URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

13. Juli 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit – Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit – Verhalten, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt – Tatsächliche und gegenwärtige Gefahr – Begriff – Unionsbürger, der sich im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, in dem er eine Freiheitsstrafe verbüßt, die zur Ahndung wiederholter Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen verhängt wurde“

In der Rechtssache C‑193/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia del País Vasco (Oberstes Gericht des Baskenlands, Spanien) mit Entscheidung vom 8. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2016, in dem Verfahren

E

gegen

Subdelegación del Gobierno en Álava

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras (Berichterstatter), J. Malenovský, M. Safjan und D. Šváby,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der spanischen Regierung, vertreten durch V. Ester Casas als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch K. Stranz und T. Henze als Bevollmächtigte,

der estnischen Regierung, vertreten durch K. Kraavi-Käerdi als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und C. Crane als Bevollmächtigte im Beistand von B. Lask, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und I. Martínez del Peral als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, Berichtigung im ABl. 2004, L 229, S. 35).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen E und der Subdelegación del Gobierno en Álava (Unterdelegation der Regierung in Álava, Spanien) über deren Entscheidung, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit die Ausweisung von E aus dem Königreich Spanien mit einem Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren zu verfügen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„(1)   Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

(2)   Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

4

Art. 28 Abs. 3 dieser Richtlinie lautet:

„Gegen Unionsbürger darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie

a)

ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat gehabt haben oder

b)

minderjährig sind, es sei denn, die Ausweisung ist zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.“

5

Art. 33 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Der Aufnahmemitgliedstaat kann eine Ausweisungsverfügung als Strafe oder Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe nur erlassen, wenn die Voraussetzungen der Artikel 27 … eingehalten werden.

(2)   Wird eine Ausweisungsverfügung nach Absatz 1 mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt, so muss der Mitgliedstaat überprüfen, ob von dem Betroffenen eine gegenwärtige und tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht, und beurteilen, ob seit dem Erlass der Ausweisungsverfügung eine materielle Änderung der Umstände eingetreten ist.“

Spanisches Recht

6

Art. 10 des Real decreto 240/2007, sobre entrada, libre circulación y residencia en España de ciudadanos de los Estados miembros de la Unión europea y de otros Estados parte en el Acuerdo sobre el Espacio Económico Europeo (Königliches Dekret 240/2007 über Einreise, Freizügigkeit und Aufenthalt von Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der anderen Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum in Spanien) vom 16. Februar 2007 (BOE Nr. 51 vom 28. Februar 2007, S. 8558, im Folgenden: Königliches Dekret 240/2007) sieht in Abs. 1 vor:

„Bürger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum und die Familienangehörigen, die keine Staatsangehörigen eines dieser Staaten sind, haben ein Recht auf Daueraufenthalt, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen in Spanien aufgehalten haben. Dieses Recht ist nicht an die in Kapitel III dieses Königlichen Dekrets vorgesehenen Voraussetzungen geknüpft.

…“

7

Art. 15 des Königlichen Dekrets 240/2007 lautet:

„1.   Wenn Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit es erfordern, können folgende Maßnahmen in Bezug auf Bürger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder ihre Familienangehörigen erlassen werden:

c)

Verfügung der Ausweisung oder Zurückweisung aus dem spanischen Hoheitsgebiet.

Eine Ausweisung kann gegenüber Bürgern eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder ihren Familienangehörigen (ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit), die das Recht auf Daueraufenthalt in Spanien erworben haben, nur dann verfügt werden, wenn schwerwiegende Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorliegen. Beim Erlass einer solchen Entscheidung sind die Dauer des Aufenthalts und die soziale und kulturelle Integration des Betroffenen in Spanien, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Situation und die Stärke der Bindungen zu seinem Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

4.   Wird eine Ausweisungsentscheidung mehr als zwei Jahre nach ihrem Erlass vollstreckt, müssen die zuständigen Behörden prüfen und beurteilen, ob seit dem Erlass der Ausweisungsentscheidung eine Änderung der Umstände eingetreten ist und ob von dem Betroffenen eine tatsächliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgeht.

5.   Beim Erlass einer der in den vorstehenden Absätzen 1 bis 4 vorgesehenen Maßnahmen sind folgende Kriterien zu beachten:

a)

Sie muss gemäß den die öffentliche Ordnung und Sicherheit regelnden Gesetzesbestimmungen und den einschlägigen Verordnungsbestimmungen erlassen werden.

b)

Sie kann von Amts wegen oder auf Antrag zurückgenommen werden, wenn die Gründe für ihren Erlass weggefallen sind.

c)

Sie darf nicht zu wirtschaftlichen Zwecken erlassen werden.

d)

Beim Erlass aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein, das jedenfalls eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, darstellen muss und von der für die Entscheidung zuständigen Stelle auf der Grundlage der in den Akten enthaltenen Berichte der Polizei-, Straf- oder Justizbehörden beurteilt wird. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8

E ist italienischer Staatsbürger. Am 14. April 2003 wurde er als in Spanien wohnhafter Unionsbürger registriert.

9

Am 13. November 2013 erließ die Unterdelegation der spanischen Regierung in Álava gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. c des Königlichen Dekrets 240/2007 eine Entscheidung, mit der sie aus Gründen der öffentlichen Sicherheit die Ausweisung von E aus dem Königreich Spanien (im Folgenden: Ausweisungsentscheidung) mit einem Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren verfügte, und zwar mit der Begründung, dass E mit drei rechtskräftigen Urteilen wegen wiederholter Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden sei, die er gegenwärtig in einer Justizvollzugsanstalt verbüße.

10

Gegen diese Entscheidung erhob E Klage beim Juzgado de lo Contencioso-Administrativo no 3 de Vitoria-Gasteiz (Verwaltungsgericht Nr. 3 Vitoria-Gasteiz, Spanien). Am 12. September 2014 wurde die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die Ausweisungsentscheidung insbesondere angesichts des psychologischen Berichts der Justizvollzugsanstalt sowie der familiären und wirtschaftlichen Lage des Betroffenen im Aufnahmemitgliedstaat ordnungsgemäß begründet sei.

11

Gegen dieses Urteil legte E beim vorlegenden Gericht ein Rechtsmittel ein. Er machte insbesondere geltend, dass er sich seit sechs Jahren in Haft befinde, um Strafen zu verbüßen, die wegen Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen gegen ihn verhängt worden seien. Deshalb könne nicht angenommen werden, dass von ihm zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsentscheidung eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr ausgehe, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre.

12

Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, das Verhalten von E sei hinreichend erheblich, um als „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ eingestuft zu werden. Es sei jedoch zweifelhaft, ob E eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstelle, da er sich in Haft befinde und noch einen großen Teil seiner Strafe zu verbüßen habe.

13

Daher stelle sich die Frage, ob die Ausweisungsentscheidung mit Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 vereinbar sei.

14

Unter diesen Umständen hat das Tribunal Superior de Justicia del País Vasco (Oberstes Gericht des Baskenlands, Spanien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stellt der wegen wiederholter Straftaten des Missbrauchs von Minderjährigen zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilte E unter Berücksichtigung der Tatsache, dass er inhaftiert ist und dass er, nachdem er sechs Jahre verbüßt hat, noch mehrere Jahre bis zur Wiedererlangung seiner Freiheit zu verbüßen hat, eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne der Bestimmungen des Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 dar?

Zur Vorlagefrage

15

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass sich eine Person zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsentscheidung ohne Aussicht auf baldige Entlassung in Haft befindet, es ausschließt, dass ihr Verhalten gegebenenfalls eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats berührt.

16

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auf Aufenthalt in der Union nicht uneingeschränkt besteht, sondern den im Vertrag und in den Bestimmungen zu seiner Durchführung vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden darf (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 21, und vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 55).

17

Beschränkungen des Aufenthaltsrechts ergeben sich insoweit vor allem aus Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, wonach die Mitgliedstaaten das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, insbesondere aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit beschränken dürfen (vgl. Urteile vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, EU:C:2008:396, Rn. 22, und vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 57).

18

Nach ständiger Rechtsprechung stellt die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen dar, die eng auszulegen ist und deren Tragweite nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Dezember 1974, van Duyn, 41/74, EU:C:1974:133, Rn. 18, vom 27. Oktober 1977, Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 33, vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C‑482/01 und C‑493/01, EU:C:2004:262, Rn. 65, und vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 58).

19

Nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/38 muss bei Maßnahmen, mit denen das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder eines seiner Familienangehörigen eingeschränkt wird, insbesondere solchen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein (Urteil vom 13. September 2016, Rendón Marín, C‑165/14, EU:C:2016:675, Rn. 59).

20

Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 83 Abs. 1 AEUV die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu den Bereichen besonders schwerer Kriminalität gehört, die eine grenzüberschreitende Dimension haben und für die ein Tätigwerden des Unionsgesetzgebers vorgesehen ist. Daher steht es den Mitgliedstaaten frei, Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, bei der die Gefahr der Wiederholung eine unmittelbare Bedrohung der Ruhe und der physischen Sicherheit der Bevölkerung darstellt und die somit unter den Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit fallen kann, mit denen gemäß Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 eine Ausweisungsverfügung gerechtfertigt werden kann, sofern die Art und Weise der Begehung solcher Straftaten besonders schwerwiegende Merkmale aufweist; dies ist vom vorlegenden Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung des konkreten Falles, mit dem es befasst ist, zu klären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2012, I, C‑348/09, EU:C:2012:300, Rn. 33).

21

Sollte das vorlegende Gericht anhand der spezifischen Werte der Rechtsordnung des Mitgliedstaats, dem es angehört, feststellen, dass Straftaten wie die von E verübten eine solche Bedrohung darstellen, muss dies gleichwohl nicht zwangsläufig zur Ausweisung des Betroffenen führen (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Mai 2012, I, C‑348/09, EU:C:2012:300, Rn. 29).

22

Aus dem Wortlaut von Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ergibt sich nämlich, dass bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf.

23

Ferner setzt eine Ausweisungsverfügung nach Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Richtlinie voraus, dass dieses Verhalten eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft oder des Aufnahmemitgliedstaats berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (Urteil vom 22. Mai 2012, I, C‑348/09, EU:C:2012:300, Rn. 30).

24

Dass sich der Betroffene zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsentscheidung in Haft befindet und seine Entlassung erst in einigen Jahren zu erwarten ist, kann jedoch nicht als Umstand angesehen werden, der einen Bezug zum persönlichen Verhalten des Betroffenen hat.

25

Darüber hinaus sieht Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vor, dass der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisungsverfügung als Nebenstrafe zu einer Freiheitsstrafe erlassen kann, wenn die sich u. a. aus Art. 27 dieser Richtlinie ergebenden Voraussetzungen eingehalten werden. Der Unionsgesetzgeber hat somit ausdrücklich vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten gegen eine zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Person eine Ausweisungsverfügung verhängen können, wenn erwiesen ist, dass das Verhalten dieser Person eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaats berührt.

26

Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits über Vorlagefragen zur Auslegung der Richtlinie 2004/38 zu entscheiden hatte, die im Rahmen von Rechtssachen vorgelegt wurden, in denen es um eine zu einer Freiheitsstrafe verurteilte Person ging und zu prüfen war, unter welchen Bedingungen das Verhalten dieser Person als Rechtfertigung für den Erlass einer gegen sie gerichteten Ausweisungsverfügung angesehen werden kann (vgl. Urteile vom 23. November 2010, Tsakouridis, C‑145/09, EU:C:2010:708, und vom 22. Mai 2012, I, C‑348/09, EU:C:2012:300).

27

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass sich eine Person zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsentscheidung ohne Aussicht auf baldige Entlassung in Haft befindet, es nicht ausschließt, dass ihr Verhalten gegebenenfalls eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats berührt.

Kosten

28

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass sich eine Person zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsentscheidung ohne Aussicht auf baldige Entlassung in Haft befindet, es nicht ausschließt, dass ihr Verhalten gegebenenfalls eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats berührt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.