URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

11. Oktober 2016 ( *1 )

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Richtlinie 2004/80/EG — Art. 12 Abs. 2 — Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten gewährleisten — Einzelstaatliche Regelung, die nicht alle im Inland vorsätzlich begangenen Gewalttaten erfasst“

In der Rechtssache C‑601/14

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 22. Dezember 2014,

Europäische Kommission, vertreten durch E. Traversa und F. Moro als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

unterstützt durch

Rat der Europäischen Union, vertreten durch E. Moro, M. Chavrier und K. Pleśniak als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello und E. De Bonis, avvocati dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, T. von Danwitz, J. L. da Cruz Vilaça und E. Juhász, der Kammerpräsidentinnen M. Berger (Berichterstatterin) und A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und E. Regan sowie der Richter A. Rosas, A. Borg Barthet, J. Malenovský, D. Šváby und C. Lycourgos,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Februar 2016,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. April 2016

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABl. 2004, L 261, S. 15) verstoßen hat, dass sie nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten besteht.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

2

Die Erwägungsgründe 1 bis 3, 6 und 7 der Richtlinie 2004/80 lauten:

„(1)

Die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gehört zu den Zielen der [Union].

(2)

Nach dem Urteil [vom 2. Februar 1989, Cowan (C‑186/87, EU:C:1989:47),] ist es, wenn das [Unions]recht einer natürlichen Person die Freiheit garantiert, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, zwingende Folge dieser Freizügigkeit, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist. Zur Verwirklichung dieses Ziels sollten unter anderem Maßnahmen ergriffen werden, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern.

(3)

Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere dazu aufgerufen, Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich deren Zugang zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche, einschließlich der Prozesskosten – auszuarbeiten.

(6)

Opfer von Straftaten in der Europäischen Union sollten unabhängig davon, an welchem Ort in der Europäischen [Union] die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben.

(7)

Mit dieser Richtlinie wird ein System der Zusammenarbeit eingeführt, damit Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen leichter Zugang zur Entschädigung erhalten; dieses System sollte sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten stützen. Daher sollte es in allen Mitgliedstaaten eine Entschädigungsregelung geben.“

3

Art. 1 der Richtlinie 2004/80, der zu Kapitel I („Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen“) gehört, bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in den Fällen, in denen eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, diese berechtigt ist, den Antrag bei einer Behörde oder einer anderen Stelle in letzterem Mitgliedstaat zu stellen.“

4

Art. 2 („Zuständigkeit für die Zahlung der Entschädigung“) dieser Richtlinie lautet:

„Die Entschädigung wird von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats gezahlt, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde.“

5

In Art. 3 („Zuständige Behörden und Verwaltungsverfahren“) der Richtlinie heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten errichten oder benennen eine oder mehrere Behörden oder andere Stellen, nachstehend als ‚Unterstützungsbehörde‘ bzw. ‚Unterstützungsbehörden‘ bezeichnet, die für die Anwendung von Artikel 1 zuständig sind.

(2)   Die Mitgliedstaaten errichten oder benennen eine oder mehrere Behörden oder andere Stellen, nachstehend als ‚Entscheidungsbehörde‘ bzw. ‚Entscheidungsbehörden‘ bezeichnet, die über Anträge auf Entschädigung zu entscheiden haben.

…“

6

Art. 12 der Richtlinie, der zu Kapitel II („Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen“) gehört, sieht vor:

„(1)   Die in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen stützen sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten.

(2)   Alle Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet.“

7

Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2004/80 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erlassen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens bis zum 1. Januar 2006 nachzukommen; hiervon ausgenommen ist Artikel 12 Absatz 2, dem bis zum 1. Juli 2005 nachzukommen ist. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.“

Italienisches Recht

8

Die Richtlinie 2004/80 wurde durch das Decreto legislativo n. 204 – attuazione della direttiva 2004/80/CE relativa all’indennizzo delle vittime di reato (Gesetzesdekret Nr. 204 zur Umsetzung der Richtlinie 2004/80/EG zur Entschädigung der Opfer von Straftaten) vom 6. November 2007 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 261 vom 9. November 2007, im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 204/2007) und das Decreto ministerial n. 222 – regolamento ai sensi dell’articolo 7 del decreto legislativo n. 204/2007 (Ministerialdekret Nr. 222 – Verordnung gemäß Art. 7 des Gesetzesdekrets Nr. 204/2007) vom 23. Dezember 2008 (GURI Nr. 108 vom 12. Mai 2009) in das italienische Recht umgesetzt.

9

Das Ministerialdekret Nr. 222 vom 23. Dezember 2008 bezieht sich u. a. auf die organisatorischen Aspekte der Tätigkeiten, die in die Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaften bei den Berufungsgerichten fallen.

10

In verschiedenen Spezialgesetzen ist unter bestimmten Umständen eine staatliche Entschädigung der Opfer von bestimmten Arten vorsätzlicher Gewalttaten vorgesehen, u. a. von solchen, die einen Bezug zum Terrorismus oder zur organisierten Kriminalität aufweisen. Das Gesetzesdekret Nr. 204/2007 verweist hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von Entschädigungen auf diese speziellen Gesetze, in denen die Formen der Entschädigung von Opfern im Inland begangener Straftaten geregelt sind.

Vorverfahren

11

Nach einem erfolglosen Austausch mit der Italienischen Republik richtete die Kommission am 25. November 2011 ein Mahnschreiben an diesen Mitgliedstaat, in dem sie ihm zur Last legte, in seinen Rechtsvorschriften entgegen den sich aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 ergebenden Anforderungen keine allgemeine Regelung für die Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten vorzusehen, und forderte ihn auf, hierzu Stellung zu nehmen.

12

Die Italienische Republik legte in ihrer Antwort vom 14. Mai 2012 einen Entwurf gesetzgeberischer Maßnahmen zur Einführung einer allgemeinen Entschädigungsregelung vor. Da kein Zeitplan für die Annahme dieses Entwurfs vorgelegt worden war, setzte die Kommission das Vorverfahren fort.

13

Mit Schreiben vom 12. Juli 2013 teilte die Italienische Republik der Kommission mit, dass das Tribunale ordinario di Firenze (Gericht Florenz, Italien) dem Gerichtshof eine Frage zur Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2004/80 vorgelegt habe, und schlug ihr vor, die Entscheidung des Gerichtshofs in dieser Rechtssache abzuwarten, bevor das Verfahren fortgesetzt werde.

14

Die Kommission stellte der Italienischen Republik jedoch am 18. Oktober 2013 eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu, in der sie sie aufforderte, innerhalb von zwei Monaten nach dieser Zustellung die zur Umsetzung von Art. 12 der Richtlinie 2004/80 erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

15

Die Italienische Republik wies in ihrer Antwort, die der Kommission am 18. Dezember 2013 zuging, darauf hin, dass sie es für angebracht erachte, die Antwort des Gerichtshofs auf die vom Tribunale ordinario di Firenze (Gericht Florenz) vorgelegte Frage abzuwarten. Mit Beschluss vom 30. Januar 2014, C. (C‑122/13, EU:C:2014:59), erklärte sich der Gerichtshof jedoch für offensichtlich unzuständig, diese Frage zu beantworten.

16

Die Kommission hat daher beim Gerichtshof die vorliegende Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 Abs. 2 AEUV erhoben.

17

Der Rat der Europäischen Union ist durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 22. Mai 2015 in der vorliegenden Rechtssache als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden.

Klage

Vorbringen der Parteien

18

Die Kommission macht geltend, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 12 der Richtlinie 2004/80 verpflichtet seien, eine einzelstaatliche Entschädigungsregelung für die Opfer vorsätzlicher Gewalttaten einzuführen.

19

Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie räume, auch wenn der Begriff „vorsätzliche Gewalttaten“ darin nicht definiert werde, den Mitgliedstaaten kein Ermessen in Bezug auf den Anwendungsbereich der nationalen Entschädigungsregelung ein, da dieser alle vorsätzlich begangenen Gewalttaten erfassen müsse, die im materiellen Strafrecht der einzelnen Mitgliedstaaten als solche definiert würden. Die Mitgliedstaaten dürften daher nicht einige dieser Straftaten vom Anwendungsbereich der nationalen Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 2004/80 ausnehmen.

20

Die Italienische Republik habe jedoch lediglich die Bestimmungen des Kapitels I der Richtlinie 2004/80 umgesetzt, die den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen regelten. Dagegen habe sie, was Kapitel II dieser Richtlinie betreffe, mit verschiedenen Spezialgesetzen nur eine Entschädigungsregelung für die Opfer bestimmter Straftaten, wie solchen im Zusammenhang mit Terrorismus oder organisierter Kriminalität, vorgesehen, während für vorsätzlich begangene Gewalttaten, die nicht unter diese Spezialgesetze fielen, u. a. Vergewaltigung und andere schwere sexuelle Übergriffe, keine Entschädigungsregelung eingeführt worden sei.

21

Damit habe die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 verstoßen.

22

Die Italienische Republik macht zunächst geltend, dass die von der Kommission erhobene Klage nicht den Rügen entspreche, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 18. Oktober 2013 angeführt worden seien. Die mit Gründen versehene Stellungnahme beziehe sich nämlich nur auf „Tötungs- und schwere Körperverletzungsdelikte, die nicht von den ‚speziellen Gesetzen‘ erfasst werden“, sowie auf „Vergewaltigung und andere schwere sexuelle Übergriffe“. Mit der vorliegenden Klage werfe die Kommission der Italienischen Republik dagegen vor, keine allgemeine Entschädigungsregelung für die Opfer aller in Italien vorsätzlich begangenen Gewalttaten eingeführt zu haben, so dass sie den Gegenstand der Vertragsverletzungsklage erweitere. Diese sei daher unzulässig.

23

Hilfsweise weist die Italienische Republik darauf hin, dass die Richtlinie 2004/80 auf der Grundlage von Art. 308 EG angenommen worden sei. Die Union besitze jedoch weder eine Gesetzgebungszuständigkeit im Bereich der Strafverfolgung von Gewalttaten, für die verfahrensmäßig und materiell das allgemeine Recht der einzelnen Mitgliedstaaten gelte, noch zur Regelung der zivilrechtlichen Folgen dieser Taten. Ihrer Rechtsgrundlage entsprechend beschränke sich die Richtlinie darauf, den Mitgliedstaaten aufzugeben, Unionsbürgern mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat den Zugang zu den Entschädigungsregeln zu ermöglichen, die bereits nach den Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten für ihre Staatsangehörigen vorgesehen seien, die Opfer vorsätzlicher Gewalttaten seien. Dieser Verpflichtung sei die Italienische Republik jedoch mit den Verfahrensbestimmungen des Gesetzesdekrets Nr. 204/2007 und des Ministerialdekrets Nr. 222 vom 23. Dezember 2008 nachgekommen.

24

Weiter hilfsweise macht die Italienische Republik geltend, dass den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Bestimmung der verschiedenen Fälle „vorsätzlicher Gewalttaten“, für die eine Form der Entschädigung vorzusehen sei, ein weites Ermessen verbleibe. Die Mitgliedstaaten könnten daher festlegen, bei welchen Sachverhalten eine Entschädigung in Betracht kommen könne.

25

Die Italienische Republik verweist ferner auf das Gesetzgebungsverfahren für die Richtlinie 2004/80, in dem zunächst geplant gewesen sei, genaue Regeln namentlich zur Festlegung von Mindestnormen für die Entschädigung der Opfer von Straftaten vorzusehen. Dieses ursprüngliche Ziel sei jedoch fallen gelassen worden. Art. 12 dieser Richtlinie betreffe daher nur die Entschädigungsregelungen, die bei Annahme dieser Richtlinie schon in den Mitgliedstaaten existierten, und beschränke sich in Abs. 2 darauf, den Mitgliedstaaten, die keine Entschädigungsregelung hätten, aufzugeben, eine solche einzuführen. In der Italienischen Republik seien jedoch schon zahlreiche Formen der Entschädigung für verschiedene Arten vorsätzlicher Gewalttaten vorgesehen.

26

Schließlich sei Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80, sollte diese Bestimmung in dem von der Kommission angegebenen Sinn auszulegen sein, ungültig, da Art. 308 EG nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Union nicht die Zuständigkeit verleihen könne, Maßnahmen zu erlassen, die u. a. rein innerstaatliche Fragen beträfen.

27

Der Rat hält die von der Italienischen Republik erhobene Einrede der Unzulässigkeit für unzulässig. Ein Mitgliedstaat könne sich nämlich zur Verteidigung gegen eine Vertragsverletzungsklage wegen Nichtdurchführung einer Richtlinie nicht auf deren Rechtswidrigkeit berufen. Die Italienische Republik trage nichts zum Beleg dafür vor, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 in seiner Auslegung durch die Kommission offenkundig mit einem derart schweren Fehler behaftet sei, dass die Vorschrift keine Rechtswirkungen entfalte.

28

Hilfsweise trägt der Rat vor, dass die Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 nicht durchgreifen könne. Art. 308 EG könne nämlich einen Ausgleich in Fällen schaffen, in denen den Unionsorganen durch spezifische Bestimmungen der Verträge verliehene Befugnisse fehlten, wenn die vorgesehene Handlung notwendig sei, um eines der Vertragsziele zu erreichen. Die Italienische Republik mache jedoch nicht geltend, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zur Zulässigkeit

29

Was die von der Italienischen Republik erhobene Einrede der Unzulässigkeit betrifft, die damit begründet wird, dass die Kommission mit der vorliegenden Klage den Gegenstand der Vertragsverletzung erweitert habe, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 18. Oktober 2013 geltend gemacht wird, so ergibt sich aus deren Wortlaut, dass die Kommission der Italienischen Republik vorgeworfen hat, sie habe „nicht die zur Umsetzung von Art. 12 Abs. 1 und 2 der Richtlinie [2004/80] erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten besteht“.

30

Zwar hat die Kommission in dieser mit Gründen versehenen Stellungnahme auch darauf hingewiesen, dass in den italienischen Rechtsvorschriften eine Entschädigungsregelung „insbesondere“ für die Opfer von Tötungs- und schweren Körperverletzungsdelikten, die nicht von den Spezialgesetzen erfasst würden, sowie für die Opfer von Vergewaltigung und anderen schweren sexuellen Übergriffen fehle, sowie darauf, dass diese Rechtsvorschriften bestimmte Straftaten „wie“ Tötungsdelikte und sexuelle Gewalt von jeder Entschädigungsregelung ausschlössen. Dem Wortlaut der Ausführungen der Kommission zu diesen Rechtsvorschriften ist jedoch zu entnehmen, dass die Kommission damit nur die konkreten Folgen der von der Italienischen Republik nicht bestrittenen Tatsache, dass nicht alle vorsätzlichen Gewalttaten unter die in Italien geltende Entschädigungsregelung fielen, veranschaulichen, nicht aber die geltend gemachte Vertragsverletzung allein auf die angeführten Beispiele beschränken wollte.

31

Daher hat die Kommission mit der vorliegenden Klage den Gegenstand der geltend gemachten Vertragsverletzung nicht erweitert, als sie beantragt hat, festzustellen, dass „die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 verstoßen hat, dass sie nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten besteht“.

32

Die vorliegende Klage ist deshalb für zulässig zu erklären.

Zur Begründetheit

33

Was erstens das Vorbringen der Italienischen Republik betrifft, wonach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 in seiner Auslegung durch die Kommission ungültig sei, weil die Union nicht zuständig sei, um nach Art. 308 EG eine Vorschrift zu erlassen, die u. a. rein innerstaatliche Sachverhalte regele, genügt der Hinweis, dass sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Mitgliedstaat mangels einer Vorschrift des AEU-Vertrags, die ihn dazu ausdrücklich ermächtigt, zur Verteidigung gegenüber einer auf die Nichtdurchführung einer an ihn gerichteten Richtlinie gestützten Vertragsverletzungsklage nicht mit Erfolg auf die Rechtswidrigkeit dieser Richtlinie berufen kann. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn der fragliche Rechtsakt mit besonders schweren und offensichtlichen Fehlern behaftet wäre, so dass er als inexistenter Rechtsakt qualifiziert werden könnte (vgl. insbesondere Urteile vom 29. Juli 2010, Kommission/Österreich, C‑189/09, nicht veröffentlicht, EU:C:2010:455, Rn. 15 und 16 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 5. März 2015, Kommission/Luxemburg, C‑502/13, EU:C:2015:143, Rn. 56).

34

Ohne dass das Vorbringen der Italienischen Republik zur geltend gemachten Rechtswidrigkeit von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 näher geprüft zu werden braucht, ist festzustellen, dass dieser Mitgliedstaat nichts vorträgt, was belegen könnte, dass diese Bestimmung mit einem Fehler behaftet wäre, der gemäß der in der vorstehenden Randnummer genannten Rechtsprechung ihre Existenz in Frage stellen könnte.

35

Daher beruft sich die Italienische Regierung im Rahmen der vorliegenden Klage vergeblich auf die Ungültigkeit von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80.

36

Was zweitens die den Mitgliedstaaten nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 obliegenden Verpflichtungen anbelangt, ist nicht nur dem Wortlaut dieser Bestimmung, sondern auch den mit der Richtlinie verfolgten Zielen und dem System Rechnung zu tragen, das durch diese Richtlinie, zu der die Bestimmung gehört, eingeführt wurde.

37

Nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 tragen „[a]lle Mitgliedstaaten … dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet“.

38

Die Bestimmung sieht nicht vor, dass die Mitgliedstaaten die Geltung der Entschädigungsregelung, die sie gemäß der Richtlinie 2004/80 einführen müssen, auf nur einen Teil der in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet begangenen vorsätzlichen Gewalttaten beschränken können.

39

Was die mit der Richtlinie 2004/80 verfolgten Ziele angeht, so verweist ihr erster Erwägungsgrund auf die Absicht der Union, die Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen.

40

Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es, wenn das Unionsrecht einer natürlichen Person die Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, garantiert, zwingende Folge dieser Freizügigkeit ist, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist (Urteil vom 2. Februar 1989, Cowan, C‑186/87, EU:C:1989:47, Rn. 17). Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80 heißt es insoweit, dass zur Verwirklichung dieses Ziels Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern.

41

Im dritten Erwägungsgrund dieser Richtlinie wird ferner darauf hingewiesen, dass der Europäische Rat auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere dazu aufgerufen hat, Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich des Zugangs der Betroffenen zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche – auszuarbeiten.

42

Darüber hinaus ergibt sich aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie, dass die Opfer von Straftaten in der Union unabhängig davon, an welchem Ort in der Union die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben sollten. Im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie heißt es schließlich u. a., dass alle Mitgliedstaaten über eine Regelung für die Entschädigung dieser Opfer verfügen sollten.

43

Zu dem durch die Richtlinie 2004/80 eingeführten System ist festzustellen, dass die Richtlinie in Art. 1, der zu Kapitel I über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen gehört, vorsieht, dass in den Fällen, in denen eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, diese berechtigt ist, den Antrag bei einer Behörde oder einer anderen Stelle in dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts zu stellen. Nach Art. 2 („Zuständigkeit für die Zahlung der Entschädigung“) der Richtlinie, der ebenfalls zu Kapitel I gehört, wird die Entschädigung von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats gezahlt, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde.

44

Ferner sieht Art. 12 der Richtlinie 2004/80, der Kapitel II bildet und die einzelstaatlichen Entschädigungsregelungen betrifft, in Abs. 1 vor, dass sich die Vorschriften dieser Richtlinie über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen „auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten“ stützen.

45

Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass mit der Richtlinie 2004/80 ein System eingeführt wird, damit Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen leichter Zugang zur Entschädigung erhalten, wobei sich dieses System auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten stützen soll. Daher ist Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass er dem Unionsbürger einen Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihm im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, in dem er sich in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit aufhält, zugefügte Schädigung gewährleisten soll, indem er die einzelnen Mitgliedstaaten verpflichtet, sich eine alle im Inland vorsätzlich begangenen Gewalttaten erfassende Opferentschädigungsregelung zu geben.

46

Was in diesem Zusammenhang die Qualifizierung einer Straftat als eine vorsätzliche Gewalttat betrifft, verfügen die Mitgliedstaaten, wie der Generalanwalt in den Nrn. 69 und 83 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zwar grundsätzlich über die Zuständigkeit, die Bedeutung dieses Begriffs in ihrem innerstaatlichen Recht zu klären; diese Zuständigkeit ermächtigt sie jedoch nicht dazu, den Anwendungsbereich der Opferentschädigungsregelung auf nur bestimmte vorsätzliche Gewalttaten zu beschränken, da Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 sonst seine praktische Wirksamkeit genommen würde.

47

Diese Auslegung wird nicht durch das Vorbringen der Italienischen Republik in Frage gestellt, wonach der Gesetzgeber der Union im Gesetzgebungsverfahren, das zur Annahme der Richtlinie 2004/80 geführt habe, das ursprüngliche Ziel fallen gelassen habe, genaue Rechtsnormen über die Entschädigung der Opfer von Straftaten vorzusehen.

48

Ebenso ist das Vorbringen der Italienischen Republik zurückzuweisen, wonach der Gerichtshof in dem im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80 angeführten Urteil vom 2. Februar 1989, Cowan (186/87, EU:C:1989:47), die Beachtung des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nur im Hinblick auf den Zugang der Opfer von Straftaten zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen verlangt und die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet habe, in ihrem nationalen Recht eine Entschädigungsregelung für die Opfer aller Formen vorsätzlicher Gewalttaten vorzusehen, was mit dem Beschluss vom 30. Januar 2014, C. (C‑122/13, EU:C:2014:59), bestätigt worden sei.

49

Es trifft zwar zu, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass die Richtlinie 2004/80 eine Entschädigung nur für den Fall einer vorsätzlichen Gewalttat vorsieht, die in einem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem das Opfer sich in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit befindet, so dass eine rein innerstaatliche Fallgestaltung nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Juni 2007, Dell’Orto, C‑467/05, EU:C:2007:395, Rn. 59, und vom 12. Juli 2012, Giovanardi u. a., C 79/11, EU:C:2012:448, Rn. 37, sowie Beschluss vom 30. Januar 2014, C., C‑122/13, EU:C:2014:59, Rn. 12). Damit hat der Gerichtshof jedoch lediglich festgestellt, dass das durch die Richtlinie 2004/80 eingeführte System der Zusammenarbeit nur den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen betrifft, ohne jedoch auszuschließen, dass Art. 12 Abs. 2, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel in solchen Fällen zu erreichen, die einzelnen Mitgliedstaaten verpflichtet, eine nationale Regelung zu erlassen, die eine Entschädigung der Opfer aller vorsätzlichen Gewalttaten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet gewährleistet.

50

Eine solche Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 steht im Übrigen im Einklang mit deren Ziel, die Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen, um das Funktionieren des Binnenmarkts zu verbessern.

51

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass nicht alle vorsätzlichen Gewalttaten im Sinne des italienischen Rechts unter die in Italien geltende Entschädigungsregelung fallen, was von der Italienischen Republik auch nicht bestritten wird. Da sie Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 somit nicht vollständig umgesetzt hat, ist die Klage der Kommission begründet.

52

Demnach ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 verstoßen hat, dass sie nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass in grenzüberschreitenden Fällen eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten besteht.

Kosten

53

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Italienische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem entsprechenden Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission aufzuerlegen.

54

Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Der Rat trägt daher seine eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten verstoßen, dass sie nicht alle Maßnahmen ergriffen hat, die erforderlich sind, um sicherzustellen, dass in grenzüberschreitenden Fällen eine Regelung für die Entschädigung der Opfer aller in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten besteht.

 

2.

Die Italienische Republik trägt ihre eigenen Kosten und die der Europäischen Kommission entstandenen Kosten.

 

3.

Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.