URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

22. Januar 2015 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 7 Abs. 2 Buchst. c — Anwendbarkeit von Abkommen über soziale Sicherheit zwischen Mitgliedstaaten — Repatriierter Flüchtling, der aus einem Mitgliedstaat stammt — Zurücklegung von Beschäftigungszeiten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats — Antrag auf Gewährung von Altersgeld — Verweigerung“

In den verbundenen Rechtssachen C‑401/13 und C‑432/13

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Cluj (Rumänien) mit Entscheidungen vom 2. Juli und vom 27. Juni 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 16. und 31. Juli 2013, in den Verfahren

Vasiliki Balazs

gegen

Casa Județeană de Pensii Cluj (C‑401/13)

und

Casa Județeană de Pensii Cluj

gegen

Attila Balazs (C‑432/13)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: M. Wathelet,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau und Herrn Balazs, vertreten durch S. Dima und A. Muntean, avocats,

der rumänischen Regierung, vertreten durch R. Radu, R. Hațieganu, E. Gane und A.‑L. Crișan als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch E.‑M. Mamouna als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und C. Gheorghiu als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. September 2014

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung (ABl. 1997, L 28, S. 1), diese geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1992/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 (ABl. L 392, S. 1, im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen Frau Balazs und der Casa Județeană de Pensii Cluj (Kreisrentenkasse in Cluj, Rumänien, im Folgenden: Casa Județeană de Pensii) und zum anderen zwischen der Letztgenannten und Herrn Balazs wegen der Gewährung von Altersrenten für Frau und Herrn Balazs (im Folgenden zusammen: Eheleute Balazs).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 6 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„Soweit die Artikel 7, 8 und 46 Absatz 4 nichts anderes bestimmen, tritt diese Verordnung im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle folgender Abkommen über soziale Sicherheit:

a)

Abkommen, die ausschließlich zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten in Kraft sind;

…“

4

Art. 7 Abs. 2 Buchst. c dieser Verordnung lautet:

„Ungeachtet des Artikels 6 bleiben anwendbar:

c)

einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist, soweit diese Bestimmungen in Anhang III aufgeführt sind.“

5

Art. 94 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Diese Verordnung begründet keinen Anspruch für einen Zeitraum vor dem 1. Oktober 1972 oder vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats oder in einem Teil davon.

(2)   Für die Feststellung des Anspruchs auf Leistungen nach dieser Verordnung werden sämtliche Versicherungszeiten sowie gegebenenfalls auch alle Beschäftigungs- und Wohnzeiten berücksichtigt, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung dieser Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats oder in einem Teil davon zurückgelegt worden sind.“

6

Die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 (ABl. L 74, S. 1) in der sich insbesondere aus der Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 ergebenden Fassung (ABl. L 363, S. 1, im Folgenden: Verordnung Nr. 574/72) regelt die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71.

Das bilaterale Abkommen

7

Das am 23. Februar 1996 zwischen der griechischen und der rumänischen Regierung geschlossene bilaterale Abkommen zur abschließenden Regelung des Ausgleichs der Sozialversicherungsbeiträge von aus Rumänien repatriierten griechischen politischen Flüchtlingen (im Folgenden: bilaterales Abkommen) ist in Anhang III der Verordnung Nr. 1408/71 nicht enthalten.

8

In Art. 1 Buchst. a und e des bilateralen Abkommens sind die Begriffe „Repatriierter“ und „Versicherungszeit“ folgendermaßen definiert:

„a)

Repatriierter: Person griechischer Herkunft, die sich nach dem 1. Januar 1945 mit dem Status als politischer Flüchtling in Rumänien niedergelassen hat – sowie ihre Familienangehörigen –, die nach Griechenland zurückgekehrt sind oder innerhalb von sechs Jahren nach dem Inkrafttreten des vorliegenden Abkommens endgültig zurückkehren werden, um dort ihren Wohnsitz zu nehmen;

e)

Versicherungszeit: Zeitraum, in dem nach rumänischem Recht Sozialversicherungsbeiträge geleistet wurden“.

9

Art. 2 des bilateralen Abkommens bestimmt:

„(1)   Die Vertragsparteien regeln den Ausgleich für die Sozialversicherungsbeiträge der Repatriierten nach den Absätzen 2 und 3 dieses Artikels und nach Artikel 3 des vorliegenden Abkommens.

(2)   Die rumänische Seite zahlt an die griechische Seite einen Pauschalbetrag als Ausgleich für die Zahlung der Renten und zur Deckung der Versicherungszeit der Repatriierten durch die griechische Seite.

(3)   Die griechische Seite übernimmt die Zahlung der Renten an die repatriierten Rentner und erkennt die Versicherungszeit, die versicherte repatriierte Personen in Rumänien zurückgelegt haben, nach griechischem Sozialversicherungsrecht an.“

10

Der Ausgleich nach Art. 2 Abs. 2 des bilateralen Abkommens beträgt gemäß Art. 3 dieses Abkommens 15 Mio. US-Dollar (USD).

11

Nach Art. 5 dieses Abkommens „[endet n]ach erfolgter Zahlung des Betrags von 15 Mio. USD … jegliche Pflicht der rumänischen Seite betreffend die Sozialversicherungsansprüche der repatriierten griechischen politischen Flüchtlinge“.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12

Die Eheleute Balazs sind griechische Staatsangehörige mit dem Status von repatriierten griechischen politischen Flüchtlingen. Ihr Wohnsitz ist Thessaloniki (Griechenland).

13

Im Jahr 1948 ließen sich Herr und Frau Balazs, die damals sieben und neun Jahre alt waren, in Rumänien nieder, wo sie als politische Flüchtlinge anerkannt wurden. Sie entrichteten für 34 Jahre, 7 Monate und 6 Tage bzw. für 28 Jahre Beiträge an das System der sozialen Sicherheit dieses Mitgliedstaats. Am 18. August 1990 wurden sie in Griechenland repatriiert.

14

Im Jahr 1998 beantragten die Eheleute Balazs bei den griechischen Behörden die Anerkennung ihrer in Rumänien zurückgelegten Arbeitszeiten. Diese Behörden stellten mit Bescheiden vom 21. September 1998 fest, dass die von Frau und Herrn Balazs in Rumänien zurückgelegten Arbeitszeiten einer Sozialversicherungsbeitragszeit von 9382 bzw. 8351 Tagen entsprächen und erkannten von diesen Zeiten für die Berechnung der Renten lediglich 4500 Tage an.

15

Auf dieser Grundlage gewährten die griechischen Behörden den Eheleuten Balazs jeweils eine Altersrente.

16

Die Rente von Frau Balazs wurde anhand eines Gesamtversicherungszeitraums von 6993 Arbeitstagen berechnet. Davon wurden ihr 4500 Tage als in Rumänien zurückgelegte Arbeitszeit und 2 493 Tage für eine Beschäftigung in Griechenland anerkannt. Die somit berechnete monatliche Rente belief sich auf 136910 griechische Drachmen (GRD) (ungefähr 390 Euro).

17

Die Rente von Herrn Balazs wurde anhand eines Gesamtversicherungszeitraums von 7733 Tagen berechnet. Davon wurden ihm 4500 Tage als in Rumänien zurückgelegte Arbeitszeit und 3 233 Tage für eine Beschäftigung in Griechenland anerkannt. Die somit berechnete monatliche Rente belief sich auf 596,99 Euro.

18

Am 11. Oktober bzw. am 27. November 2007 beantragten Frau und Herr Balazs jeweils bei der Casa Județeană de Pensii, ihnen gemäß den Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 eine Altersrente zu gewähren.

19

Die Casa Județeană de Pensii wies diese Anträge jeweils mit Bescheid vom 5. Oktober 2011 unter Hinweis darauf ab, dass die rumänischen Behörden nach Art. 5 des bilateralen Abkommens nicht verpflichtet seien, den Eheleuten Balazs Altersrenten zu gewähren, da sie von den griechischen Behörden als repatriierte griechische politische Flüchtlinge angesehen würden.

20

Die Eheleute Balazs fochten die genannten Bescheide beim Tribunalul Cluj an.

21

Mit Urteilen vom 26. September 2012 erklärte das Tribunalul Cluj diese Entscheidungen für nichtig und verpflichtete die Casa Județeană de Pensii, gegenüber den Eheleuten Balazs gemäß den Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 unter Berücksichtigung der gesamten von ihnen in Rumänien zurückgelegten Beitragszeiten neue Altersrentenbescheide zu erlassen. Das Gericht hob hervor, dass diese Verordnungen auf die Anträge der Eheleute Balazs anwendbar seien. Das bilaterale Abkommen falle nämlich nicht unter die nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Ausnahmeregelung, weil die Anwendung dieses Abkommens zeitlich nicht begrenzt sei, es nicht in Anhang III dieser Verordnung aufgeführt sei und seine Bestimmungen offensichtlich nicht als für die Berechtigten günstiger angesehen werden könnten, da diese jeweils den Erhalt einer Rente nach dieser Verordnung beantragt hätten.

22

Aufgrund dieser Urteile erließ die Casa Județeană de Pensii am 20. und am 27. Februar 2013 zwei neue Bescheide, mit denen sie Frau und Herrn Balazs in Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 Altersrenten von monatlich 500 bzw. 405 rumänischen Lei (RON) (etwa 110 bzw. 90 Euro) gewährte.

23

Gegen die Urteile des Tribunalul Cluj legten sowohl die Eheleute Balazs als auch die Casa Județeană de Pensii Rechtsmittel bei der Curtea de Apel de Cluj ein.

24

Die Casa Județeană de Pensii trägt im Wesentlichen vor, die Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 seien im vorliegenden Fall aufgrund des bestehenden bilateralen Abkommens nicht anwendbar. Diesem zufolge habe Rumänien gegenüber den repatriierten griechischen politischen Flüchtlingen sämtliche Verpflichtungen erfüllt, da es seiner Verpflichtung zur Zahlung von 15 Mio. USD an die Hellenische Republik nachgekommen sei.

25

Die Eheleute Balazs rügen die Begründung der Urteile des Tribunalul Cluj und begehren, gestützt auf die genannten Verordnungen, für ihre in Rumänien zurückgelegten Beitragszeiten die Anerkennung ihres Anspruchs auf eine Altersrente. Sie tragen im Wesentlichen vor, dass Rumänien durch seinen Beitritt zur Europäischen Union verpflichtet sei, die Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 anzuwenden. Das bilaterale Abkommen, das weniger günstig und in Anhang III der Verordnung Nr. 1408/71 nicht aufgeführt sei, falle nämlich nicht unter Art. 7 Abs. 2 Buchst. c dieser Verordnung.

26

Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Cluj beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende in den beiden Vorlageentscheidungen in den Rechtssachen C‑401/13 und C‑432/13 gleichlautende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass ein bilaterales Abkommen in seinen Anwendungsbereich fällt, das vor dem Zeitpunkt, zu dem die genannte Verordnung Geltung erlangte, zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossen wurde und in dem diese Mitgliedstaaten vereinbart haben, gegen Zahlung eines Pauschalbetrags für die Zahlung der Renten und zur Deckung des Zeitraums, für den im dem einen Mitgliedstaat Sozialversicherungsbeiträge geleistet wurden, die Verpflichtung dieses Staates gegenüber den Angehörigen des anderen Staates, die im Hoheitsgebiet des ersten Staates den Status von politischen Flüchtlingen besaßen und in den zweiten Staat repatriiert wurden, zur Erbringung der geschuldeten Leistungen der sozialen Sicherheit entfallen zu lassen?

27

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. September 2013 sind die Rechtssachen C‑401/13 und C‑432/13 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zur Vorlagefrage

28

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass ein in Anhang III dieser Verordnung nicht aufgeführtes bilaterales Abkommen, das Leistungen der sozialen Sicherheit für die Staatsangehörigen des einen Unterzeichnerstaats betrifft, die im Hoheitsgebiet des anderen Unterzeichnerstaats den Status von politischen Flüchtlingen besaßen, und das zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, als einer der beiden Unterzeichnerstaaten noch nicht der Union beigetreten war, weiterhin auf den Sachverhalt von politischen Flüchtlingen anwendbar ist, die in ihr Herkunftsland repatriiert wurden, bevor das bilaterale Abkommen geschlossen wurde und die genannte Verordnung in Kraft trat.

29

Zunächst ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 1408/71 nach Ansicht der Casa Județeană de Pensii aufgrund des bilateralen Abkommens und insbesondere dessen Art. 5, wonach jegliche Pflicht Rumäniens gegenüber griechischen politischen Flüchtlingen erloschen ist, für die Ausgangsverfahren nicht gilt, da Rumänien seiner Verpflichtung zur Zahlung von 15 Mio. USD an die Hellenische Republik nachgekommen sei. Es ist daher zu prüfen, ob die in den Ausgangsverfahren gegebenen Sachverhalte in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen.

30

Nach ständiger Rechtsprechung gilt eine neue Regelung zwar nur für die Zukunft, doch ist sie nach einem allgemein anerkannten Grundsatz, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist, auch auf die künftigen Wirkungen von unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalten anwendbar (vgl. Urteil Duchon, C‑290/00, EU:C:2002:234, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Um die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 auf künftige Wirkungen von unter der Geltung des früheren Rechts entstandene Sachverhalte zu ermöglichen, sieht Art. 94 Abs. 2 dieser Verordnung u. a. vor, bei der Feststellung von Leistungsansprüchen alle Versicherungs‑, Beschäftigungs‑ und Wohnzeiten zu berücksichtigen, die unter der Geltung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats vor dem 1. Oktober 1972 oder vor Anwendung der Verordnung im Gebiet dieses Mitgliedstaats zurückgelegt worden sind (vgl. Urteil Duchon, EU:C:2002:234, Rn. 23).

32

Die Verordnung Nr. 1408/71 ist in Bezug auf Rumänien mit dessen Beitritt zur Union, d. h. am 1. Januar 2007, in Kraft getreten und gilt daher in zeitlicher Hinsicht für einen Sachverhalt wie den der Eheleute Balazs. Diese waren daher berechtigt, sich ab dem genannten Zeitpunkt auf diese Verordnung zu berufen.

33

Die Tatsache, dass nach dem bilateralen Abkommen die Pflicht Rumäniens betreffend die Sozialversicherungsansprüche der repatriierten griechischen politischen Flüchtlinge nach erfolgter Zahlung von 15 Mio. USD endet, ist entgegen der Auffassung der Casa Județeană de Pensii in diesem Zusammenhang unerheblich.

34

Die Verordnung Nr. 1408/71 tritt nämlich nach ihrem Art. 6 unter bestimmten Vorbehalten im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs an die Stelle von Abkommen über soziale Sicherheit zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten. Diese Substituierung ist zwingend und lässt – abgesehen von den in der Verordnung ausdrücklich geregelten Fällen – keine Ausnahmen zu (vgl. entsprechend Urteile Walder, 82/72, EU:C:1973:62, Rn. 6 und 7, Thévenon, C‑475/93, EU:C:1995:371, Rn. 15, und Rönfeldt, C‑227/89, EU:C:1991:52, Rn. 22).

35

Zu den in der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Ausnahmen gehört deren Art. 7 Abs. 2 Buchst. c, wonach die in deren Anhang III aufgeführten Bestimmungen der Abkommen über soziale Sicherheit ungeachtet des Art. 6 dieser Verordnung anwendbar bleiben (Urteile Habelt u. a., C‑396/05, EU:C:2007:810, Rn. 87, und Wencel, C‑589/10, EU:C:2013:303, Rn. 35), sofern die genannten Abkommen für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist.

36

Im vorliegenden Fall steht fest, dass das bilaterale Abkommen nicht in Anhang III der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführt ist. Bei einem Sachverhalt wie dem in den Ausgangsverfahren ist diese Verordnung demnach gemäß ihrem Art. 6 Buchst. a grundsätzlich an die Stelle dieses Abkommens getreten.

37

Das vorlegende Gericht und die rumänische Regierung berufen sich jedoch auf das Urteil Rönfeldt (EU:C:1991:52), um geltend zu machen, dass das bilaterale Abkommen trotz des Wortlauts der Art. 6 und 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 weiterhin anwendbar sei.

38

Der Gerichtshof hat in dem genannten Urteil gestützt auf die Art. 45 AEUV und 48 AEUV festgestellt, dass bilaterale Abkommen über soziale Sicherheit auch nach dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 für Wanderarbeitnehmer anwendbar bleiben, wenn diese Anwendung für den Arbeitnehmer günstiger ist, und zwar unabhängig von der Frage, ob diese Abkommen in Anhang III der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführt sind.

39

Es ist daher zu prüfen, ob die im Urteil Rönfeldt (EU:C:1991:52) aufgestellten Grundsätze unter Umständen wie den in den Ausgangsverfahren gegebenen gelten.

40

Dazu ist erstens darauf hinzuweisen, dass der in Art. 6 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellte Grundsatz der Substituierung, wie in Rn. 34 des vorliegenden Urteils erwähnt, zwingend ist und grundsätzlich keine Ausnahme zulässt.

41

Zweitens liegt den im Urteil Rönfeldt (EU:C:1991:52) aufgestellten Grundsätzen die Überlegung zugrunde, dass der Betroffene ein schützenswertes Vertrauen entwickeln durfte, in den Genuss einer bilateralen Regelung zu kommen, die auf ihn in dem Zeitpunkt, in dem er beschlossen hat, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, allein anwendbar war (vgl. in diesem Sinne Urteil Kaske, C‑277/99, EU:C:2002:74, Rn. 27).

42

Unter Umständen wie den in den Ausgangsverfahren gegebenen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass die Betroffenen Rumänien 1990 verlassen haben und nach Griechenland gegangen sind, d. h. sechs Jahre vor Abschluss des bilateralen Abkommens, konnten diese Betroffenen kein schützenswertes Vertrauen haben, in den Genuss des bilateralen Abkommens zu kommen, da dieses zum Zeitpunkt ihrer Repatriierung in Griechenland noch nicht bestand.

43

Die Eheleute Balazs begehren in den Ausgangsverfahren jedenfalls nicht, in den Genuss des bilateralen Abkommens zu kommen. Stattdessen wollen sie, dass die Verordnung Nr. 1408/71 in ihrem jeweiligen Fall zur Anwendung komme. Unter diesen Umständen kann sich die rumänische Regierung nicht auf das Urteil Rönfeldt (EU:C:1991:52) berufen, um darzutun, dass das genannte Abkommen weiterhin für den fraglichen Sachverhalt gelte.

44

Nach alledem ist festzustellen, dass die im Urteil Rönfeldt (EU:C:1991:52) aufgestellten Grundsätze, nach denen die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen ist und ein bilaterales Abkommen, an dessen Stelle normalerweise diese Verordnung getreten ist, weiterhin angewandt werden kann, unter Umständen wie den in den Ausgangsverfahren gegebenen nicht gelten.

45

Demzufolge ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen ist, dass ein in Anhang III dieser Verordnung nicht aufgeführtes bilaterales Abkommen, das Leistungen der sozialen Sicherheit für die Staatsangehörigen des einen Unterzeichnerstaats betrifft, die im Hoheitsgebiet des anderen Unterzeichnerstaats den Status von politischen Flüchtlingen besaßen, und das zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, als einer der beiden Unterzeichnerstaaten noch nicht der Union beigetreten war, nicht weiterhin auf den Sachverhalt von politischen Flüchtlingen anwendbar ist, die in ihr Herkunftsland repatriiert wurden, bevor das bilaterale Abkommen geschlossen wurde und die genannte Verordnung in Kraft trat.

Zur zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des Urteils

46

Die rumänische Regierung ersucht den Gerichtshof für den Fall, dass dieser feststellen sollte, dass das bilaterale Abkommen nicht unter die nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehene Ausnahme fällt, die zeitlichen Wirkungen seines Urteils zu beschränken.

47

Sie stützt ihren Antrag zum einen darauf, dass die rumänischen Behörden gutgläubig gehandelt hätten. Deren Standpunkt beruhe auf der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere auf dem Urteil Rönfeldt (EU:C:1991:52). Ferner habe die Kommission zwar ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Rumänien eingeleitet, um feststellen zu lassen, dass es seinen Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 1408/71 nicht nachgekommen sei, doch habe Rumänien im Rahmen dieses Verfahrens an seinem Standpunkt festgehalten, und die Kommission habe auf seinen Antrag, technische Konsultationen durchzuführen und bei den griechischen Behörden vorstellig zu werden, nicht reagiert. Darüber hinaus könne der Gutgläubigkeit der rumänischen Behörden nicht entgegengehalten werden, dass andere Mitgliedstaaten, die mit ähnlichen Problemen zu tun gehabt hätten, es akzeptiert hätten, die Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden, denn die Abkommen, die die Hellenische Republik mit diesen anderen Staaten geschlossen habe, unterschieden sich von dem von ihr mit Rumänien geschlossenen. Schließlich seien die rumänischen Behörden bei den griechischen Behörden vorstellig geworden, um den Sachverhalt zu klären.

48

Zum anderen verweist die rumänische Regierung auf die gravierenden finanziellen Folgen, die eine rückwirkende Anwendung des Urteils des Gerichtshofs nach sich ziehen würde. Nach einer Schätzung der rumänischen Casa Națională de Pensii Publice (Nationale Pensionskasse) würde sich der zu zahlende zusätzliche Betrag auf 38560683 RON (etwa 8680537 Euro) belaufen. Außerdem seien gegenwärtig ungefähr 800 ähnliche Klagen wie die der Eheleute Balazs anhängig.

49

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (vgl. Urteil Santander Asset Management SGIIC u. a., C‑338/11 bis C‑347/11, EU:C:2012:286, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Nur ganz ausnahmsweise kann der Gerichtshof aufgrund des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes der Rechtssicherheit die für die Betroffenen bestehende Möglichkeit beschränken, sich auf die Auslegung, die er einer Bestimmung gegeben hat, zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen (vgl. Urteil Santander Asset Management SGIIC u. a., EU:C:2012:286, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51

Der Gerichtshof hat auf diese Lösung nur unter ganz bestimmten Umständen zurückgegriffen, namentlich, wenn eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren, und wenn sich herausstellte, dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit dem Unionsrecht unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte (vgl. Urteil Santander Asset Management SGIIC u. a., EU:C:2012:286, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52

Die rumänische Regierung hat, wie der Generalanwalt in den Nrn. 98 und 99 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Gefahr schwerwiegender Störungen nicht nachgewiesen. Zwar verweist sie auf 800 ähnliche Klagen wie die der Eheleute Balazs, doch nennt sie keineswegs die Gesamtzahl der Personen, die sich in einer ähnlichen Lage wie die genannten Eheleute befinden. Außerdem hat sie nicht klargestellt ob der Betrag von 38560683 RON auch die entsprechenden gegenwärtig anhängigen 800 Klagen umfasst. Diese Klagen würden jedenfalls von einer zeitlichen Beschränkung der Wirkungen des Urteils nicht erfasst (vgl. in diesem Sinne Urteil Bosman, C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 144).

53

Da das zweite oben in Rn. 50 des vorliegenden Urteils genannte Kriterium nicht erfüllt ist, braucht nicht geprüft zu werden, ob das Kriterium der Gutgläubigkeit der Betroffenen erfüllt ist.

54

Demnach gibt es keinen Grund, die zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils zu begrenzen.

Kosten

55

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, diese geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1992/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006, ist dahin auszulegen, dass ein in Anhang III dieser Verordnung nicht aufgeführtes bilaterales Abkommen, das Leistungen der sozialen Sicherheit für die Staatsangehörigen des einen Unterzeichnerstaats betrifft, die im Hoheitsgebiet des anderen Unterzeichnerstaats den Status von politischen Flüchtlingen besaßen, und das zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, als einer der beiden Unterzeichnerstaaten noch nicht der Union beigetreten war, nicht weiterhin auf den Sachverhalt von politischen Flüchtlingen anwendbar ist, die in ihr Herkunftsland repatriiert wurden, bevor das bilaterale Abkommen geschlossen wurde und die genannte Verordnung in Kraft trat.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.