URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
12. Juni 2019 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Richtlinie 2005/29/EG – Unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern – Begriff ‚aggressive Geschäftspraxis‘ – Verpflichtung des Verbrauchers, eine endgültige geschäftliche Entscheidung in Anwesenheit des Kuriers zu treffen, der ihm die allgemeinen Vertragsbedingungen aushändigt“
In der Rechtssache C‑628/17
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 14. September 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 8. November 2017, in dem Verfahren
Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów
gegen
Orange Polska S.A.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter C. Lycourgos, E. Juhász (Berichterstatter), M. Ilešič und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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der Orange Polska S.A., vertreten durch K. Szczepanowska-Kozłowska, radca prawny, und M. Gajdus, adwokat, |
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der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, S. Żyrek und E. Borawska-Kędzierska als Bevollmächtigte, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Ruiz García und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Januar 2019
folgendes
Urteil
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Das Vorabentscheidungsverfahren betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. j und der Art. 8 und 9 der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2005, L 149, S. 22). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Prezes Urzędu Ochrony Konkurencji i Konsumentów (Präsident des Amtes für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz, Polen) und der Orange Polska S.A. über die Einstufung einer Geschäftspraxis als „aggressive Geschäftspraxis“. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
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In den Erwägungsgründen 7, 16 und 17 der Richtlinie 2005/29 heißt es:
…
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Art. 2 („Definitionen“) dieser Richtlinie sieht vor: „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck …
…
…“ |
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Der in Kapitel 2 („Unlautere Geschäftspraktiken“) dieser Richtlinie enthaltene Art. 5 („Verbot unlauterer Geschäftspraktiken“) lautet: „(1) Unlautere Geschäftspraktiken sind verboten. (2) Eine Geschäftspraxis ist unlauter, wenn
(3) Geschäftspraktiken, die voraussichtlich in einer für den Gewerbetreibenden vernünftigerweise vorhersehbaren Art und Weise das wirtschaftliche Verhalten nur einer eindeutig identifizierbaren Gruppe von Verbrauchern wesentlich beeinflussen, die aufgrund von geistigen oder körperlichen Gebrechen, Alter oder Leichtgläubigkeit im Hinblick auf diese Praktiken oder die ihnen zugrunde liegenden Produkte besonders schutzbedürftig sind, werden aus der Perspektive eines durchschnittlichen Mitglieds dieser Gruppe beurteilt. Die übliche und rechtmäßige Werbepraxis, übertriebene Behauptungen oder nicht wörtlich zu nehmende Behauptungen aufzustellen, bleibt davon unberührt. (4) Unlautere Geschäftspraktiken sind insbesondere solche, die
(5) Anhang I enthält eine Liste jener Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter anzusehen sind. Diese Liste gilt einheitlich in allen Mitgliedstaaten und kann nur durch eine Änderung dieser Richtlinie abgeändert werden.“ |
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Abschnitt 2 („Aggressive Geschäftspraktiken“) des Kapitels 2 der Richtlinie 2005/29 enthält deren Art. 8 und 9. |
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Art. 8 dieser Richtlinie, der ebenfalls die Überschrift „Aggressive Geschäftspraktiken“ trägt, bestimmt: „Eine Geschäftspraxis gilt als aggressiv, wenn sie im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände die Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf das Produkt durch Belästigung, Nötigung, einschließlich der Anwendung körperlicher Gewalt, oder durch unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich erheblich beeinträchtigt und dieser dadurch tatsächlich oder voraussichtlich dazu veranlasst wird, eine geschäftliche Entscheidung zu treffen, die er andernfalls nicht getroffen hätte.“ |
8 |
Art. 9 („Belästigung, Nötigung und unzulässige Beeinflussung“) der Richtlinie 2005/29 lautet: „Bei der Feststellung, ob im Rahmen einer Geschäftspraxis die Mittel der Belästigung, der Nötigung, einschließlich der Anwendung körperlicher Gewalt, oder der unzulässigen Beeinflussung eingesetzt werden, ist abzustellen auf:
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9 |
In Anhang I der Richtlinie 2005/29 („Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter gelten“) werden in den Nrn. 24 bis 31 die „[a]ggressive[n] Geschäftspraktiken“ aufgelistet und definiert. |
Polnisches Recht
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In Art. 8 Abs. 1 und 2 der Ustawa o przeciwdziałaniu nieuczciwym praktykom rynkowym (Gesetz über die Bekämpfung unlauterer Marktpraktiken) vom 23. August 2007 (Dz. U. Nr. 171, Pos. 1206) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung heißt es: „1. Eine Marktpraxis gilt als aggressiv, wenn sie die Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf das Produkt durch unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich erheblich beeinträchtigt und dieser dadurch tatsächlich oder voraussichtlich dazu veranlasst wird, eine Entscheidung in Bezug auf einen Vertrag zu treffen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. 2. Als unzulässige Beeinflussung ist jede Form der Ausnutzung einer Machtposition gegenüber dem Verbraucher anzusehen, insbesondere die Anwendung oder Androhung physischen oder psychischen Zwangs in einer Weise, die geeignet ist, die Fähigkeit des Verbrauchers zu einer informierten Entscheidung in Bezug auf den Vertrag erheblich einzuschränken.“ |
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
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Das Unternehmen, dessen Rechtsnachfolgerin Orange Polska ist, schloss mit Verbrauchern Verträge über die Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen und änderte durch Zusatzvereinbarungen die Vertragsbedingungen entweder im Wege des Fernabsatzes über seinen Online-Shop oder im Telefonvertrieb. |
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Der Abschluss oder die Änderung des Vertrags über den Online-Shop fand in folgenden Schritten statt:
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Der Abschluss oder die Änderung eines Vertrags über den Telefonvertrieb verlief in ähnlicher Weise. Dabei fand ein Telefongespräch zwischen dem Verbraucher und dem Callcenter des Gewerbetreibenden statt. |
14 |
Mit Bescheid vom 30. Dezember 2010 stellte der Präsident des Amtes für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz fest, dass die fragliche Praxis eine die kollektiven Interessen der Verbraucher beeinträchtigende unlautere Marktpraxis im Sinne des Gesetzes über die Bekämpfung unlauterer Marktpraktiken in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung darstelle, und ordnete die Beendigung dieser Praxis an. Dem Bescheid zufolge waren die Verbraucher aufgrund der fraglichen Praxis verpflichtet, eine Entscheidung über den Vertrag und die Vertragsmuster in Anwesenheit des Kuriers zu treffen, ohne von deren Inhalt ungehindert Kenntnis nehmen zu können. |
15 |
Mit Urteil vom 27. Oktober 2014 hob der Sąd Okręgowy w Warszawie – Sąd Ochrony Konkurencji i Konsumentów (Bezirksgericht Warschau – Kammer für Wettbewerbs- und Verbraucherschutzsachen, Polen) diesen Bescheid auf. |
16 |
Der Präsident des Amtes für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz legte gegen dieses Urteil Berufung ein, die mit Urteil des Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) vom 4. März 2017 zurückgewiesen wurde. |
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Der Präsident des Amtes für Wettbewerbs- und Verbraucherschutz hat gegen das Berufungsurteil beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) ein Rechtsmittel eingelegt. |
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Da der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) der Ansicht ist, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits eine Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2005/29 erfordert, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist Art. 8 in Verbindung mit Art. 9 und Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen, dass die Anwendung eines Modells für den Abschluss von Fernabsatzverträgen über die Erbringung von Telekommunikationsdiensten, bei dem ein Verbraucher die endgültige geschäftliche Entscheidung in Anwesenheit des die Vertragsmuster [Allgemeinen Geschäftsbedingungen] aushändigenden Kuriers treffen muss, durch einen Gewerbetreibenden als eine aggressive Geschäftspraxis durch unzulässige Beeinflussung anzusehen ist:
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Zur Vorlagefrage
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Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 Buchst. j und die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen sind, dass die von einem Gewerbetreibenden vorgenommene Anwendung eines Modells zum Abschluss oder zur Änderung von Verträgen über die Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, bei der der Verbraucher die endgültige geschäftliche Entscheidung in Anwesenheit eines Kuriers treffen muss, der ihm das Vertragsmuster aushändigt, ohne dass der Verbraucher im Beisein dieses Kuriers vom Inhalt dieses Vertragsmusters ungehindert Kenntnis nehmen kann,
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Was erstens die Frage angeht, ob das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Modell zum Abschluss von Verträgen unter allen Umständen eine aggressive Geschäftspraxis darstellt, ist darauf hinzuweisen, dass das unter der Überschrift „Unlautere Geschäftspraktiken“ stehende Kapitel 2 der Richtlinie 2005/29 zwei Abschnitte umfasst, nämlich den Abschnitt 1, der irreführende Geschäftspraktiken betrifft, und Abschnitt 2, der aggressive Geschäftspraktiken betrifft. |
21 |
Der in Kapitel 2 dieser Richtlinie enthaltene Art. 5 verbietet in seinem Abs. 1 unlautere Geschäftspraktiken und legt in seinem Abs. 2 die Kriterien fest, anhand deren festgestellt werden kann, ob eine Geschäftspraxis unlauter ist. |
22 |
Nach Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2005/29 sind unlautere Geschäftspraktiken insbesondere solche, die „irreführend“ im Sinne ihrer Art. 6 und 7 oder „aggressiv“ im Sinne ihrer Art. 8 und 9 sind. |
23 |
Darüber hinaus heißt es in Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2005/29, dass ihr Anhang I eine Liste jener Geschäftspraktiken enthält, die unter allen Umständen als unlauter anzusehen sind, und dass die genannte Liste, die in allen Mitgliedstaaten gilt, nur durch eine Änderung dieser Richtlinie abgeändert werden kann. |
24 |
Insoweit wird im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/29 klargestellt, dass zwecks Schaffung größerer Rechtssicherheit nur die in Anhang I aufgeführten Praktiken unter allen Umständen als unlauter gelten, ohne dass eine Beurteilung des Einzelfalls anhand der Bestimmungen ihrer Art. 5 bis 9 vorgenommen werden müsste. |
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Da Anhang I der Richtlinie 2005/29 eine vollständige und abschließende Liste darstellt, kann die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Geschäftspraxis nur dann als eine unter allen Umständen aggressive Geschäftspraxis im Sinne dieser Richtlinie eingestuft werden, wenn sie einem der in den Nrn. 24 bis 31 dieses Anhangs aufgeführten Fälle entspricht. |
26 |
Bereits anhand des Wortlauts der Nrn. 24 bis 31 dieses Anhangs lässt sich feststellen, dass es an einer solchen Entsprechung fehlt, die im Übrigen im Ausgangsverfahren auch nicht behauptet worden ist. |
27 |
Somit ist im Ergebnis festzustellen, dass die von einem Gewerbetreibenden vorgenommene Anwendung eines Modells zum Abschluss von Verträgen über die Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen, bei der der Verbraucher die endgültige geschäftliche Entscheidung in Anwesenheit eines Kuriers treffen muss, der ihm das Vertragsmuster aushändigt, ohne dass der Verbraucher im Beisein dieses Kuriers vom Inhalt dieses Vertragsmusters ungehindert Kenntnis nehmen kann, keine Praxis darstellt, die als unter allen Umständen aggressive Geschäftspraxis eingestuft werden kann. |
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Was zweitens die Frage angeht, ob das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Modell zum Abschluss von Verträgen unter den im zweiten und im dritten Gedankenstrich der Vorlagefrage genannten Umständen eine aggressive Geschäftspraxis darstellt, geht aus Art. 8 der Richtlinie 2005/29 hervor, dass eine Geschäftspraxis dann als aggressiv gilt, wenn sie die Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf das Produkt durch Belästigung, Nötigung, einschließlich der Anwendung körperlicher Gewalt, oder durch unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich erheblich beeinträchtigt und dieser dadurch tatsächlich oder voraussichtlich dazu veranlasst wird, eine geschäftliche Entscheidung zu treffen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. |
29 |
Art. 9 dieser Richtlinie nennt eine Reihe von Gesichtspunkten, auf die bei der Feststellung, ob im Rahmen einer Geschäftspraxis die Mittel der Belästigung, der Nötigung oder der unzulässigen Beeinflussung eingesetzt werden, abzustellen ist. |
30 |
Nach dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/29 sollten zudem bei ihrer Anwendung die Umstände des Einzelfalls umfassend gewürdigt werden, was in Art. 8 dieser Richtlinie seinen Ausdruck in der Verpflichtung findet, alle Umstände des Verhaltens des Gewerbetreibenden im konkreten Fall zu berücksichtigen. Ferner ist der Begriff des Verbrauchers für die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2005/29 von entscheidender Bedeutung und nimmt die Richtlinie nach ihrem 18. Erwägungsgrund den Durchschnittsverbraucher, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist, unter Berücksichtigung sozialer, kultureller und sprachlicher Faktoren als Maßstab (Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 51 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). |
31 |
Folglich kann eine Geschäftspraxis erst dann als aggressiv im Sinne der Richtlinie 2005/29 eingestuft werden, wenn ihre Bestandteile mittels einer Würdigung anhand der in den Art. 8 und 9 dieser Richtlinie genannten Kriterien konkret und einzelfallbezogen beurteilt worden sind. |
32 |
Insoweit ist im vorliegenden Fall zum einen festzustellen, dass das Vorabentscheidungsersuchen von den in Art. 8 der Richtlinie 2005/29 genannten Mitteln nur die unzulässige Beeinflussung erwähnt. |
33 |
Der in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2005/29 definierte Begriff „unzulässige Beeinflussung“ umfasst die Ausnutzung einer Machtposition gegenüber dem Verbraucher zur Ausübung von Druck, auch ohne die Anwendung oder Androhung von körperlicher Gewalt, so dass dessen Fähigkeit zu einer informierten Entscheidung wesentlich eingeschränkt ist. Wie der Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, handelt es sich bei einer unzulässigen Beeinflussung nicht zwangsläufig um eine rechtswidrige Beeinflussung, sondern um eine Beeinflussung, durch die – ungeachtet ihrer Rechtmäßigkeit – aktiv durch Ausübung von Druck die Konditionierung des Willens des Verbrauchers erzwungen wird. |
34 |
Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 der Richtlinie 2005/29 den Begriff „aggressive Geschäftspraxis“ insbesondere dadurch definiert, dass sie die Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf ein Produkt tatsächlich oder voraussichtlich erheblich beeinträchtigt. Daraus folgt, dass die Inanspruchnahme eines Dienstes oder einer Ware eine freie Entscheidung des Verbrauchers darstellen muss. Dies setzt insbesondere voraus, dass der Gewerbetreibende den Verbraucher klar und angemessen aufklärt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 45). |
35 |
Die Informationen, die ein Verbraucher vor Abschluss eines Vertrags über dessen Bedingungen und die Folgen des Vertragsschlusses erhalten hat, sind für ihn von grundlegender Bedeutung (Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
36 |
Zu berücksichtigen ist außerdem, dass mit der Richtlinie 2005/29 u. a. das Ziel verfolgt wird, ein hohes Niveau für den Schutz der Verbraucher vor unlauteren Geschäftspraktiken zu gewährleisten, und dieses Ziel auf dem Umstand beruht, dass sich ein Verbraucher gegenüber einem Gewerbetreibenden, insbesondere hinsichtlich des Informationsniveaus, in einer unterlegenen Position befindet, und dies erst recht in einem so technischen Bereich wie dem der Telekommunikationsdienstleistungen, bei dem sich nicht abstreiten lässt, dass bei der Information und den technischen Kompetenzen ein großes Ungleichgewicht zwischen den Parteien herrscht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 54). |
37 |
Zwar ist es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts zu beurteilen, welcher Art die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Geschäftspraxis ist, doch kann der Gerichtshof ihm auf der Grundlage der Angaben im Vorabentscheidungsersuchen Anhaltspunkte liefern, die für die Einstufung dieser Praxis nützlich sein können. |
38 |
Was zunächst die im zweiten Gedankenstrich der Vorlagefrage angesprochene Frage betrifft, ob eine Geschäftspraxis wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, bei der der Abschluss oder die Änderung des Vertrags beim Besuch des Kuriers erfolgt, allein deshalb eine aggressive Praxis darstellt, weil der Verbraucher nicht vorab und individuell sämtliche Vertragsmuster erhalten hat, ist Folgendes zu bemerken. |
39 |
Aus der Sachverhaltsdarstellung in der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die Verbraucher im Rahmen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschäftspraxis auf der Website des Gewerbetreibenden Zugang zu den verfügbaren Angeboten und zu den Vertragsmustern hatten und beim Telefonvertrieb auch das Telefongespräch zwischen dem betreffenden Verbraucher und dem Callcenter des Gewerbetreibenden die Erlangung dieser Informationen ermöglichte. |
40 |
Soweit der Verbraucher vor dem Besuch des Kuriers die Möglichkeit hatte, vom Inhalt der auf der Website des Gewerbetreibenden verfügbaren Vertragsmuster Kenntnis zu nehmen, wurde er somit in die Lage versetzt, seine Entscheidung in Bezug auf den Vertrag frei zu treffen. Daher kann der Umstand, dass der Verbraucher die endgültige geschäftliche Entscheidung in Anwesenheit eines Kuriers zu treffen hat, ohne dass ihm sämtliche Vertragsmuster vorab zugesandt worden sind, nicht als aggressive Praxis angesehen werden. |
41 |
Insoweit obliegt es dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob der Verbraucher eine informierte Entscheidung treffen konnte, indem es sich vergewissert, ob dieser tatsächlich die Gelegenheit hatte, sich vor dem Besuch des Kuriers – entweder anhand der auf der Website des Gewerbetreibenden verfügbaren Informationen oder auf irgendeinem anderen Wege – Zugang zum Inhalt der verschiedenen Vertragsmuster zu verschaffen. |
42 |
Insoweit sind im Einklang mit den in Rn. 30 des vorliegenden Urteils dargestellten Grundsätzen die jeweiligen Besonderheiten der einzelnen Vertriebskanäle des Gewerbetreibenden zu berücksichtigen. Insbesondere ist – worauf der Generalanwalt in Nr. 62 seiner Schlussanträge hingewiesen hat – beim Telefonvertrieb nicht sicher, dass die Qualität der Informationen, die ein Verbraucher während eines Telefongesprächs erhalten hatte, mit der von Informationen gleichgestellt werden kann, die im Internet verfügbar sind. Daher muss man sich vergewissern, dass die Informationen, die einem Verbraucher, der von diesem Vertriebskanal Gebrauch gemacht hat, zugänglich waren, geeignet sind, diesem eine freie Wahl zu gewährleisten. |
43 |
Allerdings ist hinzuzufügen, dass der bloße Umstand, dass der Verbraucher nicht tatsächlich Zugang zu den betreffenden Informationen hatte, für sich genommen nicht dazu führen kann, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Modell des Vertragsschlusses als aggressive Praxis einzustufen wäre. Denn die Feststellung des Vorliegens einer solchen Praxis erfordert zusätzlich die Feststellung eines Verhaltens des Gewerbetreibenden, das als unzulässige Beeinflussung im Sinne von Rn. 33 des vorliegenden Urteils angesehen werden kann. |
44 |
Daher stellt ein Modell zum Abschluss oder zur Änderung von Verträgen beim Besuch des Kuriers wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht allein deshalb eine aggressive Geschäftspraxis dar, weil dem Verbraucher nicht vorab und individuell, namentlich per E‑Mail oder an seine Wohnanschrift, sämtliche Vertragsmuster zugesandt worden sind. |
45 |
Was sodann die im dritten Gedankenstrich der Vorlagefrage genannten Umstände angeht, ist festzustellen, dass, sofern der zum Abschluss oder zur Änderung des Vertrags führende Prozess wie im vorliegenden Fall vom vorlegenden Gericht beschrieben abläuft, was einschließt, dass der Verbraucher tatsächlich in die Lage versetzt wurde, von den Vertragsmustern Kenntnis zu nehmen, der bloße Umstand, dass der Verbraucher vom Kurier aufgefordert wird, seine endgültige geschäftliche Entscheidung zu treffen, ohne über die ihm angemessen erscheinende Zeit zu verfügen, um die Dokumente zu prüfen, die ihm der Kurier gebracht hat, keine aggressive Geschäftspraxis darstellen kann. |
46 |
Allerdings können bestimmte zusätzliche Praktiken, wenn sie der Gewerbetreibende oder sein Kurier im Rahmen des Verfahrens zum Abschluss oder zur Änderung der betreffenden Verträge an den Tag legen und mit ihnen die Wahl des Verbrauchers eingeschränkt werden soll, dazu führen, dass eine Geschäftspraxis als aggressiv angesehen wird, sofern es sich um Verhaltensweisen handelt, die sich dahin auswirken, dass Druck auf den Verbraucher in einer Weise ausgeübt wird, die dessen Entscheidungsfreiheit erheblich beeinträchtigt. |
47 |
So kann es eine aggressive Praxis darstellen, wenn der Kurier darauf besteht, dass es erforderlich sei, den Vertrag oder die Zusatzvereinbarung, die er dem Verbraucher aushändigt, zu unterschreiben, da ein solches Verhalten geeignet ist, den Verbraucher zu verunsichern und ihn so daran zu hindern, eine wohlüberlegte geschäftliche Entscheidung zu treffen. |
48 |
Als ein derartiges Verhalten kann beispielsweise die Äußerung angesehen werden, jede Verzögerung bei der Unterzeichnung des Vertrags oder der Zusatzvereinbarung würde bedeuten, dass der Vertrag oder die Zusatzvereinbarung später nur zu ungünstigeren Bedingungen geschlossen werden könne oder dass der Verbraucher Gefahr laufe, Vertragsstrafen zahlen zu müssen, oder im Fall einer Vertragsänderung damit rechnen müsse, dass der Gewerbetreibende die Erbringung der Leistung aussetze. Als ein derartiges Verhalten könnte es ebenfalls angesehen werden, wenn der Kurier dem Verbraucher mitteilt, dass er bei fehlender oder verspäteter Unterzeichnung des Vertrags oder der Zusatzvereinbarung, den bzw. die er diesem ausgehändigt habe, durch seinen Arbeitgeber negativ beurteilt werden könnte. |
49 |
In Anbetracht dessen ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. j und die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen sind, dass die von einem Gewerbetreibenden vorgenommene Anwendung eines Modells zum Abschluss oder zur Änderung von Verträgen über die Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, bei der der Verbraucher die endgültige geschäftliche Entscheidung in Anwesenheit eines Kuriers treffen muss, der ihm das Vertragsmuster aushändigt, ohne dass der Verbraucher im Beisein dieses Kuriers vom Inhalt dieses Vertragsmusters ungehindert Kenntnis nehmen kann,
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Kosten
50 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt: |
Art. 2 Buchst. j und die Art. 8 und 9 der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates sind dahin auszulegen, dass die von einem Gewerbetreibenden vorgenommene Anwendung eines Modells zum Abschluss oder zur Änderung von Verträgen über die Erbringung von Telekommunikationsdienstleistungen wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, bei der der Verbraucher die endgültige geschäftliche Entscheidung in Anwesenheit eines Kuriers treffen muss, der ihm das Vertragsmuster aushändigt, ohne dass der Verbraucher im Beisein dieses Kuriers vom Inhalt dieses Vertragsmusters ungehindert Kenntnis nehmen kann, |
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Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.