URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

19. Dezember 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Beschleunigtes Verfahren – Institutionelles Recht – Bürger der Europäischen Union, der ins Europäische Parlament gewählt wurde, als er sich im Rahmen eines Strafverfahrens in Untersuchungshaft befand – Art. 14 EUV – Begriff ‚Mitglied des Europäischen Parlaments‘ – Art. 343 AEUV – Für die Erfüllung der Aufgabe der Union erforderliche Befreiungen – Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union – Art. 9 – Befreiungen, die den Mitgliedern des Europäischen Parlaments zugutekommen – Immunität während der Reise – Immunitäten während der Sitzungsperiode – Persönlicher, zeitlicher und sachlicher Anwendungsbereich dieser verschiedenen Immunitäten – Aufhebung der Immunität durch das Europäische Parlament – Antrag auf Aufhebung der Immunität durch ein nationales Gericht – Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments – Art. 5 – Mandat – Art. 8 – Wahlverfahren – Art. 12 – Prüfung der Befugnisse der Mitglieder des Europäischen Parlaments nach der amtlichen Bekanntgabe der Wahlergebnisse – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 39 Abs. 2 – Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl – Passives Wahlrecht“

In der Rechtssache C‑502/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 1. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Strafverfahren gegen

Oriol Junqueras Vies,

Beteiligte:

Ministerio Fiscal,

Abogacía del Estado,

Partido político VOX,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis, der Richter E. Juhász, J. Malenovský (Berichterstatter) und L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader, der Richter N. Piçarra, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Oktober 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Junqueras Vies, vertreten durch A. Van den Eynde Adroer, abogado,

des Ministerio Fiscal, vertreten durch F. Cadena Serrano, C. Martinez-Pereda, J. Moreno Verdejo und J. Zaragoza Aguado,

des Partido político VOX, vertreten durch M. Castro Fuertes, abogada, im Beistand von M. Hidalgo López, procuradora,

der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta und A. Rubio González als Bevollmächtigte,

des Europäischen Parlaments, vertreten durch C. Burgos, F. Drexler und N. Görlitz als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Erlbacher und I. Martínez del Peral als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. November 2019

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (ABl. 2012, C 326, S. 266, im Folgenden: Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer von Herrn Oriol Junqueras Vies – neben einem Strafverfahren gegen ihn – eingeleiteten Beschwerde gegen einen Beschluss des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien), das sich weigerte, nach der amtlichen Bekanntgabe der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament vom 26. Mai 2019, die seit November 2017 gegen ihn verhängte Untersuchungshaft aufzuheben, um ihm zu ermöglichen, eine Formalität zu erledigen, von der nach spanischem Recht der Erwerb der Eigenschaft als Mitglied dieses Parlaments abhängt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union

3

Kapitel III („Mitglieder des Europäischen Parlaments“) des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union enthält u. a. Art. 9, in dem es heißt:

„Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

a)

steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

b)

können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.“

Akt von 1976

4

Der Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments im Anhang zum Beschluss 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976 (ABl. 1976, L 278, S. 1) wurde zuletzt durch den Beschluss 2002/772/EG, Euratom des Rates vom 25. Juni 2002 und 23. September 2002 (ABl. 2002, L 283, S. 1) geändert (im Folgenden: Akt von 1976).

5

Art. 1 Abs. 3 des Akts von 1976 sieht vor, dass die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments allgemein, unmittelbar, frei und geheim erfolgt.

6

In Art. 5 dieses Akts heißt es:

„(1)   Der Fünfjahreszeitraum, für den die Mitglieder des Europäischen Parlaments gewählt werden, beginnt mit der Eröffnung der ersten Sitzung nach jeder Wahl.

(2)   Das Mandat eines Mitglieds des Europäischen Parlaments beginnt und endet zur gleichen Zeit wie der in Absatz 1 genannte Zeitraum.“

7

Art. 6 Abs. 2 dieses Akts sieht vor:

„Die Mitglieder des Europäischen Parlaments genießen die Vorrechte und Befreiungen, die nach dem [Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union] für sie gelten.“

8

Art. 8 Abs. 1 dieses Akts bestimmt:

„Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Akts bestimmt sich das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften.“

9

In Art. 11 Abs. 3 und 4 des Akts von 1976 heißt es:

„(3)   Unbeschadet des Artikels 229 [AEUV] tritt das Europäische Parlament, ohne dass es einer Einberufung bedarf, am ersten Dienstag nach Ablauf eines Monats ab dem Ende des Zeitraums, in dem die Wahl stattgefunden hat, zusammen.

(4)   Die Befugnisse des scheidenden Europäischen Parlaments enden mit der ersten Sitzung des neuen Europäischen Parlaments.“

10

Art. 12 dieses Akts sieht vor:

„Das Europäische Parlament prüft die Mandate seiner Mitglieder. Zu diesem Zweck nimmt [es] die von den Mitgliedstaaten amtlich bekannt gegebenen Wahlergebnisse zur Kenntnis und befindet über die Anfechtungen, die gegebenenfalls auf Grund der Vorschriften dieses Akts – mit Ausnahme der innerstaatlichen Vorschriften, auf die darin verwiesen wird – vorgebracht werden könnten.“

Spanisches Recht

Spanische Verfassung

11

In Art. 71 der spanischen Verfassung heißt es:

„(1)   Die Abgeordneten und Senatoren genießen Unverletzlichkeit hinsichtlich der in Ausübung ihres Mandats geäußerten Meinungen.

(2)   Ebenso genießen die Abgeordneten und Senatoren während ihrer Mandatszeit Immunität und dürfen nur bei Ergreifung auf frischer Tat festgenommen werden. Sie dürfen nur mit vorheriger Erlaubnis der betreffenden Kammer angeklagt oder gerichtlich verfolgt werden.

(3)   Für Strafverfahren gegen Abgeordnete und Senatoren ist die Strafkammer des Tribunal Supremo [Oberster Gerichtshof] zuständig.

…“

Wahlgesetz

12

Die Ley orgánica 5/1985 del Régimen Electoral General (Gesetz 5/1985 über die allgemeine Regelung für Wahlen) vom 19. Juni 1985 (BOE Nr. 147 vom 20. Juni 1985, S. 19110) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Wahlgesetz) bestimmt in Art. 224:

„(1)   Die Junta Electoral Central [(Zentrale Wahlkommission, Spanien)] nimmt bis spätestens zum zwanzigsten Tag nach den Wahlen die Auszählung aller Stimmen auf nationaler Ebene vor, verteilt die Sitze auf die Bewerber und gibt die Gewählten bekannt.

(2)   Innerhalb von fünf Tagen nach ihrer Bekanntgabe müssen die gewählten Kandidaten vor der [Zentralen Wahlkommission] einen Eid oder ein Gelöbnis auf die Verfassung leisten. Nach Ablauf dieser Frist erklärt die [Zentrale Wahlkommission] die Sitze der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die sich der Verfassung nicht unterworfen haben, für vakant und setzt alle ihnen aufgrund ihres Amtes etwa zustehenden Vorrechte aus, bis eine entsprechende Erklärung abgegeben wurde.

…“

Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer

13

Das Reglamento del Congreso de los Diputados (Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer) vom 10. Februar 1982 (BOE Nr. 55 vom 5. März 1982, S. 5765) sieht in seinem Art. 20 vor:

„(1)   Der Abgeordnete, der für gewählt erklärt wurde, erwirbt die volle Eigenschaft als Abgeordneter durch die gleichzeitige Erfüllung folgender Voraussetzungen:

1.

Vorlage des von dem entsprechenden Organ der Wahlbehörde ausgestellten Beglaubigungsschreibens;

2.

Ausfüllen seiner Erklärung über Tätigkeiten gemäß den Vorschriften im [Wahlgesetz];

3.

Leistung des Eides oder des Gelöbnisses, die Verfassung zu achten, ab der ersten Plenarsitzung, an dem er teilnimmt.

(2)   Die Rechte und Befugnisse werden ab dem Zeitpunkt wirksam, ab dem der Abgeordnete für gewählt erklärt wird. Wenn allerdings drei Plenarsitzungen abgehalten wurden, ohne dass der Abgeordnete diese Eigenschaft gemäß dem vorherigen Absatz erworben hat, genießt er nicht diese Rechte und Befugnisse, bis dieser Erwerb erfolgt.“

Strafprozessordnung

14

In Art. 384bis der Ley de Enjuiciamiento Criminal (Strafprozessordnung) in ihrer auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung heißt es:

„Ist die Entscheidung über die Strafverfolgung ergangen und die Untersuchungshaft wegen eines von einer Person, die bewaffneten Banden oder Terroristen oder Rebellen angehört oder mit ihnen verbunden ist, begangenen Delikts angeordnet worden, wird die Ausübung eines öffentlichen Amtes oder einer öffentlichen Aufgabe, das oder die die verfolgte Person wahrnimmt, für die Dauer der Inhaftierung automatisch ausgesetzt.“

15

Art. 503 der Strafprozessordnung sieht in Abs. 1 vor:

„(1)   Die Untersuchungshaft darf nur angeordnet werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

1.

Eine oder mehrere Tatsachen weisen Merkmale einer Straftat auf, die mit einer Höchststrafe von zwei oder mehr Jahren Freiheitsentzug bedroht ist oder mit Freiheitsentzug von geringerer Dauer, wenn die Person, gegen die ermittelt wird oder die angeklagt wird, wegen vorsätzlich begangener Straftaten verurteilt wurde, die nicht im Strafregister gelöscht wurden und nicht gelöscht werden können.

2.

Es gibt hinreichende Gründe für die Annahme, dass die Person, in Bezug auf die der Freiheitsentzug angeordnet werden soll, für die Tat strafrechtlich verantwortlich ist.

3.

Mit der Untersuchungshaft wird eines der folgenden Ziele verfolgt:

a)

Gewährleistung der Anwesenheit der Person, gegen die ermittelt wird oder die angeklagt wird, wenn bei vernünftiger Betrachtung Fluchtgefahr besteht.

…“

16

Die Art. 750 bis 754 der Strafprozessordnung haben folgenden Wortlaut:

„Artikel 750

Ein Richter oder ein Gericht, der oder das sich veranlasst sieht, gegen einen Senator oder Abgeordneten der Cortes [Senat und Abgeordnetenkammer, Spanien] wegen einer Straftat vorzugehen, nimmt während der Sitzungsperiode [des Senats und der Abgeordnetenkammer] davon Abstand, bis die gesetzgebende Körperschaft, der die Person angehört, die Erlaubnis hierfür erteilt hat.

Artikel 751

Wurde der Senator oder Abgeordnete der Cortes auf frischer Tat betroffen, kann er ohne die im vorstehenden Artikel genannte Erlaubnis inhaftiert und strafrechtlich verfolgt werden; die gesetzgebende Körperschaft, der er angehört, muss jedoch innerhalb von 24 Stunden nach der Inhaftierung oder der strafrechtlichen Verfolgung von dem Sachverhalt unterrichtet werden.

Ferner wird die jeweilige gesetzgebende Körperschaft davon in Kenntnis gesetzt, was einer Person zur Last gelegt wird, die während ihrer strafrechtlichen Verfolgung zum Senator oder Abgeordneten der Cortes gewählt wird.

Artikel 752

Wird ein Senator oder Abgeordneter der Cortes während einer parlamentslosen Zeit strafrechtlich verfolgt, muss der Richter oder das Gericht, der oder das mit der Sache befasst ist, die jeweilige gesetzgebende Körperschaft unverzüglich davon in Kenntnis setzen.

Das Gleiche gilt, wenn ein gewählter Senator oder Abgeordneter [des Senats oder der Abgeordnetenkammer] strafrechtlich verfolgt wird, bevor sie zusammentreten.

Artikel 753

In jedem Fall setzt der Gerichtssekretär das Verfahren ab dem Tag aus, an dem [der Senat und die Abgeordnetenkammer] informiert werden, unabhängig davon, ob die Sitzungsperiode läuft; die Sache bleibt in dem Stand, in dem sie sich befindet, bis die jeweilige gesetzgebende Körperschaft die ihr angemessen erscheinende Entscheidung getroffen hat.

Artikel 754

Lehnt [der Senat oder die Abgeordnetenkammer] die Erteilung der beantragten Erlaubnis ab, wird die Sache in Bezug auf den Senator oder Abgeordneten für erledigt erklärt; in Bezug auf die übrigen strafrechtlich verfolgten Personen wird das Verfahren hingegen fortgesetzt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Der Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens, Herr Junqueras Vies, war zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Ley 19/2017 del Parlamento de Cataluña, reguladora del referéndum de autodeterminación (Gesetz 19/2017 des Parlaments von Katalonien über das Referendum über die Selbstbestimmung) vom 6. September 2017 (DOGC Nr. 7449A vom 6. September 2017, S. 1) und der Ley 20/2017 del Parlamento de Cataluña, de transitoriedad jurídica y fundacional de la República (Gesetz 20/2017 des Parlaments von Katalonien über den Rechtsübergang und die Gründung der Republik) vom 8. September 2017 (DOGC Nr. 7451A vom 8. September 2017, S. 1) sowie bei Durchführung des Referendums über die Selbstbestimmung am 1. Oktober 2017 gemäß dem erstgenannten Gesetz, dessen Bestimmungen in der Zwischenzeit durch eine Entscheidung des Tribunal Constitucional (Verfassungsgericht, Spanien) ausgesetzt worden waren, Vizepräsident des Gobierno autonómico de Cataluña (Autonome Regierung von Katalonien, Spanien).

18

Nach dem Erlass dieser Gesetze und der Durchführung dieses Referendums leiteten das Ministerio Fiscal (Staatsanwaltschaft, Spanien), der Abogado del Estado (Vertreter des öffentlichen Interesses, Spanien) und der Partido político VOX (politische Partei VOX) ein Strafverfahren gegen mehrere Personen, u. a. Herrn Junqueras Vies, ein, weil sie der Auffassung waren, dass diese sich an einem Sezessionsprozess beteiligt und in diesem Zusammenhang Taten begangen hätten, die drei Straftatbestände erfüllten, nämlich erstens „Rebellion“ oder „Aufruhr“, zweitens „Unruhestiftung“ und drittens „Veruntreuung von Geldern“.

19

Herr Junqueras Vies wurde während des Ermittlungsverfahrens gemäß einer am 2. November 2017 auf der Grundlage von Art. 503 der Strafprozessordnung erlassenen Entscheidung in Untersuchungshaft genommen. Diese Entscheidung wurde seitdem mehrfach verlängert, so dass sich der Betroffene zum Zeitpunkt der Vorlage des Vorabentscheidungsersuchens, das dem vorliegenden Urteil zugrunde liegt, immer noch in Untersuchungshaft befand.

20

Nach Eröffnung des Hauptverfahrens des genannten Strafverfahrens kandidierte Herr Junqueras Vies bei den Wahlen zum Congreso de los Diputados (Abgeordnetenkammer, Spanien), die am 28. April 2019 stattfanden und bei denen er zum Abgeordneten gewählt wurde.

21

Mit Beschluss vom 14. Mai 2019 entschied das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), dass die Abgeordnetenkammer nicht um vorherige Erlaubnis gemäß Art. 71 Abs. 2 der spanischen Verfassung zu ersuchen gewesen sei, da die Wahl von Herrn Junqueras Vies zum Abgeordneten nach der Eröffnung des Hauptverfahrens des u. a. gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens erfolgt sei. Nach der Rechtsprechung dieses Gerichts werde die in dieser Verfassungsbestimmung vorgesehene Immunität Abgeordneten und Senatoren nämlich nur in Bezug auf Strafverfahren zuerkannt, in denen das Hauptverfahren zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ihre Eigenschaft als Abgeordneter oder Senator erworben hätten, noch nicht eröffnet worden sei.

22

Mit demselben Beschluss gewährte das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) Herrn Junqueras Vies auf dessen Antrag eine außerordentliche Erlaubnis, die Haftanstalt zu verlassen, wodurch diesem ermöglicht wurde, unter polizeilicher Aufsicht an der ersten Plenarsitzung der Abgeordnetenkammer teilzunehmen und den nach Art. 20 der Geschäftsordnung der Abgeordnetenkammer vorgesehenen Anforderungen für die Einnahme seines Sitzes nachzukommen.

23

Nachdem Herr Junqueras Vies diesen Anforderungen nachgekommen war und seinen Sitz eingenommen hatte sowie anschließend in die Haftanstalt zurückgekehrt war, wurde sein Mandat durch eine Entscheidung des Präsidiums der Abgeordnetenkammer vom 24. Mai 2019 gemäß Art. 384bis der Strafprozessordnung ausgesetzt.

24

Während des Hauptverfahrens des u. a. gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens kandidierte Herr Junqueras Vies auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament, die am 26. Mai 2019 stattfanden. Bei diesen wurde er ins Europäische Parlament gewählt, wie sich aus der amtlichen Bekanntgabe der Wahlergebnisse ergibt, die von der Zentralen Wahlkommission mit Entscheidung vom 13. Juni 2019 über die „Bekanntgabe der bei den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 26. Mai 2019 gewählten Abgeordneten“ (BOE Nr. 142 vom 14. Juni 2019, S. 62477) gemäß Art. 224 Abs. 1 des Wahlgesetzes bekanntgegeben wurde. In dieser Entscheidung verteilte die Wahlkommission außerdem, wie es diese Bestimmung vorsieht, die Sitze, über die das Königreich Spanien im Europäischen Parlament verfügt, an die gewählten Personen, darunter Herrn Junqueras Vies.

25

Mit Beschluss vom 14. Juni 2019 wies das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) einen Antrag von Herrn Junqueras Vies auf Erteilung einer außerordentlichen Erlaubnis ab, die Haftanstalt unter polizeilicher Aufsicht zu verlassen, um vor der Zentralen Wahlkommission den gemäß Art. 224 Abs. 2 des Wahlgesetzes vorgeschrieben Eid oder das Gelöbnis auf die spanische Verfassung leisten zu können.

26

Am 20. Juni 2019 erließ die Zentrale Wahlkommission eine Entscheidung, in der sie feststellte, dass Herr Junqueras Vies den fraglichen Eid oder das fragliche Gelöbnis nicht geleistet hatte, und erklärte gemäß Art. 224 Abs. 2 des Wahlgesetzes den ihm zugeteilten Sitz im Europäischen Parlament für vakant und setzte alle ihm aufgrund seines Amtes etwa zustehenden Vorrechte aus.

27

Am 2. Juli 2019 eröffnete der Präsident des Europäischen Parlaments die erste Sitzung der sich aus den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 26. Mai 2019 ergebenden Legislaturperiode.

28

Herr Junqueras Vies legte beim Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) Beschwerde gegen den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss ein, in deren Rahmen er sich auf die in Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union vorgesehenen Immunitäten beruft.

29

Nachdem sie aufgefordert worden waren, hierzu Stellung zu nehmen, trugen der Vertreter des öffentlichen Interesses und die politische Partei VOX vor, dass der Betroffene nicht durch die fraglichen Immunitäten geschützt sei.

30

In seiner Vorlageentscheidung führt das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) zunächst aus, dass es den Gerichtshof mit Fragen zur Auslegung des Unionsrechts befasse, die sich nicht im Rahmen der Vorbereitung seines Sachurteils in dem u. a. gegen Herrn Junqueras Vies eingeleiteten Strafverfahren stellten, sondern im Rahmen der von diesem gegen den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss erhobenen Beschwerde. Das vorlegende Gericht ist ferner der Ansicht, dass die Behandlung einer solchen Beschwerde auf den Inhalt dieses Urteils in der Sache unbeschadet der eventuellen – von ihm als „Reflex- oder indirekte“ Wirkungen eingestuften – Wirkungen, die die Handlungen, die infolge einer Erlaubnis oder einer Verweigerung der Entlassung aus der Haft vorgenommen werden könnten, auf dieses Urteil haben könnten, keinen Einfluss habe. Es hebt schließlich hervor, dass es als Gericht, das gemäß Art. 71 Abs. 3 der spanischen Verfassung erst- und letztinstanzlich über die von Herrn Junqueras Vies erhobene Beschwerde entscheide, verpflichtet sei, dem Gerichtshof die Fragen aus der Vorlageentscheidung zu stellen.

31

In Bezug auf diese Fragen führt das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) erstens aus, dass der Beschluss, der Gegenstand dieser Beschwerde sei, die Weigerung betreffe, einer Person, die zum Mitglied des Europäischen Parlaments gewählt worden sei, als sie sich in Untersuchungshaft befunden habe und das Hauptverfahren des gegen sie eingeleiteten Strafverfahrens bereits eröffnet worden sei, eine außerordentliche Erlaubnis zu erteilen, die Haftanstalt zu verlassen, um ihr zu ermöglichen, den Eid oder das Gelöbnis auf die spanische Verfassung abzulegen, den bzw. das Art. 224 des Wahlgesetzes von einer in ein solches Amt gewählten Person verlange.

32

Zweitens stellt das vorlegende Gericht den Kontext, in dem dieser Beschluss erlassen wurde, und die Gesichtspunkte dar, die in dessen Rahmen berücksichtigt wurden, wobei es zunächst feststellt, dass die Herrn Junqueras Vies vorgeworfenen Taten besonders schwere Delikte seien und als solche bestraft werden könnten, da sie darauf abgezielt hätten, die verfassungsmäßige Ordnung zu beeinträchtigen.

33

Weiter führt das vorlegende Gericht aus, dass Herr Junqueras Vies wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft genommen worden sei.

34

Schließlich erklärt dieses Gericht, dass es beim Erlass des Beschlusses, mit dem es abgelehnt habe, Herrn Junqueras Vies eine außerordentliche Erlaubnis zu erteilen, die Haftanstalt zu verlassen, nicht nur in Anbetracht von Art. 503 der Strafprozessordnung die beiden in den vorherigen Randnummern des vorliegenden Urteils genannten Gesichtspunkte berücksichtigt, sondern auch die verschiedenen Rechte und Interessen, die seiner Ansicht nach in diesem Rahmen zu berücksichtigen gewesen seien, gegeneinander abgewogen habe.

35

Hierzu führt es aus, letztlich dem vorläufigen Freiheitsentzug von Herrn Junqueras Vies gegenüber dessen Recht auf politische Teilnahme an den Arbeiten des Europäischen Parlaments den Vorrang eingeräumt zu haben, und zwar, um das Ziel des u. a. gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens zu wahren, das unwiderruflich beeinträchtigt worden wäre, wenn diesem erlaubt worden wäre, das spanische Hoheitsgebiet zu verlassen. Das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass es notwendig sei, zwischen der Wahl von Herrn Junqueras Vies in die Abgeordnetenkammer, wonach diesem ohne Schwierigkeiten habe gestattet werden können, am Sitz dieses Gesetzgebungsorgans vorstellig zu werden und anschließend ins Gefängnis zurückzukehren, und seiner Wahl ins Europäische Parlament zu unterscheiden. Eine Teilnahme des Betroffenen an der ersten Sitzung der neuen Legislaturperiode dieses Organs, für die er das spanische Hoheitsgebiet hätte verlassen müssen, hätte nämlich einen Kontrollverlust über die ihn betreffende Maßnahme der Untersuchungshaft in einem Kontext bedeutet, der dadurch gekennzeichnet gewesen sei, dass die innerhalb der Europäischen Union eingeführte justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen an ihre Grenzen stoße.

36

Drittens rechtfertigt das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) seine ersten beiden Vorlagefragen mit der Notwendigkeit, in Erfahrung zu bringen, zu welchem Zeitpunkt die Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments erworben werde.

37

Hierzu führt es aus, dass der Gerichtshof in den Urteilen vom 12. Mai 1964, Wagner (101/63, EU:C:1964:28), und vom 10. Juli 1986, Wybot (149/85, EU:C:1986:310), Art. 9 Abs. 1 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union ausgelegt und zum einen entschieden habe, dass der darin enthaltene Begriff „Sitzungsperiode“ autonom definiert werden müsse und nicht unter Verweis auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten, um allen Mitgliedern des Europäischen Parlaments Immunitäten während des gleichen Zeitraums zu gewährleisten, und zum anderen, dass der zeitliche Anwendungsbereich dieser Immunitäten weit zu fassen sei, so dass diese den gesamten Zeitraum, während dessen dieses Organ in ordentlichen Sitzungen tage, abdeckten.

38

Das vorlegende Gericht stellt jedoch fest, dass diese Rechtsprechung nicht die Frage entscheide, ob die in Art. 9 Abs. 1 und 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen vorgesehenen Immunitäten in der Zeit vor Beginn der ersten vom Europäischen Parlament nach den Wahlen abgehaltenen Sitzung anwendbar seien. Es fügt jedoch hinzu, dass unter Berücksichtigung des Wortlauts dieser Bestimmungen, des von ihnen verfolgten Ziels und des normativen Kontexts, in den sie sich einfügten, wie er vom Gerichtshof in seinen Urteilen vom 7. Juli 2005, Le Pen/Parlament (C‑208/03 P, EU:C:2005:429), sowie vom 30. April 2009, Italien und Donnici/Parlament (C‑393/07 und C‑9/08, EU:C:2009:275), aufgefasst worden sei, davon ausgegangen werden könne, dass die in diesen Bestimmungen vorgesehenen Immunitäten nur für die Mitglieder des Europäischen Parlaments, die ihren Sitz in diesem Organ eingenommen hätten, oder zumindest die Personen gälten, die von den zuständigen nationalen Behörden in die Liste der Personen aufgenommen worden seien, die die nach dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten für den Erwerb der Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments verlangten Anforderungen erfüllt hätten. Allerdings würfen sowohl diese Auslegung als auch diejenige, wonach diese Immunitäten für alle Personen gälten, die zu Mitgliedern des Europäischen Parlaments gewählt worden seien, wegen ihrer praktischen Konsequenzen Fragen auf.

39

Viertens stellt sich das vorlegende Gericht für den Fall, dass die in Art. 9 Abs. 1 und 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union vorgesehenen Immunitäten anwendbar seien, Fragen zu den Konsequenzen, die in Bezug auf diese Immunitäten im Rahmen der von Herrn Junqueras Vies erhobenen Beschwerde gegen den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss zu ziehen seien. Genauer gesagt möchte das vorlegende Gericht mit seiner dritten Vorlagefrage wissen, ob und gegebenenfalls wie und durch wen der mit diesen Immunitäten verbundene Schutz gegen die anderen Rechte und Interessen abgewogen werden könne, die bei der Behandlung einer solchen Beschwerde im Licht von Art. 39 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und den entsprechenden Bestimmungen von Art. 3 des Zusatzprotokolls Nr. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Rechte und Grundfreiheiten berücksichtigt werden müssten.

40

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Gilt Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union schon vor Beginn der „Sitzungsperiode“ für eine Person, die schwerer Straftaten beschuldigt wird und sich wegen eines vor dem Beginn eines Wahlverfahrens, in dem der Betroffene zum Mitglied des Europäischen Parlaments gewählt wurde, liegenden Sachverhalts aufgrund gerichtlicher Anordnung in Untersuchungshaft befindet, wenn dem Betroffenen durch gerichtliche Entscheidung eine außerordentliche Erlaubnis zum Verlassen der Haftanstalt versagt wurde, die es ihm ermöglichen würde, die in den innerstaatlichen Wahlvorschriften aufgestellten Erfordernisse zu erfüllen, auf die Art. 8 des Akts von 1976 Bezug nimmt?

2.

Sofern dies bejaht wird, ist für den Fall, dass das in den innerstaatlichen Wahlvorschriften bestimmte Organ dem Europäischen Parlament mitgeteilt hat, dass der Gewählte mangels Erfüllung der im Wahlrecht aufgestellten Erfordernisse (was ihm aufgrund des Entzugs seiner Freiheit in Form der Untersuchungshaft im Rahmen eines Verfahrens wegen schwerer Straftaten nicht möglich war) nicht die Abgeordneteneigenschaft erlangt habe und bis zur Erfüllung der Erfordernisse nicht erlangen werde, an der weiten Auslegung des Begriffs „Sitzungsperiode“ festzuhalten, obwohl der Gewählte seine Erwartung, seinen Sitz einnehmen zu können, vorübergehend aufgeben muss?

3.

Sofern die weite Auslegung zu bejahen ist, wäre dann in einem Fall, in dem der Gewählte schon lange vor dem Beginn des Wahlverfahrens im Rahmen eines Verfahrens wegen schwerer Straftaten in Untersuchungshaft genommen wurde, die Justizbehörde, die die Untersuchungshaft angeordnet hat, angesichts der Wendung „während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments“ in Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union verpflichtet, die Untersuchungshaft uneingeschränkt, quasi automatisch, aufzuheben, um die Erfüllung der Formalitäten und Reisen zum Europäischen Parlament zu ermöglichen, oder wäre auf ein die Abwägung zwischen den Rechten und Interessen, die sich aus dem Interesse an der Rechtspflege und einem ordnungsgemäßen Verfahren ergeben, einerseits und den mit der Institution der Immunität zusammenhängenden Rechten und Interessen andererseits im Einzelfall ermöglichendes Kriterium abzustellen, im Hinblick sowohl auf die Wahrung der Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit des Europäischen Parlaments als auch auf das Recht zur Ausübung eines öffentlichen Amtes durch den Gewählten?

41

Am 14. Oktober 2019 hat das vorlegende Gericht ein Sachurteil in dem u. a. gegen Herrn Junqueras Vies eingeleiteten Strafverfahren erlassen (im Folgenden: Urteil vom 14. Oktober 2019), mit dem es diesen zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren und zu einem dreizehnjährigen Verlust der staatsbürgerlichen Rechte, der zum endgültigen Verlust aller öffentlichen Ämter und Funktionen, auch in die er gewählt wurde, führt und es ihm unmöglich macht, neue zu erlangen oder auszuüben.

42

Mit Schreiben vom selben Tag übermittelte das vorlegende Gericht dem Gerichtshof dieses Urteil und teilte mit, dass sein Vorabentscheidungsersuchen weiterhin von Interesse und von Nutzen sei, da die Antworten auf die Fragen in der Vorlageentscheidung ihre Wirkungen unabhängig davon entfalten sollten, ob die Inhaftierung von Herrn Junqueras Vies vorläufig sei oder sich aus einer Verurteilung ergebe.

Verfahren vor dem Gerichtshof

Zum beschleunigten Verfahren

43

In seiner Vorlageentscheidung hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) beantragt, dass die Vorlage zur Vorabentscheidung, auf die das vorliegende Urteil zurückgeht, gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren unterworfen wird. Zur Stützung seines Antrags hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass seine Vorlagefragen die Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments sowie die Zusammensetzung dieses Organs beträfen, dass die Antworten des Gerichtshofs auf diese Vorlagefragen mittelbar geeignet seien, zu einer Aussetzung der Situation des Freiheitsentzugs, in der sich Herr Junqueras Vies befinde, zu führen, und dass diese Situation des Freiheitsentzugs der in Art. 267 Abs. 4 AEUV genannten Situation entspreche.

44

Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

45

Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 19. Juli 2019 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts beschlossen, dem in Rn. 43 des vorliegenden Urteils genannten Antrag des vorlegenden Gerichts stattzugeben. Dieser Beschluss wurde erstens damit begründet, dass sich Herr Junqueras Vies bei Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens in Untersuchungshaft befand, so dass die vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vorgelegten Fragen so anzusehen waren, dass sie sich im Rahmen eines eine inhaftierte Person betreffenden Rechtsstreits im Sinne von Art. 267 Abs. 4 AEUV stellen, und zweitens damit, dass mit diesen Fragen eine Auslegung einer unionsrechtlichen Bestimmung erlangt werden sollte, die sich wegen ihrer Art auf die weitere Inhaftierung von Herrn Junqueras Vies auswirken konnte, falls diese Bestimmung auf ihn anwendbar sein sollte (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. September 2011, Achughbabian, C‑329/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2011:630, Rn. 9 bis 12, und entsprechend Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 29 bis 31).

Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

46

Mit Schriftsatz, der bei der Kanzlei des Gerichtshofs am 12. November 2019 eingereicht worden ist, hat Herr Junqueras Vies nach der Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts beim Gerichtshof die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt und dabei eine neue Tatsache geltend gemacht, die den Umstand betrifft, dass das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) ihm am30. Oktober 2019 einen Beschluss zugestellt habe, mit dem die Vollstreckung der Strafe des Verlusts der staatsbürgerlichen Rechte, die gegen ihn mit dem Urteil vom 14. Oktober 2019 verhängt worden war, ausgesetzt worden sei.

47

Art. 83 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Gerichtshof jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

48

Im vorliegenden Fall ist jedoch festzustellen, dass die neue Tatsache, die im Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens geltend gemacht wird, wie aus dem Wortlaut dieses Antrags hervorgeht, im Rahmen des in Rn. 30 des vorliegenden Urteils genannten Strafverfahrens eingetreten ist und nicht im Rahmen der Beschwerde gegen den in Rn. 25 dieses Urteils genannten Beschluss, die das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) zur Anrufung des Gerichtshof veranlasst hat.

49

Angesichts dessen ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass diese neue Tatsache nicht von entscheidender Bedeutung für seine Entscheidung ist.

50

Demzufolge ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

51

Auf die Frage in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof zur eventuellen Auswirkung des Urteils vom 14. Oktober 2019 auf das Vorabentscheidungsersuchen und auf die Folgen, die das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) an die Antworten des Gerichtshofs auf seine Fragen knüpfen könnte, hat die Staatsanwaltschaft geantwortet, dass es dem vorlegenden Gericht obliege, die Konsequenzen aus dem in der vorliegenden Rechtssache erlassenen Urteil zu ziehen, und, falls sich aus diesem Urteil ergeben sollte, dass Herr Junqueras Vies auf der Grundlage von Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union Immunität genieße, die Wirkungen zu bestimmen, die mit einer solchen Immunität im Rahmen der vom Betroffenen gegen die in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Beschwerde einhergingen.

52

Die spanische Regierung hat ihrerseits im Wesentlichen die Auffassung vertreten, dass, falls Herr Junqueras Vies auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union Immunität genieße, diese Immunität keine Auswirkung habe.

53

Der materielle Inhalt dieser Immunität werde nämlich durch Verweis auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten definiert, und das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) habe in seinem in Rn. 21 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss darauf hingewiesen, dass das spanische Recht den spanischen Abgeordneten und Senatoren Immunität nur im Hinblick auf Strafverfahren garantiere, in denen das Hauptverfahren zu dem Zeitpunkt, zu dem sie gewählt worden seien oder ihre Eigenschaft als Abgeordneter oder Senator erwürben, noch nicht eröffnet worden sei. Im vorliegenden Fall jedoch werde in der Vorlageentscheidung hervorgehoben, dass das Hauptverfahren des in Rn. 30 des vorliegenden Urteils genannten Strafverfahrens vor der Wahl von Herrn Junqueras Vies ins Europäische Parlament eröffnet worden sei. Folglich verhindere keine Immunität, dass der Betroffene weiterhin in Untersuchungshaft bleibe. Überdies befinde sich dieser nunmehr nicht in Untersuchungshaft, sondern verbüße wegen seiner Verurteilung am 14. Oktober 2019 eine Freiheitsstrafe.

54

Die spanische Regierung scheint somit davon auszugehen, dass die Vorlagefragen, soweit sie im Wesentlichen das Bestehen einer Immunität betreffen, hypothetischen Charakter haben, und dass dieser seit dem Erlass des Urteils vom 14. Oktober 2019 noch deutlicher ist, so dass die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens zweifelhaft sei.

55

Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56

Daraus folgt, dass für die von den nationalen Gerichten gestellten Fragen eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit gilt und dass der Gerichtshof die Beantwortung dieser Fragen nur ablehnen kann, wenn die erbetene Auslegung in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung dieser Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57

Im vorliegenden Fall geht aus dem in Rn. 42 des vorliegenden Urteils genannten Schreiben des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) zum einen unzweideutig hervor, dass dieses Gericht der Auffassung ist, dass eine Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils über die Beschwerde, auf die das vorliegende Verfahren zurückgeht, weiterhin erforderlich ist und dass seine Fragen weiterhin in vollem Umfang erheblich sind.

58

Zum anderen geht aus diesem Schreiben und den in den Rn. 30, 31 und 36 bis 39 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Angaben der Vorlageentscheidung eindeutig hervor, dass die vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) erbetene Auslegung mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in direktem Zusammenhang steht und dass das von diesem Rechtsstreit und der Vorlageentscheidung aufgeworfene Problem erstens nicht hypothetisch, sondern tatsächlich ist, und zweitens nach der Verkündung des Urteils vom 14. Oktober 2019 vollständig fortbesteht. Das vorlegende Gericht war nämlich zum Zeitpunkt, zu dem es den Gerichtshof angerufen hat, dazu aufgerufen – und ist es zum Zeitpunkt der Verkündung des vorliegenden Urteils unabhängig von dem Urteil vom 14. Oktober 2019 weiterhin – als erst- und letztinstanzliches Gericht über die Beschwerde zu entscheiden, die Herr Junqueras Vies gegen den in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss erhoben hat, mit dem dieses Gericht es abgelehnt hat, ihm eine außerordentliche Erlaubnis zu erteilen, die Haftanstalt zu verlassen, um ihm zu ermöglichen, eine nach seiner Wahl ins Europäische Parlament nach dem spanischen Recht vorgeschriebene Anforderung zu erfüllen. Des Weiteren möchte dieses Gericht zu diesem Zweck wissen, ob der Betroffene nach Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union eine Immunität genießt, und, falls dies bejaht wird, welche Wirkungen mit einer solchen Immunität einhergehen.

59

Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist und demzufolge die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zu beantworten sind.

Zu den Vorlagefragen

60

Vorab ist festzustellen, dass aus der Vorlageentscheidung, wie sie in den Rn. 24 und 25 des vorliegenden Urteils zusammengefasst wurde, hervorgeht, dass Herrn Junqueras Vies, nachdem seine Wahl ins Europäische Parlament von der zuständigen nationalen Behörde amtlich bekanntgegeben worden war, vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) die außerordentliche Erlaubnis zum Verlassen der Haftanstalt verweigert wurde, die es ihm ermöglicht hätte, eine Formalität zu erfüllen, von der im spanischen Recht der Erwerb der Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments abhängt, und sich nach der Erfüllung dieser Formalität zum Sitzungsort dieses Organs zu begeben, um an der ersten Sitzung der sich aus den Wahlen zum Europäischen Parlament vom 26. Mai 2019 ergebenden Legislaturperiode teilzunehmen.

61

In diesem Kontext möchte das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, wissen, ob Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union dahin auszulegen ist, dass eine Person, deren Wahl ins Europäische Parlament amtlich bekanntgegeben wurde, als sie im Rahmen eines Verfahrens wegen schwerer Straftaten in Untersuchungshaft war, der aber nicht gestattet wurde, bestimmten Anforderungen nachzukommen, die nach dem innerstaatlichen Recht nach einer solchen Bekanntgabe vorgesehen sind, und sich zum Europäischen Parlament zu begeben, um an dessen erster Sitzung teilzunehmen, Immunität nach diesem Artikel genießt. Falls dies bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht außerdem wissen, ob diese Immunität verlangt, die gegen die betreffende Person verhängte Untersuchungshaft aufzuheben, um ihr zu ermöglichen, sich zum Europäischen Parlament zu begeben und dort die vorgeschriebenen Formalitäten zu erfüllen.

62

Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union führt in seinen Abs. 1 und 2 Unverletzlichkeiten zugunsten der „Mitglieder des Europäischen Parlaments“ ein. Allerdings wird in diesem Artikel der Begriff „Mitglieder des Europäischen Parlaments“ nicht definiert, weshalb er im Licht seines Kontextes und seiner Ziele auszulegen ist.

63

In Bezug auf den Kontext ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 10 Abs. 1 EUV die Arbeitsweise der Union auf dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie beruht, der den in Art. 2 EUV genannten Wert der Demokratie konkretisiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom heutigen Tag, Puppinck u. a./Kommission, C‑418/18 P, Rn. 64).

64

Art. 14 Abs. 3 EUV setzt diesen Grundsatz um und sieht vor, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt werden.

65

Aus dieser Bestimmung geht hervor, dass die Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments aus der Tatsache folgt, in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl gewählt worden zu sein, und das Mandat der Mitglieder dieses Organs stellt das Hauptattribut dieser Eigenschaft dar.

66

Zweitens heißt es in Bezug auf das Verfahren zur Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments in Art. 223 Abs. 1 AEUV, dass es zum einen dem Europäischen Parlament obliegt, einen Entwurf der erforderlichen Bestimmungen für die allgemeine unmittelbare Wahl seiner Mitglieder nach einem einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen zu erstellen, und zum anderen dem Rat der Europäischen Union obliegt, diese Bestimmungen zu erlassen.

67

Am 20. September 1976 wurde der Akt von 1976 erlassen, in dem die gemeinsamen Grundsätze festgelegt werden, die auf das Verfahren der Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments in allgemeiner unmittelbarer Wahl anwendbar sind.

68

Hierzu sieht Art. 8 Abs. 1 dieses Akts zunächst vor, dass sich vorbehaltlich der anderen Bestimmungen dieses Akts „das Wahlverfahren in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften [bestimmt]“. Zudem heißt es in Art. 12 dieses Akts u. a., dass das Europäische Parlament „die Mandate seiner Mitglieder [prüft]“ und „die von den Mitgliedstaaten amtlich bekanntgegebenen Wahlergebnisse zur Kenntnis [nimmt]“.

69

Aus diesen Bestimmungen zusammengenommen ergibt sich, dass nach derzeitigem Stand des Unionsrechts die Mitgliedstaaten grundsätzlich dafür zuständig bleiben, das Wahlverfahren zu regeln und nach dessen Abschluss die Wahlergebnisse amtlich bekanntzugeben. Das Europäische Parlament selbst verfügt über keine allgemeine Zuständigkeit, die es ermächtigt, die Rechtmäßigkeit einer solchen Bekanntgabe in Frage zu stellen oder deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2009, Italien und Donnici/Parlament, C‑393/07 und C‑9/08, EU:C:2009:275, Rn. 55 bis 57, 60 und 67).

70

Des Weiteren geht aus diesen Bestimmungen hervor, dass das Europäische Parlament dadurch, dass es die von den Mitgliedstaaten amtlich bekanntgegebenen Wahlergebnisse „zur Kenntnis nimmt“, zwangsläufig davon ausgeht, dass die Personen, deren Wahl amtlich bekanntgegeben wurde, aufgrund dieser Bekanntgabe Mitglieder dieses Organs geworden sind, weshalb es seine Aufgabe ist, ihnen gegenüber dadurch seine Befugnis auszuüben, dass es ihre Mandate prüft.

71

Wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge festgestellt hat, müssen diese Bestimmungen daher dahin verstanden werden, dass der Erwerb der Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments für die Zwecke von Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union durch die Tatsache und zu dem Zeitpunkt der amtlichen Bekanntgabe der Wahlergebnisse durch die Mitgliedstaaten erfolgt.

72

Ferner werden im Akt von 1976 die zeitlichen Grenzen des Mandats definiert, für das die Mitglieder des Europäischen Parlaments gewählt werden, und in seinem Art. 5 Abs. 1 und 2 heißt es, dass dieses Mandat mit dem Fünfjahreszeitraum, der mit der Eröffnung der ersten Sitzung nach jeder Wahl beginnt, zusammenfällt, so dass es zu gleicher Zeit wie dieser Fünfjahreszeitraum beginnt und endet.

73

Hierzu geht aus Art. 11 Abs. 3 und 4 des Akts von 1976 hervor, dass das „neue“ Europäische Parlament, ohne dass es einer Einberufung bedarf, am ersten Dienstag nach Ablauf eines Monats ab dem Ende des Zeitraums, in dem die Wahl stattgefunden hat, zusammentritt und dass die Befugnisse des „scheidenden“ Europäischen Parlaments mit der ersten Sitzung dieses „neuen“ Europäischen Parlaments enden. Zudem prüft nach Art. 12 dieses Akts das „neue“ Europäische Parlament in dieser ersten Sitzung die Mandate seiner Mitglieder und befindet über die Anfechtungen, die aufgrund der Vorschriften dieses Akts gegebenenfalls vorgebracht werden können.

74

Daraus ergibt sich, dass im Unterschied zur Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments, die zum einen – wie in Rn. 71 des vorliegenden Urteils dargestellt – zu dem Zeitpunkt erworben wird, zu dem die Wahl einer Person amtlich bekanntgegeben wird, und zum anderen eine Verbindung zwischen dieser Person und dem Organ herstellt, dem sie nunmehr angehört, das Mandat eines Mitglieds des Europäischen Parlaments eine Verbindung zwischen dieser Person und der Legislaturperiode herstellt, für die sie gewählt worden ist. Diese Legislaturperiode beginnt erst zum Zeitpunkt der Eröffnung der ersten nach der Wahl abgehaltenen Sitzung des „neuen“ Europäischen Parlaments, die definitionsgemäß nach der amtlichen Bekanntgabe der Wahlergebnisse durch die Mitgliedstaaten stattfindet.

75

Schließlich heißt es in Art. 6 Abs. 2 des Akts von 1976, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments die vom Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union festgelegten Befreiungen genießen.

76

In Bezug auf die Rechtsquelle dieser Befreiungen heißt es in Art. 343 AEUV, dass die Union im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlichen Vorrechte und Befreiungen nach Maßgabe des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union genießt. Dieser Artikel verweist für die Festlegung der Maßgabe, nach der Befreiungen gewährleistet werden müssen, zwar somit auf dieses Protokoll, verlangt jedoch, dass die Union und insbesondere die Mitglieder ihrer Organe Befreiungen genießen, die zur Erfüllung ihrer Aufgabe erforderlich sind. Daraus folgt, dass diese Maßgaben, wie sie durch dieses Protokoll und, soweit dieses auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, durch die nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten festgelegt werden, sicherstellen müssen, dass das Europäische Parlament vollständig in der Lage ist, die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen.

77

Wie sowohl aus dem Wortlaut von Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union als auch aus der Überschrift von dessen Kapitel III, zu dem dieser Artikel gehört, hervorgeht, werden solche Befreiungen den „Mitgliedern des Europäischen Parlaments“, also den Personen, die diese Eigenschaft, wie aus Rn. 71 des vorliegenden Urteils hervorgeht, aufgrund der amtlichen Bekanntgabe der Wahlergebnisse durch die Mitgliedstaaten erworben haben, gewährt.

78

Hinsichtlich der den Mitgliedern des Europäischen Parlaments so gewährten Befreiungen sieht Art. 9 Abs. 1 dieses Protokolls Befreiungen vor, die ihnen gleichermaßen während der gesamten Dauer der Sitzungsperiode einer bestimmten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments zugutekommen, selbst wenn es nicht tatsächlich tagt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 1986, Wybot, 149/85, EU:C:1986:310, Rn. 12 und 27).

79

Art. 9 Abs. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union hat hingegen eine andere zeitliche Tragweite.

80

In dieser Bestimmung heißt es nämlich, dass die Unverletzlichkeit der Mitglieder des Europäischen Parlaments auch während der Reise zu und von seinem Tagungsort besteht, also u. a., wenn sie sich zur ersten Sitzung begeben, die nach der amtlichen Bekanntgabe der Wahlergebnisse stattfindet, damit die konstituierende Sitzung der neuen Legislaturperiode stattfinden kann und die Mandate der Mitglieder geprüft werden können, wie in Rn. 73 des vorliegenden Urteils ausgeführt wird. Diese Mitglieder genießen somit die fragliche Immunität, bevor ihr Mandat beginnt.

81

Nach alledem hat eine Person, deren Wahl ins Europäische Parlament amtlich bekanntgegeben worden ist, aufgrund dieser Bekanntgabe und ab diesem Zeitpunkt für die Zwecke von Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union die Eigenschaft als Mitglied dieses Organs erworben und genießt dementsprechend die in Abs. 2 dieses Artikels vorgesehene Immunität.

82

Diese Auslegung wird durch die mit dem Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Union verfolgten Ziele bestätigt, die, wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, darin bestehen, den Organen der Union einen vollständigen und effektiven Schutz gegen Beeinträchtigungen oder Gefährdungen ihres ordnungsgemäßen Funktionierens und ihrer Unabhängigkeit zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Juli 1986, Wybot, 149/85, EU:C:1986:310, Rn. 12 und 22, Beschluss vom 13. Juli 1990, Zwartveld u. a., C‑2/88‑IMM, EU:C:1990:315, Rn. 19, sowie Urteil vom 22. März 2007, Kommission/Belgien, C‑437/04, EU:C:2007:178, Rn. 56).

83

Im Fall des Europäischen Parlaments setzen diese Ziele nämlich nicht nur voraus, dass seine Zusammensetzung gemäß dem in Rn. 63 des vorliegenden Urteils und in Art. 14 EUV genannten Grundsatz der repräsentativen Demokratie die von den Unionsbürgern mittels allgemeiner und unmittelbarer Wahl frei getroffenen Entscheidungen bezüglich der Personen, von denen sie während einer bestimmten Legislaturperiode vertreten werden möchten, getreu und vollständig wiedergibt, sondern auch, dass das Europäische Parlament bei der Ausübung seiner Tätigkeiten gegen die Hindernisse oder Gefährdungen geschützt wird, die sein ordnungsgemäßes Funktionieren beeinträchtigen können.

84

In dieser doppelten Hinsicht zielen die zugunsten der Mitglieder des Europäischen Parlaments vorgesehenen Immunitäten darauf ab, die Unabhängigkeit dieses Organs bei der Erfüllung seiner Aufgabe sicherzustellen, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Bezug auf die verschiedenen Formen parlamentarischer Immunität, die in den demokratischen politischen Systemen eingeführt wurden, festgestellt hat (vgl. in diesem Sinne EGMR, 17. Mai 2016, Karácsony u. a./Ungarn, CE:ECHR:2016:0517JUD004246113, § 138, und EGMR, 20. Dezember 2016, Uspaskich/Litauen, CE:ECHR:2016:1220JUD001473708, § 98).

85

Gemäß diesen Zielen und der in Rn. 76 des vorliegenden Urteils genannten Anforderung stellt die in Art. 9 Abs. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union vorgesehene Immunität den Schutz des ordnungsgemäßen Funktionierens und der Unabhängigkeit des Europäischen Parlaments sicher, wie der Generalanwalt in den Nrn. 92 und 94 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, indem jedem seiner Mitglieder nach der amtlichen Bekanntgabe der Wahlergebnisse die Möglichkeit gewährt wird, sich ungehindert zur ersten Sitzung der neuen Legislaturperiode zu begeben, um sich den in Art. 12 des Akts von 1976 vorgesehenen Vorgängen zu unterziehen, und indem die konstituierende Sitzung der neuen Legislaturperiode ermöglicht wird.

86

Dadurch trägt diese Immunität auch dazu bei, die Effektivität des in Art. 39 Abs. 2 der Charta der Grundrechte garantierten passiven Wahlrechts sicherzustellen, das in dieser den Ausdruck des in Art. 14 Abs. 3 EUV und in Art. 1 Abs. 3 des Akts von 1976 verankerten Grundsatzes der allgemeinen, unmittelbaren, freien und gleichen Wahl darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2015, Delvigne, C‑650/13, EU:C:2015:648, Rn. 44), indem den Personen, die zu Mitgliedern des Europäischen Parlaments gewählt wurden, ermöglicht wird, die Schritte zu unternehmen, die notwendig sind, um ihr Mandat aufzunehmen.

87

Demnach genießt eine Person wie Herr Junqueras Vies, deren Wahl ins Europäische Parlament amtlich bekanntgegeben worden ist, als sie sich im Rahmen eines Verfahrens wegen schwerwiegender Straftaten in Untersuchungshaft befand, der aber nicht gestattet wurde, bestimmten Anforderungen nachzukommen, die nach innerstaatlichem Recht nach einer solchen Bekanntgabe vorgesehen sind, und sich zum Europäischen Parlament zu begeben, um an dessen erster Sitzung teilzunehmen, nach Art. 9 Abs. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union Immunität.

88

Daher ist, wie vom vorlegenden Gericht erbeten, zu prüfen, ob diese Immunität verlangt, die gegen eine solche Person verhängte Untersuchungshaft aufzuheben, um ihr zu ermöglichen, sich zum Europäischen Parlament zu begeben und dort die verlangten Formalitäten zu erfüllen.

89

Wie in Rn. 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist Herr Junqueras Vies am 13. Juni 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments geworden, dem Tag, an dem die zuständigen spanischen Behörden die Ergebnisse der am 26. Mai 2019 abgehaltenen Wahlen zum Europäischen Parlament amtlich bekanntgegeben haben. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Betroffene in Untersuchungshaft.

90

Aus den Erwägungen in den Rn. 83 bis 86 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass es der in Art. 9 Abs. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union vorgesehenen Immunität u. a. zuwiderläuft, wenn eine gerichtliche Maßnahme wie die Untersuchungshaft die Freiheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments behindert, zu dem Ort zu reisen, an dem die erste Sitzung der neuen Legislaturperiode stattfinden soll, um dort die nach dem Akt von 1976 vorgeschriebenen Formalitäten zu erfüllen.

91

Wenn das zuständige nationale Gericht der Auffassung ist, dass die Untersuchungshaft einer Person, die die Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments erworben hat, aufrechtzuerhalten ist, obliegt es ihm unter diesen Umständen nach Art. 9 Abs. 3 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union, beim Europäischen Parlament unverzüglich zu beantragen, die durch Abs. 2 dieses Artikels gewährte Immunität aufzuheben.

92

Nach alledem ist dem nationalen Gericht zu antworten, dass das Bestehen der in Art. 9 Abs. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union vorgesehenen Immunität verlangt, die gegen eine Person, die diese Immunität genießt, verhängte Untersuchungshaft aufzuheben, um ihr zu ermöglichen, sich zum Europäischen Parlament zu begeben und dort die vorgeschriebenen Formalitäten zu erfüllen. Wenn das zuständige nationale Gericht allerdings der Auffassung ist, dass diese Maßnahme aufrechtzuerhalten ist, nachdem die betreffende Person die Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments erworben hat, muss es unverzüglich auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 dieses Protokolls die Aufhebung dieser Immunität beim Europäischen Parlament beantragen.

93

Zudem obliegt es dem vorlegenden Gericht, unter Beachtung des Unionsrechts und insbesondere des in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV genannten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit zu beurteilen, welche Wirkungen den Immunitäten, die Herr Junqueras Vies in eventuellen anderen Verfahren wie den in Rn. 30 des vorliegenden Urteils genannten genießt, zukommen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2008, Marra, C‑200/07 und C‑201/07, EU:C:2008:579, Rn. 41). In diesem Rahmen obliegt es ihm, insbesondere die in den Rn. 64, 65, 76 und 82 bis 86 des vorliegenden Urteils genannten Gesichtspunkte zu berücksichtigen.

94

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 9 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union dahin auszulegen ist, dass

eine Person, deren Wahl ins Europäische Parlament amtlich bekanntgegeben worden ist, als sie sich im Rahmen eines Verfahrens wegen schwerwiegender Straftaten in Untersuchungshaft befand, der aber nicht gestattet wurde, bestimmten Anforderungen nachzukommen, die nach innerstaatlichem Recht nach einer solchen Bekanntgabe vorgesehen sind, und sich zum Europäischen Parlament zu begeben, um an dessen erster Sitzung teilzunehmen, nach Art. 9 Abs. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union Immunität genießt;

diese Immunität verlangt, die gegen die betreffende Person verhängte Untersuchungshaft aufzuheben, um ihr zu ermöglichen, sich zum Europäischen Parlament zu begeben und dort die vorgeschriebenen Formalitäten zu erfüllen. Wenn das zuständige nationale Gericht allerdings der Auffassung ist, dass diese Maßnahme aufrechtzuerhalten ist, nachdem diese Person die Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments erworben hat, muss es unverzüglich auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 dieses Protokolls die Aufhebung dieser Immunität beim Europäischen Parlament beantragen.

Kosten

95

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 9 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass

 

eine Person, deren Wahl ins Europäische Parlament amtlich bekanntgegeben worden ist, als sie sich im Rahmen eines Verfahrens wegen schwerwiegender Straftaten in Untersuchungshaft befand, der aber nicht gestattet wurde, bestimmten Anforderungen nachzukommen, die nach innerstaatlichem Recht nach einer solchen Bekanntgabe vorgesehen sind, und sich zum Europäischen Parlament zu begeben, um an dessen erster Sitzung teilzunehmen, nach Art. 9 Abs. 2 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Union Immunität genießt;

 

diese Immunität verlangt, die gegen die betreffende Person verhängte Untersuchungshaft aufzuheben, um ihr zu ermöglichen, sich zum Europäischen Parlament zu begeben und dort die vorgeschriebenen Formalitäten zu erfüllen. Wenn das zuständige nationale Gericht allerdings der Auffassung ist, dass diese Maßnahme aufrechtzuerhalten ist, nachdem diese Person die Eigenschaft als Mitglied des Europäischen Parlaments erworben hat, muss es unverzüglich auf der Grundlage von Art. 9 Abs. 3 dieses Protokolls die Aufhebung dieser Immunität beim Europäischen Parlament beantragen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.