die Visumerteilung in allen Drittländern, deren Staatsangehörige der Visumpflicht unterliegen, selbst vertreten sein oder sich vertreten lassen. Mitgliedstaaten, die in einem gegebenen Drittstaat oder in einem bestimmten Landesteil eines gegebenen Drittstaats über kein eigenes Konsulat verfügen, sollten den Abschluss von Vertretungsvereinbarungen anstreben, damit der Zugang zu Konsulaten für Visumantragsteller nicht mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden ist.

(18)

Die Schengen-Zusammenarbeit vor Ort ist für die einheitliche Anwendung der gemeinsamen Visumpolitik und eine angemessene Bewertung der Migrations- und/oder Sicherheitsrisiken von entscheidender Bedeutung. Aufgrund der unterschiedlichen örtlichen Gegebenheiten sollte die praktische Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften von den diplomatischen Missionen und konsularischen Vertretungen der Mitgliedstaaten an den einzelnen Standorten gemeinsam bewertet werden, damit für eine einheitliche Anwendung der Rechtsvorschriften gesorgt wird, um ‚Visa-Shopping‘ und eine Ungleichbehandlung der Visumantragsteller zu vermeiden.

(28)

Da das Ziel der Verordnung, nämlich die Festlegung der Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet …, auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden kann und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu verwirklichen ist, kann die Gemeinschaft im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Verordnung nicht über das für die Erreichung dieses Ziels erforderliche Maß hinaus.

(29)

Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.

(34)

Für die Schweiz stellt diese Verordnung eine Weiterentwicklung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands im Sinne des [Schengen-Assoziierungsabkommens zwischen der Union und der Schweiz] dar, die zu dem in Artikel 1 Buchstabe B des Beschlusses 1999/437/EG [des Rates vom 17. Mai 1999 zum Erlass bestimmter Durchführungsvorschriften zu dem Übereinkommen zwischen dem Rat der Europäischen Union und der Republik Island und dem Königreich Norwegen über die Assoziierung dieser beiden Staaten bei der Umsetzung, Anwendung und Entwicklung des Schengen-Besitzstands (ABl. 1999, L 176, S. 31)] in Verbindung mit Artikel 3 des Beschlusses 2008/146/EG des Rates [vom 28. Januar 2008] über die Unterzeichnung des genannten Abkommens [(ABl. 2008, L 53, S. 1)] genannten Bereich gehören.“

7

Art. 1 des Visakodex bestimmt:

„Mit dieser Verordnung werden die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt.“

8

In Art. 2 Nr. 2 dieses Kodex heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

2.

‚Visum‘ die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung im Hinblick auf

a)

die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen;

b)

die Durchreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen von Mitgliedstaaten;

…“

9

Art. 4 Abs. 1 des Kodex lautet:

„Anträge werden von den Konsulaten geprüft und beschieden.“

10

Art. 5 des Kodex sieht vor:

„(1)   Der für die Prüfung und Bescheidung eines Antrags auf ein einheitliches Visum zuständige Mitgliedstaat ist

a)

der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet das einzige Reiseziel bzw. die einzigen Reiseziele liegen;

(4)   Die Mitgliedstaaten arbeiten zusammen, um zu verhindern, dass ein Antrag nicht geprüft und beschieden werden kann, weil der nach den Absätzen 1 bis 3 zuständige Mitgliedstaat in dem Drittstaat, in dem der Antragsteller gemäß Artikel 6 das Visum beantragt, weder über ein Konsulat noch über eine Vertretung verfügt.“

11

Art. 6 („Territoriale Zuständigkeit der Konsulate“) Abs. 1 des Visakodex bestimmt:

„Der Antrag wird von dem Konsulat des zuständigen Mitgliedstaats geprüft und beschieden, in dessen Konsularbezirk der Antragsteller seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat.“

12

In Art. 8 dieses Kodex, der die Vertretungsvereinbarungen regelt, heißt es:

„(1)   Ein Mitgliedstaat kann sich bereit erklären, einen anderen nach Artikel 5 zuständigen Mitgliedstaat bei der im Namen dieses Mitgliedstaats erfolgenden Prüfung von Anträgen und der Erteilung von Visa zu vertreten. Ein Mitgliedstaat kann einen anderen Mitgliedstaat auch in beschränktem Umfang ausschließlich bei der Entgegennahme der Anträge und der Erfassung der biometrischen Identifikatoren vertreten.

(2)   Beabsichtigt das Konsulat des vertretenden Mitgliedstaats, einen Visumantrag abzulehnen, so übermittelt es den betreffenden Antrag den zuständigen Behörden des vertretenen Mitgliedstaats, damit diese innerhalb der in Artikel 23 Absätze 1, 2 bzw. 3 festgelegten Frist die endgültige Entscheidung über den Antrag treffen.

(4)   Der vertretende Mitgliedstaat und der vertretene Mitgliedstaat schließen eine bilaterale Vereinbarung, die folgende Elemente enthält:

a)

Es werden die Dauer bei einer befristeten Vertretung und die Verfahren für ihre Beendigung angegeben;

b)

es können, insbesondere wenn der vertretene Mitgliedstaat über ein Konsulat in dem betreffenden Drittstaat verfügt, die Bereitstellung von Räumlichkeiten und Personal und die Leistung von Zahlungen durch den vertretenen Mitgliedstaat geregelt werden;

c)

es kann bestimmt werden, dass Anträge von bestimmten Kategorien von Drittstaatsangehörigen von dem vertretenden Mitgliedstaat den zentralen Behörden des vertretenen Staates zur vorherigen Konsultation gemäß Artikel 22 zu übermitteln sind;

d)

abweichend von Absatz 2 kann das Konsulat des vertretenden Mitgliedstaats ermächtigt werden, nach Prüfung des Antrags die Visumerteilung zu verweigern.

(5)   Mitgliedstaaten, die über kein eigenes Konsulat in einem Drittstaat verfügen, streben den Abschluss von Vertretungsvereinbarungen mit Mitgliedstaaten an, die dort über Konsulate verfügen.

(6)   Um sicherzustellen, dass der Zugang zu einem Konsulat in einer spezifischen Region oder einem spezifischen Gebiet aufgrund schlechter Verkehrsinfrastrukturen oder weiter Entfernungen für Antragsteller nicht mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden ist, streben Mitgliedstaaten, die in der betreffenden Region oder in dem betreffenden Gebiet über kein eigenes Konsulat verfügen, den Abschluss von Vertretungsvereinbarungen mit Mitgliedstaaten an, die dort über Konsulate verfügen.

…“

13

Art. 32 Abs. 3 des Kodex bestimmt:

„Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, steht ein Rechtsmittel zu. Die Rechtsmittel sind gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen. Die Mitgliedstaaten informieren die Antragsteller über das im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels zu befolgende Verfahren nach Anhang VI.“

14

Art. 47 Abs. 1 des Kodex sieht vor:

„(1)   Die zentralen Behörden und die Konsulate der Mitgliedstaaten geben alle relevanten Informationen zur Beantragung eines Visums öffentlich bekannt, insbesondere:

h)

darüber, dass ablehnende Entscheidungen über Anträge dem Antragsteller mitzuteilen und zu begründen sind und dass dem Antragsteller in diesem Fall ein Rechtsmittel zur Verfügung steht, wobei über das bei der Einlegung des Rechtsmittels zu befolgende Verfahren einschließlich der zuständigen Behörde und der Rechtsmittelfristen zu informieren ist;

…“

Handbuch der Visa

15

In dem durch den Beschluss K(2010) 1620 endgültig der Kommission vom 19. März 2010 erstellten Handbuch für die Bearbeitung von Visumanträgen und die Änderung von bereits erteilten Visa heißt es, dass „[i]m Visakodex und in diesem Handbuch … der Begriff ‚Mitgliedstaat‘ die EU-Mitgliedstaaten, die den Schengen-Besitzstand vollständig anwenden, sowie die assoziierten Staaten [bezeichnet]“ und das ‚Gebiet der Mitgliedstaaten‘ … als Gebiet … dieser ‚Mitgliedstaaten‘ verstanden [wird]“.

Vertretungsvereinbarung zwischen den Niederlanden und der Schweiz

16

Die zum maßgeblichen Zeitpunkt anwendbare Vertretungsvereinbarung zwischen den Niederlanden und der Schweizerischen Eidgenossenschaft trat am 1. Oktober 2014 in Kraft. Sie sieht vor, dass die Schweiz die Niederlande für alle Arten von Schengen-Visa u. a. in Sri Lanka vertritt.

17

Gemäß Ziff. 2 dieser Vereinbarung umfasst die „Vertretung“ u. a. „die Verweigerung eines Visums in einschlägigen Fällen nach Art. 8 Abs. 4 Buchst. d des Visakodex und die Bearbeitung der Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht der vertretenden Partei (Art. 32 Abs. 3 des Visakodex)“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18

Herr Vethanayagam und Frau Sumanan, die die Staatsangehörigkeit von Sri Lanka besitzen, verheiratet und in Sri Lanka wohnhaft sind, beantragten am 16. August 2016 Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt in den Niederlanden, um Frau Vethanayagam, eine Schwester von Herrn Vethanayagam, die die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt und in Amsterdam (Niederlande) wohnhaft ist, zu besuchen. Diese Anträge wurden gemäß dem bilateralen Vertretungsabkommen zwischen dem Königreich der Niederlande und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über den Dienstleistungserbringer VFS Global beim Schweizer Konsulat in Colombo (Sri Lanka) gestellt.

19

Mit Entscheidungen vom 19. August 2016 lehnten die Schweizer Konsularbehörden, die als Vertreter des Königreichs der Niederlande handelten, die Visumanträge mit der Begründung ab, dass Herr Vethanayagam und Frau Sumanan nicht nachgewiesen hätten, dass sie über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des vorgesehenen Aufenthalts als auch zur Gewährleistung der Rückkehr in ihr Herkunftsland verfügten.

20

Herr Vethanayagam und Frau Sumanan legten gegen diese Entscheidungen einen Rechtsbehelf beim niederländischen Außenminister ein. Dieser verneinte mit Bescheiden vom 28. September 2016 seine Zuständigkeit für die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf.

21

Zudem wurde die von den Betroffenen bei den Schweizer Behörden gegen die Entscheidungen vom 19. August 2016 eingelegte Einsprache durch Verfügung des Staatssekretariats für Migration (Schweiz) vom 2. Dezember 2016 abgelehnt. Das Bundesverwaltungsgericht (Schweiz) wies das Gesuch der Antragsteller um unentgeltliche Rechtspflege vorläufig zurück und lehnte die Prüfung des gegen diese Entscheidung eingereichten Rechtsbehelfs mit der Begründung ab, dass der eingeforderte Kostenvorschuss nicht gezahlt worden sei.

22

Herr Vethanayagam und Frau Sumanan sowie Frau Vethanayagam als Bezugsperson reichten für die beiden Ersteren beim Visadienst (Visumstelle, Niederlande) einen neuen Antrag auf Erteilung von Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt ein. Dieser Antrag wurde mit Entscheidung des niederländischen Außenministers vom 18. Oktober 2016 abgelehnt.

23

Mit Entscheidung vom 23. November 2016 wies der niederländische Außenminister den Widerspruch der Kläger des Ausgangsverfahrens gegen die Entscheidung vom 18. Oktober 2016 als unzulässig ab.

24

Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben gegen die Entscheidungen vom 28. September 2016 und 23. November 2016 bei der Rechtbank den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht, Niederlande) eine Klage, die sie damit begründeten, dass für die Prüfung ihrer Widersprüche und ihrer Visumanträge das Königreich der Niederlande zuständig sei und die Schweizerische Eidgenossenschaft nur als Vertreterin des Königreichs der Niederlande gehandelt habe. Sie hielten sich für nach dem Unionsrecht berechtigt, die Visumanträge bei dem Land ihres Hauptreiseziels zu beantragen, und machen geltend, dass die vollständige Übertragung der Visumantragsverfahren auf einen anderen Staat gegen den Grundsatz des wirksamen Rechtsbehelfs nach Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoße.

25

Der niederländische Außenminister verneinte seine Zuständigkeit für die Entscheidung über die Visumanträge der Kläger des Ausgangsverfahrens.

26

Erstens sei die Zuständigkeit für die Prüfung der in Sri Lanka eingereichten Visumanträge nach Art. 8 Abs. 4 des Visakodex und der auf dieser Bestimmung gestützten Verbalnote auf die Schweizerische Eidgenossenschaft übertragen worden.

27

Zweitens hätten die Kläger des Ausgangsverfahrens, da die Schweizer Konsularbehörden in Colombo für die Visumverweigerung zuständig seien, ihr Rechtsmittel nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft als den Staat richten müssen, der ihre Anträge endgültig beschieden habe.

28

Drittens hätten die Anträge der Drittstaatsangehörigen mit Wohnsitz in Sri Lanka nicht unmittelbar bei der Visumstelle in den Niederlanden gestellt werden können. Da das Königreich der Niederlande in Sri Lanka durch die Schweizerische Eidgenossenschaft vertreten werde, seien nach Art. 6 Abs. 1 des Visakodex solche Anträge nämlich bei den Schweizer Konsularbehörden einzureichen.

29

Vor diesem Hintergrund hegt das vorlegende Gericht Zweifel an der Auslegung des Visakodex, soweit zunächst die Stellung der Bezugsperson in den Visumverfahren, sodann der Begriff „Vertretung“ und schließlich die Vereinbarkeit des Systems der konsularischen Vertretung mit dem Anspruch auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nach Art. 47 der Charta betroffen sind.

30

Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Utrecht (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Utrecht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dem entgegen, dass eine Bezugsperson als von dem Visumantrag der Kläger Betroffene die Möglichkeit hat, gegen die Verweigerung des Visums im eigenen Namen Widerspruch einzulegen und Klage zu erheben?

2.

Muss die in Art. 8 Abs. 4 des Visakodex geregelte Vertretung in dem Sinne aufgefasst werden, dass die Zuständigkeit (auch) bei dem vertretenen Staat verbleibt, oder dahin, dass die Zuständigkeit vollständig dem vertretenden Staat übertragen wird, so dass der vertretene Staat selbst nicht mehr zuständig ist?

3.

Falls nach Art. 8 Abs. 4 Buchst. d des Visakodex beide in der zweiten Frage angeführten Vertretungsformen möglich sind, welcher Mitgliedstaat ist dann als der Mitgliedstaat anzusehen, der im Sinne von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex endgültig entschieden hat?

4.

Steht eine Auslegung von Art. 8 Abs. 4 und Art. 32 Abs. 3 des Visakodex, nach der die Visumantragsteller den Rechtsbehelf gegen die Zurückweisung ihrer Anträge ausschließlich bei einer Behörde oder einem Gericht des vertretenden Mitgliedstaats einlegen können und nicht im vertretenen Mitgliedstaat, für den das Visum beantragt wird, im Einklang mit dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz im Sinne von Art. 47 der Charta? Kommt es für die Antwort auf diese Frage darauf an, ob der gebotene Rechtsbehelf gewährleistet, dass der Antragsteller das Recht hat, gehört zu werden, ob er das Recht hat, das Verfahren in einer Sprache eines der Mitgliedstaaten zu führen, ob die Verwaltungs- und Gerichtsgebühren für Widerspruchs- und Klageverfahren für den Antragsteller nicht unverhältnismäßig hoch sind und ob die Möglichkeit der Gewährung von Prozesskostenhilfe besteht? Ist es angesichts des in Visumangelegenheiten bestehenden Beurteilungsspielraums des Staates für die Antwort auf diese Frage relevant, ob ein Schweizer Gericht hinreichenden Einblick in die Situation in den Niederlanden hat, um effektiven Rechtsschutz bieten zu können?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

31

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen ist, dass er es der Bezugsperson erlaubt, gegen die Ablehnung eines Visumantrags im eigenen Namen einen Rechtsbehelf einzulegen.

Zur Zulässigkeit

32

Einleitend stellt die Europäische Kommission die Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage mit dem Argument in Abrede, dass die niederländischen Rechtsvorschriften auf die Rechtssache des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar seien, da im vorliegenden Fall die Schweizer, nicht aber die niederländischen Behörden die endgültige Entscheidung über den Visumantrag getroffen hätten.

33

Dem kann nicht gefolgt werden.

34

Zum einen ist festzustellen, dass die Festlegung des Staates, bei dem nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags einzulegen ist, eine der Fragen ist, die Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens sind, so dass die Antwort auf diese Frage nicht im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der ersten Vorlagefrage vorweggenommen werden kann.

35

Zum anderen ist es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Im vorliegenden Fall betrifft die erste Vorlagefrage die Auslegung des Unionsrechts, insbesondere die Frage, ob eine Bezugsperson im Rahmen des in Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorgesehenen Rechtsbehelfs die Ablehnung eines Visumantrags anfechten kann.

38

Darüber hinaus ist, abgesehen davon, dass das Vorabentscheidungsersuchen den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen hinreichend darstellt, um die Tragweite der Vorlagefrage bestimmen zu können, nicht ersichtlich, dass die begehrte Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünde oder dass das Problem hypothetischer Natur wäre.

39

Wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, hat nämlich Frau Vethanayagam, die Bezugsperson und Schwester bzw. Schwägerin der Visumantragsteller, die in den Niederlanden wohnhaft ist, wie die Antragsteller zu deren Gunsten gegen die Ablehnung des Antrags auf Erteilung der Visa durch die Visumstelle Klage erhoben.

40

Daher ist eine Antwort des Gerichtshofs zu der vom vorlegenden Gericht erbetenen Auslegung für dieses für den Erlass seines Urteils erforderlich.

41

Die erste Vorlagefrage ist somit zulässig.

Zu der Sache

42

Was die Auslegung von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (Urteil vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Als Erstes sieht, was den Wortlaut von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex betrifft, Satz 1 dieser Bestimmung vor, dass „Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, … ein Rechtsmittel [zusteht]“. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich damit, dass dem betreffenden Visumantragsteller ausdrücklich das Recht gewährt wird, gegen die Ablehnung eines Visumantrags einen Rechtsbehelf anzustrengen.

44

Der Anerkennung dieses Rechts steht nicht entgegen, dass nach Satz 2 von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den Mitgliedstaat zu führen ist, der „in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats“ endgültig entschieden hat.

45

Insoweit hat der Gerichtshof bereits befunden, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Verweis auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten die Entscheidung, welche Art von Rechtsbehelf in welcher konkreten Ausgestaltung den Visumantragstellern zur Verfügung stehen soll, den Mitgliedstaaten überlassen hat (Urteil vom 13. Dezember 2017, El Hassani, C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 25).

46

Daraus ergibt sich, dass sich der Verweis auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf die Regelung der Verfahrensmodalitäten beschränkt, während die Bestimmung desjenigen, dem das Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs zusteht, ausdrücklich in Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorgesehen ist.

47

Als Zweites wird diese Feststellung durch den Kontext bestätigt, in den sich Art. 32 Abs. 3 des Visakodex einfügt. Insoweit ergibt sich aus Art. 47 Abs. 1 Buchst. h dieses Kodex, dass die zentralen Behörden der Mitgliedstaaten und ihre Konsulate alle relevanten Informationen zur Beantragung eines Visums öffentlich bekannt geben, insbesondere darüber, dass ablehnende Entscheidungen über Visumanträge den Antragstellern mitzuteilen sind und dass diesen ein Rechtsbehelf zur Verfügung steht.

48

Darüber hinaus richtet sich, wie sich aus Anhang VI des Visakodex ergibt, das darin enthaltene Formblatt zur Unterrichtung über die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung eines Visums an den Antragsteller oder den Inhaber des Visums. Dieses Formblatt enthält auch eine Auflistung der Gründe, die nach Art. 32 Abs. 1 des Visakodex eine ablehnende Entscheidung rechtfertigen können. Daraus folgt, dass eine solche Entscheidung nur aus Gründen getroffen werden darf, die den Visumantragsteller betreffen.

49

Die zuständige Behörde hat nämlich nach Angabe auf dem von ihr auszufüllenden Formblatt, dass sie je nachdem „[den] Visumantrag geprüft“ oder „[das] Visum … geprüft“ hat, unter den elf Gründen, die sich aus dem Formular ergeben, den oder die Gründe aufzuführen, die die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung des Visums rechtfertigen, und zwar: Es wurde vom Antragsteller ein falsches Reisedokument vorgelegt. Der Zweck und die Bedingungen des beabsichtigten Aufenthalts wurden nicht nachgewiesen. Der Antragsteller hat den Nachweis nicht erbracht, dass er über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts für die Dauer des Aufenthalts verfügt. Der Antragsteller hat sich im gegenwärtigen Zeitraum von 180 Tagen bereits 90 Tage im Gebiet eines Mitgliedstaats auf der Grundlage eines einheitlichen Visums oder eines Visums mit räumlich beschränkter Gültigkeit aufgehalten. Der Antragsteller wurde im Schengener Informationssystem (SIS) zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben. Ein oder mehrere Mitgliedstaaten sind der Auffassung, dass der Antragsteller eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten darstellt. Der Antragsteller hat den Nachweis, dass er über eine angemessene und gültige Reisekrankenversicherung verfügt, nicht erbracht. Die vom Antragsteller vorgelegten Informationen über den Zweck und die Bedingungen des Aufenthalts waren nicht glaubhaft. Die Absicht des Antragstellers, vor Ablauf des Visums aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auszureisen, konnte nicht festgestellt werden. Es wurde nicht hinreichend belegt, dass es dem Antragsteller unmöglich war, im Voraus ein Visum zu beantragen, was die Beantragung eines Visums an der Grenze gerechtfertigt hätte. Die Aufhebung des Visums wurde vom Inhaber des Visums beantragt.

50

Aus dem Kontext, in den sich Art. 32 Abs. 3 des Visakodex einfügt, ergibt sich daher, dass ausschließlich der Visumantragsteller das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Ablehnung eines Visumantrags hat.

51

Als Drittes ergibt sich im Hinblick auf die mit dem Visakodex verfolgten Ziele aus Art. 1 dieses Kodex im Licht seiner Erwägungsgründe 18 und 28, dass dieser das Ziel hat, die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festzulegen, um für die einheitliche Anwendung der gemeinsamen Visumpolitik zu sorgen.

52

Insoweit wird gemäß Art. 2 Nr. 2 Buchst. a und b des Visakodex ein Visum als die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung im Hinblick auf die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen oder im Hinblick auf die Durchreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen von Mitgliedstaaten definiert. Aus einer solchen Genehmigung ergibt sich deshalb die Existenz spezieller Rechte des Visumantragstellers.

53

Soweit mit dem Rechtsbehelf nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex die Änderung der Entscheidung über die Ablehnung eines Visumantrags begehrt wird, hat der Visumantragsteller als Adressat dieser Entscheidung ein unmittelbares und besonderes Interesse, gegen diese einen Rechtsbehelf einzulegen.

54

Eine solche Feststellung steht nach der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht dem entgegen, dass die Mitgliedstaaten es bei der Entscheidung, welche Art von Rechtsbehelf in welcher konkreten Ausgestaltung den Visumantragstellern zur Verfügung stehen soll, der Bezugsperson gestatten, zusammen mit dem Visumantragsteller in das Rechtsbehelfsverfahren nach Art. 32 Abs. 3 des Visumkodex einzugreifen.

55

Jedoch kann die Bezugsperson angesichts der Ausführungen in Rn. 47 des vorliegenden Urteils nur als im Verhältnis zum Visumantragsteller nachrangige und akzessorische Partei, nicht aber unabhängig eingreifen.

56

Darüber hinaus steht Art. 32 Abs. 3 des Visakodex angesichts der vorstehenden Erwägungen auch nicht dem entgegen, dass der Adressat der Ablehnung eines Visumantrags einen Dritten zu seiner Vertretung vor dem Gericht beauftragt.

57

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen ist, dass er es der Bezugsperson nicht erlaubt, gegen die Ablehnung eines Visumantrags im eigenen Namen einen Rechtsbehelf einzulegen.

Zur zweiten und zur dritten Frage

58

Mit ihrer zweiten und ihrer dritten Frage, die zusammen zu beantworten sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 8 Abs. 4 Buchst. d und Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen sind, dass es, wenn eine bilaterale Vertretungsvereinbarung besteht, wonach die Konsularbehörden des vertretenden Mitgliedstaats zur Ablehnung von Visumanträgen befugt sind, den zuständigen Behörden dieses Staates obliegt, über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags zu entscheiden.

59

Zur Beantwortung dieser Fragen ist darauf hinzuweisen, dass Titel III des Visakodex die Verfahren und Voraussetzungen für die Visumerteilung festlegt.

60

Soweit diese Regeln sich auf die Mitgliedstaaten beziehen, betreffen sie, wie u. a. aus Art. 2 des Schengen-Assoziierungsabkommens zwischen der Union und der Schweiz im Licht des 34. Erwägungsgrundes des Visakodex hervorgeht, auch die Schweizerische Eidgenossenschaft.

61

Zunächst jedoch ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 des Visakodex, dass die Visumanträge grundsätzlich von den Konsulaten geprüft werden.

62

Sodann bestimmt, was den für die Prüfung und Bescheidung eines Antrags auf ein einheitliches Visum zuständigen Mitgliedstaat betrifft, Art. 5 Abs. 1 des Visakodex den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet das einzige Reiseziel bzw. die einzigen Reiseziele liegen, oder, falls die Reise verschiedene Reiseziele umfasst, den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet im Hinblick auf Dauer und Zweck des Aufenthalts das Hauptreiseziel bzw. die Hauptreiseziele liegen, oder auch, falls kein Hauptreiseziel bestimmt werden kann, den Mitgliedstaat, über dessen Außengrenzen der Antragsteller in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einzureisen beabsichtigt.

63

Darüber hinaus folgt hinsichtlich der territorialen Zuständigkeit der Konsulate aus Art. 6 Abs. 1 des Visakodex, dass die Visumanträge grundsätzlich beim Konsulat des zuständigen Mitgliedstaats gestellt werden müssen, in dessen Konsularbezirk der Antragsteller seinen rechtmäßigen Wohnsitz hat.

64

Jedoch ergibt sich aus Art. 8 Abs. 5 und 6 des Visakodex im Licht seines vierten Erwägungsgrundes, dass Mitgliedstaaten, die in einem gegebenen Drittstaat oder in einem bestimmten Landesteil eines gegebenen Drittstaats über kein eigenes Konsulat verfügen, den Abschluss von Vertretungsvereinbarungen anstreben sollen, damit der Zugang zu Konsulaten für Visumantragsteller nicht mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden ist.

65

Zu diesem Zweck sieht Art. 8 des Visakodex ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten untereinander bilaterale Vereinbarungen treffen können, durch die sich der eine Mitgliedstaat zur Vertretung des anderen im Rahmen von Entscheidungen im Bereich von Visumanträgen verpflichtet.

66

Schließlich sieht dieser Art. 8 im Hinblick auf den Vertretungsumfang unterschiedliche Situationen je nach der vorgesehenen Entscheidung über den Visumantrag sowie dem Wortlaut der Vertretungsvereinbarung vor.

67

Zum einen bestimmt Art. 8 Abs. 1 des Visakodex in dem Fall, dass dem Visumantrag stattgegeben werden soll, dass „[e]in Mitgliedstaat … sich bereit erklären [kann], einen anderen nach Artikel 5 zuständigen Mitgliedstaat bei der im Namen dieses Mitgliedstaats erfolgenden Prüfung von Anträgen und der Erteilung von Visa zu vertreten“, und zudem, dass „[e]in Mitgliedstaat … einen anderen Mitgliedstaat auch in beschränktem Umfang ausschließlich bei der Entgegennahme der Anträge und der Erfassung der biometrischen Identifikatoren vertreten [kann]“.

68

Demnach zieht Art. 8 Abs. 1 des Visakodex im Fall der Erteilung des Visums zwei Stufen der Vertretung in Betracht, nämlich eine erste Ebene, die die Prüfung und Erteilung des Visums umfasst, und eine zweite – engere – Ebene, die sich auf die Entgegennahme der Anträge beschränkt.

69

Zum anderen sieht Art. 8 des Visakodex in dem Fall, dass mit der beabsichtigten Entscheidung der Visumantrag abgelehnt werden soll, ebenfalls zwei unterschiedliche Stufen der Vertretung vor, wobei die eine als allgemeine Regel, die andere als besondere Regel gilt.

70

In Bezug auf die allgemeine Regel heißt es in Art. 8 Abs. 2 des Visakodex, dass das Konsulat des vertretenden Mitgliedstaats, wenn es beabsichtigt, einen Visumantrag abzulehnen, den betreffenden Antrag den zuständigen Behörden des vertretenen Mitgliedstaats übermittelt, damit diese eine endgültige Entscheidung über den Antrag treffen.

71

In Bezug auf die besondere Regel sieht Art. 8 Abs. 4 Buchst. d des Visakodex vor, dass das Konsulat des vertretenden Mitgliedstaats abweichend von der allgemeinen Regel durch ein bilaterales Vertretungsabkommen zwischen zwei Mitgliedstaaten ermächtigt werden kann, nach Prüfung des Antrags die Visumerteilung zu verweigern.

72

Mit anderen Worten legt der vertretende Mitgliedstaat in dem Fall, dass er der Auffassung ist, dass ein Antrag auf Erteilung eines Visums abzulehnen ist, diesen Antrag, sofern in der bilateralen Vertretungsvereinbarung nichts anderes bestimmt wird, den Behörden des vertretenen Mitgliedstaats vor. Diese haben die endgültige Entscheidung zu treffen. Dagegen obliegt es den Behörden des vertretenden Mitgliedstaats, den Antrag auf Erteilung eines Visums abzulehnen und daher die endgültige Entscheidung zu treffen, wenn dies in der bilateralen Vertretungsvereinbarung vorgesehen ist.

73

Da Art. 32 Abs. 3 des Visakodex vorsieht, dass die Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den Mitgliedstaat geführt werden, der endgültig über den Antrag entschieden hat, hängt daher die Festlegung des Mitgliedstaats, der für den Erlass der endgültigen Entscheidung zuständig ist und gegen den folglich der Rechtsbehelf zu führen ist, im Fall einer Vertretungsvereinbarung zwischen zwei Mitgliedstaaten vom Wortlaut dieser Vereinbarung ab.

74

Da im vorliegenden Fall das Hoheitsgebiet der Niederlande das einzige Reiseziel der Antragsteller des Ausgangsverfahrens war, hätten die Visumanträge, hätte keine Vertretungsvereinbarung nach den Art. 5 und 6 des Visakodex bestanden, beim Konsulat dieses Mitgliedstaats in Sri Lanka eingereicht werden müssen. Wie sich jedoch aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, haben die Niederlande, die in diesem Land kein eigenes Konsulat haben, am 1. Oktober 2014 eine Vertretungsvereinbarung mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft geschlossen. Aufgrund dieser Vereinbarung durften die Antragsteller des Ausgangsverfahrens ihre Anträge auf Erteilung von Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt in den Niederlanden beim Schweizer Konsulat in Colombo einreichen.

75

Diese Vereinbarung sieht jedoch vor, dass der Schweizerischen Eidgenossenschaft im Fall einer Vertretung der Niederlande u. a. „die Verweigerung eines Visums in einschlägigen Fällen nach Art. 8 Abs. 4 Buchst. d des Visakodex“ und „die Bearbeitung der Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht der vertretenden Partei“ obliegt.

76

Da es auf der Grundlage dieser Vereinbarung der Schweizerischen Eidgenossenschaft oblag, endgültig über die von den Antragstellern im Ausgangsverfahren eingereichten Anträge auf Erteilung von Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt in den Niederlanden zu entscheiden, war nach Art. 32 Abs. 3 des Visakodex die Schweiz auch für die Entscheidung über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags zuständig.

77

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 4 Buchst. d und Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen sind, dass es, wenn eine bilaterale Vertretungsvereinbarung besteht, wonach die Konsularbehörden des vertretenden Mitgliedstaats zur Ablehnung von Visumanträgen befugt sind, den zuständigen Behörden dieses Staates obliegt, über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags zu entscheiden.

Zur vierten Frage

78

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar ist, Art. 8 Abs. 4 Buchst. d in Verbindung mit Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den vertretenden Mitgliedstaat zu führen ist.

79

Insoweit ist festzustellen, dass, wie sich aus dem 29. Erwägungsgrund des Visakodex ergibt, die Auslegung seiner Bestimmungen einschließlich des Rechts auf einen Rechtsbehelf nach Art. 32 Abs. 3 dieses Kodex im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen erfolgen muss, die mit der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und der Charta anerkannt worden sind.

80

Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der Rechte aus dem Unionsrecht, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist nämlich ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der EMRK und nun auch in Art. 47 der Charta verankert (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 35).

81

Im besonderen Zusammenhang von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex hat jeder Mitgliedstaat die Wahrung der Grundrechte, u. a. den effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, zu gewährleisten, indem er die Art und die Ausgestaltung der Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung von Visumanträgen unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität bestimmt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2017, El Hassani, C‑403/16, EU:C:2017:960, Rn. 25 und 42).

82

Unabhängig davon, ob der Staat, gegen den der Rechtsbehelf gegen eine Ablehnung eines Visumantrags geführt wird, nach den Vorschriften der Vertretungsvereinbarung der vertretende Staat oder der vertretene Staat ist, ist daher die Beachtung der Grundrechte, namentlich das Recht der Visumantragsteller auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, sicherzustellen.

83

Insbesondere hat der Umstand, dass die endgültige Entscheidung über die Ablehnung eines Visums wie in der Rechtssache des Ausgangsverfahrens von dem vertretenden Staat getroffen wird, keine Auswirkungen auf die Pflicht zur Wahrung dieses Rechts.

84

Insoweit stellt der Visakodex, wie in seinem 34. Erwägungsgrund ausgeführt, eine Weiterentwicklung der Bestimmungen des Schengen-Besitzstands im Sinne des Schengen-Assoziierungsabkommens zwischen der Union und der Schweiz dar, die unter Art. 1 Buchst. B des Beschlusses 1999/437 in Verbindung mit Art. 3 des Beschlusses 2008/146 fallen.

85

Nach diesem Kodex kann die Schweizerische Eidgenossenschaft gültige Visa für den gesamten Schengen-Raum ausstellen.

86

Auch wenn die Schweizerische Eidgenossenschaft kein Mitgliedstaat der Union ist, ist sie jedoch nicht nur als Mitglied des Europarats seit dem 6. Mai 1963 Vertragspartei der EMRK, sondern vor allem ein assoziierter Staat nach dem Schengen-Assoziierungsabkommen zwischen der Union und der Schweiz, das in seinem zehnten Erwägungsgrund vorsieht, dass „die Schengener Zusammenarbeit auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte, wie sie insbesondere in der [EMRK] gewährleistet sind, beruht“.

87

Darüber hinaus begründet das Schengen-Assoziierungsabkommen zwischen der Union und der Schweiz, wie sich aus seinem Art. 1 Abs. 2 ergibt, gegenseitige Rechte und Pflichten, so dass die Schweizerische Eidgenossenschaft, wie in Art. 2 dieses Abkommens vorgesehen, sämtliche Bestimmungen des Schengen-Besitzstands nach den in diesem Abkommen vorgesehenen Verfahren umsetzen muss.

88

Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass es mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar ist, Art. 8 Abs. 4 Buchst. d in Verbindung mit Art. 32 Abs. 3 des Visakodex dahin auszulegen, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den vertretenden Mitgliedstaat zu führen ist.

Kosten

89

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 32 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es der Bezugsperson nicht erlaubt, gegen die Ablehnung eines Visumantrags im eigenen Namen einen Rechtsbehelf einzulegen.

 

2.

Art. 8 Abs. 4 Buchst. d und Art. 32 Abs. 3 der Verordnung Nr. 810/2009 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass es, wenn eine bilaterale Vertretungsvereinbarung besteht, wonach die Konsularbehörden des vertretenden Mitgliedstaats zur Ablehnung von Visumanträgen befugt sind, den zuständigen Behörden dieses Staates obliegt, über Rechtsbehelfe gegen die Ablehnung eines Visumantrags zu entscheiden.

 

3.

Es ist mit dem Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vereinbar, Art. 8 Abs. 4 Buchst. d in Verbindung mit Art. 32 Abs. 3 der Verordnung Nr. 810/2009 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass der Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Visumantrags gegen den vertretenden Mitgliedstaat zu führen ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.