BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)
30. Januar 2014 ( *1 )
„Vorabentscheidungsersuchen — Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Richtlinie 2004/80/EG — Art. 12 — Entschädigung der Opfer von vorsätzlich begangenen Gewalttaten — Rein interner Sachverhalt — Offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichtshofs“
In der Rechtssache C‑122/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale ordinario di Firenze (Italien) mit Entscheidung vom 20. Februar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 15. März 2013, in dem Verfahren
Paola C.
gegen
Presidenza del Consiglio dei Ministri
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) und des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
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von Frau C., vertreten durch P. Pellegrini, avvocato, |
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des Königreichs Spanien, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte, |
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der Italienischen Republik, vertreten durch G. Palmieri und G. Palatiello als Bevollmächtigte, |
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des Königreichs der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman als Bevollmächtigte, |
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der Europäischen Kommission, vertreten durch A.–M. Rouchaud–Joët und F. Moro als Bevollmächtigte, |
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABl. L 261, S. 15). |
2 |
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau C. und der Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidium des Ministerrats) wegen deren Haftung für die Nichtumsetzung der Richtlinie 2004/80 durch die Italienische Republik und für den Frau C. dadurch entstandenen Schaden. |
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 |
Die Erwägungsgründe 7 und 11 der Richtlinie 2004/80 lauten:
…
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Art. 12 dieser Richtlinie, der zu deren Kapitel II („Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen“) gehört, bestimmt: „(1) Die in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen stützen sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten. (2) Alle Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet.“ |
Italienisches Recht
5 |
Die Richtlinie 2004/80 wurde in Italien insbesondere durch das Decreto legislativo n. 204 attuazione della direttiva 2004/80/CE relativa all’indennizzo delle vittime di reato (Decreto legislativo Nr. 204 zur Umsetzung der Richtlinie 2004/80/EG zur Entschädigung der Opfer von Straftaten) vom 9. November 2007 (Supplemento ordinario zu GURI Nr. 261 vom 9. November 2007) umgesetzt. Es verweist hinsichtlich der materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von Entschädigungen, die zulasten des italienischen Staates gehen, auf die speziellen Gesetze über die Formen der Entschädigung von Opfern im Inland begangener Straftaten. Diese speziellen Gesetze erfassen jedoch nicht alle Arten vorsätzlich begangener Gewalttaten. So gibt es kein spezielles Gesetz, das für Opfer einer als Sexualdelikt einzustufenden Straftat wie der, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, eine gerechte und angemessene Entschädigung im Sinne von Art. 12 der Richtlinie 2004/80 gewährleistet. |
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
6 |
Frau C. nimmt mit ihrer Klage vor dem vorlegenden Gericht die Presidenza del Consiglio dei Ministri auf Haftung für die Nichtumsetzung der Richtlinie 2004/80 und auf Schadensersatz in Höhe von 150000 Euro in Anspruch. |
7 |
Zur Stützung ihrer Klage trägt sie vor, sie sei Opfer eines von Herrn M. begangenen Sexualdelikts geworden. Er sei u. a. verurteilt worden, an sie 20000 Euro vorläufigen Schadensersatz zu zahlen. Er habe aber nicht gezahlt, denn er sei bei seiner Verurteilung in Haft, mittellos, ohne Beschäftigung und ohne Wohnsitz gewesen. Herr M. werde, wenn er aus der Haft entlassen werde, insolvent sein und aus Italien ausgewiesen werden, so dass sie keine Möglichkeit mehr haben werde, von ihm eine gerechte und angemessene Entschädigung zu erhalten. Die Italienische Republik habe jedoch nicht die Maßnahmen ergriffen, die erforderlich seien, damit sie gleichwohl eine gerechte und angemessene Entschädigung erhalte, und dadurch gegen ihre Verpflichtung aus Art. 12 der Richtlinie 2004/80 verstoßen. |
8 |
Die Presidenza del Consiglio dei Ministri beantragt vor dem vorlegenden Gericht, die Klage als unzulässig und unbegründet abzuweisen. Sie macht u. a. geltend, die Richtlinie 2004/80 solle die Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten ausschließlich in grenzüberschreitenden Fällen regeln, während die fragliche Straftat im italienischen Hoheitsgebiet begangen worden sei und das Opfer eine italienische Staatsangehörige sei. |
9 |
Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts zielt die Richtlinie 2004/80 zwar darauf ab, dass Maßnahmen getroffen werden, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen zu erleichtern, und gewährleistet wird, dass Opfer von Straftaten sich immer an eine Behörde im Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes wenden können. Ihr Art. 12 Abs. 2 könne jedoch dahin ausgelegt werden, dass alle Mitgliedstaaten verpflichtet seien, Instrumente vorzusehen, die geeignet seien, die Entschädigung der Opfer jeder vorsätzlichen Gewalttat zu gewährleisten. In diesem Fall hätte die Italienische Republik gegen ihre Verpflichtungen verstoßen, da die im italienischen Recht vorgesehene Entschädigungsregelung auf bestimmte Straftaten beschränkt sei und sich nicht auf Sexualdelikte erstrecke. |
10 |
Unter diesen Umständen hat das Tribunale ordinario di Firenze das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist Art. 12 der Richtlinie 2004/80 dahin auszulegen, dass er es den Mitgliedstaaten erlaubt, eine Entschädigung der Opfer bei bestimmten Kategorien von Gewalttaten oder vorsätzlichen Straftaten vorzusehen, oder aber dahin, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, zur Umsetzung der genannten Richtlinie eine Entschädigungsregelung für die Opfer aller Gewalttaten oder vorsätzlichen Straftaten vorzusehen? |
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
11 |
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit der Richtlinie 2004/80 nach ihrem siebten Erwägungsgrund „ein System der Zusammenarbeit eingeführt [wird], damit Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen leichter Zugang zur Entschädigung erhalten“. Im elften Erwägungsgrund heißt es hierzu: „Um in den Fällen, in denen die Straftat in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitz-Mitgliedstaat des Opfers begangen wurde, den Zugang zur Entschädigung zu erleichtern, sollte ein System der Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten eingeführt werden.“ |
12 |
Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Richtlinie 2004/80 eine Entschädigung nur für den Fall einer vorsätzlichen Gewalttat vorsieht, die in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem das Opfer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (Urteil vom 28. Juni 2007, Dell’Orto, C-467/05, Slg. 2007, I-5557, Rn. 59). |
13 |
In Bezug auf das Ausgangsverfahren geht jedoch aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Frau C. Opfer einer im Hoheitsgebiet ihres Wohnsitzmitgliedstaats, nämlich der Italienischen Republik, begangenen vorsätzlichen Gewalttat wurde. Somit fällt der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2004/80, sondern ist allein nach nationalem Recht zu beurteilen. |
14 |
Bei einem rein internen Sachverhalt ist der Gerichtshof jedoch grundsätzlich nicht für die Entscheidung über die Frage des vorlegenden Gerichts zuständig. |
15 |
Er kann zwar nach ständiger Rechtsprechung auch in einer solchen Situation die erbetene Auslegung vornehmen, wenn das nationale Recht dem vorlegenden Gericht in Verfahren wie dem, das Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, vorschreibt, Staatsbürgern des betreffenden Mitgliedstaats die gleichen Rechte zuzuerkennen, wie sie einem Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats in gleicher Lage aufgrund des Unionsrechts zustünden (vgl. u. a. Urteil vom 21. Februar 2013, Ordine degli Ingegneri di Verona e Provincia u. a., C‑111/12, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofs, eine solche Initiative zu ergreifen, wenn sich dem Vorabentscheidungsersuchen nicht entnehmen lässt, dass dem vorlegenden Gericht tatsächlich eine solche Verpflichtung obliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Dezember 2010, Omalet, C-245/09, Slg. 2010, I-13771, Rn. 17 und 18). |
16 |
Der Gerichtshof hat nämlich im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und den nationalen Gerichten von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung zum tatsächlichen und rechtlichen Kontext der Vorlagefragen auszugehen (Urteil vom 23. April 2009, Angelidaki u. a., C-378/07 bis C-380/07, Slg. 2009, I-3071, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). |
17 |
Im vorliegenden Fall besteht zwar nach den Angaben, die in den schriftlichen Erklärungen der Europäischen Kommission enthalten sind, eine solche Verpflichtung nach italienischem Verfassungsrecht, doch ergibt sich aus der Vorlageentscheidung selbst nicht, dass das italienische Recht dem vorlegenden Gericht vorschreibt, Frau C. die gleichen Rechte zuzuerkennen, wie sie einem Staatsbürger eines anderen Mitgliedstaats in gleicher Lage aufgrund des Unionsrechts zustünden. |
18 |
Daher ist der Gerichtshof gemäß Art. 53 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung für die Beantwortung der vom Tribunale ordinario di Firenze vorgelegten Frage offensichtlich unzuständig. |
Kosten
19 |
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig. |
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) beschlossen: |
Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der vom Tribunale ordinario di Firenze (Italien) vorgelegten Frage offensichtlich unzuständig. |
Unterschriften |
( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.