URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

5. Dezember 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Gegenseitige Anerkennung – Finanzielle Sanktionen – Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung – Rahmenbeschluss 2005/214/JI – Entscheidung einer Behörde des Entscheidungsmitgliedstaats auf der Grundlage von Fahrzeugregisterdaten – Kenntnisnahme von den Sanktionen und Rechtsbehelfsmodalitäten durch den Betroffenen – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz“

In der Rechtssache C‑671/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy w Chełmnie (Rayongericht Chełmno, Polen) mit Entscheidung vom 16. Oktober 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Oktober 2018, in dem Verfahren auf Betreiben des

Centraal Justitieel Incassobureau, Ministerie van Veiligheid en Justitie (CJIB),

Beteiligte:

Z. P.,

Prokuratura Rejonowa w Chełmnie,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. L. Noort als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse und J. Schmoll als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 Buchst. g und Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. 2005, L 76, S. 16) in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) (im Folgenden: Rahmenbeschluss).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens, das das Centraal Justitieel Incassobureau, Ministerie van Veiligheid en Justitie (CJIB) (Zentrales Justizinkassobüro des Ministeriums für Sicherheit und Justiz [CJIB], Niederlande) (im Folgenden: Justizinkassobüro) betreibt, um in Polen die Anerkennung und Vollstreckung einer Geldbuße zu erreichen, die gegen Z. P. in den Niederlanden wegen einer Zuwiderhandlung gegen Straßenverkehrsvorschriften verhängt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 1, 2, 4 und 5 des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(1)

Der Europäische Rat unterstützte auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen innerhalb der Union werden sollte.

(2)

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sollte für Geldstrafen oder Geldbußen von Gerichts- oder Verwaltungsbehörden gelten, um die Vollstreckung solcher Geldstrafen oder Geldbußen in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie verhängt worden sind, zu erleichtern.

(4)

Dieser Rahmenbeschluss soll auch die wegen Zuwiderhandlungen gegen die Verkehrsvorschriften verhängten Geldstrafen und Geldbußen erfassen.

(5)

Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 des Vertrags anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union … zum Ausdruck kommen …“

4

Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck

a)

‚Entscheidung‘ eine rechtskräftige Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße durch eine natürliche oder juristische Person, die

i)

von einem Gericht des Entscheidungsstaats in Bezug auf eine nach dessen Recht strafbare Handlung getroffen wurde;

ii)

von einer nicht gerichtlichen Behörde des Entscheidungsstaats in Bezug auf eine nach dessen Recht strafbare Handlung getroffen wurde, vorausgesetzt, dass die betreffende Person die Möglichkeit hatte, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen;

iii)

von einer nicht gerichtlichen Behörde des Entscheidungsstaats in Bezug auf Handlungen erlassen wurde, die nach dessen innerstaatlichem Recht als Zuwiderhandlung gegen Rechtsvorschriften geahndet wurden, vorausgesetzt, dass die betreffende Person die Möglichkeit hatte, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen;

iv)

von einem auch in Strafsachen zuständigen Gericht getroffen wurde und sich auf eine unter Ziffer iii) fallende Entscheidung bezieht;

b)

‚Geldstrafe oder Geldbuße‘ die Verpflichtung zur Zahlung

i)

eines in einer Entscheidung festgesetzten Geldbetrags aufgrund einer Verurteilung wegen einer Zuwiderhandlung;

…“

5

Art. 3 („Grundrechte“) des Rahmenbeschlusses lautet:

„Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags.“

6

Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses bestimmt zu dessen Anwendungsbereich:

„Die folgenden Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten) führen – wenn sie im Entscheidungsstaat strafbar sind und so wie sie in dessen Recht definiert sind – gemäß diesem Rahmenbeschluss auch ohne Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen:

gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise, einschließlich Verstößen gegen Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten und des Gefahrgutrechts,

…“

7

Art. 6 des Rahmenbeschlusses lautet:

„Die zuständigen Behörden im Vollstreckungsstaat erkennen eine gemäß Artikel 4 übermittelte Entscheidung ohne jede weitere Formalität an und treffen unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu deren Vollstreckung, es sei denn, die zuständige Behörde beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung nach Artikel 7 geltend zu machen.“

8

In Art. 7 („Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung“) Abs. 2 Buchst. g und i sowie Abs. 3 des Rahmenbeschlusses heißt es:

„(2)   Ferner kann die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung verweigern, wenn nachgewiesen ist, dass

g)

laut der Bescheinigung gemäß Artikel 4 die betroffene Person im Falle eines schriftlichen Verfahrens nicht persönlich oder über einen nach innerstaatlichem Recht befugten Vertreter von ihrem Recht, die Entscheidung anzufechten, und von den Fristen, die für dieses Rechtsmittel gelten, gemäß den Rechtsvorschriften des Entscheidungsstaats unterrichtet worden ist;

i)

laut der Bescheinigung gemäß Artikel 4 die betroffene Person zu der Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, es sei denn, aus der Bescheinigung geht hervor, dass die betroffene Person im Einklang mit weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Entscheidungsstaates:

iii)

nachdem ihr die Entscheidung zugestellt und sie ausdrücklich von ihrem Recht auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf ein Berufungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, an dem die Person teilnehmen kann und bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann:

ausdrücklich erklärt hat, dass sie die Entscheidung nicht anficht;

oder

innerhalb der geltenden Frist keine Wiederaufnahme des Verfahrens bzw. kein Berufungsverfahren beantragt hat;

(3)   Bevor die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats in den in Absatz 1 und Absatz 2 Buchstaben c, g, i und j genannten Fällen beschließt, die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung ganz oder teilweise zu verweigern, konsultiert sie auf geeignete Art und Weise die zuständige Behörde des Entscheidungsstaats und bittet sie gegebenenfalls um die unverzügliche Übermittlung aller erforderlichen zusätzlichen Informationen.“

9

Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Gibt die in Artikel 4 genannte Bescheinigung Anlass zu der Vermutung, dass Grundrechte oder allgemeine Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags verletzt wurden, kann jeder Mitgliedstaat die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen verweigern. In diesem Fall findet das in Artikel 7 Absatz 3 genannte Verfahren Anwendung.“

Niederländisches Recht

10

Nach Art. 4 Abs. 1 und 2 der Wet administratiefrechtelijke handhaving verkeersvoorschriften (Gesetz über die verwaltungsrechtliche Durchführung von Verkehrsvorschriften) (im Folgenden: StVO) wird eine verwaltungsrechtliche Sanktion durch datierte Entscheidung verhängt. Diese Entscheidung wird innerhalb von vier Monaten nach Begehung der Zuwiderhandlung bekannt gegeben, indem sie an die vom Betroffenen angegebene Anschrift zugestellt wird. Ist dies nicht möglich und wurde die Zuwiderhandlung mit einem oder mittels eines Kraftfahrzeugs begangen, für das ein Kennzeichen angegeben wurde, muss die Entscheidung, mit der die verwaltungsrechtliche Sanktion verhängt wird, innerhalb von vier Monaten nach Kenntnisnahme von Namen und Anschrift des Fahrzeughalters bekannt gegeben werden, indem die Entscheidung an diese Anschrift zugestellt wird, wobei sie spätestens fünf Jahre nach Begehung der Zuwiderhandlung zugestellt werden muss.

11

Gemäß Art. 5 StVO wird, wenn feststeht, dass die Zuwiderhandlung mit einem oder mittels eines Kraftfahrzeugs begangen wurde, für das ein Kennzeichen zugeteilt wurde, und wenn es nicht sofort möglich ist, den Fahrer dieses Fahrzeugs zu ermitteln, die Verwaltungssanktion unbeschadet von Art. 31 Abs. 2 StVO gegen die Person verhängt, die zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung für das Kennzeichen als Halter registriert war.

12

Nach Art. 8 StVO ist die Entscheidung, mit der die Verwaltungsstrafe verhängt wird, für nichtig zu erklären, wenn der Inhaber des Kennzeichens des fraglichen Fahrzeugs gegen sie klagt und erstens glaubhaft darlegt, dass das Fahrzeug gegen seinen Willen von einer anderen Person genutzt wurde und er dies auch bei Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt nicht unterbinden konnte, zweitens einen für höchstens drei Monate geschlossenen schriftlichen gewerblichen Mietvertrag vorlegt, aus dem sich bestimmen lässt, wer zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung Mieter des Fahrzeugs war, oder drittens einen entlastenden Beweis oder eine Erklärung vorlegt, wonach er zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung nicht mehr Eigentümer oder Halter des betreffenden Fahrzeugs war.

13

Art. 6:7 der Algemeen wet bestuursrecht (Allgemeines Verwaltungsgesetz) bestimmt:

„Die Frist für die Einlegung eines Widerspruchs oder eines Rechtsbehelfs beträgt sechs Wochen.“

14

Art. 6:8 des Gesetzes bestimmt:

„Die Frist beginnt mit dem Tag nach der Bekanntgabe der Entscheidung in der vorgeschriebenen Weise.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15

Das Justizinkassobüro gehört zum Ministerium für Sicherheit und Justiz des Königreichs der Niederlande und ist u. a. für die Einziehung von Geldbußen wegen Straßenverkehrsverstößen zuständig.

16

Am 9. November 2017 erließ das Justizinkassobüro eine Entscheidung, mit der gegen Z. P. eine Geldbuße in Höhe von 232 Euro wegen einer Zuwiderhandlung gegen die StVO verhängt wurde, die der Fahrer eines in Polen auf seinen Namen zugelassenen Fahrzeugs begangen hatte. Gemäß Art. 5 StVO liegt die Haftung, sofern nichts anderes nachgewiesen wird, bei der Person, auf deren Namen das Fahrzeug zugelassen ist.

17

Nach dem Vorabentscheidungsersuchen wurde die Entscheidung vom 9. November 2017 über die Verhängung der Geldbuße durch Einwurf in den Briefkasten von Z. P. zugestellt. In ihr war angegeben, dass die Rechtsbehelfsfrist am 21. Dezember 2017 ablaufe. Die Rechtsbehelfsfrist begann nicht an dem Tag des tatsächlichen Zugangs der Entscheidung, sondern an dem Tag ihres Erlasses.

18

Da gegen die Entscheidung vom 9. November 2017 kein Rechtsbehelf eingelegt wurde, ist sie am 21. Dezember 2017 rechtskräftig geworden.

19

Mit Schreiben vom 24. Mai 2018 beantragte das Justizinkassobüro beim Sąd Rejonowy w Chełmnie (Rayongericht Chełmno, Polen) die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung vom 9. November 2017.

20

Z. P. macht beim Sąd Rejonowy w Chełmnie (Bezirksgericht Chełmno) geltend, dass er zum Zeitpunkt der beanstandeten Zuwiderhandlung das betreffende Fahrzeug bereits verkauft und seinen Versicherer entsprechend informiert habe. Er räumt jedoch ein, die für die Zulassung des Fahrzeugs zuständige Behörde nicht informiert zu haben. Des Weiteren seien sowohl die Form der Übersendung der Entscheidung vom 9. November 2017 als auch deren Inhalt für ihn nicht nachvollziehbar gewesen, und er habe nicht gewusst, dass das zugestellte Dokument offizieller Natur gewesen sei.

21

Da Z. P. des Weiteren geltend machte, dass ihm der Zeitpunkt der Zustellung der Entscheidung vom 9. November 2017 nicht bekannt sei, hat das vorlegende Gericht das Justizinkassobüro gemäß Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses um entsprechende Auskunft ersucht. Dieses teilte mit, dass ihm diese Information nicht vorliege.

22

In diesem Kontext stellt sich das vorlegende Gericht zunächst die Frage, ob Z. P. die Möglichkeit hatte, die Sache vor ein Gericht zu bringen, und ob somit Gründe vorliegen, die es erlauben, die Vollstreckung der Entscheidung vom 9. November 2017 auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses zu verweigern. Hierzu stellt das Gericht fest, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt sein könnte, wenn im außergerichtlichen Verfahren keine angemessene Rechtsbehelfsfrist gewährt wird.

23

Das nationale Gericht stellt sich anschließend die Frage, ob der Rahmenbeschluss je nachdem, ob das Verfahren zur Verhängung der Sanktion administrativer, ordnungswidrigkeitenrechtlicher oder strafrechtlicher Natur ist, eine differenzierte Behandlung sanktionierter Personen zulässt.

24

Schließlich bezweifelt das vorlegende Gericht, dass die auf der Grundlage des Kennzeichens eines Fahrzeugs und der im Rahmen des grenzüberschreitenden Austauschs von Daten zu dessen Zulassung erhaltenen Informationen verhängte Geldbuße mit dem Grundsatz vereinbar ist, dass die strafrechtliche Haftung nach polnischem Recht persönlich ist.

25

Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy w Chełmnie (Rayongericht Chełmno) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 7 Abs. 2 Buchst. i Ziff. iii und Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen, dass das betreffende Gericht berechtigt ist, die Vollstreckung einer Entscheidung einer nicht gerichtlichen Behörde des Entscheidungsstaats abzulehnen, wenn es feststellt, dass die Zustellung der Entscheidung in einer Weise erfolgt ist, die das Recht des Beteiligten auf eine wirksame Verteidigung vor einem Gericht verletzt?

2.

Insbesondere: Kann die Ablehnung auf die Feststellung gestützt werden, dass trotz der Einhaltung der im Entscheidungsstaat geltenden Regelungen zur Zustellung und zu den Fristen für die Anfechtung einer Entscheidung im Sinne von Art. 1 Buchst. a Ziff. ii und iii des Rahmenbeschlusses der Beteiligte, der sich in der Regel im Vollstreckungsstaat aufhält, auf der Verfahrensstufe vor der Anrufung eines Gerichts keine reale und wirksame Möglichkeit hatte, die eigenen Rechte zu verteidigen, da die Frist zur angemessenen Reaktion auf die Bekanntgabe der Verhängung der Strafe unzureichend bemessen war?

3.

Kann der Umfang des Rechtsschutzes, der Personen gewährt wird, gegen die eine Geldstrafe oder Geldbuße verhängt werden soll, gemäß Art. 3 des Rahmenbeschlusses davon abhängen, ob es sich bei dem Verfahren zur Verhängung der Strafe bzw. Buße um ein Verwaltungs‑, Ordnungswidrigkeits- oder Strafverfahren handelt?

4.

Dürfen im Licht der Ziele und der Grundsätze, die im Rahmenbeschluss, u. a. in seinem Art. 3, verankert sind, die Entscheidungen nicht gerichtlicher Behörden vollstreckt werden, die auf der Grundlage der Vorschriften des Entscheidungsstaats erlassen wurden und die Person für einen Verstoß gegen die Straßenverkehrsvorschriften zur Verantwortung ziehen, auf die das Fahrzeug zugelassen ist, mithin Entscheidungen, die allein auf die Angaben gestützt werden, die im Rahmen des grenzüberschreitenden Austauschs der Fahrzeugregisterdaten erlangt wurden, ohne dass irgendein Ermittlungsverfahren in dieser Sache durchgeführt wurde und insbesondere ohne dass der tatsächliche Täter ermittelt wurde?

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 1 bis 3

26

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Außerdem kann der Gerichtshof veranlasst sein, unionsrechtliche Vorschriften zu berücksichtigen, die das nationale Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat (Urteil vom 7. August 2018, Smith, C‑122/17, EU:C:2018:631, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Insoweit beruht nach der Vorlageentscheidung die erste Frage auf der Prämisse, dass Art. 7 Abs. 2 Buchst. i und iii des Rahmenbeschlusses im Ausgangsverfahren anwendbar ist. Aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte geht jedoch hervor, dass das Verfahren vorliegend das gerichtliche Stadium nicht erreicht hat, da das Ausgangsverfahren nur die Möglichkeit betrifft, die von der Verwaltungsbehörde verhängte Geldbuße bei der niederländischen Staatsanwaltschaft anzufechten, und nicht die Möglichkeit, die Sache vor Gericht zu bringen, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Entscheidung getroffen hat. Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben, ist folglich Art. 7 Abs. 2 Buchst. g des Rahmenbeschlusses auszulegen.

28

Mit seinen Fragen 1 bis 3, die gemeinsam zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob zum einen Art. 7 Abs. 2 Buchst. g und Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass, nachdem eine Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße nach den nationalen Rechtsvorschriften des Entscheidungsmitgliedstaats zugestellt wurde, die die Angabe enthält, dass und innerhalb welcher Frist ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, die Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Anerkennung oder Vollstreckung dieser Entscheidung verweigern kann, wenn sich herausstellt, dass dem Betreffenden keine ausreichende Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung eingeräumt wurde, und ob sich zum anderen die Tatsache, dass das Verfahren zur Verhängung der fraglichen Geldstrafe oder Geldbuße den Charakter eines Verwaltungsverfahrens aufweist, auf die Verpflichtungen der zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats auswirkt.

29

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss, wie insbesondere aus seinen Art. 1 und 6 sowie den Erwägungsgründen 1 und 2 hervorgeht, darauf abzielt, einen wirksamen Mechanismus zur Anerkennung und grenzüberschreitenden Vollstreckung von rechtskräftigen Entscheidungen über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße durch eine natürliche oder juristische Person nach der Begehung einer der in Art. 5 des Rahmenbeschlusses aufgezählten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten einzuführen (Urteil vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 27).

30

Gibt die in Art. 4 des Rahmenbeschlusses genannte Bescheinigung, die der Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße beigefügt ist, Anlass zu der Vermutung, dass Grundrechte oder allgemeine Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 EUV verletzt wurden, können die zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats die Anerkennung oder Vollstreckung einer solchen Entscheidung zwar verweigern, wenn einer der in Art. 7 Abs. 1 und 2 und in Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses angeführten Gründe für die Versagung der Anerkennung und Vollstreckung vorliegt (Urteil vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 28).

31

Angesichts des Umstands, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der der Systematik des Rahmenbeschlusses zugrunde liegt, nach dessen Art. 6 bedeutet, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, eine Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße, die gemäß Art. 4 des Rahmenbeschlusses übermittelt wurde, ohne jede weitere Formalität anzuerkennen und unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Vollstreckung zu treffen, sind die Gründe, die Anerkennung oder Vollstreckung einer solchen Entscheidung zu verweigern, jedoch eng auszulegen (Urteil vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das Justizinkassobüro am 24. Mai 2018 beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße gegen Z. P. wegen einer gegen die Straßenverkehrsvorschriften verstoßenden Verhaltensweise gestellt hat. Dem Antrag waren eine nach Art. 4 des Rahmenbeschlusses erforderliche Bescheinigung in polnischer Sprache und die Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt worden war, beigefügt. Die Bescheinigung enthielt die nach Art. 1 Buchst. a Ziff. iii des Rahmenbeschlusses erforderliche Angabe, dass die betreffende Person Z. P. die Möglichkeit hatte, die Sache vor ein in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen.

33

Wie sich aus Rn. 31 des vorliegenden Urteils ergibt, ist die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats in diesem Kontext grundsätzlich verpflichtet, die übermittelte Entscheidung anzuerkennen und zu vollstrecken und kann dies abweichend von der allgemeinen Regel nur verweigern, wenn einer der im Rahmenbeschluss ausdrücklich vorgesehenen Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung vorliegt.

34

Was als Erstes die Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. g des Rahmenbeschlusses angeht, betrifft diese Bestimmung den Fall, dass der Betroffene nicht „gemäß den Rechtsvorschriften des Entscheidungsstaats“ von seinem Recht, die Entscheidung anzufechten, und von den Fristen, die für dieses Rechtsmittel gelten, unterrichtet wurde.

35

Durch diesen Verweis auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten hat der Unionsgesetzgeber diesen die Entscheidung darüber überlassen, auf welche Weise sie den Betreffenden über sein Recht auf die Einlegung eines Rechtsbehelfs, die hierfür geltende Frist und deren Beginn informieren, sofern die Zustellung wirksam und die Ausübung der Verteidigungsrechte sichergestellt ist (vgl. entsprechend Urteil vom 22. März 2017, Tranca u. a., C‑124/16, C‑188/16 und C‑213/16, EU:C:2017:228, Rn. 42).

36

Insoweit ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Entscheidung vom 9. November 2017 über die Verhängung der Geldbuße gegen Z. P. nach niederländischem Recht zugestellt wurde und in ihr über das Recht auf Einlegung eines spätestens am 21. Dezember 2017 einzureichenden Rechtsbehelfs informiert wurde.

37

Es ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss seinem Art. 3 nach nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 EUV berührt, weshalb Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses auch vorsieht, dass die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße von der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats im Fall einer Verletzung der Grundrechte oder der in Art. 6 des Vertrags festgelegten allgemeinen Rechtsgrundsätze verweigert werden kann.

38

Insoweit ist der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt. Er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) und nun auch in Art. 47 der Grundrechtecharta verankert (Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 35).

39

Die Gewährleistung eines tatsächlichen und wirksamen Zugangs von Entscheidungen, d. h. ihrer Zustellung an die betroffene Person, sowie das Bestehen eines ausreichenden Zeitraums, um ein Rechtsmittel gegen sie einzulegen und dieses vorzubereiten, ist jedoch erforderlich, um das Recht auf wirksamen Rechtsschutz zu wahren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. September 2013, PPG und SNF/ECHA, C‑625/11 P, EU:C:2013:594, Rn. 35, sowie vom 2. März 2017, Henderson, C‑354/15, EU:C:2017:157, Rn. 72).

40

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Frist von sechs Wochen wie die im Ausgangsverfahren fragliche ausreicht, damit der Betreffende über die Einlegung eines möglichen Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße entscheiden kann.

41

Aus der Verweisungsentscheidung geht zwar hervor, dass vorliegend Zweifel am genauen Datum der Zustellung der Entscheidung vom 9. November 2017 bestehen, da diese Zustellung durch Einwurf in den Briefkasten des Empfängers erfolgt ist, und somit Zweifel an dem Datum, ab dem für diesen die Frist zu laufen begann, innerhalb deren er die gegen ihn getroffene Entscheidung anfechten konnte.

42

Dem Vorabentscheidungsersuchen lässt sich jedoch nicht entnehmen, dass Z. P. im Ausgangsverfahren nicht genügend Zeit hatte, um seine Verteidigung vorzubereiten. Jedenfalls ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der Umstände des vorliegenden Falles zu prüfen, dass der Betreffende tatsächlich von der gegen ihn ergangenen Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße Kenntnis erlangen konnte und zur Vorbereitung seiner Verteidigung genügend Zeit hatte.

43

Sollte dies der Fall sein, ist nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie aus Rn. 31 des vorliegenden Urteils hervorgeht, der Systematik des Rahmenbeschlusses zugrunde liegt, die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats verpflichtet, eine gemäß Art. 4 des Rahmenbeschlusses übermittelte Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße anzuerkennen, ohne dass irgendeine andere Formalität erforderlich wäre, und hat unverzüglich alle zu ihrer Vollstreckung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

44

Stellt die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats unter Berücksichtigung der verfügbaren Informationen hingegen fest, dass die in Art. 4 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Bescheinigung Anlass zu der Vermutung gibt, dass möglicherweise Grundrechte oder allgemeine Rechtsgrundsätze verletzt worden sind, kann sie die Anerkennung und Vollstreckung der übermittelten Entscheidung verweigern. Zuvor muss sie gemäß Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses von der Behörde des Entscheidungsmitgliedstaats alle erforderlichen Informationen anfordern.

45

Um die praktische Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses und insbesondere die Wahrung der Grundrechte zu gewährleisten, ist die Behörde des Entscheidungsmitgliedstaats zur Vorlage dieser Informationen verpflichtet (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 64).

46

Was als Zweites die Frage angeht, ob sich der administrative Charakter des Verfahrens zur Verhängung der Geldbuße auf die Verpflichtungen der zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats auswirken könnte, ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss nach seinem zweiten Erwägungsgrund darauf abzielt, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf Geldstrafen oder Geldbußen anzuwenden, die sowohl von Gerichts- als auch von Verwaltungsbehörden verhängt werden.

47

So kann nach Art. 1 des Rahmenbeschlusses die Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße nicht nur von einem Gericht des Entscheidungsmitgliedstaats wegen einer nach dessen Recht strafbaren Handlung getroffen werden, sondern auch von einer nicht gerichtlichen Behörde des Entscheidungsmitgliedstaats in Bezug auf strafbare Handlungen und Handlungen, die nach dessen innerstaatlichem Recht Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften darstellen, vorausgesetzt, dass die betreffende Person in beiden Fällen die Möglichkeit hatte, die Sache vor ein auch in Strafsachen zuständiges Gericht zu bringen.

48

Ferner bestimmt der Rahmenbeschluss in seinem Art. 5 Abs. 1 ausdrücklich, dass er auch auf Geldstrafen oder Geldbußen anwendbar ist, die wegen Straftaten und Verwaltungsübertretungen in Zusammenhang mit einer „gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende[n] Verhaltensweise“ verhängt wurden. Hierzu konnte der Gerichtshof im Übrigen bereits feststellen, dass sie in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht einheitlich behandelt werden; in einigen von ihnen werden sie als Verwaltungsübertretungen eingestuft, in anderen als Straftaten (Urteil vom 14. November 2013, Baláž, C‑60/12, EU:C:2013:733, Rn. 34 und 46).

49

Die Tatsache, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Sanktion administrativer Art ist, hat daher keinen Einfluss auf die Verpflichtungen der zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats.

50

In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die Fragen 1 bis 3 zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 Buchst. g und Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass, nachdem eine Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße oder Geldstrafe nach den nationalen Rechtsvorschriften des Entscheidungsmitgliedstaats zugestellt wurde, die die Angabe enthält, dass und innerhalb welcher Frist ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, die Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Anerkennung oder Vollstreckung dieser Entscheidung nicht verweigern kann, sofern dem Betreffenden eine ausreichende Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung eingeräumt wurde, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, wobei die Tatsache, dass das Verfahren zur Verhängung der fraglichen Geldbuße oder Geldstrafe den Charakter eines Verwaltungsverfahrens aufweist, keine Auswirkung hat.

Zur vierten Frage

51

Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße wegen Zuwiderhandlungen gegen Straßenverkehrsvorschriften verweigern kann, wenn eine solche Sanktion aufgrund einer Haftungsvermutung nach dem nationalen Recht des Entscheidungsmitgliedstaats gegen die Person verhängt wurde, auf deren Namen das betreffende Fahrzeug zugelassen ist.

52

Vorliegend wird nach niederländischem Recht gemäß Art. 5 StVO die Verwaltungssanktion gegen die Person verhängt, die zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung für das Kennzeichen als Halter registriert war, wenn die Zuwiderhandlung mit einem Kraftfahrzeug begangen wurde, für das ein Kennzeichen zugeteilt wurde, und es nicht sofort möglich ist, den Fahrer dieses Fahrzeugs zu ermitteln.

53

Das nationale Gericht fragt sich, ob diese Bestimmung mit dem Grundsatz der Unschuldsvermutung vereinbar ist, der in Art. 48 der Grundrechtecharta, der Art. 6 Abs. 2 der EMRK entspricht, verankert ist.

54

Insoweit ergibt sich aus der zu Art. 6 Abs. 2 EMRK ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gemäß Art. 52 Abs. 3 der Grundrechtecharta bei der Auslegung von Art. 48 der Grundrechtecharta zu berücksichtigen ist, dass das Recht einer wegen einer Straftat angeklagten Person auf die Vermutung ihrer Unschuld und darauf, dass die Anklage die Beweislast für die gegen sie erhobenen Vorwürfe trägt, nicht absolut gilt. In jeder Rechtsordnung gibt es nämlich Tatsachen- oder Rechtsvermutungen, denen die EMRK grundsätzlich nicht entgegensteht. Die Staaten sind nur dazu verpflichtet, diese Vermutungen innerhalb angemessener Grenzen einzufassen und dabei sowohl die Bedeutung der betroffenen Belange zu berücksichtigen als auch die Verteidigungsrechte zu wahren (Entscheidung des EGMR vom 19. Oktober 2004, Falk/Niederlande, CE:ECHR:2004:1019DEC006627301).

55

In dieser Entscheidung stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass Art. 5 der niederländischen StVO mit der Unschuldsvermutung vereinbar sei, da eine nach diesem Artikel mit einer Geldbuße belegte Person die entsprechende Entscheidung hierüber bei einem für die Entscheidung über diese Angelegenheit uneingeschränkt zuständigen Gericht anfechten könne, und dass der betreffenden Person in diesem Verfahren nicht jede Verteidigungsmöglichkeit genommen werde, da sie auf der Grundlage von Art. 8 StVO Argumente vorbringen könne.

56

Im vorliegenden Fall geht aus der Akte beim Gerichtshof hervor, dass nach Art. 8 der niederländischen StVO die Entscheidung über die Verhängung einer Verwaltungssanktion für nichtig zu erklären ist, wenn der Inhaber des Kennzeichens des fraglichen Fahrzeugs insbesondere nachweist, dass ein Dritter das Fahrzeug gegen seinen Willen benutzt hat und er ihn daran auch bei Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt nicht hindern konnte, oder wenn er eine Bescheinigung vorlegt, wonach er zum Zeitpunkt des Tatvorwurfs weder Eigentümer noch Halter des Fahrzeugs war.

57

Da die in der niederländischen StVO festgelegte Haftungsvermutung widerlegt werden kann und feststeht, dass Z. P. nach niederländischem Recht sehr wohl über eine Rechtsgrundlage verfügte, die es ihm ermöglichte, die Entscheidung über die Verhängung der im Ausgangsverfahren fraglichen Geldbuße für nichtig erklären zu lassen, steht Art. 5 StVO der Anerkennung und Vollstreckung dieser Entscheidung nicht entgegen.

58

Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldstrafe oder Geldbuße wegen Zuwiderhandlungen gegen Straßenverkehrsvorschriften nicht verweigern kann, wenn eine solche Sanktion aufgrund einer Haftungsvermutung nach dem nationalen Recht des Entscheidungsmitgliedstaats gegen die Person verhängt wurde, auf deren Namen das betreffende Fahrzeug zugelassen ist, sofern diese Vermutung widerlegbar ist.

Kosten

59

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 7 Abs. 2 Buchst. g und Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 sind dahin auszulegen, dass, nachdem eine Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße oder Geldstrafe nach den nationalen Rechtsvorschriften des Entscheidungsmitgliedstaats zugestellt wurde, die die Angabe enthält, dass und innerhalb welcher Frist ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, die Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Anerkennung oder Vollstreckung dieser Entscheidung nicht verweigern kann, sofern dem Betreffenden eine ausreichende Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung eingeräumt wurde, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, wobei die Tatsache, dass das Verfahren zur Verhängung der fraglichen Geldbuße oder Geldstrafe den Charakter eines Verwaltungsverfahrens aufweist, keine Auswirkung hat.

 

2.

Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/214 in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299 ist dahin auszulegen, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats die Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße oder Geldstrafe wegen Zuwiderhandlungen gegen Straßenverkehrsvorschriften nicht verweigern kann, wenn eine solche Sanktion aufgrund einer Haftungsvermutung nach dem nationalen Recht des Entscheidungsmitgliedstaats gegen die Person verhängt wurde, auf deren Namen das betreffende Fahrzeug zugelassen ist, sofern diese Vermutung widerlegbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.