URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

18. Dezember 2014 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 19 Abs. 2 — Richtlinie 2004/83/EG — Mindestnormen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus — Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz — Art. 15 Buchst. b — Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland — Art. 3 — Günstigere Normen — An einer schweren Krankheit leidender Antragsteller — Nichtverfügbarkeit einer angemessenen Behandlung im Herkunftsland — Art. 28 — Sozialer Schutz — Art. 29 — Medizinische Versorgung“

In der Rechtssache C‑542/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verfassungsgerichtshof (Belgien) mit Entscheidung vom 26. September 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Oktober 2013, in dem Verfahren

Mohamed M’Bodj

gegen

Belgischer Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen (Berichterstatter), T. von Danwitz und J.‑C. Bonichot, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Richter A. Rosas, E. Juhász und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan und D. Šváby sowie der Richterinnen M. Berger und A. Prechal,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juni 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn M’Bodj, vertreten durch S. Benkhelifa, avocate,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und T. Materne als Bevollmächtigte im Beistand von J.‑J. Masquelin, D. Matray, J. Matray, C. Piront und N. Schynts, avocats,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und B. Beutler als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch F.‑X. Bréchot und D. Colas als Bevollmächtigte,

der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Banner, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juli 2014

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 2 Buchst. e und f, der Art. 15 und 18, des Art. 20 Abs. 3 sowie der Art. 28 und 29 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 304, S. 12, und – Berichtigung – ABl. 2005, L 204, S. 24).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn M'Bodj, einem mauretanischen Staatsangehörigen, und dem belgischen Staat wegen der Ablehnung seines Antrags auf Beihilfe zur Ersetzung des Einkommens und auf Eingliederungsbeihilfe durch den Föderalen Öffentlichen Dienst Soziale Sicherheit.

Rechtlicher Rahmen

Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

3

Art. 3 („Verbot der Folter“) der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) sieht vor:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“

Unionsrecht

4

Die Erwägungsgründe 5, 6, 9, 10, 24 und 26 der Richtlinie 2004/83 lauten:

„(5)

In den Schlussfolgerungen von Tampere ist ferner festgehalten, dass die Vorschriften über die Flüchtlingseigenschaft durch Maßnahmen über die Formen des subsidiären Schutzes ergänzt werden sollten, die einer Person, die eines solchen Schutzes bedarf, einen angemessenen Status verleihen.

(6)

Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie ist es einerseits, ein Mindestmaß an Schutz in allen Mitgliedstaaten für Personen zu gewährleisten, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass allen diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(9)

Diejenigen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen, nicht weil sie internationalen Schutz benötigen, sondern aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, fallen nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie.

(10)

Die Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] anerkannten Grundsätze. Die Richtlinie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde, des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen.

(24)

Ferner sollten Mindestnormen für die Bestimmung und die Merkmale des subsidiären Schutzstatus festgelegt werden. Der subsidiäre Schutzstatus sollte die in [dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Vertragssammlung der Vereinten Nationen, Band 189, S. 150, Nr. 2545 [1954])] festgelegte Schutzregelung für Flüchtlinge ergänzen.

(26)

Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, stellen für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre.“

5

In Art. 2 Buchst. a, c, e, f und g der Richtlinie 2004/83 heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a)

‚internationaler Schutz‘ die Flüchtlingseigenschaft und den subsidiären Schutzstatus im Sinne der Buchstaben d) und f);

c)

‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will …

e)

‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel[s] 15 zu erleiden, … und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

f)

‚subsidiärer Schutzstatus‘ die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen durch einen Mitgliedstaat als Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat;

g)

‚Antrag auf internationalen Schutz‘ das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt, und wenn er nicht ausdrücklich um eine andere, gesondert zu beantragende Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht.“

6

Art. 3 der Richtlinie 2004/83 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung der Frage, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

7

Art. 6 der Richtlinie 2004/83 sieht vor:

„Die Verfolgung bzw. der ernsthafte Schaden kann ausgehen von

a)

dem Staat;

b)

Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen;

c)

nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden … zu bieten.“

8

Art. 15 („Ernsthafter Schaden“) in Kapitel V („Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz“) der Richtlinie 2004/83 lautet:

„Als ernsthafter Schaden gilt:

a)

die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)

eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

9

Art. 18 der Richtlinie 2004/83 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und V erfüllt, den subsidiären Schutzstatus zu.“

10

Art. 20 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten berücksichtigen bei der Umsetzung dieses Kapitels [VII] die spezielle Situation von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben.“

11

Nach den Art. 28 und 29 in Kapitel VII der Richtlinie 2004/83 wird Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, Sozialhilfe und Zugang zu medizinischer Versorgung gewährt.

Belgisches Recht

12

Art. 9ter § 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) lautet:

„Ein Ausländer, der sich in Belgien aufhält, seine Identität gemäß § 2 nachweist und so sehr an einer Krankheit leidet, dass sie eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich aufhält, keine angemessene Behandlung vorhanden ist, kann beim Minister beziehungsweise seinem Beauftragten beantragen, dass ihm der Aufenthalt im Königreich erlaubt wird.“

13

Art. 48/4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 lautet wie folgt:

„§ 1 Der subsidiäre Schutzstatus wird einem Ausländer zuerkannt, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt und nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 9ter fällt, für den aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 2 zu erleiden, und der unter Berücksichtigung der Gefahr den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will, sofern er nicht von den in Artikel 55/4 erwähnten Ausschlussklauseln betroffen ist.

§ 2 Als ernsthafter Schaden gilt:

a)

die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder

b)

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder

c)

eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.“

14

Art. 4 des Gesetzes vom 27. Februar 1987 über die Beihilfen für Personen mit Behinderung (im Folgenden: Gesetz vom 27. Februar 1987) bestimmt:

„§ 1 Die in Artikel 1 erwähnten Beihilfen können nur Personen gewährt werden, die ihren tatsächlichen Wohnort in Belgien haben und:

1.

Belgier sind,

2.

Staatsangehörige eines der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind,

5.

oder Flüchtling sind …

§ 2 Der König kann durch einen im Ministerrat beratenen Erlass unter den von Ihm festgelegten Bedingungen die Anwendung des vorliegenden Gesetzes auf andere als die in § 1 erwähnten Kategorien von Personen, die ihren tatsächlichen Wohnort in Belgien haben, ausweiten.

…“

15

Mit Königlichem Erlass vom 9. Februar 2009 zur Änderung des Königlichen Erlasses vom 17. Juli 2006 zur Ausführung von Artikel 4 § 2 des Gesetzes vom 27. Februar 1987 über die Beihilfen für Personen mit Behinderung weitete der König mit Wirkung zum 12. Dezember 2007 den Anwendungsbereich des Gesetzes auf Ausländer aus, die im Bevölkerungsregister eingetragen sind.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Herr M’Bodj kam am 3. Januar 2006 in Belgien an. Er stellte einen Antrag auf Asyl, danach einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen, die beide abgelehnt wurden. Er legte mehrere erfolglose Rechtsbehelfe gegen die Entscheidungen über die Ablehnung dieser Anträge ein.

17

Am 27. Mai 2008 reichte Herr M’Bodj auf der Grundlage von Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 einen neuen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus medizinischen Gründen ein, den er mit den erheblichen Folgeerscheinungen begründete, an denen er seit einem Angriff in Belgien leide. Dieser Antrag wurde am 19. September 2008 für zulässig erklärt, was zur Eintragung von Herrn M’Bodj ins Fremdenregister führte.

18

Nach der Erteilung einer allgemeinen Bescheinigung, mit der eine Minderung der Erwerbsfähigkeit und ein Verlust an Autonomie anerkannt wurden, stellte Herr M’Bodj am 21. April 2009 einen Antrag auf Beihilfe zur Ersetzung des Einkommens und auf Eingliederungsbeihilfe.

19

Am 5. Oktober 2009 wurde dieser Antrag vom Föderalen Öffentlichen Dienst Soziale Sicherheit mit der Begründung abgelehnt, dass Herr M’Bodj die Staatsangehörigkeitsvoraussetzungen nach Art. 4 § 1 des Gesetzes vom 27. Februar 1987 nicht erfülle. Im Übrigen sei Herr M’Bodj im Fremdenregister eingetragen und habe damit keinen Anspruch darauf, sich in Belgien niederzulassen.

20

Herr M’Bodj reichte am 31. Dezember 2009 gegen die Ablehnung seines Antrags Klage beim Arbeitsgericht Lüttich ein.

21

Unabhängig von dieser Klage erhielt Herr M’Bodj am 17. Mai 2010 wegen seines Gesundheitszustands eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Belgien.

22

Mit Urteil vom 8. November 2012 stellte das Arbeitsgericht Lüttich dem Verfassungsgerichtshof eine Vorabentscheidungsfrage, mit der im Wesentlichen geklärt werden soll, ob Art. 4 des Gesetzes vom 27. Februar 1987 deshalb gegen bestimmte Vorschriften der belgischen Verfassung in Verbindung mit Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2004/83 verstößt, weil er die Gewährung der Beihilfen an Personen mit Behinderung, die sich auf der Grundlage von Art. 9ter des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 in Belgien aufhalten und infolgedessen den in dieser Richtlinie vorgesehenen internationalen Schutzstatus genießen, ausschließt, während er die Zahlung der Beihilfen an Flüchtlinge erlaubt, die nach Ansicht dieses Gerichts den gleichen internationalen Schutz genießen.

23

In seiner Vorlageentscheidung stellt der Verfassungsgerichtshof fest, dass er zwar bereits über eine Vorabentscheidungsfrage in Bezug auf die unterschiedliche Behandlung dieser beiden Kategorien von Ausländern entschieden habe, er mit dieser Frage aber nicht ersucht worden sei, die Richtlinie 2004/83 zu berücksichtigen.

24

Unter diesen Umständen hat der Verfassungsgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Sind Art. 2 Buchst. e und f, Art. 15, 18, 28 und 29 der Richtlinie 2004/83 dahin gehend auszulegen, dass nicht nur eine Person, der auf ihren Antrag hin der subsidiäre Schutzstatus durch eine unabhängige Behörde eines Mitgliedstaats gewährt wurde, in der Lage sein muss, die Sozialhilfeleistungen und medizinische Versorgung im Sinne der Art. 28 und 29 dieser Richtlinie zu genießen, sondern auch ein Ausländer, der von einer Verwaltungsbehörde eines Mitgliedstaats die Erlaubnis erhalten hat, sich auf dem Staatsgebiet dieses Mitgliedstaats aufzuhalten, und so sehr an einer Krankheit leidet, dass sie eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich aufhält, keine angemessene Behandlung vorhanden ist?

2.

Sind Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 2 und Art. 29 Abs. 2 derselben Richtlinie in dem Fall, dass die erste Vorabentscheidungsfrage dahin gehend zu beantworten ist, dass die beiden darin beschriebenen Kategorien von Personen in der Lage sein müssen, die Sozialhilfeleistungen und medizinische Versorgung im Sinne dieser Bestimmungen zu genießen, dahin gehend auszulegen, dass die den Mitgliedstaaten auferlegte Verpflichtung, die spezielle Situation von besonders schutzbedürftigen Personen wie Behinderten zu berücksichtigen, beinhaltet, dass diesen Personen Beihilfen zu gewähren sind, welche im Gesetz vom 27. Februar 1987 vorgesehen sind, wobei dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass aufgrund des Grundlagengesetzes vom 8. Juli 1976 über die öffentlichen Sozialhilfezentren Sozialhilfe, bei der die Behinderung berücksichtigt wird, gewährt werden kann?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

25

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 28 und 29 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e sowie den Art. 3, 15 und 18 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, die Sozialhilfeleistungen und die medizinische Versorgung, die diese Artikel vorsehen, einem Drittstaatsangehörigen zu gewähren, dem der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat gemäß einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlaubt wurde, in der vorgesehen ist, dass der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat einem Ausländer erlaubt wird, der an einer Krankheit leidet, die eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich zuvor aufgehalten hat, keine angemessene Behandlung vorhanden ist.

26

Aus den Art. 28 und 29 der Richtlinie 2004/83 geht hervor, dass diese für Personen gelten, denen die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist.

27

Es steht indessen fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung zum einen nicht die Genehmigung des Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen regelt, die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/83 haben, und zum anderen nicht bezweckt, die Flüchtlingseigenschaft Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, denen der Aufenthalt auf der Grundlage dieser nationalen Regelung erlaubt wurde.

28

Daraus folgt, dass das Königreich Belgien nach den Art. 28 und 29 dieser Richtlinie nur dann verpflichtet wäre, die in diesen Artikeln genannten Leistungen Drittstaatsangehörigen zu gewähren, denen der Aufenthalt in Belgien auf der Grundlage der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung erlaubt wurde, wenn ihre Aufenthaltserlaubnis die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus mit sich brächte.

29

Nach Art. 18 der Richtlinie 2004/83 erkennen die Mitgliedstaaten einem Drittstaatsangehörigen, der die Voraussetzungen dafür erfüllt, den subsidiären Schutzstatus zu.

30

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die drei in Art. 15 der Richtlinie 2004/83 definierten Arten eines ernsthaften Schadens als Tatbestandsmerkmale erfüllt sein müssen, um den Anspruch einer Person auf subsidiären Schutz zu begründen, sofern gemäß Art. 2 Buchst. e dieser Richtlinie stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr in das betreffende Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen solchen Schaden zu erleiden (Urteile Elgafaji, C‑465/07, EU:C:2009:94, Rn. 31, und Diakité, C‑285/12, EU:C:2014:39, Rn. 18).

31

Die Gefahr einer – nicht auf eine absichtliche Verweigerung der Versorgung gegenüber dem Betroffenen zurückzuführenden – Verschlechterung des Gesundheitszustands eines Drittstaatsangehörigen, gegen die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung Schutz bietet, wird nicht von Art. 15 Buchst. a und c der Richtlinie 2004/83 erfasst, da die in diesen Bestimmungen definierten Schäden in der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bestehen.

32

Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 definiert einen ernsthaften Schaden in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung eines Drittstaatsangehörigen in seinem Herkunftsland.

33

Aus dieser Bestimmung geht klar hervor, dass sie nur auf die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung eines Antragstellers in seinem Herkunftsland anzuwenden ist. Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nur für den Fall vorgesehen hat, dass eine derartige Behandlung im Herkunftsland des Antragstellers stattfindet.

34

Bei der Auslegung dieser Vorschrift sind außerdem bestimmte Gesichtspunkte in Bezug auf den Zusammenhang, in den sich Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 einfügt, ebenso zu berücksichtigen wie die Ziele dieser Richtlinie (vgl. in diesem Sinne Urteil Maatschap L. A. en D. A. B. Langestraat en P. Langestraat-Troost, C‑11/12, EU:C:2012:808, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

So enthält Art. 6 dieser Richtlinie eine Liste der Akteure, von denen ein ernsthafter Schaden ausgehen kann, was dafür spricht, dass solche Schäden durch das Verhalten eines Dritten verursacht werden müssen und dass sie demnach nicht bloß die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems des Herkunftslands sein können.

36

Im 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83 wird auch erläutert, dass Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre. Daraus folgt, dass die Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustands eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, die auf das Fehlen einer angemessenen Behandlung in seinem Herkunftsland zurückzuführen ist, ohne dass diesem Drittstaatsangehörigen die Versorgung absichtlich verweigert wurde, nicht ausreichen kann, um ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.

37

Diese Auslegung wird darüber hinaus durch die Erwägungsgründe 5, 6, 9 und 24 der Richtlinie 2004/83 gestützt, aus denen hervorgeht, dass diese Richtlinie zwar darauf abzielt, die in dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge festgelegte Schutzregelung für Flüchtlinge durch den subsidiären Schutz zu ergänzen und insoweit die Personen, die tatsächlich internationalen Schutz benötigen, zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil Diakité, EU:C:2014:39, Rn. 33), sich ihr Geltungsbereich aber nicht auf Personen erstreckt, die aus anderen Gründen, nämlich aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten verbleiben dürfen.

38

Die Verpflichtung, Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 unter Beachtung von Art. 19 Abs. 2 der Charta (vgl. in diesem Sinne Urteil Abed El Karem El Kott u. a., C‑364/11, EU:C:2012:826, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung), wonach niemand in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, und unter Berücksichtigung von Art. 3 EMRK, dem er im Wesentlichen entspricht (Urteil Elgafaji, EU:C:2009:94, Rn. 28), auszulegen, kann diese Auslegung nicht in Frage stellen.

39

In diesem Zusammenhang ist zwar festzustellen, dass aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervorgeht, dass Ausländer, die von einer Entscheidung betroffen sind, die ihre Abschiebung ermöglicht, grundsätzlich kein Recht auf Verbleib in einem Staat geltend machen können, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung durch diesen Staat zu erhalten, dass jedoch die Entscheidung, einen Ausländer, der an einer schweren physischen oder psychischen Krankheit leidet, in ein Land abzuschieben, in dem die Möglichkeiten einer Behandlung dieser Krankheit geringer sind als in dem entsprechenden Staat, in absoluten Ausnahmefällen Fragen unter dem Blickwinkel von Art. 3 EMRK aufwerfen kann, wenn die humanitären Erwägungen, die gegen die Abschiebung sprechen, zwingend sind (vgl. u. a. EGMR, Urteil vom 27. Mai 2008, N./Vereinigtes Königreich, Nr. 42).

40

Der Umstand, dass ein an einer schweren Krankheit leidender Drittstaatsangehöriger nach Art. 3 EMRK in der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in absoluten Ausnahmefällen nicht in ein Land abgeschoben werden kann, in dem keine angemessene Behandlung vorhanden ist, bedeutet deswegen aber nicht, dass es ihm erlaubt werden muss, sich auf der Grundlage des subsidiären Schutzes nach der Richtlinie 2004/83 in einem Mitgliedstaat aufzuhalten.

41

In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen, dass der darin definierte ernsthafte Schaden eine Situation nicht erfasst, in der eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung wie die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung angeführte, die ein an einer schweren Krankheit leidender Antragsteller bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland erfahren könnte, auf das Fehlen einer angemessenen Behandlung in diesem Land zurückzuführen ist, ohne dass dem Antragsteller die Versorgung absichtlich verweigert würde.

42

Art. 3 der Richtlinie 2004/83 gestattet es den Mitgliedstaaten indessen, günstigere Normen u. a. zur Entscheidung der Frage, wer als Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, zu erlassen oder beizubehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 114).

43

Der Vorbehalt in Art. 3 der Richtlinie 2004/83 verwehrt es einem Mitgliedstaat jedoch, Bestimmungen zu erlassen oder beizubehalten, mit denen die in dieser Richtlinie vorgesehene Rechtsstellung einer Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz einem an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen wegen der Gefahr der Verschlechterung seines Gesundheitszustands, die auf das Fehlen einer angemessenen Behandlung in seinem Herkunftsland zurückzuführen ist, zuerkannt wird, da solche Bestimmungen mit dieser Richtlinie nicht vereinbar sind.

44

Angesichts der Erwägungen in den Rn. 35 bis 37 des vorliegenden Urteils würde es nämlich der allgemeinen Systematik und den Zielen der Richtlinie 2004/83 widersprechen, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechtsstellungen Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen.

45

Folglich kann eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht nach Art. 3 dieser Richtlinie als günstigere Norm für die Entscheidung der Frage eingestuft werden, wer als Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat. Drittstaatsangehörige, die eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund einer solchen Regelung besitzen, sind daher keine Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und auf die die Art. 28 und 29 der Richtlinie 2004/83 anzuwenden sind.

46

Gewährt ein Mitgliedstaat eine solche, nationalen Schutz beinhaltende Rechtsstellung aus anderen Gründen als dem, dass internationaler Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. a dieser Richtlinie gewährt werden muss, d. h. aus familiären oder humanitären Ermessensgründen, so fällt diese Gewährung im Übrigen, wie im neunten Erwägungsgrund der Richtlinie klargestellt wird, nicht in deren Anwendungsbereich (Urteil B und D, EU:C:2010:661, Rn. 118).

47

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 28 und 29 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e sowie den Art. 3, 15 und 18 der Richtlinie 2004/83 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, die Sozialhilfeleistungen und die medizinische Versorgung, die diese Artikel vorsehen, einem Drittstaatsangehörigen zu gewähren, dem der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat gemäß einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlaubt wurde, in der vorgesehen ist, dass der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat einem Ausländer erlaubt wird, der an einer Krankheit leidet, die eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich zuvor aufgehalten hat, keine angemessene Behandlung vorhanden ist, ohne dass diesem Ausländer die Versorgung in diesem Land absichtlich verweigert würde.

Zur zweiten Frage

48

Angesichts der Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden.

Kosten

49

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 28 und 29 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e sowie den Art. 3, 15 und 18 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sind dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, die Sozialhilfeleistungen und die medizinische Versorgung, die diese Artikel vorsehen, einem Drittstaatsangehörigen zu gewähren, dem der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat gemäß einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erlaubt wurde, in der vorgesehen ist, dass der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat einem Ausländer erlaubt wird, der an einer Krankheit leidet, die eine tatsächliche Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit oder eine tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung darstellt, wenn in seinem Herkunftsland oder dem Land, in dem er sich zuvor aufgehalten hat, keine angemessene Behandlung vorhanden ist, ohne dass diesem Ausländer die Versorgung in diesem Land absichtlich verweigert würde.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.