URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

16. Juni 2015 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Art. 49 AEUV, 51 AEUV und 56 AEUV — Niederlassungsfreiheit — Beteiligung an der Ausübung öffentlicher Gewalt — Richtlinie 2006/123/EG — Art. 14 — Einrichtungen, die beauftragt sind, die Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen durch Unternehmen, die öffentliche Bauaufträge ausführen, zu prüfen und zu zertifizieren — Nationale Vorschrift, nach der solche Einrichtungen ihren satzungsmäßigen Sitz in Italien haben müssen“

In der Rechtssache C‑593/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Italien) mit Entscheidung vom 3. Juli 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 20. November 2013, in den Verfahren

Presidenza del Consiglio dei Ministri,

Consiglio di Stato,

Consiglio Superiore dei Lavori Pubblici,

Autorità per la Vigilanza sui Contratti Pubblici di lavori, servizi e forniture,

Conferenza Unificata Stato Regioni,

Ministero dello Sviluppo Economico delle Infrastrutture e dei Trasporti,

Ministero per le Politiche europee,

Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare,

Ministero per i beni e le attività culturali,

Ministero dell’Economia e delle Finanze,

Ministero degli Affari esteri

gegen

Rina Services SpA,

Rina SpA,

SOA Rina Organismo di Attestazione SpA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz und A. Ó Caoimh, der Richter J. Malenovský, A. Arabadjiev (Berichterstatter) und D. Šváby, der Richterin M. Berger sowie der Richter E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund und J. L. da Cruz Vilaça,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Dezember 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Rina Services SpA, der Rina SpA und der SOA Rina Organismo di Attestazione SpA, vertreten durch R. Damonte, G. Giacomini, G. Scuras und G. Demartini, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von C. Pluchino und S. Fiorentino, avvocati dello Stato,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, U. Persson, N. Otte Widgren, L. Swedenborg, F. Sjövall, E. Karlsson und C. Hagerman als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. März 2015

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 AEUV, 51 AEUV und 56 AEUV sowie der Art. 14 und 16 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. L 376, S. 36).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen dreier Rechtsstreitigkeiten zwischen der Presidenza del Consiglio dei Ministri, dem Consiglio di Stato, dem Consiglio Superiore dei Lavori Pubblici, der Autorità per la Vigilanza sui Contratti Pubblici di lavori, servizi e forniture, der Conferenza Unificata Stato Regioni, dem Ministero dello Sviluppo Economico delle Infrastrutture e dei Trasporti, dem Ministero per le Politiche europee, dem Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare, dem Ministero per i beni e le attività culturali, dem Ministero dell’Economia e delle Finanze und dem Ministero degli Affari esteri einerseits und der Rina Services SpA, der Rina SpA bzw. der SOA Rina Organismo di Attestazione SpA andererseits über insbesondere eine nationale Regelung, nach der Gesellschaften, die Zertifizierungseinrichtungen (Società Organismi di Attestazione, im Folgenden: SOA) sind, ihren satzungsmäßigen Sitz in Italien haben müssen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 1, 7, 16 und 33 der Richtlinie 2006/123 heißt es:

„(1)

… Die Beseitigung der Beschränkungen für die Entwicklung von Dienstleistungstätigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten ist ein wichtiges Mittel für ein stärkeres Zusammenwachsen der Völker Europas und für die Förderung eines ausgewogenen und nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts …

(2)

Ein wettbewerbsfähiger Dienstleistungsmarkt ist für die Förderung des Wirtschaftswachstums und die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Europäischen Union wesentlich. Gegenwärtig hindert eine große Anzahl von Beschränkungen im Binnenmarkt Dienstleistungserbringer, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU), daran, über ihre nationalen Grenzen hinauszuwachsen und uneingeschränkt Nutzen aus dem Binnenmarkt zu ziehen. Dies schwächt die globale Wettbewerbsfähigkeit der Dienstleistungserbringer aus der Europäischen Union. Ein freier Markt, der die Mitgliedstaaten zwingt, Beschränkungen im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr abzubauen, bei gleichzeitiger größerer Transparenz und besserer Information der Verbraucher, würde für die Verbraucher größere Auswahl und bessere Dienstleistungen zu niedrigeren Preisen bedeuten.

(3)

In ihrem Bericht über den ‚Stand des Binnenmarktes für Dienstleistungen‘ führt die Kommission eine Vielzahl von Hindernissen auf, die die Entwicklung grenzüberschreitender Dienstleistungstätigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten behindern oder bremsen … Die Beschränkungen betreffen eine große Bandbreite von Dienstleistungstätigkeiten und sämtliche Phasen der Dienstleistungserbringung und weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf; so sind sie häufig auf schwerfällige Verwaltungsverfahren, die Rechtsunsicherheit, mit denen grenzüberschreitende Tätigkeiten behaftet sind, oder auf das fehlende gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zurückzuführen.

(4)

… Die Beseitigung dieser Beschränkungen bei gleichzeitiger Gewährleistung eines fortschrittlichen europäischen Gesellschaftsmodells ist somit eine Grundvoraussetzung für die Überwindung der Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Lissabon-Strategie und für die wirtschaftliche Erholung in Europa, insbesondere für Investitionen und Beschäftigung …

(5)

Es ist deshalb erforderlich, die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit von Dienstleistungserbringern in den Mitgliedstaaten und des freien Dienstleistungsverkehrs zwischen Mitgliedstaaten zu beseitigen und den Dienstleistungsempfängern und ‑erbringern die Rechtssicherheit zu garantieren, die sie für die wirksame Wahrnehmung dieser beiden Grundfreiheiten des Vertrags benötigen. Da die Beschränkungen im Binnenmarkt für Dienstleistungen sowohl die Dienstleistungserbringer beeinträchtigen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen möchten, als auch diejenigen, die in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen erbringen, ohne dort niedergelassen zu sein, ist es erforderlich, den Dienstleistungserbringern zu ermöglichen, ihre Dienstleistungstätigkeiten im Binnenmarkt dadurch zu entwickeln, dass sie sich entweder in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen oder den freien Dienstleistungsverkehr nutzen. Die Dienstleistungserbringer sollten zwischen diesen beiden Freiheiten wählen und sich für diejenige entscheiden können, die ihrer Geschäftsstrategie für die einzelnen Mitgliedstaaten am besten gerecht wird.

(6)

Diese Beschränkungen können nicht allein durch die direkte Anwendung der Artikel 49 [AEUV] und 56 [AEUV] … beseitigt werden, weil – insbesondere nach der Erweiterung – die Handhabung von Fall zu Fall im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren sowohl für die nationalen als auch für die gemeinschaftlichen Organe äußerst kompliziert wäre; außerdem können zahlreiche Beschränkungen nur im Wege der vorherigen Koordinierung der nationalen Regelungen beseitigt werden, einschließlich der Einführung einer Verwaltungszusammenarbeit. Wie vom Europäischen Parlament und vom Rat anerkannt wurde, ermöglicht ein gemeinschaftliches Rechtsinstrument die Schaffung eines wirklichen Binnenmarktes für Dienstleistungen.

(7)

Mit dieser Richtlinie wird ein allgemeiner Rechtsrahmen geschaffen, der einem breiten Spektrum von Dienstleistungen zugute kommt und gleichzeitig die Besonderheiten einzelner Tätigkeiten und Berufe und ihre Reglementierung berücksichtigt. Grundlage dieses Rechtsrahmens ist ein dynamischer und selektiver Ansatz, der vorrangig die leicht zu beseitigenden Beschränkungen beseitigt; hinsichtlich der übrigen wird ein Prozess der Evaluierung, Konsultation und ergänzenden Harmonisierung bei besonderen Fragen eingeleitet … Es ist angezeigt, bei den Maßnahmen eine ausgewogene Kombination aus gezielter Harmonisierung, Verwaltungszusammenarbeit, den Bestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit und der Förderung der Erarbeitung von Verhaltenskodizes für bestimmte Bereiche vorzusehen …

(16)

Diese Richtlinie betrifft ausschließlich Dienstleistungserbringer, die in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind und regelt keine externen Aspekte …

(33)

Die von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen umfassen einen weiten Bereich von Tätigkeiten, die einem ständigen Wandel unterworfen sind, wie etwa Dienstleistungen für Unternehmen wie … Zertifizierungs[tätigkeiten] …“

4

Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2006/123 bestimmt:

„(1)   Diese Richtlinie gilt für Dienstleistungen, die von einem in einem Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden.

(2)   Diese Richtlinie findet auf folgende Tätigkeiten keine Anwendung:

i)

Tätigkeiten, die im Sinne des Artikels 51 [AEUV] mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind;

…“

5

Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Bestimmungen dieser Richtlinie in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr umsetzen.

6

Der in Kapitel III („Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“) dieser Richtlinie stehende Art. 14 („Unzulässige Anforderungen“) schreibt vor:

„Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von einer der folgenden Anforderungen abhängig machen:

1.

diskriminierenden Anforderungen, die direkt oder indirekt auf der Staatsangehörigkeit oder – für Unternehmen – dem satzungsmäßigen Sitz beruhen …

3.

Beschränkungen der Wahlfreiheit des Dienstleistungserbringers zwischen einer Hauptniederlassung und einer Zweitniederlassung, insbesondere der Verpflichtung für den Dienstleistungserbringer, seine Hauptniederlassung in ihrem Hoheitsgebiet zu unterhalten, oder Beschränkungen der Wahlfreiheit für eine Niederlassung in Form einer Agentur, einer Zweigstelle oder einer Tochtergesellschaft;

…“

7

Nach dem ebenfalls in Kapitel III der Richtlinie 2006/123 stehenden Art. 15 („Zu prüfende Anforderungen“) haben die Mitgliedstaaten zu prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in seinem Abs. 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und sicherzustellen, dass diese Anforderungen die in Abs. 3 dieser Bestimmung genannten Bedingungen der Nichtdiskriminierung, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit erfüllen.

8

Art. 16 („Dienstleistungsfreiheit“) in Kapitel IV („Freier Dienstleistungsverkehr“) der Richtlinie 2006/123 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten achten das Recht der Dienstleistungserbringer, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung zu erbringen.

Der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, gewährleistet die freie Aufnahme und freie Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten innerhalb seines Hoheitsgebiets.

Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von Anforderungen abhängig machen, die gegen folgende Grundsätze verstoßen:

a)

Nicht-Diskriminierung: die Anforderung darf weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder – bei juristischen Personen – aufgrund des Mitgliedstaats, in dem sie niedergelassen sind, darstellen;

b)

Erforderlichkeit: die Anforderung muss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sein;

c)

Verhältnismäßigkeit: die Anforderung muss zur Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

(2)   Die Mitgliedstaaten dürfen die Dienstleistungsfreiheit eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringers nicht einschränken, indem sie diesen einer der folgenden Anforderungen unterwerfen:

a)

der Pflicht, in ihrem Hoheitsgebiet eine Niederlassung zu unterhalten;

(3)   Der Mitgliedstaat, in den sich der Dienstleistungserbringer begibt, ist nicht daran gehindert, unter Beachtung des Absatzes 1 Anforderungen in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen zu stellen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sind …“

Italienisches Recht

9

Art. 64 Abs. 1 des Dekrets Nr. 207 des Präsidenten der Republik vom 5. Oktober 2010 zur Durchführung und Anwendung des Decreto legislativo Nr. 163 vom 12. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 288 vom 10. Dezember 2010), mit dem das Dekret Nr. 34 des Präsidenten der Republik vom 25. Januar 2000 aufgehoben wurde, sieht vor, dass die SOA in der Rechtsform von Aktiengesellschaften gegründet werden, deren Firma ausdrücklich den Begriff „Zertifizierungseinrichtung“ enthalten muss und die ihren satzungsmäßigen Sitz im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik haben müssen.

Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Die Rina SpA ist die Holdinggesellschaft der Rina-Gruppe. Diese Gesellschaft hat ihren Sitz in Genua (Italien).

11

Die Rina Services SpA ist eine zur Rina-Gruppe gehörende Aktiengesellschaft ebenfalls mit Sitz in Genua. Ihr Gesellschaftszweck besteht in der Erbringung von Zertifizierungsdienstleistungen nach der Qualität UNI CEI EN 45000.

12

Auch bei der SOA Rina Organismo di Attestazione SpA handelt es sich um eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Genua. Sie übt die Tätigkeit der Zertifizierung und der Durchführung technischer Kontrollen in Bezug auf die Organisation und Produktion von Bauunternehmen aus. Die Anteile an dieser Gesellschaft werden zu 99 % von der Rina SpA und zu 1 % von der Rina Services SpA gehalten.

13

Diese drei Gesellschaften erhoben beim Tribunale amministrativo regionale per il Lazio Klagen, mit denen sie insbesondere die Rechtmäßigkeit von Art. 64 Abs. 1 des Dekrets Nr. 207 des Präsidenten der Republik vom 5. Oktober 2010 zur Durchführung und Anwendung des Decreto legislativo Nr. 163 vom 12. April 2006 in Abrede stellten, soweit sich danach der satzungsmäßige Sitz der SOA im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik befinden muss.

14

Mit Urteilen vom 13. Dezember 2011 gab dieses Gericht den Klagen insbesondere mit der Begründung statt, dass die Anforderung hinsichtlich des satzungsmäßigen Sitzes gegen die Art. 14 und 16 der Richtlinie 2006/123 verstoße.

15

Gegen diese Urteile legten die Kläger der Ausgangsverfahren Berufung beim Consiglio di Stato ein, mit der sie insbesondere geltend machten, dass die von den SOA ausgeübte Tätigkeit mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 AEUV verbunden und daher dem Anwendungsbereich sowohl der Richtlinie 2006/123 als auch der Art. 49 AEUV und 56 AEUV entzogen sei.

16

Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Stehen die Grundsätze des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und den freien Dienstleistungsverkehr (Art. 56 AEUV) sowie diejenigen der Richtlinie 2006/123 dem Erlass und der Anwendung einer nationalen Vorschrift entgegen, die bestimmt, dass die in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft gegründeten SOA „ihren satzungsmäßigen Sitz im Hoheitsgebiet der Italienischen Republik haben müssen“?

2.

Ist die Ausnahmeregelung in Art. 51 AEUV dahin auszulegen, dass sie eine Tätigkeit wie die der Zertifizierung umfasst, die von Einrichtungen des Privatrechts ausgeübt wird, die zum einen in der Rechtsform von Aktiengesellschaften gegründet werden müssen und auf einem Markt tätig sind, auf dem Wettbewerb herrscht, und zum anderen an der Ausübung öffentlicher Gewalt beteiligt sind und daher der Genehmigung und strengen Kontrollen durch die Aufsichtsbehörde unterworfen sind?

Zu den Vorlagefragen

Zur zweiten Frage

17

Mit seiner zweiten Frage, die zuerst zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 51 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass die von den SOA ausgeübten Zertifizierungstätigkeiten mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne dieser Bestimmung verbunden sind.

18

Es ist festzustellen, dass der Gerichtshof eine dahin gehende Frage, die ihm vom Consiglio di Stato zur Vorabentscheidung vorgelegt worden war, bereits in seinem Urteil SOA Nazionale Costruttori (C‑327/12, EU:C:2013:827) beantwortet hat.

19

In Rn. 52 dieses Urteils ist der Gerichtshof zu der Schlussfolgerung gelangt, dass in Anbetracht der Ausführungen in den Rn. 28 bis 35 des Urteils, d. h. insbesondere der Tatsache, dass die SOA gewinnorientierte Unternehmen sind, die unter Wettbewerbsbedingungen tätig sind und keinerlei Entscheidungsgewalt haben, die mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verknüpft wäre, die Zertifizierungstätigkeiten der SOA nicht unmittelbar und spezifisch mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 AEUV verbunden sind.

20

Der Gerichtshof hat in Rn. 54 des genannten Urteils besonders hervorgehoben, dass die von den SOA vorgenommene Prüfung der technischen und finanziellen Leistungsfähigkeit der zertifizierungspflichtigen Unternehmen, der Richtigkeit und des Inhalts der Erklärungen, Bescheinigungen und Unterlagen, die von den Personen, denen das Zertifikat erteilt wird, vorgelegt worden sind, sowie des Fortbestehens der Voraussetzungen hinsichtlich der persönlichen Lage des Bewerbers oder Bieters nicht als Tätigkeit angesehen werden kann, die Ausfluss der Entscheidungsautonomie wäre, die der Ausübung hoheitlicher Befugnisse eigen ist, da diese Prüfung gänzlich durch den nationalen Regelungsrahmen bestimmt wird. In derselben Randnummer dieses Urteils hat der Gerichtshof weiter festgestellt, dass diese Prüfung unter unmittelbarer staatlicher Aufsicht erfolgt und den öffentlichen Auftraggebern ihre Aufgabe bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge erleichtern soll, da sie diese Stellen in die Lage versetzen soll, ihre Aufgabe in genauer und eingehender Kenntnis sowohl der technischen als auch der finanziellen Leistungsfähigkeit der Bieter zu erfüllen.

21

Im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen führt das vorlegende Gericht keinerlei Änderung der Art der von den SOA ausgeübten Tätigkeiten an, die seit den dem Urteil SOA Nazionale Costruttori (C‑327/12, EU:C:2013:827) zugrunde liegenden Vorgängen eingetreten wäre.

22

Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 51 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung niedergelegte Ausnahme vom Niederlassungsrecht nicht auf Zertifizierungstätigkeiten von Gesellschaften Anwendung findet, die Zertifizierungseinrichtungen sind.

Zur ersten Frage

23

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht unter Bezugnahme auf mehrere Bestimmungen des Unionsrechts, insbesondere die Art. 49 AEUV und 56 AEUV sowie die in der Richtlinie 2006/123 enthaltenen Grundsätze, geklärt wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach die SOA ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen.

24

Hierzu ist festzustellen, dass Zertifizierungsdienstleistungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2006/123 fallen; sie sind zudem im 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausdrücklich genannt, in dem von dieser erfasste Tätigkeiten beispielhaft aufgeführt sind.

25

Im vorliegenden Fall fällt die in den Ausgangsverfahren fragliche Anforderung in Bezug auf den Sitz der Zertifizierungseinrichtungen unter Art. 14 der Richtlinie 2006/123. Zum einen beruht sie nämlich, soweit danach die SOA verpflichtet sind, ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland zu begründen, direkt auf dem satzungsmäßigen Sitz des Dienstleistungserbringers im Sinne von Art. 14 Nr. 1, und zum anderen beschränkt sie mit der Verpflichtung zur Begründung der Hauptniederlassung im Inland die Freiheit des Dienstleistungserbringers im Sinne von Nr. 3 dieser Bestimmung, zwischen einer Hauptniederlassung und einer Zweigniederlassung zu wählen.

26

Art. 14 der Richtlinie 2006/123 untersagt den Mitgliedstaaten, die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet von einer der in seinen Nrn. 1 bis 8 aufgezählten Anforderungen abhängig zu machen, und verpflichtet sie damit, diese Anforderungen vorrangig und systematisch zu beseitigen.

27

Die Italienische Republik macht indessen geltend, die Anforderung, dass die SOA ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen, sei durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Wirksamkeit der Kontrollen der Tätigkeiten der SOA durch die Behörden zu gewährleisten.

28

Hierzu ist mit der Republik Polen und der Kommission darauf zu verweisen, dass die in Art. 14 der Richtlinie 2006/123 aufgezählten Anforderungen, zu denen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung gehört, keiner Rechtfertigung zugänglich sind.

29

Das folgt sowohl aus dem Wortlaut dieses Artikels als auch aus der Systematik der Richtlinie 2006/123.

30

Zum einen ergibt sich nämlich aus der Überschrift von Art. 14, dass die in seinen Nrn. 1 bis 8 aufgezählten Anforderungen „unzulässig“ sind. Außerdem enthält der Wortlaut dieses Artikels nichts, was darauf hindeuten würde, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit hätten, die Beibehaltung dieser Anforderungen in ihren nationalen Rechtsvorschriften zu rechtfertigen.

31

Zum anderen beruht die Systematik der Richtlinie 2006/123 hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit auf einer klaren Unterscheidung zwischen den unzulässigen und den einer Prüfung unterliegenden Anforderungen. Während Erstere in Art. 14 dieser Richtlinie geregelt sind, sind die Zweiten Gegenstand der Bestimmungen ihres Art. 15.

32

Was speziell die einer Prüfung unterliegenden Anforderungen angeht, haben die Mitgliedstaaten nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 zu prüfen, ob ihre Rechtsordnungen eine der in Abs. 2 dieses Artikels aufgeführten Anforderungen vorsehen, und sicherzustellen, dass diese Anforderungen die Bedingungen der Nichtdiskriminierung, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit nach Abs. 3 dieses Artikels erfüllen.

33

Dazu ist den Abs. 5 und 6 von Art. 15 der Richtlinie 2006/123 zu entnehmen, dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, Anforderungen der in Abs. 2 dieses Artikels genannten Art beizubehalten oder gegebenenfalls einzuführen, sofern diese Anforderungen den Bedingungen der Nichtdiskriminierung, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit nach Abs. 3 dieser Bestimmung entsprechen.

34

Außerdem sieht Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 hinsichtlich des freien Dienstleistungsverkehrs vor, dass ein Mitgliedstaat, in den sich ein Dienstleistungserbringer zum Zweck der Erbringung seiner Dienstleistungen begibt, Anforderungen in Bezug auf die Erbringung von Dienstleistungen stellen kann, wenn diese Anforderungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit oder des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt sind und Abs. 1 dieses Artikels genügen.

35

Diese Möglichkeit ist jedoch für die in Art. 14 der Richtlinie 2006/123 aufgezählten „unzulässigen“ Anforderungen nicht vorgesehen.

36

Diese Feststellung wird durch Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 nicht in Frage gestellt, wonach die Mitgliedstaaten deren Bestimmungen „in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Vertrags über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr um[setzen]“.

37

Insoweit ist mit der Republik Polen darauf hinzuweisen, dass eine Auslegung von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 dahin, dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, eine nach Art. 14 dieser Richtlinie unzulässige Anforderung auf der Grundlage des Primärrechts zu rechtfertigen, dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit dadurch nehmen würde, dass sie die von ihr angestrebte Harmonisierung letztlich untergraben würde.

38

Eine solche Auslegung liefe nämlich der Feststellung des Unionsgesetzgebers im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/123 zuwider, dass Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit insbesondere wegen der besonders großen Komplexität der Handhabung dieser Beschränkungen von Fall zu Fall nicht allein durch die direkte Anwendung von Art. 49 AEUV beseitigt werden können. Mit der Annahme, dass die nach Art. 14 dieser Richtlinie „unzulässigen“ Anforderungen gleichwohl einer Rechtfertigung auf der Grundlage des Primärrechts zugänglich wären, würde eine solche einzelfallbezogene Prüfungsmöglichkeit nach dem AEU-Vertrag für alle Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit wiedereingeführt werden.

39

Außerdem ist zu beachten, dass Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 einer Auslegung ihres Art. 14 dahin, dass die in dieser Bestimmung aufgezählten unzulässigen Anforderungen einer Rechtfertigung unzugänglich sind, nicht entgegensteht. Denn mit einem solchen Verbot ohne Rechtfertigungsmöglichkeit soll sichergestellt werden, dass bestimmte Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, bei denen der Unionsgesetzgeber und der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung davon ausgehen, dass sie das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts in gravierender Weise beeinträchtigen, systematisch und schnell beseitigt werden können. Dieser Zweck steht mit dem AEU-Vertrag in Einklang.

40

So gestattet zwar Art. 52 Abs. 1 AEUV den Mitgliedstaaten, nationale Maßnahmen, die eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit begründen, mit einem der in ihm genannten Gründe zu rechtfertigen, doch bedeutet das nicht, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass eines Aktes des Sekundärrechts wie der Richtlinie 2006/123, die eine im AEU-Vertrag verankerte Grundfreiheit konkretisiert, nicht bestimmte Ausnahmen beschränken könnte, zumal wenn, wie im vorliegenden Fall, mit der betreffenden Bestimmung des Sekundärrechts lediglich eine ständige Rechtsprechung übernommen wird, nach der eine Anforderung, wie die in den Ausgangsverfahren fragliche, mit den Grundfreiheiten, auf die sich die Wirtschaftsteilnehmer berufen können, unvereinbar ist (vgl. dazu etwa Urteil Kommission/Frankreich, C‑334/94, EU:C:1996:90, Rn. 19).

41

Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die SOA ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen.

Kosten

42

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 51 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung niedergelegte Ausnahme vom Niederlassungsrecht nicht auf Zertifizierungstätigkeiten von Gesellschaften Anwendung findet, die Zertifizierungseinrichtungen sind.

 

2.

Art. 14 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Gesellschaften, die Zertifizierungseinrichtungen sind, ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben müssen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.