SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 25. Juli 2018 ( 1 )

Rechtssache C‑310/16

Spetsializirana prokuratura

gegen

Petar Dzivev,

Galina Angelova,

Georgi Dimov,

Milko Velkov

(Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad [Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der finanziellen Interessen der Union – Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug – Steuerstraftaten – Wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer – Umfang der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten – Grenzen aufgrund nationaler und unionsrechtlicher Grundrechte – Unter Verstoß gegen nationales Recht erlangte Beweise – Telekommunikationsüberwachung – Unzuständigkeit des die Überwachung anordnenden Gerichts“

I. Einleitung

1.

Herr Dzivev ist angeklagt, eine kriminelle Bande angeführt zu haben, die Mehrwertsteuerbetrug begangen hat. Um Beweise für seine Beteiligung zu erhalten, wurde die Telekommunikation überwacht (Telefone wurden überwacht). Allerdings wurden einige der Tonaufnahmen von einem offenbar unzuständigen Gericht angeordnet. Außerdem waren einige Anordnungen nicht ordnungsgemäß begründet. Nach bulgarischem Recht sind die auf diese Weise erlangten Beweise rechtswidrig und dürfen im Strafverfahren gegen Herrn Dzivev nicht verwertet werden.

2.

Vor diesem tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund möchte der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) wissen, ob das Unionsrecht in einem Fall wie diesem der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften entgegensteht, die die Verwertung von Beweisen verbieten, sofern diese aufgrund einer von einem unzuständigen Gericht angeordneten Überwachung erlangt wurden und/oder die Anordnung nicht ordnungsgemäß begründet wurde, wenn angeblich mit den erlangten Beweisen die Beteiligung von Herrn Dzivev an einer mehrwertsteuerbezogenen Straftat festgestellt werden könnte.

3.

Wie weit gehen die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zum Schutz der finanziellen Interessen der Union nach Art. 325 AEUV? Kann oder muss eine nationale Rechtsvorschrift unangewendet gelassen werden, wenn sie die ordnungsgemäße und vollständige Erhebung der Mehrwertsteuer, auch durch Auferlegung von Sanktionen für Betrug oder andere rechtswidrige Handlungen, die die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigen, offenbar behindert?

4.

Es lässt sich nicht leugnen, dass die schnelle Entwicklung der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Frage nicht frei von Kontroversen und, milde ausgedrückt, inneren Unstimmigkeiten ist. Zunächst erging das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Taricco ( 2 ). Dann folgten die Urteile in den Rechtssachen M.A.S. und M.B. ( 3 ) und Scialdone ( 4 ), in denen ein anderer (und meines Erachtens ein richtigerer) Ansatz verfolgt wurde. Erst kürzlich erging dann das Urteil in der Rechtssache Kolev ( 5 ), in dem der Gerichtshof zur Position im Urteil Taricco zurückgekehrt zu sein scheint. Mit weiteren Urteilen des Gerichtshofs um diese Rechtsprechung herum ist es in der Tat nicht einfach, zu sagen, wie sich die Rechtslage derzeit gestaltet. Ich werde in diesen Schlussanträgen den Versuch unternehmen, zu erklären, warum ich meine, dass man das Urteil Taricco und die nachfolgenden Urteile richtigerweise durch die Brille der Urteile M.A.S. und Scialdone und nicht des Urteils Kolev betrachtet.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

1. Charta der Grundrechte

5.

Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt: „Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.“

6.

Art. 48 Abs. 2 der Charta lautet: „Jedem Angeklagten wird die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.“

2. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

7.

Nach Art. 325 Abs. 1 AEUV „[bekämpfen die] Union und die Mitgliedstaaten … Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken“.

3. Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften

8.

Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (im Folgenden: SFI-Übereinkommen) ( 6 ) lautet:

„Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften

b)

im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend

die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;

das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge;

die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge.“

9.

Art. 2 Abs. 1 bestimmt: „Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen um sicherzustellen, dass die in Artikel 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Artikel 1 Absatz 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden können, die zumindest in schweren Betrugsfällen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung führen können; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50000 [Euro] nicht überschreiten.“

4. Beschluss 2007/436

10.

Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses 2007/436/EG, Euratom ( 7 ) bestimmt:

„Folgende Einnahmen stellen in den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union einzusetzende Eigenmittel dar:

b)

unbeschadet des Absatzes 4 Unterabsatz 2 Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten einheitlichen Satzes auf die nach Gemeinschaftsvorschriften bestimmte einheitliche MwSt.-Eigenmittelbemessungsgrundlage eines jeden Mitgliedstaats ergeben. Die für diese Zwecke heranzuziehende Bemessungsgrundlage darf 50 % des in Absatz 7 definierten BNE eines jeden Mitgliedstaats nicht überschreiten;

…“

5. Mehrwertsteuerrichtlinie

11.

Art. 250 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ( 8 ) schreibt vor, dass „[j]eder Steuerpflichtige … eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben [hat], die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist“.

12.

Art. 273 lautet wie folgt: „Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen …“

B.   Nationales Recht

13.

Art. 32 Abs. 2 der bulgarischen Verfassung enthält das Verbot, die Telekommunikation einer Person außer in den gesetzlich vorgesehenen Fällen zu überwachen.

14.

Die Pflicht zur Begründung gerichtlicher Entscheidungen ist in Art. 121 Abs. 4 der Verfassung festgelegt.

15.

Die Telekommunikationsüberwachung ist in den Art. 1 bis 3, 6 und 12 bis 18 des Zakon za spetsialnite razuznavatelni sredstva (Gesetz über besondere nachrichtendienstliche Mittel) und in den Art. 172 bis 177 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung) geregelt. Wie das vorlegende Gericht ausführt, können Überwachungsmaßnahmen sowohl vor der Einleitung des Strafverfahrens (Vorermittlungen) als auch nach dessen Einleitung erfolgen. Im ersten Fall wird ihre Anordnung von einer Stelle des Ministerstvo na vatreshnite raboti (Innenministerium) (im vorliegenden Fall vom Direktor na Glavna direktsia za borba s organiziranata prestapnost [Direktor der Hauptdirektion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität]) beantragt. Nach Verfahrensbeginn ist die Staatsanwaltschaft für die Beantragung zuständig. Der Antrag hat anzugeben, wer (oder welcher Telefonanschluss) überwacht werden soll und wegen welcher Straftat die Ermittlungen durchgeführt werden.

16.

Die Telekommunikationsüberwachung ist nur zulässig, wenn sie zuvor vom Präsidenten oder Vizepräsidenten des für den Antrag jeweils zuständigen Gerichts durch unanfechtbare gerichtliche Entscheidung angeordnet wurde.

17.

Am 1. Januar 2012 trat der Zakon za izmenenie i dopalnenie na Nakazatelno-protsesualnia kodeks (Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Strafprozessordnung, im Folgenden: ZIDNPK) über die Errichtung und Funktionsweise des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) in Kraft. Mit diesem Gesetz wurde die Zuständigkeit für Verfahren gegen kriminelle Vereinigungen vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) auf den Spetsializiran nakazatelen sad übertragen. Gemäß Art. 5 ZIDNPK ging die Zuständigkeit für die Anordnung der Telekommunikationsüberwachung in bestimmten Fällen ebenfalls auf dieses Gericht über.

18.

Laufende Strafverfahren waren gemäß Art. 9 Abs. 2 ZIDNPK von den bis dahin jeweils zuständigen Stellen fortzuführen. Mit Wirkung vom 6. März 2012 wurde die Bestimmung dahin gehend geändert, dass für die gerichtliche Überprüfung einer Überwachungsanordnung das Gericht zuständig ist, dass vor dem 1. Januar 2012 zuständig gewesen war.

III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

19.

Petar Dzivev, Galina Angelova, Georgi Dimov und Milko Velkov (im Folgenden: Angeklagte) sind angeklagt, vom 1. Juni 2011 bis zum 31. März 2012 einer kriminellen Vereinigung angehört zu haben. Sie hätten durch die Gesellschaft Karoli Kepital EOOD (im Folgenden: Karoli) in Bereicherungsabsicht Steuerstraftaten begangen, indem sie die Festsetzung oder Zahlung der von dieser Gesellschaft aufgrund des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) geschuldeten Steuer unterlassen hätten. Diese vier Personen sind darüber hinaus wegen spezifischer Steuerstraftaten der Karoli in der Zeit vom 1. Juni 2011 bis zum 31. Januar 2012 angeklagt. Die nicht angemeldete und nicht gezahlte Steuer beträgt insgesamt 372667,99 BGN (mehr als 190000 Euro).

20.

Vor der Einleitung des Strafverfahrens gegen die Angeklagten stellte die zuständige Behörde, der Direktor der Hauptdirektion zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, in der Zeit zwischen dem 10. November 2011 und dem 2. Februar 2012 Anträge auf Überwachung der Telekommunikation der Angeklagten. Durch Beschluss des Präsidenten des Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) wurde die Überwachung angeordnet.

21.

Die Staatsanwaltschaft war aufgrund der Gesetzesänderung vom 1. Januar 2012 für die Beantragung der Telefonüberwachung zuständig. Im März 2012 stellte sie einen entsprechenden Antrag und erwirkte eine Anordnung des Präsidenten des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, das vorlegende Gericht). Mit dieser Anordnung wurde in Bezug auf alle vier Angeklagten das Abhören verschiedener Telefonanschlüsse genehmigt.

22.

Der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) stellt Fragen zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der vorherigen Überwachungsanordnungen und weist dabei auf zwei Probleme hin, die diese Anordnungen aufwürfen. Erstens fehle eine ordnungsgemäße Begründung. Die Überwachungsanordnungen enthielten lediglich eine Wiedergabe der Gesetzesbestimmungen, aber keine (ins Einzelne gehende, spezifische) Begründung für ihren Erlass. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist dies nach bulgarischem Recht eine mangelhafte Begründung. Zweitens seien einige der Anordnungen (und zwar diejenigen, die im Januar und Februar 2012 erlassen wurden) von einer dafür unzuständigen Justizbehörde erlassen worden, nämlich vom Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia). Dieses Gericht hätte die Überwachungsanträge aber an den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) verweisen müssen, da es zum maßgeblichen Zeitpunkt keine Zuständigkeit mehr für derartige Anordnungen gehabt habe.

23.

Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass es bei Anordnungen des Einsatzes spezieller nachrichtendienstlicher Methoden, insbesondere der Telekommunikationsüberwachung, systemische Fehler gegeben habe, die später auf nationaler Ebene festgestellt worden seien. Daraufhin sei das betreffende Gesetz geändert worden.

24.

Das vorlegende Gericht führt aus, dass sich aus der Übergangsbestimmung des Art. 9 ZIDNPK nicht klar ergeben habe, ob sie sich auch auf laufende Vorermittlungen beziehe. Diese Bestimmung habe zu einer ausführlichen und widersprüchlichen Rechtsprechung geführt. Das Auslegungsurteil ( 9 ) Nr. 5/14 des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) vom 16. Januar 2014 bestätige aber den Grundsatz der ausschließlichen Zuständigkeit der mit der Strafgerichtsbarkeit betrauten Stelle. Es gebe keine Ausnahmen von diesem Grundsatz. Nach nationalem Recht habe er besondere Bedeutung. Das gelte insbesondere für die Fälle, in denen besondere Ermittlungsmethoden, einschließlich der Telekommunikationsüberwachung, angewendet würden. Daher könne die Anordnung in diesen Fällen nur von dem Präsidenten oder dem bevollmächtigten Vizepräsidenten des Gerichts, das die betreffende Zuständigkeit habe, erlassen werden. Werde die Anordnung von einem anderen Richter dieses Gerichts oder vom Präsidenten oder Vizepräsidenten eines anderen Gerichts erlassen, wäre sie offensichtlich rechtswidrig, und die vorgelegten Beweise könnten nicht verwertet werden. Die Beurteilung richte sich nach einem rein formellen Kriterium, ob nämlich die Anordnung von der zuständigen Stelle erlassen worden sei.

25.

Wie das vorlegende Gericht weiter ausführt, sind die Beweise, die durch die vom unzuständigen Gericht, dem Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia), angeordnete Überwachung erlangt wurden, in der vorliegenden Rechtssache von entscheidender Bedeutung. Sie belegten eindeutig und ohne jeden Zweifel eine Vielzahl von Telefongesprächen zwischen Herrn Dzivev und den anderen Angeklagten und seine führende Rolle. Nach dem nationalen Recht könnten diese Beweise in den Strafverfahren jedoch nicht verwertet werden, denn sie seien rechtswidrig erlangt worden, weil die Anordnungen von einem dafür nicht mehr zuständigen Gericht erlassen worden seien und offenbar keine ausreichende Begründung enthalten haben. Das vorlegende Gericht stellt abschließend fest, dass Herr Dzivev nur dann verurteilt werden könne, wenn diese Telefongespräche als Beweise verwertet werden könnten. Andernfalls sei Herr Dzivev freizusprechen.

26.

Vor dem Hintergrund dieses tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhangs hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist es vereinbar mit:

Art. 325 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen zum effektiven Schutz vor Betrügereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen treffen;

Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des SFI-Übereinkommens in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2007/436, wonach jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen trifft, um die wirksame Ahndung von Mehrwertsteuerhinterziehung sicherzustellen;

Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht gewährleistet,

wenn nach dem nationalen Recht die Beweise, welche durch den Einsatz von „besonderen Ermittlungsmethoden“ erlangt wurden, nämlich durch Überwachung der Telekommunikation von Personen, gegen die später Anklage wegen Mehrwertsteuerbetrugs erhoben wurde, nicht verwertet werden dürfen, da sie von einem unzuständigen Gericht angeordnet wurde, und dabei folgende Voraussetzungen berücksichtigt werden:

Zu einem früheren Zeitpunkt (zwischen einem und drei Monaten zuvor) wurde die Überwachung eines Teils dieser Telekommunikation beantragt und vom selben Gericht angeordnet, wobei es zu diesem Zeitpunkt noch zuständig war;

die Anordnung der fraglichen Telekommunikationsüberwachung (zur Verlängerung der früheren Telekommunikationsüberwachung und zur Überwachung von neuen Telefonanschlüssen) wurde beim selben Gericht beantragt, das nicht mehr zuständig war, da seine Zuständigkeit unmittelbar davor auf ein anderes Gericht übertragen wurde; das ursprüngliche Gericht hat trotz seiner fehlenden Zuständigkeit den Antrag in der Sache geprüft und die Anordnung erlassen;

zu einem späteren Zeitpunkt (etwa einen Monat später) wurde die Anordnung der Überwachung derselben Telefonanschlüsse erneut beantragt und vom nunmehr dafür zuständigen Gericht erlassen;

alle ergangenen Anordnungen enthalten faktisch keine Begründung;

die die Zuständigkeitsübertragung anordnende gesetzliche Vorschrift war unklar, führte zu zahlreichen sich widersprechenden Gerichtsentscheidungen und veranlasste daher den Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht), etwa zwei Jahre nach der gesetzlich erfolgten Zuständigkeitsübertragung und der fraglichen Telekommunikationsüberwachung ein bindendes Auslegungsurteil zu erlassen;

das mit der vorliegenden Rechtssache befasste Gericht ist nicht befugt, über Anträge auf Anordnung des Einsatzes von besonderen Ermittlungsmethoden (Telekommunikationsüberwachung) zu entscheiden; es ist jedoch zuständig, über die Rechtmäßigkeit einer durchgeführten Telekommunikationsüberwachung zu entscheiden, einschließlich der Feststellung, dass eine Anordnung nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht, und daher von einer Würdigung der auf diesem Wege erhobenen Beweise abzusehen; diese Befugnis ist nur gegeben, wenn eine gültige Anordnung der Telekommunikationsüberwachung erlassen wurde;

die Verwertung dieser Beweise (Telefongespräche der Angeklagten, deren Überwachung von einem Gericht angeordnet wurde, das seine Zuständigkeit bereits verloren hatte) ist von grundlegender Bedeutung für die Entscheidung der Frage nach der Verantwortlichkeit des Angeklagten als Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung, die zum Zweck der Begehung von Steuerstraftaten nach dem Mehrwertsteuergesetz gebildet wurde, bzw. als Anstifter zu den konkreten Steuerstraftaten, wobei er nur schuldig gesprochen und verurteilt werden kann, wenn diese Telefongespräche als Beweise verwertet werden dürfen; anderenfalls müsste er freigesprochen werden?

2.

Ist das im Vorabentscheidungsverfahren C‑614/14 erlassene Urteil auf den vorliegenden Fall anwendbar?

27.

Mit Beschluss vom 25. Juli 2016, der nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C‑614/14 ( 10 ) erging, hat das vorlegende Gericht die zweite Frage zurückgezogen. Es war der Auffassung, dass es auf diese Frage nicht mehr ankomme, da der Gerichtshof bereits eine zweckdienliche Antwort gegeben habe.

28.

Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 12. Mai 2017 war das Verfahren vor dem Gerichtshof nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. b der Verfahrensordnung bis zur Entscheidung in der Rechtssache M.A.S. und M.B. ( 11 ) ausgesetzt worden. Nach Erlass des Urteils des Gerichtshofs in dieser Rechtssache ist das Verfahren am 12. Dezember 2017 wieder aufgenommen worden.

29.

Schriftliche Erklärungen sind von der polnischen Regierung und der Kommission eingereicht worden.

IV. Würdigung

30.

Diese Schlussanträge gliedern sich wie folgt: Als Erstes werde ich prüfen, welche unionsrechtlichen Vorschriften auf die vorliegende Rechtssache Anwendung finden, und im Licht dieser Vorschriften die Frage umformulieren (A). Als Zweites werde ich die einschlägige Rechtsprechung über die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zum Schutz der finanziellen Interessen der Union darstellen (B). Als Drittes werde ich auf der Grundlage dieser Rechtsprechung (vertretbare) Grenzen für die (sonst ziemlich weitreichende) Pflicht zum (wirksamen) Schutz der finanziellen Interessen der Union vorschlagen (C). Schließlich werde ich auf die konkrete Frage des vorlegenden Gerichts eingehen (D).

A.   Anwendbare Rechtsvorschriften und Umformulierung der Vorlagefrage

1. Welche unionsrechtlichen Vorschriften sind auf den vorliegenden Fall anwendbar?

31.

Das vorlegende Gericht nennt in seiner Vorlagefrage verschiedene unionsrechtliche Vorschriften, und zwar Art. 325 Abs. 1 AEUV, die Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des SFI-Übereinkommens, Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2007/436 und Art. 47 Abs. 1 und 2 der Charta.

32.

Erstens: Art. 325 Abs. 1 AEUV begründet die Pflicht der Union und der Mitgliedstaaten, Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen, die abschreckend und effektiv sind, zu bekämpfen. Nach ständiger Rechtsprechung umfasst der Begriff „finanzielle Interessen“ alle Einnahmen und Ausgaben im Haushalt der Union und der anderen durch die Verträge geschaffenen Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen. Einnahmen aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die harmonisierte Mehrwertsteuer-Bemessungsgrundlage werden in den Eigenmitteln der Union erfasst.

33.

Auf dieser Grundlage hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts einerseits und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Unionshaushalt besteht: „[J]edes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer [führt] potenziell zu einer Verringerung Letzterer“ ( 12 ). Der Schutz des Unionshaushalts erfordert somit eine vollständige und ordnungsgemäße Erhebung der Mehrwertsteuer. Da im vorliegenden Fall die mutmaßlichen Straftaten die Erhebung der Mehrwertsteuer beeinträchtigt haben sollen, ist Art. 325 Abs. 1 AEUV einschlägig.

34.

Zweitens: Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des SFI-Übereinkommens fasst den Begriff „Einnahmen“ weit als „Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden“. Wie der Gerichtshof im Urteil Taricco ausgeführt hat, „umfasst [der Begriff] die Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben“ ( 13 ). Es ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob auf der Grundlage des gegebenen Sachverhalts die Steuerstraftaten im Ausgangsverfahren tatsächlich den Begriff des Betrugs, wie er in Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des SFI-Übereinkommens definiert wird, erfüllen. Angesichts der vom vorlegenden Gericht mitgeteilten tatsächlichen Umstände kann auf der Grundlage der weiten Bedeutung des Mehrwertsteuerbetrugs in Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des SFI-Übereinkommens davon ausgegangen werden, dass dies tatsächlich der Fall ist.

35.

Drittens: Das vorlegende Gericht verweist nicht nur auf Art. 325 Abs. 1 AEUV und das SFI-Übereinkommen, sondern auch auf den Beschluss 2007/436. Aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Beschlusses 2007/436 folgt, dass die Eigenmittel der Union Einnahmen aus der Anwendung des einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften harmonisierte Mehrwertsteuer-Bemessungsgrundlage einschließen. Dieser Beschluss bezieht sich jedoch nicht auf Art und Umfang der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zum Schutz dieser Interessen. Er ist daher nur von Bedeutung, um im Rahmen der Anwendung anderer unionsrechtlicher Vorschriften auf den vorliegenden Fall die Tragweite des Begriffs der finanziellen Interessen der Union zu bestimmen.

36.

Viertens ist, obwohl vom vorlegenden Gericht nicht ausdrücklich erwähnt, auch die Mehrwertsteuerrichtlinie in Fällen wie dem vorliegenden einschlägig ( 14 ). Gemäß Art. 206 dieser Richtlinie hat jeder Steuerpflichtige bei der Abgabe einer Steuererklärung nach Art. 250 Abs. 1 der Richtlinie die Mehrwertsteuer zu errichten. Nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten Maßnahmen erlassen, um die Zahlung sicherzustellen. Sie können weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Die Wahl etwaiger Sanktionen verbleibt im Ermessen der Mitgliedstaaten, wobei die Sanktion wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss ( 15 ). Diese Vorschriften sind hier insoweit von Bedeutung, als sie die Mitgliedstaaten dazu verpflichten, geeignete Maßnahmen für die ordnungsgemäße Erhebung der Mehrwertsteuer zu erlassen und auf diese Weise die finanziellen Interessen der Union zu schützen.

37.

Die vorliegend einschlägigen Rechtsvorschriften sind daher meines Erachtens Art. 325 Abs. 1 AEUV, die Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens und die Art. 206, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Zwar bestehen zwischen diesen Vorschriften gewisse Unterschiede ( 16 ), in praktischer Hinsicht sind die sich daraus ergebenden Pflichten aber recht ähnlich; sie können daher zusammen geprüft werden.

38.

Abschließend ist eine Bemerkung zur Anwendbarkeit der Charta zu machen. Die Kommission trägt vor, dass eine Beeinträchtigung von Grundrechten nicht vorliegen könne, wenn die Anwendung der fraglichen nationalen Rechtsvorschrift durch das Unionsrecht nicht ausgeschlossen werde. Die Frage des vorlegenden Gerichts sei daher in Bezug auf eine mögliche Verletzung der Charta hypothetisch.

39.

Ich verstehe die Logik dieser Argumentation: Sollte der Gerichtshof, wie von der Kommission in ihrer schriftlichen Erklärung tatsächlich vorgeschlagen, zu dem Ergebnis kommen, dass die nationalen Rechtsvorschriften nicht durch Unionsrecht ausgeschlossen sind, gäbe es keinen Anlass zur Prüfung, ob es mit den Grundrechten vereinbar ist, diese Rechtsvorschriften unangewendet zu lassen.

40.

Ich bin jedoch nicht der Ansicht, dass die Charta in einem Fall wie dem vorliegenden nur als eine Art „zweite Verteidigungslinie“ für den Fall dient, dass bereits eine bestimmte, möglicherweise tatsächlich fragwürdige Auslegung materiell-rechtlicher Unionsbestimmungen in einer bestimmten Rechtsfrage vorgenommen wurde. Die Charta und ihre Bestimmungen durchdringen die gesamte Rechtsordnung der Union. Die Charta ist schon bei der Erstauslegung der einschlägigen materiell-rechtlichen Bestimmungen anwendbar und von Bedeutung. Dies sind in der vorliegenden Rechtssache Art. 325 Abs. 1 AEUV, das SFI-Übereinkommen und die Mehrwertsteuerrichtlinie, die im Licht der Charta auszulegen sind. Auf diesem Wege wird das vorstellbare Spektrum an Auslegungsmöglichkeiten für diese Bestimmungen, insbesondere das sonst schier grenzenlose Effektivitätsargument, durch die Beachtung der Charta eingegrenzt.

41.

Die sich in Bezug auf die Grundrechte stellende Frage ist daher nicht hypothetisch. Die betreffenden Vorschriften der Charta, insbesondere Art. 7 (Achtung des Privatlebens) und Art. 48 Abs. 2 (Achtung der Verteidigungsrechte) sind im vorliegenden Fall anwendbar.

2. Umformulierung der Vorlagefrage

42.

Die Frage des vorlegenden Gerichts ist ziemlich detailliert. Wenn man sie im Zusammenhang mit dem Vorlagebeschluss liest, bestehen wohl insbesondere unter zwei Aspekten Bedenken wegen der Art und Weise, in der die in Rede stehenden Überwachungen angeordnet wurden. Zum einen wurden einige Überwachungsanordnungen von einem Gericht erlassen, dass dafür offenbar keine Zuständigkeit mehr hatte, wobei der genaue Inhalt und Umfang der Zuständigkeit nach dem Erlass des Änderungsgesetzes nicht eindeutig waren. Zum anderen waren die Anordnungen nicht gemäß dem nationalen Recht ordnungsgemäß begründet.

43.

Aus diesen beiden Tatsachenfeststellungen, die allein Sache des nationalen Gerichts sind, zieht das vorlegende Gericht aufgrund des nationalen Rechts folgenden Schluss: Die Beweise seien rechtswidrig erlangt worden und könnten im Strafverfahren nicht verwertet werden. Auch hier gilt wiederum, dass die Subsumption des Sachverhalts unter die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften in die ausschließliche Zuständigkeit und Verantwortung des nationalen Gerichts fällt.

44.

Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens werden beide Umstände als tatsächlich gegeben angenommen. Ich möchte diesen Punkt möglichst klar herausheben, da es offenbar zwischen den bulgarischen Gerichten unterschiedliche Auffassungen über die Frage gibt, welches Gericht nach der Gesetzesänderung für die Anordnung von Telekommunikationsüberwachungen zuständig ist. Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, nationale Rechtsvorschriften auszulegen oder zwischen den nationalen Gerichten in der Frage der richtigen Auslegung dieser Vorschriften zu entscheiden.

45.

Ohne irgendeine der Ansichten darüber, welches nationale Gericht für die Anordnung der fraglichen Überwachungen zuständig war, zu übernehmen oder zu billigen oder die Anforderungen an die Begründung einer Überwachungsanordnung zu diskutieren, gehe ich deshalb davon aus, dass die Beweise durch die Überwachungsanordnungen nach nationalem Recht rechtswidrig erlangt wurden und dass deswegen die nationale Ausschlussregel, wonach derartige Beweise im Strafverfahren nicht verwertet werden dürfen, Anwendung findet.

46.

Dies vorausgeschickt kann die Vorlagefrage, um deren Beantwortung der Gerichtshof gebeten worden ist, wie folgt umformuliert werden: Stehen unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens Art. 325 Abs. 1 AEUV, die Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens und die Art. 206, 250 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie, ausgelegt im Licht der Charta, der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften über die Verwertbarkeit von Beweisen entgegen, wonach rechtswidrig erlangte Beweise nicht verwertet werden dürfen?

B.   Einschlägige Rechtsprechung

47.

Die Frage der wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer ist Gegenstand einer Reihe von Urteilen des Gerichtshofs ( 17 ). In letzter Zeit hat sich der Gerichtshof jedoch mit Sachverhalten befasst, in denen Strafverfahren gegen Personen wegen Straftaten in Bezug auf Mehrwertsteuer oder Zollabgaben eingeleitet worden waren und in denen es um die Frage der Effektivität oder Ineffektivität der nationalen Rechtsvorschriften ging. In diesem Abschnitt werde ich Kernaussagen des Gerichtshofs in seinen Urteilen zu derartigen Sachverhalten darstellen.

48.

Zunächst hat der Gerichtshof in der Rechtssache Åkerberg Fransson ( 18 ) festgestellt, dass nach Art. 325 AEUV, den Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie Art. 4 Abs. 3 EUV jeder Mitgliedstaat verpflichtet ist, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten, Steuerhinterziehung zu vermeiden und rechtswidrige Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, zu bekämpfen ( 19 ).

49.

Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieser Verpflichtungen auf der Grundlage des Art. 51 Abs. 1 der Charta die Grundrechte der Union zu achten haben ( 20 ). In einer Situation, in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, steht es den nationalen Behörden und Gerichten außerdem weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden ( 21 ).

50.

In den späteren Rechtssachen Taricco ( 22 ) und M.A.S. und M.B. (im Folgenden: M.A.S.) ( 23 ) hatte der Gerichtshof zu klären, ob die wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit eingegrenzt wird.

51.

Im Urteil Taricco hat der Gerichtshof zunächst die aus Art. 325 AEUV und Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens folgenden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten wiederholt ( 24 ). Er hat sodann festgestellt, dass nationale Bestimmungen über die Unterbrechung der Verjährung, die zur Folge haben, dass in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen Taten, die einen schweren Betrug begründen, nicht strafrechtlich geahndet werden, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind, weil sie nicht als wirksam und abschreckend angesehen werden können ( 25 ).

52.

Der Gerichtshof hat sich anschließend mit den Folgen der Unvereinbarkeit dieser nationalen Bestimmungen mit dem Unionsrecht und der Rolle des nationalen Gerichts befasst. Er hat festgestellt, dass Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV unmittelbar anwendbar und entgegenstehendes nationales Recht daher unanwendbar ist ( 26 ). Er hat jedoch hinzugefügt, dass das nationale Gericht, wenn es die Entscheidung trifft, die betreffenden nationalen Bestimmungen unanwendbar zu lassen, darauf achten muss, dass die Grundrechte der betreffenden Personen beachtet werden ( 27 ). Eine solche Nichtanwendung des nationalen Rechts würde jedenfalls die Rechte des Angeschuldigten, wie sie in Art. 49 der Charta gewährleistet werden, nicht verletzen. Es würde sich nämlich daraus weder eine Verurteilung des Angeschuldigten für eine Handlung oder Unterlassung, die im Zeitpunkt ihrer Begehung nach nationalem Recht nicht strafbar war, noch die Anwendung einer Sanktion ergeben, die zu diesem Zeitpunkt im nationalen Recht nicht vorgesehen war ( 28 ).

53.

Ungefähr ein Jahr später hat sich der Gerichtshof in der Rechtssache M.A.S. erneut mit diesem Ansatz befasst. Das in diesem Fall vorlegende Gericht, der Corte costituzionale (Verfassungsgericht, Italien), hatte Zweifel, ob der Ansatz im Urteil Taricco mit den maßgeblichen Grundsätzen der italienischen Verfassung vereinbar sei, insbesondere mit dem (nationalen) Grundsatz der Gesetzmäßigkeit (von Sanktionen). Er vertrat die Auffassung, dass der Vorrang des Unionsrechts nicht so weit gehen dürfe, dass die durch Art. 4 Abs. 2 EUV geschützte nationale Identität, die in der grundlegenden Struktur des Mitgliedstaats zum Ausdruck komme, angegriffen werde.

54.

In seiner Antwort hat der Gerichtshof die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus dem unmittelbar anwendbaren Art. 325 Abs. 1 AEUV und die Verpflichtung der nationalen Gerichte wiederholt, Verjährungsvorschriften unangewendet zu lassen ( 29 ). Der Gerichtshof hat die Rechtsprechung des Urteils Taricco aber in zwei wichtigen Punkten eingeschränkt. Als Erstes hat er die primäre Verantwortlichkeit des nationalen Gesetzgebers betont, Verjährungsvorschriften zu erlassen, die die Einhaltung der Verpflichtungen aus Art. 325 AEUV ermöglichen ( 30 ). Als Zweites hat er darauf hingewiesen, dass die Rechtsvorschriften über die Verjährung von Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer zur maßgebenden Zeit noch nicht harmonisiert waren ( 31 ). Insoweit stehe es den nationalen Behörden und Gerichten frei, unter den im Urteil Åkerberg Fransson aufgestellten Voraussetzungen nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden ( 32 ).

55.

Der Gerichtshof hat darüber hinaus angemerkt, dass die Erfordernisse der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und des Verbots der Rückwirkung von Strafvorschriften, die dem Gesetzmäßigkeitsgrundsatz innewohnen ( 33 ), nach der italienischen Rechtsordnung auch für die Regelung der Verjährung gelten. Sollte das nationale Gericht zu der Auffassung gelangen, dass der Verpflichtung, die einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs unangewendet zu lassen, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen entgegensteht, wäre es somit nicht verpflichtet, dieser Verpflichtung nachzukommen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Sachlage abgeholfen werden könnte ( 34 ).

56.

Nach dem Urteil M.A.S. hat die Große Kammer des Gerichtshofs drei weitere Urteile zu den unionsrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten in Bezug auf den wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union im Allgemeinen und die Mehrwertsteuererhebung im Besonderen erlassen.

57.

In dem ersten Urteil, in der Rechtssache Scialdone, hat der Gerichtshof daran erinnert, dass mangels einer Harmonisierung der Sanktionen im Bereich der Mehrwertsteuer die Mitgliedstaaten aufgrund ihrer verfahrensrechtlichen und institutionellen Autonomie zuständig für die Festlegung der bei Verstößen gegen Mehrwertsteuervorschriften anwendbaren Sanktionen sind, allerdings unter Beachtung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz ( 35 ). In dem zweiten Urteil, in der Rechtssache Menci, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Mitgliedstaaten Sanktionen für Mehrwertsteuerverstöße frei wählen können, solange sie die Grundrechte, insbesondere den in Art. 50 der Charta niedergelegten Grundsatz ne bis in idem, beachten. Die Kumulierung verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sei unter bestimmten Voraussetzungen mit Art. 50 vereinbar ( 36 ).

58.

Das dritte, jüngste Urteil, in der Rechtssache Kolev ( 37 ), ist für die vorliegende Rechtssache ebenfalls von besonderer Bedeutung. In diesem Fall war das Vorabentscheidungsersuchen ebenfalls vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) in Bulgarien vorgelegt worden. Es betraf allerdings eine nationale Rechtsvorschrift über die Einstellung des Strafverfahrens auf Antrag des Angeschuldigten, wenn seit der Einleitung des Ermittlungsverfahrens zwei Jahre vergangen sind und die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren noch nicht abgeschlossen hat.

59.

Der Gerichtshof hat zunächst erneut darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 325 Abs. 1 AEUV verpflichtet sind, wirksame und abschreckende Strafen gegen die Verletzung von Zollvorschriften zu erlassen, und sodann die Verpflichtung der Mitgliedstaaten betont, sicherzustellen, dass die strafverfahrensrechtlichen Vorschriften eine wirksame Ermittlung und Verfolgung dieser Straftaten gewährleisten ( 38 ). Der Gerichtshof hat hinzugefügt, dass es in erster Linie dem nationalen Gesetzgeber obliegt, dafür zu sorgen, dass die Verfahrensvorschriften, die für die Verfolgung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union gelten, nicht so gestaltet sind, dass aus ihnen selbst innewohnenden Gründen die systemische Gefahr besteht, dass solche Straftaten ungeahndet bleiben. Dabei hat der Gesetzgeber auch den Schutz der Grundrechte der Beschuldigten zu gewährleisten. Das nationale Gericht müsse seinerseits die unmittelbare Wirksamkeit der Verpflichtungen aus Art. 325 Abs. 1 AEUV gewährleisten und zugleich darauf achten, dass die Grundrechte gewahrt blieben ( 39 ). Jedenfalls dürfe das nationale Gericht die Einstellung des Strafverfahrens nicht allein deshalb anordnen, weil es der Meinung sei, dass dies für die beschuldigten Personen günstiger sei ( 40 ).

60.

Schließlich ist auch noch das vom vorlegenden Gericht ausdrücklich zitierte Urteil WebMindLicences ( 41 ) zu erwähnen. In dieser Rechtssache ging es um die Herausarbeitung des Verhältnisses zwischen einem Verwaltungsverfahren und einem Strafverfahren und die Rechte des Steuerpflichtigen in dem betreffenden Fall. Eine Frage betraf ausdrücklich auch die Verwertung von Beweisen, die durch eine Überwachung zum Nachweis einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer erlangt worden waren. Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob die Steuerbehörden Beweise, die im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens erlangt worden waren, einschließlich Beweise aus Überwachungen, für ihre Entscheidung verwerten können.

61.

Der Gerichtshof hat die Ansicht vertreten, dass Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 325 AEUV und die Art. 2, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dem nicht entgegenstehen, dass die Steuerbehörden zur Feststellung des Vorliegens einer missbräuchlichen Praxis im Bereich der Mehrwertsteuer Beweise verwenden, die ohne Wissen des Steuerpflichtigen im Rahmen eines parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens erlangt wurden, sofern die durch das Unionsrecht, insbesondere durch die Charta, garantierten Rechte beachtet werden ( 42 ).

62.

Um es zusammenzufassen: Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass Art. 325 Abs. 1 AEUV allein oder in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens oder mit den Art. 2, 250 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet, die zum Schutz der finanziellen Interessen der Union erforderlichen Maßnahmen einschließlich wirksamer und abschreckender verwaltungsrechtlicher oder strafrechtlicher Sanktionen zu erlassen.

63.

Die Reichweite dieser Pflicht der Mitgliedstaaten ist groß. Sie umfasst über die einzelnen Sanktionen hinaus die Gesamtheit der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften einschließlich der Vorschriften über das Strafverfahren ( 43 ). Das Unionsrecht will sicherstellen, dass die nationalen Rechtsvorschriften, seien sie verfahrensrechtlicher oder materiell-rechtlicher Art, unabhängig davon, ob sie auf nationalem Recht oder auf Unionsrecht beruhen, nicht die Verhängung wirksamer und abschreckender Sanktionen behindern.

64.

Die Rechtsprechung ist aber genauso eindeutig hinsichtlich des Umstands, dass die unionsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten grundsätzlich durch die Grundrechte begrenzt werden ( 44 ). Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta sind die Union und die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten an die Grundrechte gebunden und zwar unabhängig davon, ob es hinsichtlich der Rechtsvorschriften, die unmittelbar oder mittelbar Sanktionen in Mehrwertsteuer- oder Zollsachen betreffen, zu einer Harmonisierung gekommen ist.

C.   Wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer und ihre Grenzen

65.

Vereinfacht ausgedrückt lautet die Frage, die sich vorliegend (erneut) stellt: Kann ein nationales Gericht im Namen der „wirksamen“ Erhebung der Mehrwertsteuer (oder anderer Eigenmittel der Union) nationale Rechtsvorschriften, z. B. über Verjährungsfristen (Taricco, M.A.S.), monetäre Schwellenwerte für die Strafbarkeit (Scialdone), die zeitliche Befristung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (Kolev) oder, wie im vorliegenden Fall, die Verwertbarkeit von rechtswidrig erlangten Beweisen im Strafverfahren, selektiv unangewendet lassen, wenn diese Rechtsvorschriften zur Straffreiheit des Angeklagten führen würden?

66.

Die Antwort des Gerichtshofs zu dieser Frage bewegt sich, wiederum vereinfacht ausgedrückt, von „ja, wenn es sich um eine beträchtliche Anzahl von Fällen handelt“ (Taricco), zu „nein, da es Sache des nationalen Gesetzgebers ist, solche Systemfehler zu beheben“ (M.A.S. und Scialdone), bis zu „nein, aber doch ja, wenn dies systemisch ist, sofern die Grundrechte des Angeklagten gewahrt werden“ (Kolev).

67.

Es ist schwer, sich vorzustellen, wie der in der Rechtssache Kolev vertretene letzte Ansatz vom nationalen Gericht in der Praxis angewendet werden kann. Das nationales Gericht soll diejenigen für das Strafverfahren geltenden nationalen Rechtsvorschriften unangewendet lassen, die es als mit dem unmittelbar anwendbaren Art. 325 Abs. 1 AEUV unvereinbar ansieht, es darf diese Vorschriften aber nur unangewendet lassen, wenn dies nicht zu einem Ergebnis führt, das die Grundrechte des Angeklagten verletzt. Aber um welche Grundrechte handelt es sich? Verdienen nicht alle Rechte des Angeklagten im Rahmen des Rechts auf ein faires (strafrechtliches) Verfahren und/oder der Verteidigungsrechte genaue Beachtung? Oder gibt es Rechte von geringerer Bedeutung („Rechte zweiter Klasse“, die von jedem nationalen Gericht einzeln zu ermitteln sind und die es dann selektiv unangewendet lässt, wenn sie einer Verurteilung im Wege stehen?

68.

Dieser spezifische Aspekt der Rechtsprechung befindet sich offenbar noch „in Arbeit“. In diesem Abschnitt werde ich einige Vorschläge für die begriffliche Konzeption und die Fortentwicklung dieser Rechtsprechung machen. Dabei ist es selbstverständlich, dass die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen aus Art. 325 Abs. 1 AEUV und den übrigen oben dargestellten ( 45 ) einschlägigen Bestimmungen nachkommen müssen. Es ist auch anzuerkennen, dass sich diese Verpflichtungen auf alle Teile des nationalen Rechts erstrecken, mit denen die Verpflichtungen erfüllt werden ( 46 ). Zudem müssen sie wirksam durchgeführt werden. In diesem Abschnitt geht es vielmehr um die Frage des Ursprungs und der Reichweite der Grenzen dieser sonst uferlosen Verpflichtungen (Abschnitte 1, 2 und 3), um die Frage, ob diese Grenzen je nach Art der in Rede stehenden nationalen Vorschrift verschieden sind (Abschnitt 4) und schließlich geht es, und das erscheint besonders wichtig, um die Abhilfe: Welche Folgen hat es in einer bestimmten anhängigen Rechtssache (und möglicherweise in weiteren anhängigen Rechtssachen), wenn eine entsprechende Unvereinbarkeit festgestellt wird (Abschnitt 5)?

69.

Gleich zu Beginn sei offen gesagt, dass der hier vertretene Ansatz auf der festen Überzeugung beruht, dass ein mögliches (systemisches) Fehlverhalten von Mitgliedstaaten bei der Erhebung von Mehrwertsteuer (oder bei anderen finanziellen Interessen der Union) richtigerweise wie in den Urteilen M.A.S. und Scialdone und nicht in den Urteilen Taricco und Kolev zu behandeln ist.

1. Harmonisierungsmaßnahme der Union

70.

Die Prüfung der Frage, welche Art von Regelungen, Werten oder Interessen zum Ausgleich oder zur Begrenzung des Erfordernisses des wirksamen Schutzes der finanziellen Interessen der Union herangezogen werden kann und in welcher Weise, beginnt notwendigerweise mit einer Untersuchung der Natur der im jeweiligen Fall einschlägigen Rechtsvorschriften.

71.

In der Rechtssache M.A.S. hat der Gerichtshof betont, dass zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit die Rechtsvorschriften über die Verjährung von Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer noch nicht durch den Unionsgesetzgeber harmonisiert waren und dass die Harmonisierung seitdem nur teilweise erfolgt war ( 47 ).

72.

Was genau bedeutet in diesem Zusammenhang „Harmonisierung“, und was bedeutet das Vorhandensein oder das Fehlen einer unionsrechtlichen Harmonisierungsmaßnahme?

73.

Erstens ist die Formulierung der Fragestellung unter Verwendung des Begriffs „Harmonisierung“ etwas irreführend. Das Problem besteht darin, dass der Begriff Harmonisierung eine Art sektorale Analyse unter Betrachtung eines ganzen Rechtsbereichs oder eines spezifischen Rechtsinstruments umfasst. Zudem fragt sich, ob eine „teilweise Harmonisierung“ oder eine „Mindestharmonisierung“ innerhalb dieses bestimmten Bereichs, wie auch immer er abgesteckt ist, dieselben Auswirkungen hat wie eine „vollständige Harmonisierung“.

74.

Das eigentliche Prüfkriterium ist vielmehr, ob es im Unionsrecht eine eindeutige Vorschrift oder Regelung gibt, die darauf abzielt, den spezifischen Aspekt eines bestimmten Bereichs erschöpfend zu regeln, wodurch den Mitgliedstaaten von vornherein die Möglichkeit genommen wird, eigene Vorschriften zu erlassen. Bei einem solchen Kriterium geht es eher um eine Mikro-Analyse in Bezug auf eine spezifische Vorschrift oder allenfalls um einen spezifischen und gut definierten Aspekt des Unionsrechts.

75.

Die Rechtsprechung in der Rechtssache Melloni ( 48 ) und die Bestimmungen über die Gründe für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei einer Verurteilung in Abwesenheit in Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI ( 49 ) können insoweit als Beispiele herangezogen werden. Die Bestimmungen in Art. 4a des Rahmenbeschlusses decken tatsächlich einen Aspekt des Verfahrens über den Europäischen Haftbefehl erschöpfend ab und stehen daher eigenständigen nationalen Bestimmungen über denselben Gegenstand entgegen. Das Kriterium des Vorliegens einer Harmonisierungsmaßnahme in dem oben dargelegten Sinn wurde anhand von Art. 4a des Rahmenbeschlusses und der dadurch geregelten Tatbestände geprüft. Aber natürlich wurde nicht behauptet, dass der Rahmenbeschluss den gesamten Regelungsgegenstand (wie immer man ihn definiert und unabhängig davon, ob er das gesamte Übergabeverfahren des Europäischen Haftbefehls oder das Strafverfahren insgesamt einschließt) abdeckt.

76.

Zugegebenermaßen ist für eine solche Vorwegnahme nicht immer eine wörtliche Übereinstimmung zwischen der unionsrechtlichen Vorschrift oder Regelung und der nationalen Vorschrift oder Regelung erforderlich. Eine derartige Harmonisierung und die sich daraus ergebende Vorwegnahme können auch von einer mehr funktionalen Art sein. Auch ohne dass eine ausdrückliche Regelung existiert, kann, soweit es um im Zusammenhang stehende Fragen geht, die Existenz anderer eindeutiger Regelungen bestimmten mitgliedstaatlichen Regelungen insoweit entgegenstehen oder sie einschränken, als der betreffende Sachverhalt in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt ( 50 ).

77.

Zweitens hat die Existenz einer eindeutigen Regelung, mit der ein bestimmter Aspekt eines umfassenderen Komplexes erschöpfend geregelt wird, eine logische Folge: Sie steht eigenständigen Maßnahmen seitens der Mitgliedstaaten entgegen. Hat der Unionsgesetzgeber Maßnahmen erlassen, die eine Frage vollständig regeln, haben die Mitgliedstaaten keinen Gestaltungsraum für eigene Vorschriften, es sei denn, diese dienen lediglich der Durchführung der unionsrechtlichen Regelungen und gehen nicht weiter als danach zulässig.

78.

Drittens ist darauf hinzuweisen, dass es in jedem Einzelfall der Klärung bedarf, inwieweit der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens von der betreffenden Harmonisierungsmaßnahme erfasst wird. Unabhängig davon, wie eindeutig, genau und vollständig die anwendbare Unionsregelung ist, verbleibt den Mitgliedstaaten, wenn der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens lediglich entfernt mit dieser Regelung zusammenhängt, ein Ermessen für den Erlass eigenständiger Vorschriften, auch wenn der Streitgegenstand formal weiterhin in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt.

79.

Es gibt somit eindeutig eine Skala. Auf der einen Seite gibt es Fälle, in denen eine nationale Vorschrift unter einen „harmonisierten“ Unionsstandard zu fassen ist, sei es unmittelbar aufgrund ihres Wortlauts oder weil sie so eng damit zusammenhängt, dass eine funktionale Verbindung besteht (wie in der Rechtssache Melloni). Auf der Seite der Skala, die weiter von einer eindeutigen unionsrechtlichen Regelung entfernt ist, wird es Fälle geben, in denen die nationale Vorschrift immer noch eine Verbindung zu einer Bestimmung des Unionsrechts hat, aber diese Verbindung schwächer wird. Beispiele für diese Kategorie finden sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Sanktionen im Bereich der Mehrwertsteuer, wie z. B. die Rechtssachen Åkerberg Fransson und Scialdone. Zwar kommt das Wort „Sanktionen“ mit den entsprechenden Adjektiven in den betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften tatsächlich vor, aber diese sind keinesfalls detailliert genug, um eindeutige Unionsregelungen über die spezifischen Elemente der Sanktionierung von Verstößen im Bereich der Mehrwertsteuer, um die es in diesen Rechtssachen ging, zu beinhalten. Am äußeren Ende des Spektrums gibt es schließlich Fälle, die, obwohl noch im Geltungsbereich des Unionsrechts, nationale Vorschriften betreffen, die von eindeutigen unionsrechtlichen Regelungen über den Gegenstand ziemlich entfernt sind. So beziehen sich z. B. die Fragen in den Rechtssachen Ispas (Zugang zu den Akten in einem Mehrwertsteuerverfahren), Kolev (Frist für die Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens) oder auch die vorliegende Rechtssache in gewisser Weise auf die Erhebung von Mehrwertsteuer. Aber es bedarf größerer Vorstellungskraft, um den Begriff „Erhebung“ mit derartigen Sachverhalten in Verbindung zu bringen.

80.

Je näher ein Sachverhalt an einem eindeutig definierten unionsrechtlichen Erfordernis liegt, umso geringer ist der Gestaltungsraum des Mitgliedstaats und umso mehr Einheitlichkeit wird bestehen. Umgekehrt gilt: Je weiter ein Sachverhalt, wenngleich er noch in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, von einer eindeutigen und spezifischen unionsrechtlichen Regelung entfernt ist, umso größer ist der Gestaltungsraum der Mitgliedstaaten, der damit eine größere Vielfalt ermöglicht. Um es mit einer Metapher zu sagen, die bereits in einem etwas anderen Zusammenhang ( 51 ) verwendet wurde, die aber denselben Gedanken ausdrückt: Je näher man sich an einem Leuchtturm befindet, umso stärker ist das Licht aus dieser Quelle, das alle anderen Quellen ausblendet. Je weiter man sich vom Leuchtturm entfernt, umso geringer wird dessen Licht, das sich nach und nach mit dem Licht aus anderen Quellen vermischt.

2. Grenzen für die wirksame Mehrwertsteuererhebung aufgrund des Unionsrechts oder des nationalen Rechts

81.

Der Gerichtshof hat in der Rechtssache M.A.S. darauf hingewiesen, dass zu der in den betreffenden Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit die Rechtsvorschriften über die Verjährung von Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer vom Unionsgesetzgeber noch nicht harmonisiert waren. Unmittelbar im Anschluss daran hat er festgestellt, dass es der Italienischen Republik damals also frei stand, im Rahmen ihrer Rechtsordnung zu bestimmen, dass diese Vorschriften ebenso wie die Rechtsvorschriften über die Straftatbestände und das Strafmaß zum materiellen Strafrecht gehören und deshalb wie Letztere dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen unterliegen ( 52 ).

82.

Mit dieser Feststellung hat der Gerichtshof in einem noch nicht harmonisierten Bereich die Anwendung einer spezifischen nationalen Auslegung eines Grundrechts (des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit), das sowohl nach Unionsrecht als auch nach nationalem Recht geschützt ist, anerkannt.

83.

Lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer stets sowohl durch unionsrechtliche als auch durch nationale Vorschriften über Grundrechte begrenzt wird? Die Antwort hängt von dem Inhalt der nationalen Rechtsvorschrift sowie, wie im vorangehenden Abschnitt dargestellt, davon ab, inwieweit sie sich mit einer harmonisierten Vorschrift überschneidet oder ihr nahe kommt.

84.

Im Kern sind zwei Situation vorstellbar: einerseits, dass die in Rede stehende anwendbare nationale Rechtsvorschrift entweder aufgrund ihres Wortlauts im vollen Umfang den auf Unionsebene harmonisierten Regelungen unterfällt oder dass sie funktional so nahe an diesen Regelungen ist, dass sie durch deren Wirkungsweise vorweggenommen wird. In diesem Fall sind die Vorbehalte und Grenzen für diese Regelungen sowie der Ausgleich mit diesen Regelungen horizontaler Art, d. h. auf die Interessen, Werte und Grundrechtsstandards unionsrechtlichen Ursprungs bezogen ( 53 ); andererseits, dass die betreffende nationale Rechtsvorschrift nicht von einer derartigen textlichen oder (hinreichend engen) funktionalen Vorwegnahme erfasst wird, aber dennoch in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. In diesem Fall finden die entsprechenden Grenzen – einschließlich der durch die Grundrechte gesetzten Grenzen – beider Rechtssysteme Anwendung: die unionsrechtlichen (Mindest‑)Standards, da der Mitgliedstaat im Geltungsbereich des Unionsrechts handelt und eine vom Unionsrecht vorgeschriebene Maßnahme nicht außerhalb des Anwendungsbereichs des Art. 51 Abs. 1 der Charta liegen kann, aber auch die nationalen Grenzen, die in solchen Fällen auch ein höheres Schutzniveau gewähren können.

85.

Mit dieser Differenzierung lässt sich erklären, warum der Gerichtshof in der Rechtssache Melloni die Anwendung eines nationalen Schutzstandards ausgeschlossen hat, während er sie in der Rechtssache M.A.S. ausdrücklich bejaht hat.

86.

In der Rechtssache Melloni richtete sich der im Ausgangsverfahren zu entscheidende Sachverhalt nach eindeutigen Vorschriften des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl ( 54 ). Folglich war es nicht möglich, auf der Grundlage einer nationalen Rechtsvorschrift in Verbindung mit Art. 53 der Charta zusätzlich zu den im Rahmenbeschluss festgelegten Gründen einen neuen Grund für eine Nichtvollstreckung hinzuzufügen, auch wenn dieser Grund seinen Ursprung in der Verfassung des Mitgliedstaats hatte. Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, würde dies, indem die Einheitlichkeit des im Rahmenbeschluss festgelegten Standards für den Schutz der Grundrechte in Frage gestellt wird, zu einer Verletzung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, die der Rahmenbeschluss stärken soll, führen und daher dessen Wirksamkeit beeinträchtigen ( 55 ).

87.

Mit anderen Worten: Besteht auf Unionsebene legislative Einheitlichkeit, weil in einer unionsrechtlichen Maßnahme eindeutige und erschöpfende Anforderungen in Bezug auf eine konkrete Frage festgelegt worden sind, so gilt, sofern nicht außergewöhnliche Umstände ( 56 ) vorliegen, ausschließlich der unionsrechtliche Grundrechtsstandard. In einem solchen Fall wird davon ausgegangen, dass der Unionsgesetzgeber bereits einen Ausgleich zwischen dem Schutz der Grundrechte und der Gesamteffizienz der betreffenden Maßnahme im Hinblick auf ihre Ziele hergestellt hat. Dieser Ausgleich kann gegebenenfalls anhand des unionsrechtlichen Standards für den Schutz der Grundrechte als einem Maßstab für die Überprüfung der betreffenden unionsrechtlichen Harmonisierungsmaßnahme vor dem Gerichtshof angegriffen werden. Letztlich werden die Grundrechte somit durch den Gerichtshof geschützt, wobei nach Art. 52 Abs. 3 der Charta das unionsrechtliche Schutzniveau nicht niedriger sein darf als der in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK) festgelegte Schutzstandard.

88.

Demgegenüber gab es weder in der Rechtssache M.A.S. noch in der Rechtssache Scialdone (oder in Åkerberg Fransson) eine derartige „Harmonisierung“ in dem Sinne, dass die in diesen Rechtssachen in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften entweder unmittelbar unter eine entsprechende eindeutige unionsrechtliche Regelung gefallen wären oder dass sie durch diese funktional ausgeschlossen worden wären. Für die Ausübung des Ermessens gelten demgemäß zwei Arten von Grenzen. Die Mitgliedstaaten bleiben einerseits den unionsrechtlichen Erfordernissen der Äquivalenz und der Effektivität ( 57 ) sowie dem durch die Charta gewährleisteten Mindeststandard für den Schutz der Grundrechte unterworfen ( 58 ). Andererseits können die Mitgliedstaaten, weil sie ihr eigenes Ermessen ausüben, bei der Überprüfung der Rechtsvorschriften, die sie in Ausübung ihres Ermessens erlassen haben, nach Art. 53 der Charta ihre eigenen Grundrechtsauffassungen anwenden, sofern damit kein geringerer Schutz als der in der Charta vorgesehene verbunden ist.

89.

Es ist notwendig, noch eine abschließende Bemerkung zum erforderlichen Grad an Einheit und Einheitlichkeit in Bezug auf letztere Fallgestaltungen zu machen. Der Gerichtshof hat wiederholt festgestellt, dass es den nationalen Behörden und Gerichten frei steht, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden ( 59 ).

90.

Ich muss zugeben, dass ich Schwierigkeiten habe, mir die praktische Anwendung dieser Voraussetzungen, insbesondere des in der zweiten Voraussetzung enthaltenen Erfordernisses der „Einheit“, vorzustellen. Fristen für die Abgabe einer Mehrwertsteuererklärung können hierfür ein Beispiel sein. Zwar ist die regelmäßige Abgabe von Mehrwertsteuererklärungen in Art. 250 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgeschrieben, wie diese Erklärungen im Einzelnen administrativ zu erfolgen haben (etwa Häufigkeit, Format oder Fristen), ist aber nicht vorgeschrieben. Diese letzteren Fragen sind somit nicht in dem im vorigen Abschnitt dargestellten Sinne harmonisiert; ihre Regelung fällt folglich in den Bereich, in dem die Mitgliedstaaten weiterhin ihr Ermessen ausüben können. Die jeweiligen nationalen Rechtsvorschriften werden daher zwangsläufig unterschiedlich sein und voneinander abweichen; sofern sie aber den Vorrang und die generelle Wirksamkeit des Unionsrechts sowie die durch die Charta vorgeschriebenen Mindestschutzstandards nicht beeinträchtigen, sind derartige nationale Differenzierungen natürlich möglich.

91.

Die Erfordernisse des Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit, speziell der „Einheit“, sind daher natürlich für die nationale Anwendung harmonisierter Regelungen von Bedeutung, sie sollten aber in Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten ihr Ermessen weiterhin ausüben können, vielleicht nicht wörtlich genommen werden.

3. Rolle der Charta

92.

Je nachdem, ob die jeweilige Fallgestaltung in dem in den obigen Abschnitten dargestellten Sinn in vollem Umfang durch Unionsrecht geregelt wird, spielt die Charta eine faszinierende Doppelrolle als Grenze für die wirksame Mehrwertsteuererhebung. Bei Sachverhalten, die voll und ganz von einer unionsrechtlichen Vorschrift oder Regelung erfasst werden, gibt sie den gemeinsamen Höchststandard vor. Bei Sachverhalten außerhalb einer derartigen unionsrechtlichen Harmonisierung bestimmt sie das Mindestniveau an Grundrechtsschutz.

93.

Im ersten Fall, bei einer Harmonisierung, wirkt die Charta als Obergrenze. Da die Anwendung nationaler Schutzstandards im Wege von Art. 53 der Charta ausgeschlossen ist, können die unionsrechtlichen Harmonisierungsmaßnahmen oder nationalen Maßnahmen zu deren genauer Umsetzung in Bezug auf die Grundrechte nur an der Charta gemessen werden. In diesem Kontext bestimmt Art. 52 Abs. 1, dass der Schutzstandard der Charta mindestens so hoch ist wie der EMRK-Standard, während Art. 52 Abs. 3 sicherstellt, dass Einschränkungen der Grundrechte klar begrenzt sein müssen und nicht über das hinausgehen, was notwendig ist, um z. B. den Schutz der finanziellen Interessen der Union sicherzustellen. Mit diesen Bestimmungen wird garantiert, dass die Charta selbst einen hohen Schutzstandard für die Grundrechte sicherstellt, indem sie der Mehrwertsteuererhebung wirksame Grenzen setzt. Da sie ein integraler Bestandteil des Primärrechts der Union ist, kommen der Charta dabei auch die Erfordernisse des Vorrangs, der Einheit und der Wirksamkeit zugute. Sie steht auf gleicher Stufe mit anderen Bestimmungen des Primärrechts der Union, z. B. Art. 325 AEUV, und es ist Aufgabe des Gerichtshofs, den richtigen Ausgleich zwischen den Grundrechten und den damit konkurrierenden Werten und Interessen herzustellen.

94.

Im zweiten Fall, wenn keine Harmonisierung vorliegt einschließlich des Falls, dass den Mitgliedstaaten durch das Unionsrecht ein gewisser Gestaltungsraum für den Erlass eigener Rechtsetzungsakte oder Durchführungsvorschriften belassen wurde ( 60 ), wird mit der Charta ein Mindestniveau festgelegt. Aus Art. 53 folgt, dass die Verfassungen der Mitgliedstaaten, aber auch das Völkerrecht, höhere Schutzstandards als diejenigen der Charta vorschreiben können.

95.

Sind somit auch in einer solchen Situation der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts betroffen? Je weniger Harmonisierung es gibt, umso geringer ist per definitionem die Wahrscheinlichkeit, dass der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden können. Es ist zwar richtig, dass die Anwendung nationaler Standards Vielfalt und keine Einheitlichkeit bewirkt. Mangels Harmonisierung gilt der nationale Schutzstandard aber nur für den mehr oder weniger großen Gestaltungsraum, den das Unionsrecht den Mitgliedstaaten belässt. In diesem Fall ist es daher das nationale Handeln und nicht ein Unionshandeln, das an dem strengeren Maßstab der nationalen Verfassung gemessen wird. Je größer der Gestaltungsraum der Mitgliedstaaten ist, umso geringer ist mithin die Gefahr für den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts.

4. Materiell-rechtliche oder verfahrensrechtliche Natur nationaler Strafvorschriften

96.

In der Rechtssache M.A.S. stellte sich die Frage, ob die betreffende Verjährungsvorschrift materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Natur war und somit, ob der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit auch für sie galt. Da die italienische Rechtsordnung solche Vorschriften dem materiellen Recht zuordnet, hat der Gerichtshof festgestellt, dass mangels einer Harmonisierung dieser Regelungen das nach italienischem Recht geltende Verständnis des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes Anwendung zu finden hat. In der Rechtssache M.A.S. sowie vorher in der Rechtssache Taricco stellte sich diese Frage im spezifischen Kontext des Art. 49 der Charta und der Frage, ob die Garantien dieses Artikels „allein materiell-rechtliche“ oder auch „verfahrensrechtliche“ Strafvorschriften betreffen.

97.

Auch angesichts der vorliegenden Rechtssache stellt sich aber die weiter gehende Frage, die über den spezifischen Kontext der Garantien des Art. 49 der Charta hinausgeht: Würden (oder sollten) die obigen Schlussfolgerungen zur Art der Grenzen einer wirksamen Erhebung von Mehrwertsteuer anders lauten, wenn die betreffende nationale Rechtsvorschrift „materiell-rechtlicher“ und nicht rein „verfahrensrechtlicher“ Natur ist? Des Weiteren und im Zusammenhang mit der anschließend zu behandelnden Frage, wie etwaigen Mängeln auf nationaler Ebene abzuhelfen ist: Sollten sich auch die Folgen unterscheiden, je nachdem ob es sich bei der Vorschrift, die im Einzelfall möglicherweise unangewendet gelassen wird, um eine verfahrensrechtliche oder eine materiell-rechtliche Vorschrift (des Strafrechts) handelt?

98.

Meine Antwort auf diese Fragen ist ein eindeutiges „Nein“, und das aus mindestens drei Gründen.

99.

Erstens: Jede derartige Klassifizierung ist problematisch und nur sehr schwer umzusetzen. Dies ist bereits im spezifischen Kontext des Art. 49 der Charta klar erkennbar ( 61 ), es wird aber außerhalb dieser Bestimmung in Bezug auf andere durch die Charta gewährleistete Rechte noch schwieriger. Außerdem: Würde eine solche Klassifizierung einer nationalen oder einer unionsweiten einheitlichen Einordnung unterliegen? Würde Letztere dann eine Definition des „eigenständigen Unionsbegriffs“ in der jeweiligen Rechtsvorschrift notwendig machen?

100.

Zweitens: Ich bin doch recht erstaunt über die Leichtigkeit, mit der „bloß verfahrensrechtliche“ Vorschriften unangewendet gelassen werden könnten. Sind Vorschriften, die die Staatsanwaltschaft verpflichten, innerhalb eines bestimmten Zeitraums das Gerichtsverfahren einzuleiten oder die Strafverfolgung einzustellen, damit sich eine Person nicht auf ewig in einer strafrechtlichen Vorermittlung befindet, lediglich ein nebensächlicher „Verfahrensbestandteil“? Oder ist z. B. das Erfordernis, dass ein Gericht für ein Strafverfahren zuständig ist, ein bloßes „Verfahrensornament“? Tatsächlich sind es wahrscheinlich häufig verfahrensrechtliche Vorschriften, die Grundrechte in demselben Maße oder noch besser schützen als materiell-rechtliche Vorschriften. Rudolf von Jhering hat hierzu einmal angemerkt: „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“ ( 62 ). Dass nationale Gerichte berechtigt sein könnten, auf der Grundlage des Unionsrechts (und der dazu ergangenen Rechtsprechung) solche „verfahrensrechtliche“ Vorschriften des Strafrechts unangewendet zu lassen, um Grundrechte einzuschränken, lässt sich nur schwerlich vertreten ( 63 ).

101.

Drittens: Vor allem aber, und aus von mir anderweitig ( 64 ) dargelegten Gründen, ist das Studium der Feinheiten rechtlicher Einordnungen, seien sie national oder europäisch, in sich ungeeignet für die Art der Diskussion, die bei der Erörterung der Beschränkung von Grundrechten zu führen ist. Diese Erörterung hat sich an den Auswirkungen auszurichten. Das ist es, worum es beim wirksamen Schutz von Grundrechten gehen muss: um den Einzelnen und die Auswirkungen, die eine Rechtsvorschrift auf seine Lage hat, nicht das Klassifizierungsetikett, mit dem man diese Rechtsvorschrift versieht.

5. Abhilfe

102.

Die Urteile M.A.S. und Kolev haben deutlich gemacht, dass es bei einer Unvereinbarkeit nationaler Vorschriften mit dem Unionsrecht in erster Linie Aufgabe des nationalen Gesetzgebers ist, sich mit dieser Unvereinbarkeit zu befassen ( 65 ) und zwar so, dass die systemische Gefahr einer Nichtahndung vermieden wird ( 66 ). In diesen Urteilen ist aber unter Bezugnahme auf das Urteil Taricco auch festgestellt worden, dass die nationalen Gerichte aufgrund der unmittelbaren Wirkung des Art. 325 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unvereinbare Rechtsvorschriften grundsätzlich unangewendet lassen können ( 67 ). Schließlich ergibt sich aus dem Urteil Kolev, dass dies nicht nur bedeutet, diese Rechtsvorschrift unangewendet zu lassen, sondern dass das nationale Gericht offenbar auch einige weiter gehende positive Schritte zu ergreifen hat, die im Wortlaut des nationalen Rechts keine textliche Grundlage haben, wie etwa die Frist für das Handeln der Staatsanwaltschaft zu verlängern oder die betreffenden Fehler selbst zu korrigieren ( 68 ).

103.

Aus einer Reihe von Gründen bin ich der Ansicht, dass die Rolle der nationalen Gerichte in Bezug auf nationale Rechtsvorschriften, die die ordnungsgemäße Erhebung der Mehrwertsteuer möglicherweise behindern, jedenfalls bei laufenden (Straf‑)Verfahren eine andere zu sein hat. Kurz gesagt sollte die Feststellung einer Unvereinbarkeit nur deklaratorisch erfolgen, und aus Gründen der Rechtssicherheit und des Schutzes der Grundrechte des Angeklagten auf laufende Verfahren keine Anwendung finden. Sie sollte nur prospektiv gelten und strukturell und verfahrensmäßig gegebenenfalls mit einem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV verbunden sein.

104.

Erstens ist daran zu erinnern, dass der Ausgleich zwischen dem wirksamen Schutz der finanziellen Interessen der Union und den Grundrechten in seiner Gesamtheit eine Gratwanderung zwischen Zielen und Werten darstellt, die (mindestens) gleichrangig sind. Zwar muss die Gewährleistung der in der Charta anerkannten Grundrechte sich in die Struktur und Ziele der Union einfügen ( 69 ), aber unabhängig von einer etwaigen Harmonisierung werden Beschränkungen von Grundrechten ihrerseits durch die Charta begrenzt. Art. 52 Abs. 1 verlangt die Achtung des Wesensgehalts der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten. Nach Art. 52 Abs. 3 hat der Schutz der Menschenrechte mindestens dem Niveau der EMRK-Standards zu entsprechen.

105.

Zweitens darf ein Gericht, worauf der Gerichtshof im Urteil M.A.S. hingewiesen hat, nicht während eines Strafverfahrens die Regelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit einer strafrechtlich verfolgten Person verschärfen ( 70 ). Ich sehe nicht, wie es in diesem Kontext möglich sein soll, ohne Verstoß gegen diese Feststellung selektiv nationale strafrechtliche Bestimmungen oder Verfahren unangewendet zu lassen, um z. B. trotz Fristablauf oder Rechtswidrigkeit die strafrechtliche Verfolgung fortzuführen.

106.

Drittens wäre Derartiges in einem laufenden Strafverfahren unvereinbar mit angemessenen Anforderungen an die Vorhersehbarkeit des Rechts und die Rechtssicherheit, die doch in Strafverfahren von besonderem Gewicht sind. Die gerichtliche Ordnung in der Union ist diffus. Jedes Gericht in einem Mitgliedstaat ist ein Gericht, das die Anwendung des Unionsrechts sicherstellt. Im Rahmen seiner Zuständigkeit kann und muss ein nationales Gericht, wenn es eine Unvereinbarkeit feststellt, wozu es ohne Anrufung des Gerichtshofs befugt ist, die richtigen verfahrensrechtlichen Konsequenzen ziehen. Würde man es zulassen, dass die einzelnen Gerichte in den Mitgliedstaaten nach ihrer jeweiligen Einschätzung nationale strafrechtliche Verfahrensvorschriften unangewendet lassen können, würde die Strafjustiz Gefahr laufen, zu einer (von der Union geförderten) Lotterie zu werden.

107.

Diese Gefahr wird noch dadurch verschärft, dass auch nach dem Erlass des Urteils Kolev der vom Gerichtshof für die selektive Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger nationaler Vorschriften für maßgeblich erachtete Gesichtspunkt unklar geblieben ist. In der Rechtssache Taricco, in der das vorlegende Gericht mitteilte, dass in Italien die Strafverfahren so lange dauerten, dass bei dieser Art von Fällen „die De-facto-Straffreiheit nicht die Ausnahme, sondern die Regel“ sei, hat der Gerichtshof für maßgeblich erachtet, dass das vorlegende Gericht festgestellt hatte, dass die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften „in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen“ ( 71 ) eine solche Auswirkung haben würde. Im Urteil Kolev wird insoweit von „systematischen und fortgesetzten Verstößen gegen die zollrechtlichen Vorschriften“ gesprochen, die zu der „systemischen Gefahr“ führen, dass Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union ungeahndet bleiben ( 72 ).

108.

In der Rechtssache Kolev bestanden aber die „systematischen und fortgesetzten Verstöße“ im Ausgangsverfahren offenbar allein darin, dass ein bestimmter Staatsanwalt nicht in der Lage war, in einem bestimmten Strafverfahren dem Angeschuldigten die betreffenden Dokumente zuzustellen. In diesem Sinne war die Staatsanwaltschaft tatsächlich systematisch und fortgesetzt dazu nicht in der Lage. Im Übrigen aber beruhte das „systemische“ Problem auf einer Aussage des vorlegenden Gerichts. Es liegt nahe, zu welchen (diesmal wirklich systemischen) Problemen eine solche vom Gerichtshof erteilte „Erlaubnis der Nichtanwendung“ im Rahmen des Strafrechts führt ( 73 ).

109.

Viertens liegt die (verfassungsrechtlich bewährte) Antwort auf dieses Problem und die damit zusammenhängenden Fragen in der Achtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung. Sind nationale Strafvorschriften mit dem Unionsrecht unvereinbar, ist es eindeutig Aufgabe des nationalen Gesetzgebers, einzugreifen und vorausschauend im Einklang mit dem Gesetzmäßigkeitsgrundsatz allgemein anwendbare Vorschriften zu erlassen. Als Ausdruck der Gewaltenteilung im sensiblen Bereich des Strafrechts verlangt der Gesetzmäßigkeitsgrundsatz, dass sowohl verfahrensrechtliche als auch materiell-rechtliche Vorschriften vom Parlament erlassen werden. Unabhängig von dem inhärenten verfassungsmäßigen Wert dieses Arguments hat dieser Ansatz auch einen praktischen Vorteil: Es gibt zwangsläufig nur eine einzige anwendbare Regelung.

110.

Fünftens gibt es etwas, was man als generelles Paradoxon des „Wohin systemische Mängel in den Mitgliedstaaten führen können“ bezeichnen könnte. In Fällen wie N.S. ( 74 ) oder Aranyosi und Căldăraru ( 75 ) führten bestimmte systemische Mängel im Justiz-, Verwaltungs- oder Strafvollzugssystem in einem Mitgliedstaat im Namen des wirksamen Grundrechtsschutzes zur Möglichkeit einer vorübergehenden Aussetzung einiger der wichtigsten Grundsätze, auf denen die Union aufbaut, wie die gegenseitige Anerkennung und das gegenseitige Vertrauen. Dagegen sind (offensichtliche) systemische Mängel bei der Erhebung von Mehrwertsteuer und Zöllen im Hinblick auf den Schutz der finanziellen Interessen der Union von solch einer überragenden Bedeutung, dass sie dieses Mal zu einer effektiven Aussetzung der Grundrechte zusammen mit den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit und der Rechtsstaatlichkeit führen. Ich frage mich wirklich, was eine solche Gliederung der Werte für die Hierarchie zwischen Art. 2 EUV und Art. 325 AEUV bedeutet.

111.

Aus all diesen Gründen bin ich der Meinung, dass es notwendig ist, den Ansatz des Gerichtshofs in Bezug auf die Folgen der Unvereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften über die wirksame Erhebung von Mehrwertsteuer oder anderer Eigenmittel der Union, insbesondere in Bezug auf strafrechtliche Verfahren in diesem Bereich, etwas anders zu strukturieren. Selbst wenn eine in einem solchen Verfahren anwendbare nationale Vorschrift für mit dem anwendbaren Unionsrecht unvereinbar erklärt wird, sollte diese Feststellung lediglich für die Zukunft wirken. Die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Gesetzmäßigkeit und des Grundrechtsschutzes (wie sie im jeweiligen Fall einschlägig sind) lassen es nicht zu, dass diese Feststellung, wenn sie sich zum Nachteil des Angeklagten auswirkt, in laufenden Verfahren Anwendung findet. Die Mitgliedstaaten sind daher verpflichtet, unverzüglich Schritte zur Änderung des nationalen Rechts zu unternehmen, um die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit den Feststellungen des Gerichtshofs sicherzustellen. Geschieht dies nicht, wäre ein (gegebenenfalls beschleunigtes) Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV die angemessene (strukturelle) Abhilfe.

112.

Schließlich: Ob etwaige Mängel systemisch oder nur individuell sind, sollte keine Rolle spielen. Sollten derartige Mängel tatsächlich strukturell in dem Sinne sein, dass sie in großem Umfang und wiederholt auftreten, wäre dies ein weiteres Argument dafür, dass dem auch durch eine „strukturierte“ Antwort in Form eines Verfahrens nach Art. 258 AEUV, in dem der betreffende Mitgliedstaat dann seine Auffassung angemessen verteidigen kann, begegnet werden muss.

D.   Vorlagefrage

113.

Wendet man diese allgemeinen Hinweise auf die vorliegende Rechtssache an, ist meines Erachtens die konkrete Frage des vorlegenden Gerichts, ob der wirksame Schutz der Eigenmittel der Union es erfordert, nationale Rechtsvorschriften über das Verbot der Verwertung rechtswidrig erlangter Beweise unangewendet zu lassen, eindeutig wie folgt zu beantworten: nein, keinesfalls.

114.

Erstens: Zur maßgebenden Zeit gab es keine unionsrechtliche Harmonisierung ( 76 ) der Vorschriften über die Beweise oder über die Telekommunikationsüberwachung zum Schutz der finanziellen Interessen der Union im Bereich der Mehrwertsteuer oder allgemein. Den Mitgliedstaaten verblieb daher das Ermessen, insoweit ihre eigenen Rechtsvorschriften zu gestalten.

115.

Zweitens: Obwohl keine spezifische unionsrechtliche Regelung dieser Frage existiert, der vorliegende Sachverhalt sich also nicht nach Unionsrecht richtet, fällt er dennoch in den Geltungsbereich des Unionsrechts. Den Mitgliedstaaten obliegen nämlich hinsichtlich aller strafrechtlichen Vorschriften, die für Sanktionen im Bereich der Mehrwertsteuer von Bedeutung sind, die allgemeinen Verpflichtungen aus Art. 325 Abs. 1 AEUV, Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens und den Art. 206, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

116.

Im Vergleich zu den nationalen Rechtsvorschriften, um die es in den Rechtssachen M.A.S. und Kolev ging, haben die hier fraglichen nationalen Vorschriften vielleicht nur eine geringe, aber sicherlich doch vorhandene ( 77 ), Nähe zu den anwendbaren Unionsregelungen. Beweisvorschriften in Verbindung mit Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Voraussetzungen für Überwachungsanordnungen wirken sich eindeutig auf die Sanktionen aus, indem die Anwendung dieser Vorschriften dazu führt, dass Sanktionen mehr oder weniger wahrscheinlich oder effektiv sind. Dies wird darin deutlich, dass bei Anwendung der bulgarischen Beweisvorschriften die Verwertung der Beweise, mit denen im Ausgangsverfahren die Schuld des Herrn Dzivev festgestellt werden könnte, nicht möglich wäre.

117.

Drittens: Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten ihr Ermessen bei der Gestaltung und der Anwendung derartiger Vorschriften innerhalb zweier Arten von Grenzen, einschließlich der durch die Grundrechte gesetzten Grenzen, ausüben müssen, nämlich innerhalb der sich aus dem nationalen Recht und der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Grenzen.

118.

Einerseits müssen sie ihr eigenes nationales Recht und dabei auch die einschlägigen Bestimmungen ihrer Verfassungen in Bezug auf das Strafrecht im Allgemeinen und auf Beweise und Überwachungen im Besonderen beachten. Auf der Grundlage des Urteils M.A.S. können die bulgarischen Behörden somit die fraglichen nationalen Vorschriften anhand spezifischer Auslegungen der Grundrechte (z. B. des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit von Strafen) prüfen, auch wenn Letztere auch durch das Unionsrecht garantiert werden, sofern die nationale Verfassung einen höheren Standard für den Schutz des Angeschuldigten festlegt. Dabei ist es allein Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die fraglichen nationalen Rechtsvorschriften mit höherrangigem nationalem Recht vereinbar sind.

119.

Andererseits ist, da der vorliegende Sachverhalt in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, die institutionelle und verfahrensrechtliche Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Beweisvorschriften nicht nur durch die beiden unionsrechtlichen Erfordernisse der Äquivalenz und der Effektivität, sondern auch durch die Charta begrenzt ( 78 ).

120.

Das Erfordernis der Äquivalenz setzt der Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten eine Grenze, indem es sie dazu verpflichtet, Sanktionen so auszugestalten, dass sie den Bedingungen entsprechen, die für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen das nationale Recht gelten ( 79 ). Im vorliegenden Fall ergeben sich allerdings keine Äquivalenzfragen.

121.

Das Erfordernis der Effektivität verpflichtet die Mitgliedstaaten, die wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen, insbesondere durch wirksame und abschreckende Sanktionen für Verstöße gegen Mehrwertsteuervorschriften ( 80 ).

122.

Die Effektivität des Unionsrechts ist ein fragwürdiges Argument, weil sie an und für sich keine Grenzen kennt. Verwendet man dieses Argument in seinem weitesten Sinn, ließe sich damit jedes angedachte Ergebnis rechtfertigen. Würde man „Wirksamkeit des Schutzes der Eigenmittel der Union“ gleichsetzen mit „Menschen wegen Betrugs und Nichtbezahlung von Mehrwertsteuer ins Gefängnis stecken“ ( 81 ), müsste man jede nationale Vorschrift, die einer Verurteilung im Wege steht, unangewendet lassen. Aber wäre es dann nicht auch noch wirksamer, das Erfordernis der Beantragung einer gerichtlichen Anordnung von Telefonüberwachungen überhaupt entfallen zu lassen? Auch ließe sich vielleicht die Wirksamkeit der Mehrwertsteuererhebung steigern, wenn das nationale Gericht bei Mehrwertsteuerbetrug ein öffentliches Auspeitschen anordnen könnte?

123.

Derartige natürlich absurde Beispiele zeigen anschaulich, warum das potenziell grenzenlose Argument der Effektivität sofort durch im vorherigen Schritt ermittelte Argumente und Werte begrenzt und mit ihnen in einen Ausgleich gebracht werden muss, d. h. andere Werte, Interessen und Ziele, die sich aus unionsrechtlichen und nationalen Grenzen einschließlich des Grundrechtsschutzes ergeben. Ein etwaiger Ausgleich mit nationalen Grenzen und Verfahrensvorschriften ist Sache des nationalen Gerichts.

124.

In Bezug auf das Unionsrecht und die sich daraus ergebenden Mindestanforderungen ist nochmals zu wiederholen, dass das Unionsrecht nicht nur zu wirksamen und abschreckenden Sanktionen verpflichtet. Es verlangt auch die Achtung der Grundrechte, wenn diese Sanktionen verhängt werden. Die Bestimmungen der Charta und Art. 325 Abs. 1 AEUV stehen als unionsrechtliches Primärrecht auf gleicher Stufe. Die Mitgliedstaaten müssen im Sinne einer sich aus dem Unionsrecht in dessen Geltungsbereich ergebenden zweifachen Verpflichtung die Wirksamkeit der Maßnahme mit den Grundrechten in Ausgleich bringen. Aus diesem Grund ist es zwingend geboten, bei der Prüfung der Wirksamkeit die Erfordernisse des Grundrechtsschutzes zu berücksichtigen ( 82 ).

125.

Unter den konkreten Umständen des vorliegenden Falles besteht kein Zweifel daran, dass die Überwachung jeglichen Telekommunikationsverkehrs, einschließlich der Telefonüberwachung, einen wesentlichen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 der Charta) ( 83 ) und im Fall der rechtswidrigen Verwertung im Rahmen eines Strafverfahrens auch einen wesentlichen Eingriff in die Verteidigungsrechte (Art. 48 Abs. 2 der Charta) bedeutet.

126.

Eine nationale Rechtsvorschrift, die die Verwertung von Beweisen verbietet, die aufgrund einer rechtswidrig erlassenen Überwachungsanordnung erlangt wurden, wird beidem gerecht: nicht nur dem Ziel der Wirksamkeit der Mehrwertsteuererhebung (indem überhaupt ein solcher Eingriff in das Privatleben zulässig ist), sondern auch der Achtung der betroffenen Grundrechte (indem die Verwertung solcher Beweise durch eine Reihe von Voraussetzungen eingegrenzt wird, einschließlich der Voraussetzung, dass sie rechtmäßig auf der Grundlage einer gerichtlichen Anordnung erlangt wurden).

127.

Ich meine, dass die Bewertung im vorliegenden Fall hier enden kann. Nach meiner Auffassung kann in einem Fall wie dem vorliegenden die Frage, ob nationale Rechtsvorschriften verfahrensrechtlicher Natur sind und welche Anzahl ähnlicher Probleme auf nationaler Ebene entstehen könnten, keinen Einfluss auf die Beurteilung durch den Gerichtshof haben. Um den Gerichtshof jedoch uneingeschränkt zu unterstützen, lautet die kurzgefasste Antwort auf die übrigen Punkte, wenn die oben dargestellte allgemeine Bewertung ( 84 ) auf den vorliegenden Fall übertragen wird, wie folgt.

128.

Viertens: Während eine nationale Rechtsvorschrift über die Zuständigkeit eines Gerichts für die Anordnung der Telefonüberwachung in einem bestimmten Fall als „verfahrensrechtlicher“ Natur angesehen werden könnte, ist eine Rechtsvorschrift, wonach Überwachungsanordnungen eine Begründung enthalten müssen, komplexer. Wenn keine (bestimmte, fallspezifische) Begründung für die Überwachung gegeben worden ist, kann man dann von einer „bloß“ verfahrensrechtlichen Vorschrift sprechen? Die Schwierigkeiten, die in dieser Rechtssache und in anderen Fällen ( 85 ) in Bezug auf die Klassifizierung solcher im Grenzbereich liegenden Vorschriften bestehen, machen nur einmal mehr deutlich, warum diese Unterscheidung in Fällen wie dem vorliegenden nicht wirklich hilfreich ist.

129.

Fünftens: Meines Erachtens hat eine Untersuchung zur Frage, in wie vielen Fällen sich eine Rechtsvorschrift in einer bestimmten Weise auswirkt, für die Beurteilung der Vereinbarkeit keinerlei Bedeutung. Aber selbst wenn, sollte eine strukturierte Antwort auf solche potenziellen Mängel prospektiv auf die Zukunft ausgerichtet sein und nicht in laufenden Verfahren zum Nachteil bereits strafrechtlich verfolgter Personen Anwendung finden. Sollte der Gerichtshof aber der Ansicht sein, das systemische Mängel in derartigen Verfahren relevant im Sinne der Urteile Taricco und Kolev sind, möchte ich dazu Folgendes bemerken.

130.

Wie von der Kommission angemerkt, kann den vom nationalen Gericht mitgeteilten Umständen des vorliegenden Falles nicht entnommen werden, dass die Anwendung der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften zu einer systemischen Gefahr der Straffreiheit im Sinne des Urteils Kolev führen oder dass dadurch die ordnungsgemäße Mehrwertsteuererhebung in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen im Sinne des Urteils Taricco behindert würde.

131.

Unabhängig davon, was letztlich der Maßstab ist, kann man davon ausgehen, dass „systemisch“ oder „beträchtlich“ mehr bedeutet als nur „eins“ (ein Fall). Außerdem muss meines Erachtens – in Übereinstimmung mit anderen Rechtssachen, in denen systemische Mängel erörtert wurden, wie z. B. N.S. oder Aranyosi und Căldăraru – eine so weitreichende Annahme auf Beweise gestützt werden ( 86 ), die über die individuelle Auslegung der nationalen Rechtsvorschriften und der nationalen Praxis durch ein einziges Gericht hinausgehen ( 87 ).

132.

Vorliegend geht es um vier Angeklagte. Wie das vorlegende Gericht mitteilt, reichen die erlangten Beweise aus, um mit Ausnahme von Herrn Dzivev die anderen Angeklagten als schuldig zu überführen. Es zeigt sich also, dass „trotz“ der fraglichen nationalen Rechtsvorschriften die Staatsanwaltschaft in der Lage war, nach nationalen Rechtsvorschriften Beweise gegen die anderen drei Angeklagten auf rechtmäßige Weise zu erlangen. Es ist daher unter den Umständen dieses Falles nicht erkennbar, inwiefern die Anwendung der Vorschriften die wirksame strafrechtliche Ahndung in großem Umfang behindern würde. Offenbar ist das Problem, das durch die Unsicherheit entstanden war, welches Gericht für die Anordnung einer Überwachung zuständig ist, auch nur vorübergehender Natur.

V. Ergebnis

133.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Frage des Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) wie folgt zu beantworten:

Art. 325 Abs. 1 AEUV, die Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und die Art. 206, Art. 250 Abs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ausgelegt im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, stehen einer nationalen Rechtsvorschrift wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegen, wonach die Verwertung von Beweisen verboten ist, die unter Verstoß gegen nationales Recht erlangt wurden, etwa aufgrund einer von einem unzuständigen Gericht angeordneten Überwachung der Telekommunikation.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555).

( 3 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936).

( 4 ) Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295).

( 5 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392).

( 6 ) Übereinkommen aufgrund von Art. K.3 des Vertrags über die Europäische Union (ABl. 1995, C 316, S. 49).

( 7 ) Beschluss des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2007, L 163, S. 17).

( 8 ) Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

( 9 ) Das Auslegungsurteil ist ein Rechtsakt des Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht), mit dem bindende Hinweise zum tatsächlichen Inhalt einer Rechtsvorschrift erteilt werden.

( 10 ) Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov (C‑614/14, EU:C:2016:514).

( 11 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936).

( 12 ) Vgl. Urteile vom 15. November 2011, Kommission/Deutschland (C‑539/09, EU:C:2011:733, Rn. 72), vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 26), vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 38), vom 7. April 2016, Degano Trasporti (C‑546/14, EU:C:2016:206, Rn. 22), und vom 16. März 2017, Identi (C‑493/15, EU:C:2017:219, Rn. 19).

( 13 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 41), vom Gerichtshof bestätigt durch Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 36).

( 14 ) Zu anderen Rechtssachen in Bezug auf strafrechtliche Verfahren gegen mutmaßliche Mehrwertsteuerbetrüger, in denen die Mehrwertsteuerrichtlinie ebenfalls für einschlägig erachtet wurde, vgl. Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105), vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197), und vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295).

( 15 ) Vgl. z. B. Urteile vom 21. September 1989, Kommission/Griechenland (68/88, EU:C:1989:339, Rn. 24), und vom 3. Mai 2005, Berlusconi u. a. (C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Insbesondere verlangt das SFI-Übereinkommen die strafrechtliche Verfolgung bestimmter Verhaltensweisen, die die finanziellen Interessen der Union über ein bestimmtes Maß beeinträchtigen, während sowohl Art. 325 Abs. 1 AEUV als auch die Mehrwertsteuerrichtlinie den Mitgliedstaaten in dieser Beziehung ein größeres Ermessen lassen, vgl. Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 34 bis 36).

( 17 ) Zu jüngeren Beispielen zur wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer, allerdings nicht im Zusammenhang mit Strafverfahren, vgl. z. B. Urteile vom 7. April 2016, Degano Trasporti (C‑546/14, EU:C:2016:206), und vom 16. März 2017, Identi (C‑493/15, EU:C:2017:219)..

( 18 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105).

( 19 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25 bis 26). Vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 17. Juli 2008, Kommission/Italien (C‑132/06, EU:C:2008:412, Rn. 37 und 46), und vom 28. Oktober 2010, SGS Belgium u. a. (C‑367/09, EU:C:2010:648, Rn. 40 bis 42).

( 20 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27).

( 21 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29). Vgl. auch im Kontext des Europäischen Haftbefehls Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60).

( 22 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555).

( 23 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936).

( 24 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 36 und 37).

( 25 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 47).

( 26 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 51 bis 52).

( 27 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 53).

( 28 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 55 bis 57).

( 29 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 30 bis 36 und 38 bis 39).

( 30 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 41).

( 31 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 44).

( 32 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 46 bis 47).

( 33 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 51 bis 52).

( 34 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 58 bis 61).

( 35 ) Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 25 und 29).

( 36 ) Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 40 bis 62).

( 37 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392).

( 38 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 53 und 55).

( 39 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 66).

( 40 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 75).

( 41 ) Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832).

( 42 ) Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 68).

( 43 ) Vgl. in diesem Sinne insbesondere Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 55).

( 44 ) Vgl. in Bezug auf den Grundsatz ne bis in idem Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 21).

( 45 ) Siehe oben, Nrn. 31 bis 37.

( 46 ) So dass dabei im Geltungsbereich des Unionsrechts gehandelt wird; zu einer ausführlichen Erörterung dieser Frage im spezifischen Kontext der Mehrwertsteuererhebung vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Ispas (C‑298/16, EU:C:2017:650, Nrn. 26 bis 65).

( 47 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 44). Vgl. auch darauf folgend Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 25 und 33).

( 48 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107).

( 49 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Stellungnahmen bestimmter Mitgliedstaaten zur Annahme des Rahmenbeschlusses (ABl. 2002, L 190, S. 1).

( 50 ) Vgl. z. B. im Kontext des Europäischen Haftbefehls Urteil vom 30. Mai 2013, F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 37, 38 und 56).

( 51 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Ispas (C‑298/16, EU:C:2017:650, Nrn. 61 bis 65).

( 52 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 44 bis 45).

( 53 ) Dies schließt Fallgestaltungen ein, die im Wege von Harmonisierungsmaßnahmen vollständig durch das Unionsrecht geregelt werden, bei denen aber ein Mitgliedstaat sich auf Art. 4 Abs. 2 EUV beruft, um wesentliche Bestimmungen oder Grundsätze im Rahmen seiner Rechtsordnung, wie z. B. einen nationalen Wert oder ein Grundrecht, einschließlich einer spezifischen Auslegung eines durch das Unionsrecht geschützten Rechts, zu bewahren. Mit dieser Vorschrift des Primärrechts verlangt das Unionsrecht selbst, derartige Bestimmungen und Grundsätze zu achten.

( 54 ) Siehe oben, Nr. 75.

( 55 ) Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 63).

( 56 ) Siehe oben, Fn. 53.

( 57 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 29).

( 58 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 47).

( 59 ) Vgl. insbesondere Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 29), vom 26. Februar 2013, Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 60), vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 47), und vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 75).

( 60 ) Auf der oben in Nrn. 79 und 80 genannten Skala würde dies eine mittlere Position einnehmen (wie Åkerberg Fransson oder Scialdone) sowie selbstverständlich die äußeren Punkte des Spektrums (wie z. B. Ispas und Kolev).

( 61 ) Weiter ausgeführt in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Scialdone (C‑574/15, EU:C:2017:553, Nrn. 146 bis 163).

( 62 ) „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“, und weiter: „Denn die Form hält dem Versucher, der die Freiheit zur Zügellosigkeit zu verleiten sucht, das Gegengewicht, sie lenkt die Freiheitssubstanz in feste Bahnen … und kräftigt sie dadurch nach innen und schützt sie nach außen.“ – Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Teil 2, Bd. 2, Leipzig 1858, S. 497.

( 63 ) Das gilt auch deswegen, weil nach Art. 52 Abs. 1 der Charta jede Einschränkung der Grundrechte gesetzlich vorgesehen sein muss. Wie der Gerichtshof jüngst selbst festgestellt hat, „[kann] nur eine Vorschrift mit allgemeiner Geltung den Anforderungen der Klarheit, der Vorhersehbarkeit, der Zugänglichkeit und insbesondere des Schutzes vor Willkür genügen“ (vgl. Urteil vom 15. März 2017, Al Chodor, C‑528/15, EU:C:2017:213, Rn. 43). Ich frage mich, wie eine rein justizielle und eher „dynamische“ Auslegung der Anforderungen nach Art. 325 Abs. 1 AEUV diesen Kriterien gerecht werden sollte.

( 64 ) Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Scialdone (C‑574/15, EU:C:2017:553, Nrn. 151 und 152).

( 65 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 41).

( 66 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 65).

( 67 ) Vgl. Urteile vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 49 und 58), und vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 38 und 39).

( 68 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 68 und 69).

( 69 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft (11/70, EU:C:1970:114, Rn. 4), vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 281 bis 285), und Gutachten 2/13 (Beitritt der Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 170).

( 70 ) Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B. (C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 57). Vgl. auch zur Anwendbarkeit von Richtlinien Urteile vom 8. Oktober 1987, Kolpinghuis Nijmegen (80/86, EU:C:1987:431, Rn. 13), und vom 22. November 2005, Grøngaard und Bang (C‑384/02, EU:C:2005:708, Rn. 30).

( 71 ) Urteil vom 8. September 2015, Taricco u. a. (C‑105/14, EU:C:2015:555, Rn. 24 und 47).

( 72 ) Urteil vom 5. Juni 2018, Kolev u. a. (C‑612/15, EU:C:2018:392, Rn. 57 und 65).

( 73 ) Das Gegenargument, dass derartige Folgen stets mit der Anwendung des Unionsrechts verbunden seien, ist sicherlich richtig. Jede Feststellung der Unvereinbarkeit durch ein nationales Gericht kann von einem anderen Akteur in diesem Mitgliedstaat angegriffen werden, was das Recht – zumindest für einige Zeit – weniger vorhersehbar macht mit der Folge, dass vorübergehend ein Einzelner z. B. einen bestimmten Vorteil erhält, den ein anderer nicht erhält. Ich meine aber, dass eine solche (im Allgemeinen zutreffende) Auffassung im spezifischen Kontext einer effektiven i) strafrechtlichen Haftung ii) auf der Grundlage der recht „wortkargen“ Bestimmung des Art. 325 Abs. 1 AEUV klare Grenzen haben muss. Der entscheidende Unterschied besteht wiederum in der hinreichenden Vorhersehbarkeit und Eindeutigkeit der einschlägigen Rechtsvorschriften, vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Scialdone (C‑574/15, EU:C:2017:553, Nrn. 165, 166 und 173 bis 178).

( 74 ) Urteil vom 21. Dezember 2011, N.S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 86).

( 75 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 82 bis 88).

( 76 ) In dem Sinne, dass eine unionsrechtliche Vorschrift oder Regelung diese spezifische Frage abdeckt, wie dies oben in den Nrn. 70 und 80 erörtert wurde.

( 77 ) Auf der oben in Nr. 79 erörterten Skala wäre der vorliegende Fall in der Nähe des Sachverhalts in den Rechtssachen Ispas oder Kolev angesiedelt.

( 78 ) Vgl. z. B. in Bezug auf die Achtung der Charta im Rahmen des Unionsrechts Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27), und vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti (C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 16).

( 79 ) Vgl. z. B. Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 53).

( 80 ) Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone (C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 33).

( 81 ) Zutiefst zynisch betrachtet könnte man allerdings die Richtigkeit dieser Feststellung anzweifeln: Menschen ins Gefängnis zu stecken, weil sie die Steuer nicht zahlen, könnte dem (entfernteren) Abschreckungsziel dienen, aber kaum dem (wohl unmittelbareren) Ziel, sie zu zwingen, ihre Verpflichtungen gegenüber der öffentlichen Hand zu erfüllen. Deswegen hatten auch Gefängnisse für Schuldner, auch wenn sie zur Abschreckung geeignet gewesen sein mögen, in der Vergangenheit vermutlich nur begrenzte Erfolge, was die Zahlungsbereitschaft anging, vgl. hierzu mit entsprechenden Literaturhinweisen meine Schlussanträge in der Rechtssache Nemec (C‑256/15, EU:C:2016:619, Nrn. 63 bis 65).

( 82 ) Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 65 und 66). Der Gerichtshof hat insbesondere darauf hingewiesen, dass die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs, durch die die betreffenden Beweise erlangt wurden, sowohl im Straf- als auch im Verwaltungsverfahren gesetzlich vorgesehen und erforderlich sein muss. Außerdem müsse überprüft werden, ob dem Steuerpflichtigen im Verwaltungsverfahren gemäß dem allgemeinen Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte Zugang und rechtliches Gehör zu diesen Beweisen gewährt worden sei.

( 83 ) Zum Recht auf Achtung des Privatlebens bei Überwachungsmaßnahmen vgl. z. B. Urteile des EGMR vom 24. April 1990, Kruslin/Frankreich (CE:ECHR:1990:0424JUD001180185), vom 18. Mai 2010, Kennedy/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2010:0518JUD002683905), und vom 4. Dezember 2015, Roman Zakharov/Russland (CE:ECHR:2015:1204JUD004714306). In letzterer Rechtssache stellte der EGMR im russischen Recht über die Telekommunikationsüberwachung Mängel in Bezug auf die Verfahren zur Anordnung von Überwachungen fest. Vgl. auch allgemeiner zum angemessenen Ausgleich zwischen der Bekämpfung von Straftaten und dem Schutz des Privatlebens und personenbezogener Daten Urteil vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a. (C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970).

( 84 ) Siehe oben, Nrn. 96 bis 101 und 102 bis 112.

( 85 ) Ist z. B. die Bestimmung, wonach Umweltverträglichkeitsverfahren nicht übermäßig teuer sein dürfen, eine verfahrensrechtliche oder eine materiell-rechtliche Regelung? Vgl. zu diesem Punkt meine Schlussanträge in Klohn (C‑167/17, EU:C:2018:387, Nrn. 82 bis 91).

( 86 ) In beiden Urteilen wurden diese Beweise nicht nur aufgrund des Vortrags verschiedener Beteiligter und der Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgaben, erörtert, sie wurden auch durch maßgebliche Feststellungen des EGMR gestützt (vgl. Urteile vom 21. Dezember 2011, N.S. u. a., C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 88 bis 90, und vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 43 und 60). Das soll nicht heißen, dass die Geltendmachung systemischer Mängel stets in jedem Fall derartiger und derart umfänglicher Beweise bedarf. Mit dem Vergleich soll vielmehr verdeutlicht werden, dass sehr unterschiedliche Beweisanforderungen vorstellbar sind.

( 87 ) Es wurde bereits oben in Nrn. 24 und 44 kurz darauf hingewiesen, dass die nationalen Gerichte offenbar verschiedene Auffassungen zur richtigen Auslegung der neuen Bestimmung vertreten. Diplomatisch sei hinzugefügt, dass der im Vorlagebeschluss zum Ausdruck kommende Meinungsunterschied zwischen einerseits dem vorlegenden Gericht und andererseits dem Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) und dem Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) sogar noch tiefer geht.